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Die Morgendämmerung erhob sich über Venedigs Dächer und gab dem Himmel eine graublaue Farbe. Gianna saß Francesca gegenüber auf ihrem Bett und starrte mit rot geränderten Augen ins Leere.

»Es tut mir so leid«, flüsterte Francesca.

Gianna sah auf und schüttelte langsam den Kopf. »Du kannst doch nichts dafür«, sagte sie mit matter Stimme. »Du hast sogar noch versucht, sie aufzufangen. Dich trifft keine Schuld. Wenn überhaupt, dann …«

Sie verstummte und Francesca bedrängte sie nicht weiter. Auch ihr war nicht nach Reden zumute. Sie schlug die Augen nieder und starrte auf ihre Hände. Wenn sie nur schneller gewesen wäre, nur einen Moment eher zugegriffen hätte … Natürlich war sie erleichtert, dass niemand aus der Familie ihr die Schuld an Fiorellas Unfall gab, doch das befreite sie nicht von ihrem eigenen schlechten Gewissen. Seit Stunden war sie in Gedanken immer und immer wieder das Geschehene durchgegangen, hatte nach dem einen Moment gesucht, in dem sie falsch gehandelt hatte. Sie hätte Nonnas Sturz irgendwie verhindern müssen … Wenn sie wenigstens mit jemandem darüber hätte reden können! Sie sehnte sich danach, Gianna die Wahrheit über den Unfall zu erzählen – aber dann hätte sie ihr auch alles über das Necronomicon und den Familienfluch erzählen müssen. Aber sie hatte ihrer Großmutter versprochen, diese Geheimnisse für sich zu behalten. Abgesehen davon standen die Chancen, dass Gianna ihr auch nur ein einziges Wort davon glaubte, mehr als schlecht. So wie es aussah, blieb ihr nichts anderes übrig, als allein mit allem klarzukommen.

Francesca lehnte sich erschöpft an die Wand. Sie war so unglaublich müde. Aber sobald sie die Augen schloss, hatte sie wieder die Bilder der vergangenen Nacht im Kopf. Die Dunkelheit, die Schattenfratzen, Nonnas reglosen Körper am Ende der Treppe …

Ein leises Schluchzen riss Francesca aus ihren Gedanken. Gianna hatte den Kopf auf ihre angezogenen Knie gepresst und obwohl Francesca ihr Gesicht nicht sah, konnte sie an Giannas bebenden Schultern erkennen, dass sie weinte.

Francesca setzte sich neben sie und strich ihr tröstend über den Rücken. »Hey, was ist denn los?«

»Ich … ich bin …«, begann sie, wurde jedoch von einem weiteren Weinkrampf unterbrochen.

Francesca betrachtete sie irritiert. Natürlich standen sie alle wegen Fiorellas Unfalls noch unter Schock – sogar Luca hatte geweint, als die Sanitäter gekommen waren und Fiorella ins Krankenhaus abtransportiert hatten. Aber steigerte sich Gianna nicht zu sehr in diese Sache hinein?

»Die Ärzte haben doch gesagt, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen«, versuchte sie ihre Cousine zu beruhigen. »Die Gehirnerschütterung wird Nonna zwar einige Tage Kopfschmerzen bereiten und ihr gebrochener Arm wird eine Zeit lang im Gips bleiben müssen – aber sie hatte wirklich einen Schutzengel! Bei dieser Treppe hätte sie sich auch den Hals brechen können.«

Gianna nickte schniefend. »Nonna hatte wirklich Glück.«

»Ihr Mundwerk scheint durch den Sturz ebenfalls nichts von der üblichen Bissigkeit eingebüßt zu haben«, fuhr Francesca in aufmunterndem Tonfall fort. »Hast du gehört, was sie zu dem Pfleger gesagt hat, der ihr helfen wollte, aufzustehen? Er solle gefälligst aufhören, alte Frauen im Nachthemd zu begrapschen und sich eine Freundin in seinem Alter suchen!«

Gegen ihren Willen musste Gianna auflachen. »Bestimmt terrorisiert sie in der Zwischenzeit schon das ganze Krankenhaus und treibt die Oberschwester zur Verzweiflung.«

»Es würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn sie Nonna rausschmeißen und wir sie bei unserem nächsten Besuch mitsamt dem Bett vor der Eingangstür stehen sehen.« Francesca hielt ihr ein Taschentuch hin. »Hier, putz dir erst mal die Nase und dann erzählst du mir, was mit dir los ist.«

Gianna schnäuzte sich mehrmals und sah Francesca unsicher an.

»Du wirst mir sowieso kein Wort davon glauben.«

»Hast du eine Ahnung«, widersprach Francesca mit bitterem Unterton. »Mittlerweile glaube ich so ziemlich alles, was man mir erzählt.«

Gianna zögerte und blickte starr auf ihre Füße. Einen Moment lang befürchtete Francesca, sie finge wieder an zu weinen. Schließlich sagte sie mit leiser Stimme: »Ich glaube, ich bin schuld an Nonnas Unfall.«

Francesca entwich ein Laut der Überraschung. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. »Warum solltest du denn schuld daran sein?«, fragte sie verblüfft. »Das ist lächerlich, Gianna. Du warst nicht einmal in der Nähe, als es passiert ist.«

»Es geht auch eher darum, was vorher geschehen ist.«

Nun verstand Francesca überhaupt nichts mehr. »Und was ist vorher geschehen, wenn man fragen darf?«

»Ich sollte doch Nonna gestern Abend das Essen ins Zimmer bringen«, begann Gianna zu erzählen. »Als ich bei ihr war, war sie so … seltsam. Sie hat mich um einen Gefallen gebeten. Ich sollte ihr etwas aus einem alten Buch vorlesen.«

Schockiert sah Francesca auf. Nonna hatte Gianna doch nicht etwa … Nein, so etwas durfte sie nicht einmal denken – Fiorella wäre ihr niemals so in den Rücken gefallen!

»Es war kein normales Buch, das habe ich sofort gespürt«, fuhr Gianna zaghaft fort. »Du hältst mich jetzt sicherlich für verrückt, aber irgendwie hat es mir Angst gemacht. Nonna hat mich immer stärker bedrängt, dass ich ihr daraus vorlese. Schließlich hat sie mir vorgeschlagen, das Buch selbst zu halten und umzublättern, während ich ihr dabei nur über die Schulter sehen muss. Also habe ich nachgegeben.«

Gianna hielt inne. Sie warf Francesca einen peinlich berührten Blick zu. »Du glaubst mir das bestimmt nicht, aber … nachdem sie das Buch aufgeschlagen hat, ist etwas daraus hervorgekommen.«

»Eine Art schwarzer Nebel?«

Gianna sank der Unterkiefer herab. »Woher weißt du das?«

»Leider habe ich auch schon Bekanntschaft mit dem Necronomicon gemacht. Du hast recht: Das ist kein gewöhnliches Buch. Hast du trotzdem weitergelesen?«

»Fiorella meinte, ich würde mir das nur einbilden und ich solle gefälligst weiterlesen. Du weißt ja, wie sie sein kann. Ich habe mich nicht getraut, ihr zu widersprechen.« Gianna ließ unglücklich die Schultern hängen. »Doch mit jeder Seite wurde der Nebel dichter. Er erhob sich säulenartig aus dem Buch und zuckte wie eine Schlange hin und her. Er hat sich um Nonna geschlungen, bis sie ganz von ihm eingehüllt war.« Sie sah Francesca mit tränenerfüllten Augen an. »Es hat irgendetwas mit ihr gemacht. Als ich gegangen bin, habe ich gespürt, dass sie völlig verändert war. Ich hätte sie niemals alleine lassen dürfen, das werde ich mir nie verzeihen! Aber in dem Moment war ich nur froh, endlich nicht mehr in diesem Buch lesen zu müssen und aus dem Zimmer rauszukommen. Nonna … sie hat mir Angst gemacht.« Gianna schlug die Hände vor das Gesicht.

»Als ich sie nachts im Flur getroffen habe, hätte ich auch am liebsten die Flucht ergriffen«, gestand Francesca. »Das war nicht mehr unsere Großmutter, sie wirkte wie von einem Dämon besessen. Du musst dir keine Vorwürfe machen! Wenn überhaupt jemand daran Schuld hat, dann das Necronomicon und dieser elende Familienfluch.« Sie schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund, doch es war zu spät. Gianna sah sie mit gerunzelter Stirn an.

»Auf unserer Familie liegt ein Fluch?«

Nun war es Francesca, die zögernd schwieg. Sollte sie Gianna in alles einweihen? Die Versuchung war groß. Aber sie hatte Nonna ihr Versprechen gegeben! Auf der anderen Seite hatte ihre Großmutter Gianna bereits in diese Sache hineingezogen und über das Necronomicon wusste sie auch schon Bescheid. Also holte Francesca tief Luft und begann, Gianna alles zu erzählen – von dem Grund ihrer jahrelangen Albträume, dem Familienfluch, wie Baldini ihr kurz vor seinem Tod das Buch übergeben und ihr gebeichtet hatte, wie es zum Tod ihres Großvaters gekommen war. Natürlich vergaß sie auch nicht, die beunruhigenden Ergebnisse ihrer Recherchen über das Necronomicon zu erwähnen, den Angriff des Monsters in Fiorellas Zimmer und die nächtliche Auseinandersetzung mit Nonna auf der Treppe. Gianna hörte ihr aufmerksam zu und murmelte nur ab und an »Wahnsinn!« oder »Wie schrecklich!«.

Als Francesca schließlich mit ihrer Erzählung am Ende war, fasste Gianna ihre Situation in einem einzigen treffenden Kommentar zusammen: »Wir stecken ganz schön in der Scheiße.«

»Das kann man wohl sagen.« Francesca warf ihrer Cousine einen dankbaren Blick zu. Ihr war nicht entgangen, dass Gianna im Plural gesprochen hatte. Es tat gut, Gianna als Mitstreiterin an ihrer Seite zu wissen. »Was stand eigentlich drin?«, fragte sie.

