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sie lief durch die Dunkelheit. Hektisch, atemlos. Ihre Haare klebten feucht an ihrer Stirn, ihr Brustkorb hob und senkte sich so schnell, dass es schmerzte. Er war hinter ihr her! Auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, so spürte sie dennoch seine Gegenwart. Das Böse, das gleich einem Insekt begierig seine Fühler ausstreckte und jeden Winkel nach ihr abtastete, kam ihr immer näher.
Er suchte sie. Wie jede Nacht. Doch so nah wie heute war er ihr noch nie gekommen. Sie musste sich beeilen! Schon hörte sie seine Schritte und das Rascheln seines Umhangs. Francesca ignorierte das schmerzhafte Stechen in ihrer Seite und eilte weiter. Das Pflaster zu ihren Füßen war nass und glitschig, das Echo ihrer Schritte hallte dumpf von den Wänden. Der Geruch von Salz, Tang und Feuchtigkeit stieg ihr in die Nase. Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre … Hilflos streckte sie ihre Hände aus. Wo war sie nur? Ihre Fingerspitzen glitten zu beiden Seiten über raues Mauerwerk, das sich wie spitze Nadeln in ihre Haut bohrte.
Wider besseres Wissen blickte sie im Laufen über ihre Schulter. Ob er noch weit entfernt war? Oder würde sich jeden Augenblick seine Hand in ihre Schulter bohren, um sie zurückzureißen? Aber sosehr sie sich auch bemühte, ihre Augen konnten die Finsternis nicht durchdringen. Als sie sich wieder umdrehte, verloren ihre Füße auf dem nassen Pflaster für einen winzigen Moment den Halt. Francesca rutschte aus und fiel mit einem erstickten Aufschrei zu Boden. Etwas in ihrem linken Knöchel brach mit einem knackenden Geräusch entzwei. Der Schmerz raubte ihr für einen Augenblick fast das Bewusstsein.
Doch sie musste weiter. Eine innere Stimme schrie ihr verzweifelt zu, dass sie ihm niemals in die Hände fallen durfte! Es wäre ihr Ende. Francesca ignorierte den Schmerz und kroch auf allen vieren weiter. Vorwärts, immer nur vorwärts, nur nicht an einer Stelle verharren!
Da – seine Schritte …
Sie stöhnte auf. Er war schon zu nahe, viel zu nahe. Francesca hatte keine Chance mehr, zu entkommen. Sie presste die Augen zusammen. Ich muss aufwachen, keuchte sie, ICH MUSS SOFORT AUFWACHEN! Sie kniff sich so stark in den Arm, dass der Schmerz in ihrem Knöchel für einen Moment nachzulassen schien. Doch es nützte nichts.
Direkt vor ihr verstummte das Geräusch. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Die Dunkelheit verdichtete sich zu einer hochgewachsenen Silhouette aus tiefem Schwarz. Sie hörte, wie er genüsslich die Luft einsog, als würde er Francescas Duft gierig in sich aufnehmen, ihn verschlingen. Seine jahrelange Jagd hatte ein Ende.
»Endlich habe ich dich gefunden!«, sagte er mit einer krächzenden Stimme, die Francesca einen Schauer über den Rücken jagte. Sie klang, als käme sie aus den Tiefen einer dunklen Höhle.
Francesca schlug die Augen auf. Ihre Hände krallten sich in der Bettdecke fest und ihr Pyjama klebte unangenehm auf ihrer Haut.
Ich bin in der Realität, flüsterte sie sich wie jeden Morgen selbst zu, das hier ist real! Mit zitternden Fingern fuhr sie sich über die Augen. Es war nur ein Albtraum!
Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag wieder und die Angst verflüchtigte sich. In gleichem Maße sickerte die ungeheuerliche Erkenntnis von dem, was gerade geschehen war, in ihr Bewusstsein: Ihr Jäger hatte zu ihr gesprochen!
In all den Jahren, in denen sie von ihrer Flucht durch die Dunkelheit geträumt hatte, endete der Traum immer kurz vor ihrer Entdeckung, auf dem Höhepunkt ihrer Angst. Doch nicht dieses Mal … Der Albtraum begann sich zu verändern. Ob dies etwas zu bedeuten hatte? Der Kinderpsychologe hätte dies wahrscheinlich für einen Fortschritt gehalten und würde es als Zeichen deuten, dass Francesca beginne, sich ihren unterdrückten Ängsten zu stellen.
Aber irgendetwas in Francesca ahnte, dass diese Veränderung nichts Positives bedeutete. Nein, es war sogar alles andere als positiv. Er hatte sie gefunden! Ein Gefühl sagte ihr, dass von nun an alles schlimmer werden würde.
Francesca setzte sich auf und massierte geistesabwesend ihren schmerzenden Knöchel. Sie fühlte sich wie gerädert.
Gianna, die am Schreibtisch an einer Zeichnung arbeitete, sah mit einem Lächeln auf. »Guten Morgen, du Schlafmütze! Ich dachte schon, du willst den ganzen Tag im Bett bleiben.«
»Ist es schon so spät?« Francesca warf einen Blick auf ihren Radiowecker. Erstaunt stellte sie fest, dass schon elf Uhr vorbei war. Sie hatte fast den ganzen Morgen verschlafen! »Tut mir leid, aber ich hatte Probleme, einzuschlafen.«
Das war nur die halbe Wahrheit. Eigentlich hatte sie sich dazu gezwungen, wach zu bleiben. Immerhin wusste sie aus Erfahrung, dass sich ihre Albträume in Venedig verschlimmerten. Sie hatte sich davor gefürchtet, in diese Welt aus Dunkelheit, Angst und Verfolgung einzutauchen. So hatte sie krampfhaft die Augen offen gehalten und die Decke angestarrt, doch gegen Morgen hatte sie die Müdigkeit übermannt. Ihre Augen waren zugefallen wie zwei schwere Tore, die sie in eine fremde Welt beförderten.
»Du hattest keine gute Nacht, oder?« Gianna legte ihre Zeichnung beiseite und warf ihr einen besorgten Blick zu. »Ich habe gesehen, wie du dich unruhig hin- und hergewälzt hast.«
»Es war halb so schlimm.« Francesca versuchte, eine fröhliche Miene aufzusetzen. »Mach dir bitte keine Sorgen um mich, ich bin an diese Albträume gewöhnt!«
Gianna zog skeptisch eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. »Jetzt zieh dich erst mal an und komm mit nach unten«, schlug sie nach einer beklemmenden Pause vor. »Ich werde Mama sagen, dass sie dir eine heiße Schokolade machen soll. Soviel ich weiß, haben Luca und Matteo vom Frühstück noch einen kleinen Rest übrig gelassen. Abgemacht?«
Francesca nickte ihr dankbar zu. Nachdem sie sich gewaschen und angezogen hatte, fühlte sie sich tatsächlich schon viel besser, und während sie die Stufen hinab zur Küche ging, war sie in Gedanken schon bei der Frage, was für ein ominöses Geheimnis ihr Nonna Fiorella wohl in wenigen Stunden anvertrauen würde. Als sie am Salone da ballo vorbeilief, dem einstigen Ballsaal des Palazzos, hielt sie einen Moment inne. Der Ballsaal war der Mittelpunkt des ersten Stockes und von kleineren Zimmern umgeben, aus denen gerade lautes Hämmern, Radiomusik und unterdrücktes Fluchen drangen. Hier sollten die neuen Gästezimmer entstehen.