Gianna blinzelte sie verständnislos an. Sie schien in Gedanken immer noch all die neuen Informationen zu verarbeiten. »Wo drin?«

»Im Necronomicon natürlich.«

»Am Anfang war seitenlang nur die Rede davon, wie großartig, machtvoll und unglaublich toll das Buch ist. Dass es all meine Wünsche wahr werden lassen kann – Reichtum, Ruhm, Macht, Liebe, den Tod eines verhassten Menschen und so weiter«, erzählte Gianna. »Im nächsten Kapitel folgte eine Art Einführung in die Benutzung. So wie ich das verstanden habe – und nebenbei bemerkt, war die Sprache nicht ganz einfach zu verstehen – beschwört man mithilfe des Buches Fluchdämonen. Man muss nur den Namen des besagten Menschen nennen, den passenden Fluch auswählen und schon stirbt derjenige einen grauenvollen Tod. Dabei muss man aber einige Grundregeln beachten. Wenn man zum Beispiel möchte, dass das Handelsschiff eines Konkurrenten untergeht, sollte man nicht das Schiff, sondern den Kapitän verfluchen«, ratterte Gianna ihr Wissen in einem Tonfall herunter, als ob sie den Inhalt eines Computerspiels beschreiben würde. »Auch wenn der Fluch sofort anfängt zu wirken, können sich Fluchdämonen mit der vollständigen Erfüllung des Fluches nämlich Zeit lassen und da Gegenstände meist länger existieren als ein Menschenleben andauert, sollte man kein Risiko eingehen. Bevor es an die einzelnen Beschwörungen ging, habe ich jedoch aufgehört zu lesen.« Sie seufzte auf. »Wenn dieser schwarze Nebel nicht gewesen wäre, hätte ich es offen gestanden für das Werk eines völlig übergeschnappten und geisteskranken Autors gehalten«, fügte sie mit einem Schaudern hinzu.

Francesca musste an die Entstehungsgeschichte des Necronomicons denken und wie sein Autor Abdul Alhazred tagelang durch die Wüste geirrt war. Vielleicht war er damals dem Tod so nahe gewesen, dass er mit etwas in Kontakt gekommen war, das den Rahmen der menschlichen Vorstellungskraft tatsächlich sprengte.

Enttäuscht ließ sich Francesca auf das Bett zurücksinken und starrte die Decke an. Flüche, Beschwörungen, Dämonen – das brachte sie alles nicht weiter. Francesca interessierte einzig und allein, wie man einen Fluch aufheben konnte. Für dieses wahnwitzige Gerede über Fluchdämonen hatte sie nun all diese Gefahren auf sich genommen und ließ zu, dass sich die bösartige Finsternis des Buches im Palazzo ausbreitete? Selbst wenn das Necronomicon tatsächlich all diese Dinge bewirken konnte – Francesca war sich sicher, dass sie solche Abscheulichkeiten niemals brauchen und in die Tat umsetzen würde. Abgesehen davon befürchtete sie immer noch, dass der Einbrecher aus Baldinis Antiquariat jeden Moment in den Palazzo eindringen konnte, da er herausgefunden hatte, dass Francesca das Necronomicon an sich genommen hatte. Dieses Buch zu besitzen brachte ihnen nur Unglück! Wut wallte in ihr auf. Warum hatte Baldini ihr das Necronomicon überhaupt erst gegeben? Er musste doch gewusst haben, was es anrichten konnte! Hatte er damit etwa einen perfiden Racheplan verfolgt und wollte mithilfe ihrer Gutgläubigkeit und Unwissenheit die Familie Medici vernichten? Wer konnte nach der vergangenen Nacht denn schon ahnen, was als Nächstes geschehen würde? Wenn sie das Necronomicon nicht mit in den Palazzo gebracht hätte, wäre all dies niemals geschehen. Francesca ballte die Fäuste. Wegen dieses Buches wäre ihre Großmutter in der letzten Nacht um ein Haar gestorben!

Entschlossen setzte sie sich auf. »Mir reicht es jetzt!«, zischte sie.

»Was meinst du denn damit?« Gianna sah sie verständnislos an. »Hey, wo willst du hin?«

Francesca stürmte mit grimmiger Miene aus dem Zimmer. Gianna konnte ihr nur mit Mühe folgen.

»Was hast du denn vor?«, fragte sie atemlos.

»Wir müssen das Necronomicon loswerden!«, erklärte Francesca. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich will keine weitere Nacht mit diesem Buch unter einem Dach verbringen! Wir haben keine Ahnung, was es noch alles anrichten kann. Vielleicht setzt heute Nacht jemand aus der Familie den Palazzo in Brand? Oder stürzt sich während eines Albtraums aus dem Fenster?«

Sie riss die Tür zu Fiorellas Zimmer auf. Fast erstaunt stellte sie fest, dass alles normal war. Es waren weder düstere Schatten noch irgendwelche Monster zu sehen.

Angeekelt starrte Francesca auf das Necronomicon, das unschuldig auf dem Glastisch lag. »Dieses Buch ist böse, Gianna. Irgendetwas von dem, was auf seine Seiten geschrieben worden ist, lässt es lebendig werden – und genau das versucht jetzt, herauszukommen und Macht über uns zu erlangen.«

Ohne weiteres Zögern griff sie danach und öffnete das Fenster. Ein eisiger Wind fuhr ins Zimmer und zerzauste den beiden Mädchen die Haare. Francesca blickte nach unten. Der Kanal war menschenleer, die angelegten Boote hoben und senkten sich sanft im dunklen Wasser.

Gianna zog scharf die Luft ein. »Du hast doch nicht etwa vor, es aus dem Fenster zu werfen?«

»Warum denn nicht? So vieles haben Venedigs Kanäle schon für immer verschlungen.«

»Aber wenn Fiorella das erfährt, wird sie ausrasten!«

»Dann ist sie eben sauer auf mich, na und?« Francesca zuckte mit den Schultern. »Willst du etwa, dass noch mehr Menschen Schaden nehmen?«

Sie hob ihre Hand und holte aus.

In einer überraschend schnellen Bewegung packte Gianna ihr Handgelenk und hielt es fest. Mit entschlossener Miene stellte sie sich zwischen Francesca und das Fenster.

»Natürlich will ich nicht, dass noch mehr Menschen verletzt werden«, widersprach Gianna ihr heftig. »Aber du musst auch an dich und den Fluch denken. Großvater wird nicht umsonst davon ausgegangen sein, dass dieses Buch so wichtig für unsere Familie ist. Wenn du das Necronomicon jetzt aus dem Fenster wirfst, wirst du wahrscheinlich für den Rest deines Lebens diese schrecklichen Albträume haben. Du hast vorhin selbst gesagt, dass sie bei den anderen Fluchträgern mit jedem Jahr schlimmer geworden sind und dir die Traumgondel irgendwann nicht mehr helfen wird. Willst du das wirklich riskieren?«

Francesca schluckte schwer. Gianna hatte recht. Auch wenn sie den Inhalt des Necronomicons als nutzlos erachtete, so war das Buch trotzdem ihre letzte und einzige Hoffnung, den Fluch aufheben zu können. Plötzlich tauchten Bilder vor ihrem inneren Auge auf – von ihren nächtlichen Albträumen, ihrer Flucht durch die Dunkelheit, wie ihr Jäger sie schließlich erwischte. Sie erinnerte sich an Nonnas Erzählung, dass Francescas Großvater sogar in der Realität von den Wunden gezeichnet war, die ihm im Traum zugefügt wurden. Für einen schrecklichen Moment hatte sie das Bild im Kopf, wie Cecilia in einem flatternden weißen Nachthemd vom Dach des Palazzos stürzte. Zweifel überkamen Francesca. War sie wirklich bereit, das alles zu ertragen? War sie dafür stark genug? Oder würde sie genauso enden wie Cecilia? Ihr Blick fiel auf das Buch in ihrer Hand. Wegen dieses Buches hatte sie letzte Nacht geglaubt, dass ihre Großmutter gestorben sei, seinetwegen lag Fiorella jetzt im Krankenhaus. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Nein, sie hatte sich richtig entschieden! Ihre Hand presste sich fester um das Necronomicon. »Dann muss ich eben mit diesem Fluch leben!«, sagte sie mit trauriger Entschlossenheit.

Sie versuchte, sich von Gianna freizumachen, doch ihre Cousine klammerte sich mit verzweifelter Entschlossenheit an ihren Arm.

»Aber du hast gesagt, dass es noch eine letzte Spur gibt«, erinnerte Gianna sie. »Lass uns nachher in die Bibliothek gehen und nach dieser ›Chronik des Unglücks‹ suchen. Wenn wir nichts herausfinden, kannst du das Buch vor Einbruch der Dunkelheit immer noch im Kanal versenken.«

Francesca zögerte. Sie musste zugeben, dass Giannas Vorschlag vernünftig klang.

»Außerdem muss es eine Möglichkeit geben, etwas gegen die Macht des Necronomicons auszurichten«, setzte Gianna hinzu. »In Baldinis Antiquariat sind schließlich auch keine dieser Schattengespenster herumgegeistert.«

Francesca erstarrte wie vom Donner gerührt. Langsam ließ sie ihre Hand nach unten sinken. Warum war sie nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen?

Sie stöhnte auf und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Wie kann man nur so dämlich sein?«

»Meinst du etwa mich?«, fragte Gianna gereizt.