In keinem anderen Raum war der Verfall des Palazzos so deutlich spürbar wie im Ballsaal. Die Wandgemälde waren verblasst, der Stuck war zerbrochen und das Wappen der Medicis, das als großes Mosaik den Fußboden zierte, zum größten Teil zerstört. Nur mit Mühe konnte man noch das goldene Rossstirnschild erkennen, in dem fünf rote Kugeln schwebten. Gekrönt wurden sie einst von einer blauen Kugel, in die drei goldene Lilien eingefasst waren, doch an dieser Stelle klaffte nur noch ein hässliches Loch im Mosaikboden.
Das Tageslicht, das durch die breiten Fenster fiel, ließ den Verfall noch deutlicher erscheinen. Die zahlreichen Spiegel, die die gegenüberliegende Seite schmückten und den Saal einst noch größer und glanzvoller wirken ließen, waren blind oder zerbrochen. Als Francesca an ihnen vorüberlief, sah sie ihr Spiegelbild nur zerstückelt, oft fehlte ihr ein Teil des Gesichts oder ihr Körper wirkte seltsam entstellt. Der Spiegel, vor dem sie nun stand, bedeckte ihren Kopf mit einem schwarzen Schleier, als wäre sie von einer Aura des Todes umgeben … Francesca fröstelte. Eilig wandte sie sich ab und schlang wärmend ihre Arme um sich. Der Ballsaal gehörte zu den Zimmern, die selbst bei großer Kälte nicht beheizt wurden.
Dort, wo einst die Kronleuchter aus Murano den Saal in prachtvolles Licht getaucht hatten, hingen heute nur noch die nackten Aufhängungen von der Decke herab. Sie waren bereits vor Jahrzehnten verkauft worden. Schon oft hatte sich Francesca gefragt, wie das Leben im Palazzo früher gewesen sein mochte. Als das Ca’nera, der schwarze Palast, noch eine weiße Fassade hatte und die Familie noch nicht verarmt war. Damals, als vor fünf Jahrhunderten die Medicis in Venedig angekommen waren, mit dem Ziel, in der aufstrebenden Handelsstadt ein Bankimperium aufzubauen. Lakaien, Küchenpersonal, Dienstmädchen und Gondolieri waren in dieser Zeit im Palazzo beschäftigt und es wurden rauschende Bälle gefeiert.
Francesca schloss die Augen und versuchte, in die Erinnerungen des Ballsaals einzutauchen … Musik, Stimmengewirr und Lachen drangen an ihr Ohr. Das goldene Licht der Kronleuchter erhellte den mit Blumen geschmückten Raum. Die Herren forderten die Damen, die rauschende, prunkvolle Gewänder trugen, mit einer galanten Verbeugung zum Tanz auf. Diener huschten umher und reichten den Herrschaften Wein und Gebäck, während das Orchester einen langsamen Walzer anstimmte. In diesem Moment betraten der Hausherr und seine Gemahlin den Saal, sie nickten ihren Gästen zu und …
»Wir können die Wand nicht durchbrechen!«, riss sie eine männliche Stimme aus ihren Tagträumen. »Himmel, Emilio, wie oft denn noch? Schau dir die Pläne an: Das ist eine tragende Wand!«
»Ist sie nicht!«, kam die prompte Antwort aus dem Nebenzimmer. »Ich habe alles genau ausgemessen und laut meinen Zahlen ist das hier nicht die tragende Wand!«
»Ich werde noch wahnsinnig«, jaulte sein Gegenüber auf. Nur einen Moment später stürmte Onkel Antonio, Giannas Vater, in den Ballsaal, in der Hand einen schweren Vorschlaghammer. Bis auf seine Lippen waren sein Gesicht und seine dunklen Haare von einer weißen Staubschicht überzogen und hätte er nicht wütend die Augenbrauen zusammengezogen, hätte er Francesca an einen Clown erinnert. Als Antonio seine Nichte erblickte, glätteten sich jedoch die Runzeln auf seiner Stirn.
»Hallo, Francesca!«, begrüßte er sie und sein Clownsmund verzog sich zu einem breiten Lächeln.
Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Schnell, hilf mir mal! Ich brauche dringend ein Versteck für den Hammer. Ansonsten bringt es Emilio noch fertig, das komplette Haus einzureißen.«
Francesca erwiderte sein Lächeln. Sie mochte Onkel Antonio, seine Fürsorge und Herzlichkeit. Wenn sie sich einen Vater hätte aussuchen dürfen, dann hätte sie wahrscheinlich ihn gewählt.
Sie sah sich suchend um und deutete auf das Kopfende des Saals. »Wie wäre es im Kamin? Feuer wird darin sowieso nicht mehr gemacht.«
»Perfekt!«, jubelte Antonio und marschierte eiligen Schrittes auf den Kamin zu, in den mühelos ein Kleinwagen gepasst hätte. »Ich darf nur nicht vergessen, den Hammer später wieder herauszuholen! Der Kamin wird bald zugemauert.« Er ließ seinen Blick kritisch durch den Raum schweifen. »Hier wird sich viel verändern. Schon bald werden an dieser Stelle Touristen aus aller Welt frühstücken.«
Francescas Schultern sanken herab. »Muss das wirklich sein? Ich möchte mir gar nicht vorstellen, hier mit all den fremden Menschen zu wohnen.«
»Wir haben leider keine andere Wahl. Unsere Familie benötigt neben dem Restaurant dringend ein zweites finanzielles Standbein.« Er breitete seufzend die Arme aus. »Ansonsten werden wir all das hier verlieren und müssen Venedig verlassen. Kannst du dir deine Großmutter in Mestre in einer Mietwohnung vorstellen?«
Sie wusste, dass ihr Onkel dies nicht nur sagte, damit sie ihre Meinung änderte. Tatsächlich mussten immer mehr Venezianer ihre Heimatstadt wegen der gestiegenen Mietpreise und horrenden Lebenshaltungskosten verlassen. Viele Häuser in der Altstadt standen mittlerweile leer. Die meisten zogen in die Industriestadt Mestre, die Venedig am nächsten lag. Venedig dagegen wandelte sich immer mehr zu einer Totenstadt und wurde zu einem Freilichtmuseum für Touristen.
Sie deutete auf die verstreut am Boden liegenden Werkzeuge und Bauutensilien. »Ihr habt noch viel Arbeit vor euch, oder?«
»Es wird noch eine Weile dauern, bis wir fertig sind. Vor allen Dingen, weil dein Onkel als Handwerker völlig unfähig ist«, fügte er lauter als notwendig hinzu.
Das Sägen im Nebenzimmer brach ab und ein kleiner, korpulenter Mann mit Halbglatze stürmte in den Ballsaal. Genau wie bei Antonio war auch sein Gesicht mit einer weißen Staubschicht bedeckt. Er stemmte seine Hände in die nicht vorhandenen Hüften und wieder einmal fiel Francesca die Ähnlichkeit zwischen Onkel Emilio und seinem jüngsten Sohn Matteo auf. »Das habe ich gehört!«, schnaubte er und funkelte Antonio wütend an. Dass dieser fast zwei Köpfe größer war, schien ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken. Er fuchtelte mit seinem pummeligen Zeigefinger vor Antonios Gesicht herum. »Meine Berechnungen stimmen, Signore Oberschlau. Das da drin ist keine tragende Wand! Nur weil du in unserer Familie für die Buchhaltung und das Geschäftliche zuständig bist, musst du nicht immer recht haben. Ich bin nicht so blöd, wie ich aussehe!«, beendete er seine Rede atemlos.