»Quatsch! Ich rede von mir.« Sie drückte ihrer Cousine einen Kuss auf die Wange. »Gianna, du bist ein Genie!«

»Man tut, was man kann.« Sie grinste breit. »Und warum bin ich ein Genie, wenn man fragen darf? Nicht, dass ich es nicht selbst wüsste. Ich möchte es nur noch einmal aus deinem Mund hören.«

Francesca lachte. »Du bist deswegen ein so großartiges Genie, weil mir erst durch dich die Zusammenhänge klar geworden sind«, erklärte sie. »Baldini hat mich kurz vor seinem Tod gewarnt, dass ich an die Sicherheitsvorkehrungen denken muss, da die Macht des Necronomicons sonst zu stark wird. Aber ich hatte natürlich keine Ahnung, was er damit meinte. Selbst als ich in Großvaters Büchern davon gelesen habe, ist mir der Zusammenhang nicht bewusst geworden. Aber das Salz, das Baldini in seinem Separee auf dem Boden verstreut hatte, war nicht zufällig dort.«

Gianna blinzelte sie verständnislos an. »Hä?«

Francesca eilte zur Vitrine, die glücklicherweise offen stand, und zog ein Buch daraus hervor.

»Hier steht es: Der Glaube an die magische Kraft des Salzes ist so alt wie die Menschheit selbst. Wir wissen von vielen Kulturen, die Salz bei Opferungen für ihre Götter und zur Bestätigung wichtiger Vereinbarungen verwendet haben. Dem Salz wird eine große Schutzfunktion zugeschrieben. Wirft man zum Beispiel eine Prise davon über die linke Schulter, dann soll dies den Teufel vertreiben. Trockene Salzkristalle mit einem Ionengitter wirken schon in geringen Mengen als magische Isolatoren. Die konservierenden Eigenschaften des Salzes verleihen der Realität Festigkeit, was Dämonen das Eindringen in unsere Welt erschwert. Salz, das durch Eindampfen salzhaltigen Wassers entstanden ist, gilt als besonders wirksam.«

»Also war das Salz in Baldinis Separee so eine Art Schutzschild, das die Kräfte des Buchs nicht in unsere Realität gelassen hat?«

»Genau! Deswegen hatte das Necronomicon auch in all der Zeit, als es auf dem Grund des Kanals lag, keine Kraft. Es war vom Salzwasser der Lagune bedeckt«, bestätigte Francesca. »Aber das war nicht die einzige Sicherheitsvorkehrung, die Baldini getroffen hatte. Er hat auch das Versteck des Necronomicons komplett mit Silber ausgekleidet.« Sie blätterte das Buch durch, bis sie die gesuchte Textstelle fand.

»Silber ist in der mystischen Welt das Metall, dem man die stärkste übernatürliche Kraft zuschreibt. Im alten Ägypten trug es den klangvollen Namen Mondsilber‹, ein Ausdruck, der später auch von den Schwarzmagiern übernommen wurde. Silber besitzt eine hohe elektrische und thermische Leitfähigkeit. Kommt es in Kontakt mit einer magischen Kraftquelle, wirkt es wie ein Magnet: Es saugt die magische Kraft in sich auf und speichert sie.«

Giannas Gesicht hellte sich auf. »Okay, dann hat also das Silber in Baldinis Versteck die Macht des Necronomicons aufgesaugt und das wenige, das trotzdem noch durchsickerte, wurde vom Salz isoliert!«

Francesca schob das Lexikon zurück in die Vitrine und nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. Da war noch etwas … Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas vergessen hatte, doch jedes Mal, wenn sie dem Gedanken näher zu kommen schien, entwischte er ihr wieder. Sie versuchte sich noch einmal genau in Erinnerung zu rufen, wie sie das Buch aus dem Versteck geholt hatte: Sie war über das Salz im Separee gelaufen, hatte den Läufer zurückgeschlagen, mit Baldinis Schlüssel das Schloss geöffnet und dann … Francesca stöhnte erneut auf. Natürlich, die fremdartigen Schriftzeichen, die in das Silber eingraviert gewesen waren! Schon damals waren sie ihr seltsam bekannt vorgekommen, doch sie hatte keine Zeit gehabt, sie sich näher anzusehen. Nun erinnerte sie sich auch, wo sie sie schon einmal gesehen hatte: Es waren die gleichen Schriftzeichen, die auch auf der Traumgondel eingraviert waren – Baldini musste sie von ihr abgezeichnet haben.

Francesca zog die Traumgondel aus ihrer Tasche und betrachtete sie. Die Gondel und die filigran gearbeiteten Verzierungen dienten wahrscheinlich nur als Schmuck. Ihre mystische Macht, so wurde Francesca klar, verdankte sie allein den Schriftzeichen. Sie waren der Gegenpol zu den mächtigen Beschwörungszeichen des Necronomicon. Die Zeichen auf der Traumgondel waren die Zeichen des Guten. Sie hatten in der vergangenen Nacht Fiorellas Schattengeister verdrängt.

Gianna schloss das Fenster und sah Francesca mit funkelnden Augen an. »Steh nicht so lahm herum! Wir haben eine Menge zu tun. Auf zur Schatzsuche!«, verkündete sie mit Feuereifer.

»Was denn für eine Schatzsuche?«

»Wir plündern den Palazzo! Wir suchen alles Silber und sämtliche Salzvorräte zusammen.«

Francesca ließ die Traumgondel zurück in ihre Tasche gleiten. Endlich waren sie einen entscheidenden Schritt vorwärtsgekommen. Zum ersten Mal seit Tagen durchströmte sie ein Gefühl der Hoffnung. Sie nickte Gianna zu. »Gut, dann legen wir mal los!«

In den nächsten Stunden durchsuchten sie jeden Winkel des Palazzos und trugen alles Silber zusammen, dessen sie habhaft werden konnten. Im Vorratsraum stießen sie auf eine große Tüte Salz aus dem Großmarkt, doch um auf Nummer sicher zu gehen, leerten sie sogar den Salzstreuer auf dem Küchentisch bis auf das letzte Körnchen. Schließlich standen sie mit all ihren Schätzen in Giannas Zimmer. Das Necronomicon legten sie in einen großen Karton, den sie mit den Schriftzeichen der Traumgondel beschrieben hatten. Sie bedeckten das Buch mit Silberschmuck, zwei Kerzenständern und Nonnas heiß geliebtem Tafelsilber, packten den Karton in Francescas Rollkoffer und befüllten ihn mit dem Salz.

Als der Koffer endlich verschlossen und im Schrank verstaut war, ließen sich die Mädchen erschöpft auf ihre Betten sinken.

»Ich hoffe, das Salz und das Silber wirken«, meinte Francesca und musste ein Gähnen unterdrücken. So langsam machte sich der Schlafentzug bemerkbar. Heute Abend würde sie sicherlich keine Probleme mit dem Einschlafen haben. »Immerhin müssen wir uns auf die mystische Kraft von Kerzenständern und Kaffeelöffeln verlassen.« Sie drehte den Kopf zu Gianna. »Meinst du, den anderen fällt auf, dass die Sachen fehlen?«

Gianna winkte ab. »Mama und Viola tragen fast nie Schmuck. Sie werden überhaupt nicht bemerken, dass wir uns etwas aus ihren Schmuckschatullen ausgeliehen haben. Und das Tafelsilber wird nur an Festtagen benutzt. Abgesehen davon lassen wir uns nicht von irgendwelchen silbernen Kaffeelöffeln beschützen – diese tragen immerhin unser Familienwappen.« Gianna setzte sich wieder auf. »Jetzt gehen wir Nonna besuchen und danach in die Bibliothek, okay?« Ihr Gesicht glühte vor Unternehmungslust. »So etwas Spannendes habe ich noch nie erlebt. Das ist alles so unglaublich aufregend!«

»Mhm«, antwortete Francesca wortkarg. Sie konnte Giannas Begeisterung nicht so recht teilen. Trotz der gestrigen Ereignisse schien Gianna nicht bewusst zu sein, dass es sich bei all dem nicht nur um ein Abenteuerspiel handelte. Sie hatten zwar einen Weg gefunden, der Macht des Buches Grenzen zu setzen, doch Francesca ahnte, dass sie damit noch lange nicht alle Gefahren beseitigt hatten.

Francesca wedelte vor ihrem Gesicht herum. Die Sicht wurde um keinen Deut besser. »Das ist doch kein Nebel, Gianna«, widersprach sie schnaubend. »Das fühlt sich an, als ob man durch eine Wolke laufen würde. Während wir im Krankenhaus waren, muss der Himmel auf die Stadt gefallen sein!«

Es war zwar schon vorher neblig gewesen, doch nun, am späten Nachmittag, war es eindeutig schlimmer geworden.

»Das ist noch gar nichts.« Gianna winkte ab. »Wenn es richtig schlimm wird, muss sogar die Schifffahrt eingestellt werden. Hoffentlich bekommen Matteo und Luca keine Probleme«, fügte sie sorgenvoll hinzu.

Ihre Cousins waren am Nachmittag mit dem Boot nach Murano, einer der umliegenden Inseln Venedigs, gefahren. Sie sollten bei einem Freund ihres Vaters gebrauchte Laminatplatten für die neuen Gästezimmer abholen.

»Du hast doch nicht etwa Angst um die beiden?«, frotzelte Francesca.

»Um Luca natürlich nicht«, widersprach Gianna sofort. »Aber um Matteo würde es mir leidtun. Schon allein wegen seines Weltrekordversuchs. Heute Morgen hätte er sich von Viola fast eine Ohrfeige eingefangen, weil er Nonna ›Gute Besserung‹ ins Gesicht gerülpst hat.«

Francesca lächelte in sich hinein. Matteos Durchhaltevermögen war in der Tat zu bewundern.

Durch den Nebel herrschte eine seltsame Stille in Venedig. Die Stadt war wie in Watte gepackt. Denn nicht nur die Sicht war beeinträchtigt, selbst die Alltagsgeräusche der Stadt klangen gedämpft und die Nebelhörner der Schiffe hallten wie grollende Rufe eines Seeungeheuers durch die Kanäle und Gassen.

»Francesca, pass auf!«

Sie hatte gerade nach links abbiegen wollen, als Giannas Ruf sie aus ihren Gedanken schreckte. Alarmiert sah sich Francesca um. Sie stand direkt vor den beiden Granitsäulen auf der Piazzetta, doch durch den Nebel konnte sie kaum etwas von ihrer näheren Umgebung erkennen.