Antonio seufzte gequält auf. »Gut, wenn du meinst, dann werde ich die Pläne noch einmal studieren.«
Emilio nickte zufrieden und wandte sich Francesca zu, die sich während der Unterhaltung der beiden ein breites Grinsen nicht verkneifen konnte.
»Moment, mit dir stimmt etwas nicht!« Er warf ihr einen strengen Blick zu, der Francesca ganz mulmig zumute werden ließ. Dann malte er mit seinem staubigen Finger einen Strich auf ihre Nase und zwinkerte ihr zu. »So, jetzt siehst du wenigstens aus wie der Rest der Familie!«
Antonio schnüffelte in die Luft. »Riecht es hier irgendwie angebrannt?«, fragte er stirnrunzelnd.
Ach herrje, das hatte Francesca ganz vergessen!
»Stella wollte mir eine heiße Schokolade machen. Ich sollte schnell zu ihr in die Küche gehen!«
Antonio hob vielsagend eine Augenbraue. »Hoffentlich magst du deine Milch sehr, sehr heiß.«
»Soll Francesca die Milch vielleicht von der Herdplatte schlürfen?«, erwiderte Emilio in ironischem Tonfall. »Stella wird wohl kaum noch etwas im Topf gelassen haben, das nicht angebrannt ist.«
»Lästerst du etwa über die Kochkünste meiner Ehefrau?«, fragte Antonio gereizt.
»Das machst du doch auch bei jeder Gelegenheit!«
»Ich darf das, immerhin bin ich mit ihr verheiratet. Ich lästere schließlich auch nicht über Violas Figur.«
»Willst du damit etwa sagen, meine Frau sei mollig?«
»Nein, mollig war nicht das Wort, an das ich gedacht hatte.«
Francesca entfernte sich kopfschüttelnd und ließ die beiden Streithähne alleine. In der Küche wischte Tante Stella gerade fluchend den Herd sauber, während Gianna den Topf einweichte.
»Dabei habe ich mich nur eine Minute umgedreht und schwups war es passiert!« Stella warf dem Herd einen vorwurfsvollen Blick zu.
Sie war neben Francesca die Einzige in der Familie, die Fiorellas ehemals tizianrotes Haar geerbt hatte. Allerdings trug sie es im Gegensatz zu Francesca raspelkurz. Sie meinte, das sei praktischer und sie habe keine Zeit, stundenlang an einer kunstvollen Frisur herumzufummeln. Da sie schlank und zierlich war, stand ihr der außergewöhnliche Haarschnitt jedoch ausgesprochen gut.
»Dann setzen wir eben schnell neue Milch auf«, beschwichtigte Gianna sie.
»Macht euch keine Mühe«, meldete sich Francesca zu Wort. »Ich trinke einfach ein Glas Orangensaft und esse ein paar Kekse. Das reicht mir vollkommen.«
»Francesca, du bist ein Schatz! Anscheinend gibt es außer dir niemanden in der Familie, der leicht zufriedenzustellen ist.« Stella gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Aber erzähle das nur nicht Viola, sonst denkt sie noch, dass ich dich verhungern lasse.«
Die drei setzten sich zusammen an den langen Holztisch, der einen Großteil des Raumes einnahm. Die Küche mochte Francesca von allen Zimmern des Palazzos am liebsten. Über der Küchenzeile hingen Pfannen und getrocknete Kräuter, in dem Kamin, der früher auch als Kochstelle gedient hatte, glomm ein wärmendes Feuer und die Wände waren mit goldglänzenden Madonnen- und Jesusbildern geschmückt.
»Ich war kurz im Ballsaal«, erzählte Francesca, während sie an einem Zaletti, dem typisch venezianischen Keks mit Rosinen knabberte. »Emilio und Antonio führen gerade wieder eines ihrer Streitgespräche.«
Stella winkte ab. »Keine Sorge, in fünf Minuten liegen sich die beiden wieder in den Armen.« Sie nippte kurz an ihrem Milchkaffee. »Du hast mir noch gar keine Neuigkeiten von deiner Mutter erzählt. Wie geht es Isabella? Ich habe meine Schwester schon so lange nicht mehr gesehen, dass ich sie wahrscheinlich gar nicht mehr wiedererkennen werde.«
Betreten starrte Francesca auf die Tischplatte. »Sie kommt sicherlich bald mal wieder nach Venedig«, tröstete sie ihre Tante und setzte ein schiefes Grinsen auf. »Bis dahin kann ich dir ein paar aktuelle Bilder von ihr auf meinem Handy zeigen.«
»Das ist ja wenigstens etwas!«, gab Stella mit einem übertrieben glücklichen Seufzen zurück. »Dann kann ich immerhin darüber lästern, wie alt sie geworden ist, ohne dass sie mir eine Kopfnuss verpasst.«
»Francesca, wollen wir heute ins Kino gehen?«, wechselte Gianna das Thema. Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff sie nach der Tageszeitung. »Ich schau mal kurz nach, was für Filme gezeigt werden.« Sie schlug die Zeitung auf, ließ sie aber sofort wieder sinken. »Wir könnten aber auch hierbleiben und uns gegenseitig die Haare flechten oder in den neuen Klamottenladen gehen, der kürzlich …«
»Gianna, hast du vergessen, dass du mir versprochen hast, nach Weihnachten im Restaurant auszuhelfen?«, erinnerte Stella sie mit sanfter Stimme. »Dein Vater und Emilio werden die nächsten Tage mit dem Umbau beschäftigt sein. Viola und ich brauchen jede helfende Hand im Restaurant.«
Gianna sank in sich zusammen. Es war ihr anzusehen, dass sie sich ihre Ferien anders vorgestellt hatte.
»Es trifft dich nicht alleine!«, versuchte ihre Mutter sie zu besänftigen. »Matteo hilft seiner Mutter schon seit heute Morgen in der Küche und Luca muss noch einige Dinge für den Umbau besorgen. So ist das eben in einer Familie, da muss jeder mithelfen.«
Francesca war der vorwurfsvolle Blick, den Gianna ihr reflexartig zugeworfen hatte, nicht entgangen. Stella hätte Francesca nie dazu gezwungen, in ihren Ferien im Restaurant zu arbeiten, was Gianna offensichtlich nicht ganz gerecht fand.
»Ich werde euch natürlich auch unterstützen«, beeilte sie sich zu versichern. »Heute Mittag bin ich zwar mit Nonna verabredet, aber vorher könnte ich die Essenslieferung für die Geschäftsleute übernehmen.«
Stella lächelte ihr dankbar zu. »Das ist lieb von dir!« Sie stand auf und klatschte in die Hände. »Avanti! Worauf wartet ihr noch? Packen wir es an und stürzen wir uns in die Arbeit! Lasst uns das Restaurant putzen, die Gläser polieren und die Gäste im Rekordtempo bedienen.«
Gianna sank noch tiefer in sich zusammen. »Dein übertriebener Arbeitseifer lässt mich ganz schlapp werden«, jammerte sie.