Gianna trat neben sie. »Du weißt doch, dass es Unglück bringt, wenn man zwischen den Säulen hindurchgeht!«, erklärte sie in mahnendem Tonfall. »Hier wurden früher Menschen hingerichtet.«

»Deswegen erschreckst du mich so?«, stöhnte Francesca und verdrehte die Augen. »Himmel, Gianna, ich dachte schon, dass wir in Gefahr sind. Bist du etwa abergläubisch?«

»Nein, natürlich nicht«, versicherte Gianna nach kurzem Zögern. »Aber es schadet auch nicht, wenn wir uns an diesen alten venezianischen Brauch halten, oder?«

Sie zog Francesca seitlich an den Säulen vorbei in das Gebäude der Biblioteca Nazionale Marciana, das dem Dogenpalast genau gegenüberlag. Ehrfürchtig trat Francesca durch das Eingangsportal, das von etwa drei Meter hohen Statuen flankiert wurde. Gianna, die schon oft in der Bibliothek und gegen ihren Prunk immun war, verstaute ihren Rucksack in einem der Holzschließfächer und gemeinsam stellten sie sich in die Schlange vor dem Pförtnerhäuschen.

Ungeduldig sah Francesca nach vorne. Dort stand eine Frau mit schwarzen schulterlangen Haaren. Sie war etwa im Alter ihrer Mutter und redete gerade verzweifelt auf die Bibliothekarin ein. »… bitte, nur ganz kurz. Ich bin eine deutsche Schriftstellerin und in der Bibliothek soll eine Szene meines nächsten Romans spielen.«

Die Frau im Pförtnerhäuschen schien völlig unbeeindruckt. Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Keine Besucher.«

»Bitte«, flehte die Frau. »Es ist wichtig. Nur für eine einzige Sekunde?«

Doch die Bibliothekarin kannte kein Erbarmen. Zwischen ihren schmalen Lippen presste sie erneut hervor: »Keine Besucher.«

Die Schriftstellerin schielte am Pförtnerhäuschen vorbei auf die Tür des Lesesaals. Für einen Moment schien sie zu überlegen, ob sie ihrem Roman zuliebe einfach am Pförtnerhäuschen vorbei in den Lesesaal spurten sollte. Doch schließlich atmete sie nur geräuschvoll aus.

»Molto grazie!«, bedankte sie sich mit einem gequälten Lächeln bei der Bibliothekarin. Sie steckte ihr Notizbuch zurück in ihre Tasche und lief zum Ausgang.

»Wir werden doch nicht etwa auch solche Probleme bekommen?«, raunte Francesca ihrer Cousine besorgt zu.

Gianna zückte grinsend ihren Bibliotheksausweis. »Vor dir steht eine Einheimische mit gültigem Passierschein!«

Wenige Sekunden später standen sie auf dem roten Teppich des Lesesaals und Francesca hatte das Gefühl, in einem großen Innenhof gelandet zu sein. Über ihren Köpfen erstreckte sich über die ganze Länge des Saals ein Glasdach, durch das graues Tageslicht hereinfiel. An den lang gezogenen Holztischen saßen einige Leser im goldenen Schein der kleinen Lämpchen. Es herrschte eine respektvolle Stille, die nur ab und zu von einem dezenten Hüsteln oder dem Umblättern einer Seite unterbrochen wurde. In den Gängen rund um den Lesesaal standen überall Regale mit Büchern und durch die steinernen Rundbögen in den oberen Stockwerken konnte Francesca unzählige Reihen weiterer Bücherregale ausmachen. Wohin man auch blickte – Bücher über Bücher, die darauf warteten, gelesen zu werden. Es roch nach Leder, vergilbtem Papier, Bücherstaub und uraltem Wissen, das zwischen den Buchseiten schlummerte.

Francesca war für einen Moment so fasziniert, dass sie gar nicht bemerkte, wie Gianna zu einer Bibliotheksgehilfin trat und ihr Leonardos Zettel in die Hand drückte. Eilig schloss sie zu ihnen auf.

»… bin mir sogar ganz sicher, dass es sich dabei um einen Buchtitel handelt«, sagte die Bibliotheksgehilfin gerade in gedämpftem Ton. »Ich hatte es schon einmal in der Hand. Es ist ein außergewöhnliches Werk, da es über mehrere Jahrhunderte hinweg von verschiedenen Autoren geschrieben wurde. Allerdings wird es etwas dauern, bis ich es gefunden habe. Soweit ich mich erinnere, steht es nicht im öffentlichen Bereich.«

»Kein Problem«, versicherte Gianna. »Wie warten hier auf Sie.«

Sie drehte sich mit breitem Grinsen zu Francesca um. »Ist das nicht toll? Wir sind auf dem richtigen Weg. Sobald sie uns das Buch gebracht hat, werden wir das Rätsel lösen, du wirst sehen.«

»Hoffen wir es«, gab Francesca leise zurück.

Gianna wollte sich nicht von der Stelle rühren, bis die Bibliotheksgehilfin mit dem Buch zurück war, doch Francesca begann, durch die Regalreihen der Bibliothek zu wandern. Schon bald wurde ihr klar, dass es hier nicht die Art Bücher gab, die man in ihrem Alter gerne las. Allein beim Lesen der Titel packte sie die Langeweile – »Apologie des Sokrates« von Platon, »Das Gilgamesch-Epos« oder »De brevitate vitae – Die Kürze des Lebens« von Seneca. Die meisten Buchtitel konnte sie nicht einmal entziffern, da es sich um griechische, lateinische oder orientalische Handschriften handelte, die unglaublich alt zu sein schienen. Schließlich lief sie auf ein Regal zu, über dem ein Schild darauf hinwies, dass hier die Neuerscheinungen untergebracht waren. Francesca fragte sich, was man in dieser Bibliothek wohl unter Neuerscheinungen verstehen mochte. Waren hier vielleicht die Steintafeln mit den zehn Geboten untergebracht?

Ein dürrer Mann mit Hornbrille trat neben sie und ließ seinen Blick über die Buchrücken schweifen. Er ging in die Knie und zog ein unscheinbares Buch hervor. Sofort fiel Francesca der Titel ins Auge: »Die bösen Bücher – eine wissenschaftliche Abhandlung von Prof. Albertus von Knüttelsiel über die drei gefährlichsten Bücher der Welt.« Francesca zog scharf die Luft ein.

Als der Mann das Inhaltsverzeichnis aufschlug, rückte sie unwillkürlich näher an ihn heran. Jedes Kapitel war einem der drei bösen Bücher gewidmet: Daemonolatria, Maleficus und – das Necronomicon!

Francescas Herzschlag beschleunigte sich. Sie musste dieses Buch unbedingt haben! Sicherlich konnte es ihnen neue Informationen liefern. Nervös schielte sie zu dem Mann, der inzwischen das Vorwort studierte.

Bitte, leg es wieder zurück!, flehte sie in Gedanken.

Der Mann klappte mit einem sarkastischen Schnauben das Buch zu. Francesca hielt gespannt den Atem an. Als er in die Knie ging, um das Buch wieder zurückzustellen, hätte sie am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen. Stattdessen fragte sie nur: »Entschuldigen Sie, darf ich es vielleicht haben?«

Der Mann drehte sich erstaunt zu ihr um. »Natürlich.« Er drückte ihr das Buch in die Hand. »Aber ich muss dich warnen – Professor Knüttelsiel ist nicht unbedingt ein seriöser Wissenschaftler. Viele bezeichnen ihn als Spinner. Diese drei Bücher, über die er sich hier auslässt, lassen mich vermuten, dass er diesen Ruf zu Recht hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat nämlich keines der Bücher je existiert, alles nur Märchen und Mythen.«

Francesca zuckte mit den Schultern. »Ich mag Märchen und Mythen!«, meinte sie lächelnd.

Sie drückte das Buch wie einen Schatz an sich. So langsam begann sie, sich von Giannas Optimismus anstecken zu lassen. Heute schien tatsächlich ihr Glückstag zu sein! Zuerst hatten sie eine Lösung gefunden, der Macht des Necronomicons Grenzen zu setzen und nun hatte Francesca durch Zufall dieses Buch entdeckt. Sie konnte es kaum abwarten, Gianna davon zu erzählen! Ihre Cousine saß mittlerweile an einem der Holztische und hielt ein dünnes Büchlein mit einem schlichten Einband in den Händen.

»Da bist du ja endlich!«, nörgelte Gianna. »Uns bleibt nicht viel Zeit, bis die Bibliothek schließt! Leider dürfen wir uns nämlich ›Eine Chronik des Unglücks‹ nicht ausleihen. Es wurden nur eine Handvoll Exemplare gedruckt, da ein Nachfahre dieses Rafael Clementoni es auf eigene Kosten herstellen ließ. Wir haben Glück, dass die Bibliothek es überhaupt besitzt.« Sie schob Francesca das Buch hin. »Wir dürfen es uns nur hier vor Ort ansehen. Du liest schneller als ich – sicher bist du bald damit fertig.«

Francesca stöhnte und sah auf die Uhr. Es blieben nicht einmal mehr zwei Stunden, bis die Bibliothek geschlossen wurde. Aber wenn sie sich beeilte, konnte die Zeit ausreichen.

»Gut, aber für dich habe ich auch Arbeit. Du kannst schon mal anfangen, in dieser wissenschaftlichen Abhandlung zu lesen. Darin geht es um das Necronomicon.«

Gianna verzog das Gesicht. »Eine wissenschaftliche Abhandlung?«, sagte sie mit einer Begeisterung, als hätte Francesca von ihr verlangt, sich einen besonders ekelerregenden Fußpilz anzusehen.

»Na komm, so schlimm wird es schon nicht sein!«, meinte Francesca aufmunternd und schlug die »Chronik des Unglücks« auf. Das Buch begann mit einem Vorwort:

Venedig, 12.07.1977

Mein Vorfahre Rafael Clementoni hat mit dieser Niederschrift im Jahre 1618 begonnen, und bis zum heutigen Tag haben wir, seine Nachfahren, sein Erbe fortgeführt. An jenem schicksalhaften Morgen des 18.05.1618 begegnete mein Vorfahre dem leibhaftigen Teufel. Ein Teufel, der sich als Fluch über die Stadt legen und sie nicht mehr aus seinen Klauen entlassen sollte. Weil Rafael nicht wusste, wie er den Teufel seiner Macht berauben konnte, sah er seine Aufgabe darin, all die Unglücke zu protokollieren, die Venedig durch den Fluch widerfuhren – und wir, seine Nachfahren, haben es ihm gleichgetan.

Aus den unglücklichen Fügungen des Schicksals heraus werde ich der letzte Chronist dieser langen Reihe sein. Da ich keine Nachkommen habe, wird mit mir auch die Familie Clementoni sterben. So habe ich all unsere Niederschriften zu diesem Buch zusammenfassen lassen, in der Hoffnung, dass jemand kommen möge, der unserer Familie Glauben schenkt und La Serenissima, unser geliebtes Venedig, von dem Fluch befreien und vor dem sicheren Untergang bewahren wird.

David Clementoni

Francesca zog eine Augenbraue hoch. Venedig musste vor dem sicheren Untergang bewahrt werden? Das klang ja sehr mysteriös! Sie blätterte weiter.

Venedig, 18.05.1618

Ich riss erschrocken die Augen auf. Eine Hand presste sich so fest auf meinen Mund, dass ich kaum noch atmen konnte. Ich blinzelte, um irgendetwas erkennen zu können, doch alles, was mich umgab, war Finsternis. Wo war ich? Warum lag ich nicht zu Hause in meinem Bett? Ich versuchte, die Hand wegzuschlagen und strampelte wie wild, um mich freizubekommen.

»Sei ruhig, du Idiot! Da kommt jemand«, flüsterte eine Stimme nah an meinem Ohr. Der warme Luftzug ihres Atems strich dabei über meine Wange. Sofia! …

Als Gianna und Francesca zwei Stunden später aus der Bibliothek traten, dämmerte es bereits. Francesca blieb einen Moment stehen und atmete dankbar die frische Luft ein. Die Nebelschwaden hingen immer noch bewegungslos über der Piazza San Marco und verwischten die Umrisse der prächtigen Gebäude.

»Und?«, fragte Gianna ungeduldig. »Konntest du etwas herausfinden?«

Francesca steckte die Hände in die Taschen und zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Offen gestanden ist mir beim Lesen schon etwas mulmig geworden.«

Während sie die Piazza San Marco verließen und in das anliegende Gassengewirr eintauchten, begann Francesca vom Inhalt der »Chronik des Unglücks« zu erzählen. Den Anfang bildete die Erzählung Rafaels von dem besagten schicksalhaften Morgen – seiner Flucht in die Baustelle der Procuratie Nuove, dem Fluch, der zum Leben erweckten Statue und den beiden Gehängten, die vom Rat der Zehn hingerichtet worden waren. Danach berichtete die Chronik hauptsächlich von den Unglücken, die Venedig im Laufe der folgenden Jahrhunderte heimgesucht hatten, und die waren in der Tat zahlreich. War Venedig bis dahin die größte europäische Stadt gewesen, deren Reichtum, Einfluss und Schönheit legendär gewesen war, so welkte sie plötzlich dahin. Sie verlor ihre führende Position als Handelsgroßmacht, musste ihre Kolonien aufgeben und wurde mehrmals von schweren Pestwellen heimgesucht. Napoleon Bonaparte gelang es schließlich, Venedig zu besetzen und damit war Venedigs Unabhängigkeit und Freiheit für immer verloren. Nach über 1000 Jahren wurde die Republik Venedig aufgelöst und der letzte Doge musste abdanken. Doch damit endete nicht etwa die »Chronik des Unglücks«. Auch in den folgenden Jahrhunderten berichteten die Aufzeichnungen von Besetzungen, Plünderungen, Verarmung, Cholera und Hochwasserkatastrophen. Erdbeben und Blitzeinschläge beschädigten den Markusturm, das Wahrzeichen Venedigs, bis er 1902 sogar vollständig einstürzte. Die Venezianer waren darüber so geschockt, dass man beschloss, ihn einfach wieder aufzubauen und den Vorfall so schnell wie möglich zu vergessen. Das Sterben Venedigs und der Verfall der Gebäude wurden mit jedem Jahr deutlicher.

Schließlich kamen die Touristen, denn nichts zieht die Menschen mehr an, als eine dem Untergang geweihte Stadt. Millionen von ihnen trampelten Jahr für Jahr über die geschichtsträchtigen Pflastersteine, schmissen ihren Müll in die Gassen und betrachteten die Stadt – so hatte David Clementoni voll Bitterkeit geschrieben – als eine Art historischen Vergnügungspark. Immer mehr Einheimische zogen weg und aus Venedig wurde eine Totenstadt.

»Du hast recht«, meinte Gianna schließlich. »Wenn man das alles so hört, kommt man ins Grübeln. In den letzten vier Jahrhunderten scheint es mit Venedig stetig bergab gegangen zu sein.«

»Die Frage ist, ob das alles nur zufällig passiert ist oder ob es tatsächlich mit einem Fluch zu tun hat, wie die Clementonis behaupten.«

Francesca lief nachdenklich eine Gasse entlang, die nebelverhangen vor ihnen lag. Es gab noch etwas, das sie beschäftigte, doch sie wollte Gianna nicht damit beunruhigen. Als sie in Rafael Clementonis Erzählung von der Statue mit dem Umhang und der Pestmaske gelesen hatte, dachte sie sofort an die Statue, auf die sie bei Baldinis erster Essenslieferung gestoßen war. Genau wie Rafael hatte auch Francesca für einen Moment geglaubt, dass sich die Statue bewegt hatte. Wie viele dieser steinernen Pestmaskenfiguren mochte es in Venedig geben? Dass Francesca vier Jahrhunderte später an einer völlig anderen Stelle Venedigs auf exakt dieselbe Statue traf, war ein wirklich seltsamer Zufall.

Sie bemerkte, dass Gianna Probleme hatte, mit ihr Schritt zu halten und verlangsamte ihr Tempo. Es war ein anstrengender Tag gewesen und sie wusste, dass Gianna wegen ihres Hüftschadens Schmerzen bekam, wenn sie zu viel laufen musste.

Zudem waren die abgetretenen Pflastersteine durch den Nebel von einem schmierig-feuchten Film bedeckt, sodass es ohnehin sicherer war, wenn sie nicht blindlings durch die Gassen hetzten.

»Wenn jemand an die Existenz von Flüchen glauben sollte, dann wir«, stellte Gianna fest. »Da die Medicis von einem Fluch verfolgt werden, kann genauso gut auf Venedig ein Fluch liegen.«

»Unser Großvater schien auch dieser Meinung zu sein. Warum hätte er uns wohl sonst diese Notiz mit dem Buchtitel hinterlassen?«

»Vielleicht gibt es ja eine Verbindung zwischen den Flüchen?«, spekulierte Gianna nachdenklich.

»Daran habe ich auch schon gedacht. Doch wie sollen wir das herausfinden?« Francesca seufzte betrübt auf. »Wo sollen wir jetzt weitersuchen? Wir haben keine weitere Spur mehr, die wir verfolgen können.«

Mittlerweile war es dunkel geworden. Waren ihnen in den umliegenden Gassen der Piazza San Marco noch einige Passanten begegnet, schienen sie nun alleine durch das Labyrinth der Stadt zu irren. Der Mond versteckte sich hinter den Wolken und kein einziger Stern war am Himmel zu sehen. Francesca schlang fröstelnd die Arme um sich. Die Dunkelheit ließ die Nebelschwaden noch gespenstischer erscheinen.

»Hast du in dieser wissenschaftlichen Abhandlung etwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Dieser Professor Knüttelsiel ist ein Spinner«, begann Gianna.

»Schade! Ich dachte wirklich, dass uns diese Abhandlung weiterbringen würde.«

»Lass mich doch mal ausreden! Er selbst hat in seinem Vorwort behauptet, dass er ein Spinner ist«, sagte Gianna. »Anscheinend halten viele seiner Kollegen ihn für verrückt und Knüttelsiel ist sogar stolz darauf. Immerhin erging es den großen Denkern der Menschheit genauso, wie Galileo Galilei und Leonardo Da Vinci.«

»Da ist etwas Wahres dran«, räumte Francesca ein. »Und worum geht es nun in seinem Buch?«

»Der Anfang war genauso schwer zu lesen, wie ich befürchtet hatte. Ehrlich gesagt habe ich nur die Hälfte davon verstanden. Es ging im Wesentlichen um Schriftanalysen, die Prüfungsarten historischer Dokumente und die Möglichkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse und paranormale Erscheinungen in einen gemeinsamen Kontext zu stellen.« Gianna warf ihr einen verschämten Blick zu. »Deswegen habe ich einfach zum Kapitel über das Necronomicon weitergeblättert. Es ist das längste Kapitel der Abhandlung, denn Knüttelsiel ist der Meinung, dass es das gefährlichste der drei bösen Bücher ist. Er hat einiges herausgefunden, das uns weiterhelfen kann. Du wirst begeistert sein!«

Gianna hielt kurz inne und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Hüfte.

»Sollen wir eine Pause machen?«, fragte Francesca besorgt.

»Wenn es dir nichts ausmacht.« Gianna lächelte dankbar. »Nur für einen Augenblick, dann geht es sicher wieder.«

Sie ließ sich auf die Stufen der Brücke sinken, vor der sie gerade standen, und lehnte sich an einen Pfeiler. Trotz des spärlichen Lichts der Straßenlaterne konnte Francesca erkennen, wie sich Giannas Gesichtszüge langsam wieder entspannten.