Francesca musste ihr recht geben. Bei Stellas Worten hatte sie sich schon am Ende eines langen Arbeitstages völlig erschöpft und mit Blasen an den Füßen ins Bett wanken sehen.
»Na schön, vielleicht motiviert euch ja der Gedanke, dass Viola euch gleich mit dem heutigen Tagesgericht abfüttern wird, ihren hausgemachten Gnocchi in cremiger Vierkäsesoße. Und als Nachtisch verabreicht sie euch sicherlich ihr selbst gemachtes Schokoladen-Tiramisu!«
Gianna und Francesca sprangen gleichzeitig auf. »Das hättest du uns doch gleich sagen können!«, beschwerte sich Francesca. »Ich dachte, wir hätten es eilig?«
Die beiden zogen sich schnell ihre Jacken über und schlüpften noch vor Stella aus dem Haus.
Das Antiquariat musste doch hier irgendwo sein! Francesca warf einen Blick auf das Straßenschild, das in zweieinhalb Meter Höhe angebracht war. Sotoportego Del Banco Salviati. Schon wieder falsch! Sie seufzte auf und tauchte in das Halbdunkel des Fußweges ein, der unter mehreren Häusern hindurchführte und mit Säulen zum Kanal hin abgegrenzt war.
An jeder nur erreichbaren Stelle, ob an Hauswänden, Brückenmauern oder Eingangstüren, hatten Jugendliche ihre grellbunten Graffitis hinterlassen. Meist waren es nur wilde Schmierereien oder Namenszüge, als wollten die Verfasser damit verzweifelt auf ihre Existenz hinweisen. Vielleicht war dies ein Aufbegehren der Jugend gegen das Gefängnis einer jahrhundertealten Stadt. Eine Stadt, die so sehr an der Vergangenheit festhielt, dass sie die Gegenwart zu verleugnen schien – und somit auch alles Lebendige, das sich in ihr befand.
Hätte sie doch nur daran gedacht, ihre Handschuhe mitzunehmen! Ihre Finger, die die Transportbox aus schwarzem Styropor umklammert hielten, waren gerötet und taub vor Kälte. Aber wenigstens hielt die Kiste das Essen darin warm, denn Francesca irrte schon seit einer halben Ewigkeit durch den Stadtteil Santa Croce und hatte die Calle della piccolezza, in der sich das Antiquariat befinden sollte, immer noch nicht gefunden. Alle anderen Kunden hatte sie schon beliefert, es fehlte nur noch ein gewisser Horatio Baldini. Er gehörte zu ihren treuesten Stammkunden und ließ sich drei Mal in der Woche das Mittagessen in sein Geschäft kommen. Baldini war ein alter Freund der Familie und deshalb hatte bisher immer Stella seine Essenslieferung übernommen. Doch Fiorella, die wie jeden Tag um die Mittagszeit auf einem Stuhl in der Küche saß und über alle Vorgänge im Restaurant herrschte, hatte befohlen, dass Francesca heute Baldini beliefern sollte – schließlich gäbe es für Stella im Restaurant genug Arbeit. Ihre Großmutter hatte Francesca mehrmals daran erinnert, dass sie dem Antiquar gegenüber höflich sein und sich mit Namen vorstellen musste. Er sollte wohl wissen, dass ihn trotz der vielen Arbeit ein Familienmitglied belieferte. Anscheinend lag Fiorella viel daran, dass Baldini eine gute Meinung von ihnen hatte.
Francesca bog um eine Ecke und tauchte in die Dunkelheit einer schmalen Gasse ein. Sie kannte sich in diesem Stadtteil nicht besonders gut aus und selbst gebürtige Venezianer verirrten sich hin und wieder im Labyrinth der Gassen.
Zu allem Überfluss begann es nun auch noch zu nieseln. Die Regenwolken über Venedig waren von solch einem dunklen Grau, dass das Licht des Tages fast vollständig von ihnen verschluckt wurde. Die Stadt wirkte wie ausgestorben. Wer nicht unbedingt nach draußen musste, machte es sich an Tagen wie diesen lieber zu Hause gemütlich.
»Verflixt!« Francesca verzog verärgert den Mund. Nun war sie schon wieder auf dem Campo San Polo gelandet. Im Sommer war sie hier oft mit Gianna, da auf dem Campo in den warmen Sommermonaten ein Open-Air-Kino aufgestellt wurde. Heute bedeutete dies jedoch, dass sie sich noch weiter von ihrem Ziel entfernt hatte. Über die Calle Bernardo tauchte sie wieder in das Gewirr der kleinen Gässchen ein. Hier zweigten die Wege abrupt mal nach rechts, mal nach links ab, sodass man zwischen den Häuserschluchten schon nach kürzester Zeit die Orientierung verlor.
Auf gut Glück folgte Francesca einer Gasse, die so schmal war, dass sie fast mit ihrer Transportbox stecken geblieben wäre … und landete prompt auf einem Campo, der so klein war, dass er eher einem Innenhof glich.
»Na großartig, eine Sackgasse!«, stöhnte sie auf.
Sie hatte sich vollkommen verlaufen und keine Ahnung mehr, wo sie war. Francesca sah sich um. Die Häuser, die den Platz umschlossen, machten allesamt einen verfallenen, ungastlichen Eindruck. Hier schien seit langer Zeit niemand mehr zu wohnen. Francesca fröstelte. Diese menschenleeren Campi weckten in ihr schon immer ein beklemmendes Gefühl. Sie kam sich vor wie auf der Bühne eines leeren Theaters, in dem es keine Zuschauer gab und sie der einzige Akteur war. Der Putz an den Häusern war zu großen Teilen abgebröckelt, die Fenster waren verrammelt und in einer Ecke hatte jemand achtlos einige Müllsäcke entsorgt. Dem beißenden Gestank nach zu urteilen, lagen sie dort schon seit einiger Zeit herum. Unter den Säcken drang ein stetiges Rascheln und Fiepen hervor. Francesca erschauderte. Sie wusste, was dieses Geräusch zu bedeuten hatte. Ratten!
Inmitten des Campo stand ein kleiner Brunnen, dessen steinerne Umrandung größtenteils abgebröckelt war und in dessen Mitte sich eine mannshohe Statue befand, der sich Francesca nun fasziniert näherte.
Das steinerne Kunstwerk wirkte hier völlig fehl am Platz. Es war das Bildnis eines venezianischen Arztes mit einer langen, spitz zulaufenden Pestmaske vor dem Gesicht. Der Statue haftete etwas seltsam Lebendiges an. Die steinernen Falten des Umhangs, die tiefe Kapuze und die scharfkantigen Schuhspitzen hatte der Bildhauer sorgfältig und detailgetreu ausgearbeitet. Nur bei den Fingern schien ihn sein künstlerisches Geschick verlassen zu haben – sie wirkten wie unförmige lange Krallen. Francesca schluckte schwer. Fast schien es ihr, als könnte sie aus dem Dunkel der Maske zwei schwarze kalte Augen schimmern sehen. Wer diese Statue hier aufgestellt hatte, musste einen seltsamen Geschmack haben …
Sie riss sich von ihrem Anblick los und rief sich in Erinnerung, dass sie endlich dieses Antiquariat finden musste. Ansonsten würde Baldinis Pasta noch eiskalt werden und zu dem Treffen mit ihrer Großmutter würde Francesca auch zu spät kommen! Sie ließ sich auf dem Rand des Brunnens nieder und öffnete den Deckel der Transportbox. Für Notfälle wie diesen hatte Stella an der Innenseite einen Stadtplan befestigt. Francesca beugte sich darüber und studierte die Karte.