Verstohlen blickte Francesca auf ihre Uhr. Es war längst nicht so spät, wie sie geschätzt hatte – was wahrscheinlich an der Dunkelheit und dem Nebel lag. Wehmütig dachte sie daran, wie an den Sommerabenden Venedigs Gassen erfüllt waren von den Geräuschen der Anwohner – aus den geöffneten Fenstern drangen Gespräche, Lachen, das Klappern von Tellern und Besteck, die abendlichen Fernsehnachrichten oder Musik. Heute dagegen wirkte die Stadt wie ausgestorben. Francesca war heilfroh, wenn sie endlich wieder zurück im Palazzo waren.

Gianna begann, in ihrem Rucksack herumzukramen. »Die Frau aus der Bibliothek hat mir etwas zum Schreiben ausgeliehen. Die wichtigsten Dinge aus Knüttelsiels Buch habe ich mir gleich notiert.«

Francesca winkte ab. »Das hat doch Zeit, bis wir daheim sind. Wenigstens durften wir uns die Abhandlung ausleihen, dann kannst du mir die Stellen gleich im Buch zeigen.«

Ein Boot knatterte in langsamem Tempo und mit hellen Strahlern ausgestattet vorbei. Wie ein Eisbrecher pflügte es durch die Nebelschwaden und zerteilte sie, während die Bugwellen gierig an den Fassaden der Häuser leckten. Francesca bewunderte den Mut und die Risikobereitschaft des Bootsführers. Es musste schwierig sein, bei dieser schlechten Sicht durch die engen Kanäle zu manövrieren.

»Genug ausgeruht, jetzt müsste es wieder gehen«, verkündete Gianna. »Mein Hintern ist dank der eiskalten Pflastersteine fast schon tiefgefroren.«

»Wenn du wieder Schmerzen bekommst, organisiere ich einen Handkarren und ziehe dich damit nach Hause«, bot Francesca grinsend an. »Die Karren sind schließlich dafür da, schwere und sperrige Dinge durch Venedigs Gassen zu transportieren.«

»Ha, ha, wirklich sehr witzig.«

Gianna stützte sich mit einer Hand an dem Pfeiler ab und stand auf. Im gleichen Moment zogen einige Nebelschwaden weiter und gaben einen Teil ihrer Umgebung frei.

Francesca starrte in Giannas Richtung, doch ihr Blick lag auf etwas, das direkt hinter ihrer Cousine aufragte. Ihr stockte der Atem.

»Gianna, geh da weg!«, flüsterte sie.

Ihre Cousine runzelte verständnislos die Stirn. »Von der Brücke?«

»Von dem … Pfeiler. Geh sofort von ihm weg, hörst du?«

Ein steinernes Knirschen ließ Francesca erstarren. Jeder Muskel ihres Körpers krampfte sich vor Entsetzen zusammen.

Wie in Zeitlupe drehte sich Gianna um. Sie sah zuerst auf die gemeißelten Faltenverzierungen des Pfeilers, auf dem ihre Hand ruhte, dann wanderte ihr Blick langsam nach oben.

Dort hatte der Nebel soeben einen Kopf mit einer spitz zulaufenden Pestmaske freigegeben. Die schwarzen Augen hinter der Maske waren direkt auf Gianna gerichtet und funkelten sie voller Bösartigkeit an.

»Das … das ist ja gar kein Pfeiler«, stammelte sie entsetzt. »Hat sich die Statue gerade wirklich bewegt?«

Ehe Francesca antworten konnte, erklang erneut das Knirschen und die Statue hob ihre tödliche Krallenhand, um nach Gianna zu greifen.

Francesca sprang nach vorne und packte Gianna, die immer noch völlig ungläubig die Bewegungen der Statue beobachtete. »Schnell, nichts wie weg!«, zischte sie ihr zu.

Sie zog Gianna mit sich über die Brücke und wandte sich nach rechts. Fieberhaft suchte sie in Gedanken den schnellsten Weg zum Palazzo.

Gianna blickte zurück und stieß einen panischen Schrei aus. »Madonna mia, dieses … Ding folgt uns!«

»Gianna, du musst schneller rennen!«

Schwere Schritte ließen hinter ihnen die Brücke erzittern.

Endlich schien Gianna zu begreifen, in welcher Gefahr sie sich befanden. War sie bisher willenlos hinter Francesca hergestolpert, begann sie nun zu laufen, so schnell es ihre Behinderung zuließ. Trotzdem, so musste Francesca mit einem Blick über ihre Schulter erschrocken feststellen, waren sie nicht schnell genug. Die Silhouette der verwandelten Statue folgte ihnen in ruhigem, gemächlichen Tempo, doch der Vorsprung der Mädchen verringerte sich mit jedem ihrer Schritte.

Sie bogen in eine lang gezogene Gasse, die von beiden Seiten von fensterlosen Häuserzeilen eingerahmt war und in der der Nebel wie zusammengepresste Zuckerwatte stand. Rechts und links von ihnen zweigten alle paar Meter kleinere, schlecht beleuchtete Wege von der Durchgangsgasse ab.

»Wie weit noch bis zum Palazzo?«, stieß Francesca atemlos hervor. »Auf dem schnellsten Weg?«

»Fünf Minuten.«

Das hatte Francesca befürchtet. Sie würden es nicht schaffen … Gianna humpelte immer stärker und ihr Gesicht war mittlerweile nicht nur vor Angst, sondern auch wegen der immer stärker werdenden Schmerzen verzerrt.

Francesca sah sich noch einmal um und fasste einen Entschluss. »Hör zu, Gianna: Bei der nächsten Abzweigung biegst du ab und versteckst dich. Ich warte hier, bis er nahe genug an mich herangekommen ist, und locke ihn von dir weg. Dann kannst du zum Palazzo laufen.«

»Aber …«, setzte Gianna an, um zu widersprechen, doch dann verstummte sie. Ihr schien klar geworden zu sein, dass Francescas Vorschlag für sie beide die einzige Chance war. Wenn sie zusammenblieben, wären sie verloren.

Sie stoppten vor einer abzweigenden Gasse. Ihre Hände lösten sich nur widerstrebend voneinander.

»Es tut mir so leid!«

»Es gibt überhaupt nichts, was dir leidtun muss, Gianna.«

»Viel Glück!«, flüsterte sie mit erstickter Stimme, dann verschwand sie im Dunkel der Gasse.

Francesca atmete tief durch und drehte sich zu ihrem Verfolger um.

Schon sah sie die breitschultrige Gestalt vor sich aus dem Nebel auftauchen. Vor Schreck setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Er war bereits viel näher, als sie erwartet hatte.

Nur noch fünf, sechs Schritte, dann hatte er sie erreicht.

Nervös huschten ihre Augen zu der abzweigenden Gasse. Sehr gut, von Gianna war nichts zu sehen! Francesca durfte jetzt keinen Fehler machen. Um Gianna nicht zu gefährden, musste sie unbedingt die Nerven behalten.

Noch vier Schritte.

Schon erkannte sie die Falten seines wehenden Umhangs, die nach hinten spitz zulaufende Kapuze, die Kälte und Bösartigkeit in den Augen hinter der Maske – und die messerscharfen Krallenhände. Schlagartig wurde ihr klar, dass es diese Krallen gewesen sein mussten, die sich im Antiquariat in Baldinis Gondel gegraben hatten. Damals hatte sie sich nicht erklären können, was für eine Waffe solche tiefen Kratzer hinterlassen konnte, doch nun wusste sie es. Dieses Wesen war der Einbrecher gewesen! Und jetzt war es hinter ihr her. Eine irrsinnige Angst ergriff plötzlich von ihr Besitz, die ihr fast den Verstand raubte. Sie begann, am ganzen Leib zu zittern.

Noch drei Schritte.

Alles in ihr schrie danach, wegzurennen. Weg, nur weg von diesem … Monster? Dämon? Lebendig gewordenen Fluch?

Nein, sie musste an Gianna denken! Sie hatten einen Plan und an den musste sie sich halten.

Sie hörte seinen rasselnden Atem. Ein leichter Geruch von Fäulnis wehte zu ihr herüber.

Noch zwei Schritte.

»Auf die Plätze, fertig …!«, murmelte Francesca mit zittriger Stimme.

Das Wesen streckte seine Krallenhand aus, ein Laut des Triumphs entwich ihm.

»LOS!«, schrie sie so laut, dass Gianna sie hören konnte.

Für einen Moment hielt das Wesen irritiert inne. Überraschung leuchtete in den schwarzen Augen auf.

Francesca nutzte sein Zögern. Sie drehte sich ruckartig um und rannte um ihr Leben. Ihre Füße hämmerten über die feuchten Pflastersteine, ihre Schritte hallten vielfach von den Wänden wider. Die Angst trieb sie voran, schneller, weiter. Im Laufen warf sie einen kurzen Blick über die Schulter. Mit einer Mischung aus Panik und Erleichterung sah sie, dass ihr das Wesen tatsächlich folgte. Obwohl es immer noch nicht rannte und Francesca ohne Gianna nun so viel schneller vorankam, war es ihr dicht auf den Fersen.

Sie sauste über Brücken und kleine Campi hinweg, bog so eng wie möglich um die rechtwinkligen Kurven, beschleunigte in Durchgängen und lang gezogenen Gassen. Schon bald hatte sie die Orientierung verloren. Lief sie in Richtung des Palazzos oder von ihm weg? War sie überhaupt noch im Stadtteil Cannaregio? Ihre Geschwindigkeit und der Nebel machten es ihr unmöglich, etwas zu erkennen, an dem sie sich orientieren konnte. Bei jeder Abzweigung betete sie darum, dass sie nicht in einem Innenhof, einer Sackgasse oder direkt in einem Kanal landete. Sie lief so schnell wie noch nie in ihrem Leben, ihre Lunge zog in großen Schüben die Luft ein, Schweiß rann über ihre Stirn, ihre Kleider klebten auf ihrer Haut. Lange konnte sie dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Als sie sich erneut umwandte, war Francesca sich absolut sicher, dass sich ihr Vorsprung vergrößert hatte. Doch sie hatte sich getäuscht. Mit Schrecken erkannte sie, dass sich das Wesen ihrer Geschwindigkeit anzupassen schien. Schlimmer noch, es holte sogar mit jedem Schritt ein klein wenig auf.