»Hier ist der Campo San Polo, dort war ich gerade«, murmelte sie nachdenklich. »Wenn ich jetzt …«
Ruckartig richtete sich Francesca auf. Sie hatte einen Hauch in ihrem Nacken gespürt, so warm wie der Atem eines Menschen. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich um.
Nichts.
Hinter ihr war nichts außer der Statue.
Seltsam. Sie hätte schwören können, dass sie sich den Luftzug nicht nur eingebildet hatte, zu deutlich hatte sie die Wärme auf der Haut gefühlt. Stirnrunzelnd starrte sie auf die Statue und fragte sich, ob … Nein, was für ein alberner Gedanke! Sie schüttelte mit einem schiefen Lächeln den Kopf, strich sich eine Locke aus dem Gesicht und wandte sich wieder dem Stadtplan zu.
»Calle della piccolezza … wo bist du nur?« Konzentriert fuhr Francesca mit dem Zeigefinger die Gassen des Stadtbezirks Santa Croce nach. Plötzlich entfuhr ihr ein Freudenschrei. »Da ist sie ja!«
Endlich hatte sie die Gasse gefunden. Sie war nicht einmal weit von ihr entfernt. Francesca beugte sich vor, schloss die Transportbox und wollte sich gerade erheben, als sie ein Geräusch innehalten ließ.
Es klang wie das Knirschen von Stein.
Dieses Mal war sich Francesca absolut sicher, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Sie fuhr herum. Hektisch suchten ihre Augen den kleinen Campo ab. Es war niemand zu sehen, selbst von den Ratten war kein Geräusch mehr zu hören, als ob sie den Müllhaufen fluchtartig verlassen hätten. Trotzdem spürte Francesca, dass sie beobachtet wurde. Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Ihr Blick huschte über die Häuser, die verrammelten Fenster, den Brunnen – und wieder zu der Statue. Die Pestmaske war wie ein drohender Fingerzeig direkt auf sie gerichtet.
Francesca schnappte entsetzt nach Luft. Das war doch nicht möglich! Sie musste sich täuschen, ihre Fantasie spielte ihr einen Streich, nichts weiter. Wahrscheinlich lag es nur an dem Schlafmangel der vorigen Nacht … Ein Bildnis aus Stein konnte nicht den Kopf zur Seite drehen!
Francesca fuhr sich mit der Hand über die Augen und atmete tief durch. Sie durfte nicht zulassen, dass sie die Angst aus ihren Albträumen nun auch in den Tag hinein verfolgte. Hier war alles völlig normal, sie war in Sicherheit! Und wenn sich die Statue tatsächlich hätte bewegen können, dann hätte sie es sicherlich nicht nur bei einem Drehen des Kopfes belassen.
Nach und nach normalisierte sich ihr Herzschlag wieder. Sie hob die Transportbox auf und zwang sich, ruhigen Schrittes den Campo zu verlassen. Nur mit Mühe konnte sie das Gefühl abschütteln, dass die Statue sie bis zum letzten Moment nicht aus den Augen gelassen hatte.
Die Calle della piccolezza war tatsächlich winzig. Ein niedriger, mit Efeu überwucherter Torbogen führte in die nur wenige Schritte lange Gasse, dann endete sie auch schon an einem Kanal, in den der Nieselregen kleine Kreise tupfte. Die Häuser zu beiden Seiten schienen sich unter ihren hochgewachsenen Nachbarn zu ducken und ihre kleinen Fenster erinnerten an Schießscharten – wahrscheinlich konnte kaum Tageslicht in das Innere der Häuser dringen. Kein Wunder, dass Francesca diese Gasse immer wieder übersehen hatte. Über dem Eingang des rechten Hauses wurde ein schwarzes Schild vom nasskalten Winterwetter hin- und hergeschaukelt. Der goldene Schriftzug »Antiquariato Horatio Baldini« war teilweise abgeblättert und kaum mehr zu entziffern. Sie fragte sich, warum Baldini ausgerechnet hier ein Geschäft eröffnet hatte. Sicherlich hatte er nicht besonders viel Laufkundschaft.
Trotz des »Geschlossen«-Schildes an der Eingangstür griff Francesca nach der schweren schwarzen Türklinke. Fiorella hatte ihr verraten, dass Baldini auch zur Mittagszeit sein Geschäft nicht abschloss. Die Tür gab ein widerwilliges Ächzen von sich. Der modrige Geruch von Staub, Alter und Vergangenheit schlug Francesca entgegen.
»Signore Baldini?« Zaghaft tastete sie sich in den spärlich beleuchteten Laden hinein. Es war niemand zu sehen.
Francesca fühlte sich wie ein unwillkommener Eindringling. »Ist hier jemand?«, rief sie etwas lauter. Keine Antwort.
Francesca stellte die Transportbox auf einem mit Büchern und Papieren überladenen Tresen ab. Neben einigen liebevoll restaurierten Möbelstücken gab es eine lange Regalreihe, die vollgestellt war mit Kristallkaraffen, zierlichen Statuen, Büsten und verzierten Holzkistchen. Einen Großteil des Raumes nahm jedoch eine aufgebockte, etwa zehn Meter lange Gondel ein. Bewundernd strichen Francescas Finger über die schwarz polierte Oberfläche und die sechs Zacken des metallenen Bugbeschlags, die die Stadtteile Venedigs symbolisierten. Es war seltsam, inmitten eines geschlossenen Raumes eine Gondel stehen zu sehen – als ob man einen Fisch an Land gebracht hätte. Im Inneren der Gondel stapelten sich in einem wilden Durcheinander Bücher aller Art. Sie waren offenbar alle einmal dem acqua alta, dem Hochwasser, ausgesetzt gewesen und der Antiquar bot sie nun für die Hälfte ihres einstigen Preises an. Während der Wintermonate wurde Venedig immer häufiger von acqua alta heimgesucht und ein Großteil der Altstadt wurde dabei unter Wasser gesetzt. Die Ladeninhaber hatten schon Routine darin, ihre Waren rechtzeitig in Sicherheit zu bringen – bei Büchern war dies allerdings schwierig. Francesca nahm ein Buch aus der Gondel. Die Seiten waren zu kleinen fortlaufenden Wellen verformt, als ob das Lagunenwasser dem Papier etwas von seiner Erscheinungsform überlassen hätte.
Sie schlenderte weiter durch den Laden und trat durch einen Perlenvorhang in ein kleines Separee, dessen Wände vollständig von Bücherregalen eingenommen waren. Unter Francescas Sohlen knirschte es. Erstaunt sah sie nach unten. Der Holzboden war mit einer dünnen Salzschicht bedeckt … Ein kleiner abgewetzter Läufer in der Mitte des Raumes war sogar so sehr mit Salz bestreut worden, dass er wie eingeschneit wirkte. Francesca runzelte die Stirn. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wozu dieses viele Salz nützlich sein könnte. Aber vielleicht war Baldini auch nur ein Missgeschick passiert und nun war er auf der Suche nach einem Besen. Dies würde auch erklären, warum sie ihn nirgends im Laden entdecken konnte.
Das kleine Separee schien Horatio Baldinis Schatzkammer zu sein. Er besaß eine exquisite Büchersammlung. Es waren wertvolle, in Leder gebundene Erstausgaben, die sich insbesondere mit Zauberei, Beschwörungsformeln, Hexenkünsten, Geisterwesen und Übernatürlichem beschäftigten. Ein Regal weckte sofort Francescas Interesse. Hier standen ausschließlich alte Gruselromane. Sie zog eine Kurzgeschichtensammlung von H.P. Lovecraft hervor. Es war eine signierte Erstausgabe. Sie blätterte das Buch durch und ihr Blick fiel auf eine kursiv geschriebene Textstelle:
Ein Pfuhl voll Finsternis, tiefschwarz
Als sei’s ein Tiegel, darin Gifte kochen
Aus Blumen, im Mondlicht von Hexen gebrochen.
Ins Dunkel spähend, ob ich fände
Den Weg hinab, bohrte mein Blick
Sich in den Schlund und fiel direkt
Auf steile, glitschig glatte Wände
Welche mit zähem Schleim bedeckt,
Pechfinster, wie auch jener Schlick
Der an des Totenozeans Ufern leckt.
Francesca bekam eine Gänsehaut. Was für düstere Zeilen …
»Mit diesem Buch kannst du sicherlich nichts anfangen«, stellte eine Stimme neben ihr in unfreundlichem Ton fest.
Francesca zuckte so sehr zusammen, dass ihr beinahe das Buch aus den Händen glitt. Völlig lautlos war ein älterer Herr mit schütterem Haar neben sie getreten. Seine Augen waren von einem ausgeblichenen Hellblau, als hätte das Alter die Farbe darin ausgewaschen. Seine auffällig rote Lesebrille, die auf seiner Nasenspitze balancierte, konnte die Tränensäcke unter seinen Augen nicht vollständig verdecken. Francesca schätzte, dass der Mann im Alter ihrer Großmutter war. Irritiert sah Francesca zuerst zu ihm, dann auf das Buch. »Warum sollte ich mit diesem Buch nichts anfangen können?«
»Nun, du kannst scheinbar nicht lesen!«, meinte er abschätzig. »Ansonsten hätte dich das ›Geschlossen‹-Schild davon abgehalten, in mein Geschäft einzudringen und hier herumzuschnüffeln.«
»Ich habe Ihnen Ihr Mittagessen gebracht«, klärte sie den Antiquar hastig auf. »Ich helfe meiner Familie heute im Restaurant aus. Ich bin Francesca. Francesca di Medici.«
Sie streckte dem alten Mann mit einem freundlichen Lächeln ihre Hand entgegen, doch Baldini reagierte nicht darauf. Er starrte sie nur mit weit aufgerissenen Augen an, als habe er soeben einen Geist gesehen.
»Di Medici?«, quetschte er schließlich mit rauer Stimme hervor. »Aber Fiorella hat doch nur Töchter. Ich dachte, alle ihre Enkel tragen andere Nachnamen?«
Auch wenn der Antiquar ein guter Freund ihres verstorbenen Großvaters gewesen war und er noch heute Kontakt zur Familie hatte, wunderte es Francesca nicht, dass Baldini diese Information überraschte. Denn obwohl ihre Großmutter insgeheim stolz darauf war, dass Francesca als einzige Enkelin den Familiennamen trug, schwieg sie sich gegenüber anderen doch meist darüber aus, dass ihre Tochter Isabella ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte.
Francesca dagegen hatte damit keine Probleme. »Meine Mutter hat meinen Vater nicht geheiratet, deswegen trage ich als einzige Enkelin den Namen Medici.«
Der alte Mann musterte Francesca so eindringlich, dass ihr unbehaglich wurde. Sie kniff ihre Lippen zusammen. Fiorella hätte sie ruhig vorwarnen können, dass Baldini so ein seltsamer, alter Kauz war!
»Du hast dunkle Schatten unter deinen Augen«, stellte er fest. »Du … du schläfst schlecht. Dich plagen Albträume, nicht wahr?« Etwas in seiner Stimme hatte sich verändert. Es lag so viel Mitgefühl und Bedauern in seiner Frage, dass es Francesca für einen Moment das Herz zusammenzog. Aber wie konnte er von ihren Albträumen wissen? Das war absolut unmöglich. Trotzdem hatte sie plötzlich das starke Verlangen, ihm die Wahrheit zu sagen. Vielleicht, weil es manchmal einfacher war, sich einem Fremden anzuvertrauen.
»Ja, fast jede Nacht. Und hier in Venedig sind die Albträume besonders schlimm.«
Ihr entging nicht, dass Baldini blass geworden war. Er fuhr sich über das Gesicht. »Es beginnt von Neuem«, meinte Francesca ihn murmeln zu hören.
»Wie bitte?«
Erschrocken sah er auf, als habe er für einen Moment vergessen, dass das Mädchen anwesend war. »Nichts. Es ist nichts.«
Er nahm ihr das Buch von Lovecraft aus der Hand und stellte es zurück ins Regal. »Trotzdem ist dieses Buch nichts für dich und Liebesromane, Pferdegeschichten oder anderen Teenagerfirlefanz führe ich nicht.«
Francesca reckte trotzig ihr Kinn. Sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn Menschen ein Urteil über sie fällten, ohne sie zu kennen. »Sie täuschen sich. Ich habe diese Kurzgeschichten von Lovecraft nämlich schon gelesen, aber natürlich nicht in solch einer wertvollen Ausgabe.«
»Ach ja?« Baldini blinzelte sie über seine Brille hinweg skeptisch an. »Und wie findest du seine Geschichten?«
Francescas Augen blitzten auf. Anscheinend wollte Baldini sie testen. »Er ist sehr fantasievoll, wenn es darum geht, Angst und Schrecken zu erzeugen. Nur ist man beim Lesen meistens schon eingeschlafen, bis es endlich so weit ist. Sein Stil ist etwas … langatmig.«
Baldini warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Wahre und offene Worte für so ein junges Mädchen«, sagte er schmunzelnd. »Aber ganz im Vertrauen: Ich bin auch schon des Öfteren über einer seiner Geschichten eingenickt.«
Er verließ das Separee und Francesca folgte ihm zum Tresen. Wortlos nahm er das Essen aus der Box entgegen, ließ sich schwerfällig auf einen abgewetzten Stuhl sinken und öffnete den Deckel der Aluminiumschale. Sofort war die Luft erfüllt von Violas leckerer Soße. In Olivenöl gebratene Tomaten, Knoblauch, Basilikum und Thymian drängten den modrigen Geruch des Antiquariats zurück in die Regale.
»Die Pasta ist fast kalt.« Der Tadel in Baldinis Stimme war unüberhörbar.
»Tut mir leid, ich habe das Antiquariat nicht auf Anhieb gefunden«, entschuldigte sich Francesca. »Es liegt sehr versteckt.«
»Ich hab es nicht so gern, wenn andauernd Leute in meinem Laden herumstehen und meine Schätze befingern.«
Erstaunt sah Francesca ihn an. Für einen Geschäftsmann war dies eine außergewöhnliche Einstellung.
»Ich habe mich auf das Beschaffen seltener Bücher spezialisiert, wie du gesehen hast, im Speziellen mystische Bücher aus dem Mittelalter«, erklärte er ihr, während er lustlos in seiner Pasta herumstocherte. Er schien keinen großen Hunger zu haben. »Unter Liebhabern dieses Genres herrscht eine große Nachfrage nach gut erhaltenen Erstausgaben. Manchmal beauftragen mich die Leute auch, nach einem verschollen geglaubten Buch zu fahnden.«
»Dann sind Sie so etwas wie ein Detektiv für Bücher? Ein Bücherjäger?«, fragte Francesca begeistert.