Peng!

Francesca fuhr so erschrocken zusammen, dass sie fast gestolpert wäre. Über ihr begannen die Lichter der Gasse zu zerplatzten, eines nach dem anderen, die Scherben fielen mit lautem Klirren zu Boden. Dann war es plötzlich still und Francesca stand in absoluter Finsternis.

Hilflos streckte sie ihre Hände aus. Keine Panik, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Sie musste sich nur auf ihr Gehör und ihren Tastsinn verlassen, genau wie Fiorella! Ihre Fingerspitzen glitten zu beiden Seiten über raues Mauerwerk, das sich wie spitze Nadeln in ihre Haut bohrte. Ihr Körper sträubte sich dagegen, trotz der Dunkelheit weiterzulaufen und es kostete sie all ihre Überwindung, in einen leichten Laufschritt zu fallen. Sie durfte auf keinen Fall stehen bleiben!

Hinter sich hörte sie das Rascheln eines Umhangs.

Das Geräusch hätte sie überall wiedererkannt. Hunderte Male, nein, Tausende Male hatte sie dieses Geräusch schon durch das Dunkel verfolgt. Die Erkenntnis traf Francesca wie ein Schlag. Das Rascheln des Umhangs, das eng stehende Mauerwerk, der Geruch nach Tang, Salz und Feuchtigkeit: Alles hier war wie in dem Albtraum, der sie seit frühester Kindheit Nacht für Nacht quälte!

Sie beschleunigte, rannte nun fast wieder, trotz der Dunkelheit und des glitschigen Kopfsteinpflasters. Vorwärts, immer nur vorwärts, nur nicht an einer Stelle verharren!

Da – seine Schritte …

Sie stöhnte auf. Es war schon zu nahe, viel zu nahe. Wider besseres Wissen wandte sie sich um, doch ihre Augen konnten die Schwärze der Nacht nicht durchdringen. Dann verloren ihre Füße für einen winzigen Moment den Halt. Francesca rutschte aus und fiel. Sofort erinnerte sie sich an ihren letzten Traum, in dem sie sich ihren Knöchel gebrochen hatte. Das durfte ihr dieses Mal nicht passieren! Verzweifelt streckte sie ihre Hände aus und verlagerte ihr Gewicht nach vorne. Als sie mit voller Wucht auf ihre rechte Hand fiel, entfuhr ihr ein spitzer Schrei. Es fühlte sich an, als bohre sich ein Messer in ihr Handgelenk. Der Schmerz war so intensiv, dass ihr augenblicklich Tränen in die Augen stiegen. Langsam, quälend langsam, nahm das Stechen und Pochen ein erträgliches Ausmaß an.

Francesca biss die Zähne zusammen und kämpfte sich mühsam wieder in die Höhe. Wenigstens konnte sie weiterlaufen!

Sie lauschte in die Dunkelheit. Wie weit war ihr Jäger noch von ihr entfernt? Würden sich jeden Augenblick seine Krallen in ihre Schulter bohren, um sie zurückzureißen? Sie konnte keinen einzigen Laut vernehmen, doch er musste hier irgendwo sein. Schon vor ihrem Sturz war er viel zu nahe gewesen. Er spielte mir ihr.

Sie presste ihr schmerzendes Handgelenk an ihren Körper und lief weiter. Schon nach wenigen Schritten hörte sie hinter sich wieder das Rascheln des Umhangs.

Lähmende Verzweiflung ergriff sie. Was hätte sie jetzt darum gegeben, dass Gianna an ihrer Seite wäre und ihre Hand halten würde … Sie fühlte sich so unglaublich alleine. Wie konnte es sein, dass ihr während ihrer ganzen Flucht nicht ein einziger Passant begegnete? Warum hatte niemand ihren Schrei gehört?

Wie aus weiter Ferne hallte Fiorellas von Bosheit verzerrte Stimme in ihrem Kopf: »Es wird niemand kommen, um dir zu helfen. In der Dunkelheit herrschen sie. Im Dunkeln haben sie die Macht und beeinflussen, was geschieht.« War ihr Verfolger vielleicht auch eines dieser Schattenwesen? Bestand etwa eine Verbindung zwischen ihm und dem Necronomicon?

Abrupt blieb Francesca an einer Abzweigung stehen. Sie kniff die Augen zusammen. War da vorne nicht ein Licht?

Ja, sie hatte sich nicht getäuscht: Wie die Strahlen der untergehenden Sonne fiel das Licht einer einzelnen Hängelampe in das Ende der schmalen Gasse. Sofort schöpfte Francesca neuen Mut. Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass sie der Anblick einer Lampe einmal so glücklich machen würde. Sie beschleunigte ihre Schritte und erkannte, dass es eine kleine Brücke war, auf die sie zusteuerte. Sie hatte ein messingfarbenes Geländer und erstreckte sich in einem schrägen Winkel über den Kanal. Francesca entwich ein Lachen. Sie kannte diese Brücke! Zwar hatte sie diese bisher nur vom Wasser aus gesehen, wenn sie darunter mit dem Boot durchgefahren war, aber es gab keinen Zweifel – es war eine Brücke, die ganz in der Nähe des Palazzos lag.

Eine wilde, verzweifelte Hoffnung machte sich in ihr breit und gab ihr neue Kraft. Vielleicht hatte sie doch noch eine Chance, diesem Wesen zu entkommen …

Francesca rannte die Brücke hinauf – und stand plötzlich direkt vor einer Haustüre. Sie war in einer Sackgasse gelandet. Dabei kam es in Venedig nur selten vor, dass eine Brücke direkt an einem Hauseingang endete, und sie hatte ausgerechnet eine von ihnen erwischt. Die Fenster des Hauses waren verrammelt und kein noch so kleiner Lichtschein trat daraus hervor. Trotzdem drückte Francesca ununterbrochen auf die Klingel und trommelte verzweifelt mit der Faust an die Tür. Doch nichts tat sich, kein einziges Geräusch drang aus dem Haus.

Er hatte sie in eine Falle gelockt!

Sie drehte sich langsam um. Die kleine Lampe über der Brücke begann zu flackern. Was würde dieses teuflische Wesen mit ihr anstellen? Würde sie in wenigen Augenblicken genau wie Baldini am Boden liegen, mit fünf tiefen Kratzern über der Brust?

Das Herz schlug Francesca bis zum Hals. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Die Spitze der Pestmaske bohrte sich wie ein Messer durch den Nebel.

Das Wesen, das nur aus tiefem Schwarz zu bestehen schien, trat an Francesca heran. Es sog genüsslich die Luft ein, als würde es Francescas Duft gierig in sich aufnehmen, ihn verschlingen.

»Endlich sehen wir uns wieder!«, sagte er mit einer krächzenden Stimme, die Francesca einen Schauer über den Rücken jagte. Genau wie in ihrem Albtraum klang sie, als käme sie aus den Tiefen einer dunklen Höhle. »Eine Jagd wird erst dann interessant, wenn die Beute nicht allzu berechenbar ist. Aber du bist leider wie ein kleiner, dummer Falter zum Licht gelaufen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass dies dein Ende sein wird.«

»Wer … sind Sie?«, stammelte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Was wollen Sie von mir?«

Das Wesen legte den Kopf schief, ohne Francesca dabei aus den Augen zu lassen. »Ich bin Nyarlath«, fauchte er. »Ich bin der Bote und der Wille jener Mächte, die das Dunkel beherrschen. Ich bin der Fluch, der über Venedig liegt.«

Francesca wagte nicht, sich zu bewegen. Dieses Wesen, Nyarlath, sprach mit ihr – war das nicht ein gutes Zeichen? Wenn er sie mit seinen spitzen Krallen hätte aufspießen wollen, hätte er es längst tun können.

Er trat noch dichter an Francesca heran und sofort verflog ihre Hoffnung wieder. Nyarlaths bösartige Aura umhüllte sie wie mit eiskalten Schwingen und presste alle Wärme aus ihr heraus. Dies war ein Wesen, das nur aus Dunkelheit und Hass bestand.

»Und ich will das Necronomicon!«, zischte er.

»Was?«, entfuhr es Francesca entsetzt. Woher wusste er, dass sie das Necronomicon hatte? Hatte er sie etwa beobachtet, als sie aus Baldinis Antiquariat gekommen war?

»Ein Buch«, gab Nyarlath eisig zurück. Er schien ihren Ausruf glücklicherweise missverstanden zu haben. »Ein sehr altes Buch, das ich unbedingt haben muss. Schon deine Vorgänger haben von mir den Auftrag erhalten, das Necronomicon zu suchen.«

Sie atmete auf. Anscheinend hatte Nyarlath keine Ahnung davon, dass sie das Necronomicon bereits gefunden hatte. »Meine Vorgänger?«

»Die Erstgeborenen einer jeden Medici-Generation.«

Francescas Gedanken überschlugen sich. Hatte ihr Großvater deswegen nach dem Necronomicon gesucht? Hatte Nyarlath auch ihm den Auftrag dazu erteilt? Aber Leonardo hatte anscheinend nicht vorgehabt, es ihm auszuhändigen.

»Warum ausgerechnet meine Familie? Warum die Medicis?«

»Du stellst zu viele Fragen, Mädchen. Strapaziere nicht meine Geduld!«, sagte Nyarlath gereizt, ließ sich jedoch trotzdem dazu herab, ihre Frage zu beantworten. »Dieses eine Exemplar des Necronomicons hat eine besondere Verbindung zu deiner Familie. Es wird, sobald es ihm möglich ist, immer wieder zu einem Medici zurückkehren. Wenn es jemand finden kann, dann bist es du. Oder besser gesagt – es findet dich.«

Das mochte sogar stimmen. Sobald das Necronomicon aus seinem Salzwassergefängnis befreit worden war, gelangte es über Baldini wie zufällig zu ihrem Großvater – zu jenem Mann, der es jahrzehntelang wie die Stecknadel im Heuhaufen vergeblich gesucht hatte. Doch dann hatte Baldini es ihm abgenommen und das Necronomicon in sein nächstes Gefängnis gesteckt – bis zu dem Tag, an dem Francesca es herausgeholt hatte.