»Wenn du es so nennen willst.« Baldini lächelte. »Dadurch habe ich übrigens deinen Großvater kennengelernt. Er war ebenfalls so ein Bücherjäger – wenn er es auch nur als Hobby für seine eigene Sammlung betrieben hat.«
Francesca konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Davon hatte ihre Großmutter nie erzählt. Natürlich wusste Francesca von Großvaters Büchersammlung, die verschlossen hinter der Vitrine in Fiorellas Zimmer stand. Aber sie hatte vermutet, dass es sich dabei um vererbte Erinnerungsstücke der Familie handelte und die Bücher einen rein nostalgischen Wert hatten. Sie hätte nie geahnt, dass sich darin literarische Schätze verbergen könnten.
Baldini legte seine Gabel zur Seite und sah sie aufmerksam an. »Ich bin neugierig. Ist dir nur aus Zufall ein Gruselbuch wie das von Lovecraft in die Hände gefallen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich lese sehr viele Bücher dieser Art.«
»Wieso?«
»Es ist schwer zu beschreiben.« Sie zog die Schultern in die Höhe. »Es ist dieses starke Gefühl, das sie beim Lesen wecken. Bei keiner anderen Art von Geschichten kann ich so intensiv die Gefühle der Hauptperson empfinden. Es ist, als ob man mit ihr verschmilzt. Man fühlt exakt, was sie fühlt.«
»Die Angst.« Er nickte zustimmend. »Auch Lovecraft war davon fasziniert: Die älteste und stärkste Emotion des Menschen ist Furcht, und die älteste und stärkste Form der Furcht ist die Angst vor dem Unbekannten«, zitierte er versonnen.
Der alte Antiquar sprach damit genau das aus, was Francesca schon seit Langem fühlte. Die stärkste Form der Furcht ist die Angst vor dem Unbekannten … Sie wollte ihrem nächtlichen Verfolger aus ihren Albträumen endlich ins Gesicht sehen! Kein Monster konnte so schlimm sein wie die allumfassende Finsternis, die ihren Jäger verhüllte.
»Ich glaube, wenn ich meine größte Furcht kennen würde, würden die Albträume besser werden. Deshalb suche ich in den Büchern nach einer Ursache. Wenn man seine Angst kennt, scheint sie weniger gefährlich zu sein.« Sie sah zu Boden. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie fortfuhr. »Aber bis dahin liege ich jede Nacht wie ein zitternder Angsthase in meinem Bett.«
»Blödsinn«, widersprach Baldini ihr mit überraschender Heftigkeit. »Du bist nicht voller Furcht. Ich sehe in deinen Augen Aufrichtigkeit und Mut.«
»Mut?«
»Du liest diese Bücher, weil du dich deinen Dämonen stellen möchtest. Die meisten Menschen weichen ihrer Angst aus, weil es ein unangenehmes Gefühl ist, das man vermeiden möchte. Du dagegen suchst sie. Das ist, als ob sich einer, der panische Angst vor Spinnen hat, freiwillig eine Vogelspinne auf die Hand setzen würde.«
Zweifelnd sah Francesca ihn an. So hatte sie das noch nie gesehen.
»Aber funktioniert hat mein Plan bisher leider nicht, selbst wenn die Geschichte noch so gruselig war«, erzählte sie und konnte nicht verhindern, dass Bitterkeit in ihrer Stimme lag. »Nur manchmal ist es so, als würde das Böse aus der Geschichte herauskommen und nach mir greifen. Wenn ich das Buch schließe und das Licht ausmache, habe ich manchmal das Gefühl, als stünden all die Vampire, Monster und Dämonen im Dunkeln neben meinem Bett. Als sei das Böse aus dem Buch plötzlich real geworden.« Francesca schwieg einen Moment, dann schüttelte sie lachend den Kopf. »Das ist natürlich Unsinn! Wahrscheinlich habe ich einfach zu viel Fantasie.«
»Das ist kein Unsinn – im Gegenteil. Es liegt an dem, was in diesen Büchern steht.« Er legte die Stirn in Falten und sah Francesca mit ernster Miene an. »Worte sind mächtig, das hast du gespürt. Es gibt keine gemeinere und hinterlistigere Waffe auf Erden. Worte lassen uns äußerlich unversehrt und schneiden dennoch tief in unsere Seele, sie können einen Geist vergiften und das Böse in ihm wecken. Denn jedes Buch enthält die Seele desjenigen, der es niedergeschrieben hat – und du kannst dir nicht vorstellen, wie viele von Bösartigkeit zerfressene Wesen es dort draußen gibt.«
Francesca blinzelte den Antiquar verwirrt an. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen …«
Er ergriff ihre Hand und kam ihr so nahe, dass sie die kleinen Äderchen in seinen Augen sehen konnte. »Es gibt böse Bücher, Francesca. Bücher, in denen man niemals lesen darf. Sei vorsichtig, Bücher können dein Ende sein!« Seine Stimme brach ab. Er ließ ihre Hand los und sank mit einem schweren Ächzen in seinen Stuhl zurück, als hätte ihn seine Rede erschöpft.
Francesca starrte den Antiquar mit hochgezogenen Augenbrauen an. Meinte er mit den bösen Büchern etwa die mittelalterlichen Zauberbücher im Separee? Aber das war doch alles nur Aberglaube, Wunschdenken und Illusion! Nicht eine Sekunde lang glaubte Francesca an die Wirkung oder Macht solcher Bücher.
Aber Baldini war alt, vielleicht litt er an Demenz und reimte sich deswegen so wirres Zeug zusammen? Auf alle Fälle, schoss es Francesca durch den Kopf, schien er nicht mehr alle Karaffen im Hirnregal zu haben.
Auch Baldini fiel offenbar auf, wie seltsam er sich gerade verhalten hatte. Er räusperte sich geräuschvoll. »Du solltest jetzt gehen, es wird Zeit für mein Mittagessen. Ich muss schon bald wieder den Laden öffnen.«
»Ist es schon so spät?« Erschrocken sah Francesca auf ihre Uhr. »Mist, in zehn Minuten bin ich mit meiner Großmutter verabredet.« Sie stöhnte auf. »Und vorher muss ich noch im Restaurant vorbei.«
Sie schnappte sich die Box vom Tresen, verabschiedete sich hastig und eilte in Richtung Tür.
»Francesca«, hielt Baldini sie zurück. »Einen Moment noch.«
Er lief zu einem unscheinbaren Sekretär, zog eine Schublade auf und löste einen versteckten Mechanismus aus, sodass ein kleines Geheimfach aufsprang. Mit feierlicher Miene übergab er Francesca einen länglichen schwarz glänzenden Gegenstand, der mit fremdartigen Zeichen aus Perlmutt verziert war und zu beiden Seiten spitz zulief. Erst bei näherer Betrachtung erkannte Francesca, dass es sich um eine kleine Gondel handelte.