»Bisher haben sich alle Medicis meinem Wunsch gefügt und ich rate dir, es ihnen gleichzutun. Denn wie du siehst, bist du nirgends vor mir sicher«, sagte er mit drohender Stimme. »Ich schleiche mich in eure Träume und quäle euch so lange, bis ihr meinen Auftrag erfüllt habt. Das Schöne daran ist, dass man im Traum nicht lügen kann.« Er hob seine Hand und fuhr mit einer seiner Krallen Francescas Hals entlang. Aus den Augenwinkeln bemerkte Francesca, dass die Spitze der Kralle nicht wie die anderen schwarz war, sondern in einem gefährlichen Rot leuchtete. »Wirst du meinen Auftrag ebenfalls annehmen? Wirst du das Necronomicon für mich suchen?«

Francesca schloss die Augen und wagte nicht einmal, zu atmen. »Ja, das werde ich«, wisperte sie.

»Das ist eine sehr kluge Entscheidung von dir.«

Er trat einen Schritt von Francesca zurück. Sie japste nach Luft und hatte das Gefühl, dass ihr vor Erleichterung fast die Beine wegsackten.

»Die Zeit drängt. Da du es in den letzten Nächten vorgezogen hast, mir den Zugang zu deinen Träumen zu verwehren, musste ich dich leider hier in der Realität aufspüren. Das hat mich sehr verärgert.« Er schnalzte unwillig mit der Zunge. »Im Gegensatz zu deinen Vorgängern werde ich dir nicht unbegrenzt Zeit geben, das Buch zu finden.«

»Und warum nicht?«

Er ging zur Mitte der Brücke, wobei er es vermied, direkt unter den Lichtschein der Lampe zu treten. Nyarlath hob den Kopf, schloss die Augen und atmete tief ein. »Das Necronomicon ist hier, ich spüre es. Seit Jahrhunderten war seine Präsenz nicht mehr so stark wie in den vergangenen Tagen. Es wird für dich ein Leichtes sein, zu ihm zu finden.«

Francesca nutzte die Gelegenheit und tastete sich Schritt für Schritt seitwärts. Das Messinggeländer der Brücke war nicht besonders hoch, es ging ihr nur bis zu den Oberschenkeln, trotzdem verwarf sie den Gedanken sofort wieder, einfach in den Kanal zu springen. Das Wasser war um diese Jahreszeit eisig, wahrscheinlich wäre sie innerhalb weniger Minuten steif vor Kälte und würde ertrinken. Aber vielleicht konnte sie seitlich an Nyarlath vorbeihuschen?

In diesem Moment riss er jedoch wieder die Augen auf und drehte sich ruckartig zu Francesca um.

»Ich höre die Rufe meiner Brüder wie eine verlockende, weit entfernte Melodie. Trotzdem kann ich nicht selbst nach dem Buch suchen. Es ist kräftezehrend, in dieser menschlichen Gestalt erscheinen zu müssen.« Er betrachtete für einen Moment scheinbar missmutig seine Krallenhände. »Schon zu lange war ich von meinen Brüdern getrennt.«

Er ballte seine Hände zu Fäusten und stand mit einem einzigen Satz direkt vor Francesca. Vor Schreck verlor sie fast das Gleichgewicht und sie musste mit den Armen rudern, um nicht rücklings in den Kanal zu fallen.

»Ich hoffe, du wirst dich weiterhin als so hilfreich erweisen wie bisher!«, zischte er.

Francesca blinzelte verwirrt. »Wie bisher?«

Er lachte leise. »Wir sind uns schon vor einigen Tagen in einem kleinen Campo begegnet, erinnerst du dich? Leider war es am helllichten Tag, sodass ich mich nicht bewegen und mich dir nicht vorstellen konnte. Aber in dieser Nacht habe ich die Präsenz des Buches zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder gespürt und zwar so nah, dass ich die Rufe meiner Brüder deutlich hören konnte. So bin ich zu der Adresse, die du mir am Rand des Brunnens freundlicherweise zugeflüstert hast. Nur leider war ich etwas zu spät.«

Francesca starrte ihn wie vom Donner gerührt an. Es war ihre Schuld, dass Nyarlath im Antiquariat aufgetaucht war? Baldini hatte ihr vor seinem Tod noch erzählt, dass er das Necronomicon nach ihrem ersten Besuch aus seinem Versteck geholt und darin gelesen hatte. Von Gewissensbissen geplagt hatte der alte Mann nach einem Weg gesucht, ihr zu helfen. Ehe der Dämon jedoch das Antiquariat hatte ausfindig machen können, musste Baldini das Necronomicon wieder in seinem Versteck verstaut haben – und so war Nyarlath wutentbrannt über Baldini und sein Antiquariat hergefallen. Gequält presste Francesca die Augen zusammen. All dies wäre wahrscheinlich niemals geschehen, wenn sie Nyarlath am Rande des Brunnens nicht versehentlich Baldinis Adresse verraten hätte.

»Nun musst du dich selbst auf die Suche machen. Ich hoffe, es ist nicht zu spät.« Er hob die Nase seiner Pestmaske an und schnüffelte. »Die Spur des Necronomicons wird von Minute zu Minute schwächer. Irgendetwas muss mit ihm geschehen sein.«

Francesca wusste genau, was die Macht des Buches schwächte – es waren Fiorellas Kaffeelöffel, der Schmuck und mehrere Kilo Salz, doch natürlich hütete sie sich davor, Nyarlath etwas davon zu verraten. Sie wusste zwar nicht, was er mit dem Necronomicon vorhatte, aber es war sicherlich nichts Gutes. Er schien mit dem Buch eng verbunden zu sein, immer wieder sprach er von seinen »Brüdern«. Vielleicht plante er, mithilfe des Buches noch weitere Dämonen aus dieser anderen Welt zu holen und so das Portal zu öffnen? Francesca fröstelte bei diesem Gedanken. Dies durfte sie auf keinen Fall zulassen.

»Du hast zwei Tage Zeit, um das Buch zu finden.«

Sie schluckte schwer. »Oder?«

»Oder …« Er schwieg genüsslich und Francesca sah ihn mit großen Augen an.

Etwas begann sich zu verändern. Waren es nur ihre Knie, die vor Angst zitterten? Fing sie an, zu schwanken? Nein, es war der Boden, der unter ihren Füßen bebte!

Das Erdbeben wurde mit jeder Sekunde stärker. Francesca versuchte, das Gleichgewicht zu halten, ging in die Knie und klammerte sich am Messinggeländer fest. Ziegel lösten sich neben ihr vom Hausdach und landeten wie kleine Wasserbomben im Kanal. Francesca wurde von einer wilden Panik erfasst, sie hatte das Gefühl, dass die Welt sich wie in einem Karussell zu drehen begann. Erst nach einigen quälend langen Augenblicken ließ das Beben nach.

Nyarlath beugte sich zu Francesca hinab. »Oder ich werde meinen Auftrag zu Ende bringen und Venedig wird untergehen!«, beendete er seinen Satz. »All deine Vorfahren haben sich für diese Stadt geopfert, es war direkt herzergreifend. Dabei ist es doch nichts als ein Haufen alter Steine, erbaut auf Millionen versteinerter Baumstämme – ein toter, im Meer versenkter Wald. Aber immer, wenn es um ihr geliebtes Venedig ging, haben deine Vorfahren ihren Widerstand gegen mich aufgegeben. Alles Leid, jede Qual haben sie ertragen, nur um diese Stadt zu retten.«

»Wenn … wenn ich Ihnen das Necronomicon nicht gebe, wird Venedig untergehen?«, stammelte sie fassungslos.

Er nickte voller Genugtuung. »Ich wusste doch, dass du mit der gleichen blinden Rührseligkeit an dieser Stadt hängst wie alle Venezianer.«

»Ich bin keine Venezianerin!«, lag es ihr trotzig auf den Lippen, doch sie schluckte die Bemerkung hinunter.

»In zwei Tagen übergibst du mir das Necronomicon, hast du das verstanden?«

Sie nickte wortlos. Es war besser, erst einmal auf seine Forderung einzugehen. Vielleicht konnte sie später eine Lösung finden, gemeinsam mit Gianna. Aber dazu brauchten sie Zeit.

Sie schielte zur Seite. Ob sie nun gehen konnte? Würde Nyarlath sie einfach ziehen lassen?

»Da ist noch etwas …« Er packte sie an ihrem verletzten Handgelenk und zog sie in die Höhe. Francesca wimmerte vor Schmerz. »Egal, was dich vor den Albträumen schützt, du wirst es mir jetzt geben! Dann kannst du mir jede Nacht von deinen Fortschritten berichten und ich kann dich auch besser …«, er stieß ein kaltes, leises Lachen aus, das Francesca einen Schauer über den Rücken jagte, »… motivieren!«

Francesca spürte, wie sie erbleichte. Sie schüttelte langsam den Kopf. Er durfte ihr die Traumgondel nicht abnehmen! Ansonsten wäre sie ihm schutzlos ausgeliefert. Doch schon fuhren seine Krallenhände suchend über ihre Kleider. Francesca wollte zurückweichen, doch sie stand bereits zu weit am Rand der Brücke. Sie hob ihre Fäuste und schlug auf ihn ein, doch es war, als ob sie gegen eine Mauer aus massivem Stein einhieb. Sie hatte der Kraft dieses Wesens nichts entgegenzusetzen. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen.

Hinter sich hörte sie das Tuckern eines Motors.

Nyarlaths Kralle näherte sich ihrer linken Jackentasche, in der sie die Traumgondel versteckt hatte.

Plötzlich hörte sie vom Wasser aus eine Stimme rufen: »Francesca, spring, schnell!«

Doch die Kralle war schon in ihre Jackentasche hineingeglitten.