»Dies ist eine Traumgondel«, erklärte er ihr. »Sie kann dir vielleicht helfen, dich in angenehmere Träume zu geleiten. Sie ist sehr alt und die Schriftzeichen, die darauf eingraviert sind, entspringen keiner uns bekannten Sprache. Halte sie, wenn du schlafen gehst, fest in deiner Hand, dann wird er dich gar nicht erst durch die Dunkelheit jagen können.«
Sie wartete, dass er noch etwas hinzufügte. Woher hatte er diese Traumgondel? Und wie kam er darauf, dass sie Francesca helfen konnte? Bewundernd fuhren ihre Finger über die glänzende Oberfläche der Gondel. Sie war genauso glatt und elegant wie ihre große Schwester, in der sich die Acqua-alta-Bücher häuften. Die Traumgondel war kunstvoll gefertigt und sicherlich sehr wertvoll. Warum machte ihr Baldini ein so teures Geschenk?
Doch der Antiquar drehte sich wortlos um und schlurfte gebeugt zum Tresen zurück, als würde er eine schwere Last auf den Schultern tragen.
Francesca ließ die Traumgondel in ihre Tasche gleiten. »Danke!«, flüsterte sie mit heiserer Stimme.
Als Francesca wieder ins Freie trat, atmete sie dankbar die frische Luft ein. Die Begegnung mit Baldini war mehr als merkwürdig verlaufen. Ihr Gespräch über böse Bücher, die Information, dass ihr Großvater auf der Suche nach seltenen Büchern gewesen war und dann noch dieses außergewöhnliche Geschenk … Auch hatte sie das Gefühl, dass ihr irgendetwas Wichtiges entgangen war.
Erst als sie in Richtung Markusplatz zum Treffen mit ihrer Großmutter eilte, fiel es ihr schlagartig auf: Der alte Antiquar hatte etwas gewusst, das er nicht hatte wissen können. Auch wenn sie Baldini von ihren Albträumen erzählt hatte, hatte sie ihm gegenüber jedoch nie erwähnt, dass sie Nacht für Nacht von jemandem durch die Dunkelheit gejagt wurde.
Atemlos erreichte Francesca den Markusplatz. Der Nieselregen hatte nachgelassen und die zwiebelförmigen Kuppeln der Basilika glänzten wie frisch gewaschen. Im Sommer war der Markusplatz immer so mit Touristen überfüllt, dass Francesca ihn nach Möglichkeit mied, doch heute lag er fast verlassen vor ihr. Zum ersten Mal wurde ihr die Pracht dieses Platzes und seine beeindruckende Größe wirklich bewusst. Die lang gestreckten Gebäude der Procuratie Vecchie und Procuratie Nuove, der Campanile, die Basilika und der Dogenpalast bildeten seit Jahrhunderten das Herz Venedigs. Diese Gebäude hatten so viele Zeitalter, so viele Menschenleben und so viele Schicksale überdauert – für einen Moment hatte Francesca das Gefühl, dass sie an diesem Ort lediglich ein Wimpernschlag von der Vergangenheit trennte. Nur mit Mühe konnte sie sich von dem überwältigenden Anblick losreißen. Sie war zehn Minuten zu spät und ihre Großmutter hasste Unpünktlichkeit!
Gerade als Francesca in den Arkadengang der Procuratie Nuove bog, dessen Decke zur Weihnachtszeit mit kleinen Lichtern geschmückt war, sah sie ihre Großmutter über den Markusplatz laufen. Wie ein Pendel tastete sich ihr Blindenstock in einem schwingenden Halbkreis vorwärts, während die Tauben ihm mit viel Geflatter und gurrenden Beschwerden auswichen. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Erstaunen beobachtete Francesca, wie ihre Großmutter, ohne langsamer zu werden, zwischen zwei Säulen hindurchtrat und sich in Richtung des Cafés wandte. Obwohl Fiorella erst im Alter erblindet war, fand sie sich in Venedig mühelos zurecht. Sie hatte Francesca erzählt, dass sie jeden Winkel der Stadt im Blut habe und sie den Blindenstock im Grunde überhaupt nicht benötige – er allerdings praktisch sei, wenn man damit einigen rücksichtslosen Touristen ans Schienbein schlagen konnte. Obwohl Francesca keinen Laut von sich gegeben hatte, blieb ihre Großmutter nun direkt vor ihr stehen.
»Du bist zu spät, Nonna«, stellte Francesca in triumphierendem Ton fest. »Zehn Minuten!«
Fiorella reckte ihr Kinn in die Höhe. »Du ebenfalls!«, gab sie in bissigem Ton zurück. »Dein Atem scheppert wie der Motor eines alten Lastkahns.«
Francesca schüttelte lachend den Kopf und hakte sich bei ihrer Großmutter unter.
»Außerdem ist es nicht meine Schuld, dass der alte Pfarrer Manolo die Messe überzogen hat, weil er so viel über Sünden referiert hat«, verteidigte sich Fiorella. »Heilige Madonna, der ist richtig besessen von diesem Thema. Manche von den Sünden, die er aufgezählt hat, waren mir nicht einmal bekannt – und dabei bin ich über achtzig Jahre alt.«
»Wenn das so ist, komme ich das nächste Mal vielleicht mit. Da kann ich sicher noch etwas lernen.«
»Untersteh dich, du Naseweis!«
Francesca öffnete die Tür und gemeinsam betraten sie das Caffè Florian. Gedämpftes Stimmengewirr und der Duft frisch gebrühten Kaffees schlug ihnen entgegen. Sofort eilte ein Ober in weißem Jackett und schwarzer Fliege auf sie zu.
»Einen ruhigen, diskret gelegenen Tisch, bitte«, näselte Fiorella in selbstbewusstem Ton. »Was ich und meine Enkelin zu besprechen haben, sollte in Ihrem Etablissement nicht gleich die Runde machen.«
Eine Augenbraue des Obers schnellte erstaunt nach oben, doch wie gewünscht führte er sie an einen Tisch im hinteren Teil des Cafés. Francesca ließ sich auf die mit rotem Samt bezogene Bank sinken und bewunderte die vielen Spiegel, den Stuck und die zahlreichen Gemälde. Alles machte einen so noblen Eindruck, dass sich Francesca unweigerlich fehl am Platz fühlte. Ganz im Gegensatz zu ihrer Großmutter. Sie trommelte mit ihren Fingern ungeduldig auf den kleinen Marmortisch, während der Ober ihnen die Spezialitäten des Hauses unterbreitete.
»Ich möchte einen ombre«, fiel Fiorella ihm schließlich ins Wort. Korrekt übersetzt hatte sie gerade einen »Schatten« bestellt, in Venedig war ombre jedoch das Codewort für ein Glas Wein. »Und nicht so ein süßliches Weibergesöff, wenn ich bitten darf! Ein guter Wein muss so trocken sein, dass sich einem die Geschmacksknospen auf der Zunge zusammenziehen!«
»Oma«, zischte Francesca ihr zu. »Der Arzt hat doch gesagt, du sollst keinen Wein trinken!«
Fiorella seufzte gequält auf. »Na schön. Einen venezianischen Rosentee, bitte.«
»Für mich auch«, schloss sich Francesca an.
»Was für einen Kuchen möchtest du bestellen?«, fragte Fiorella.
»Gar keinen, vielen Dank!« Tante Viola hatte ihr zum Mittagessen so viele Köstlichkeiten aufgetischt, dass sie immer noch satt war.
»Aber du musst etwas essen!«
»Ich habe wirklich keinen Hunger, Nonna.«
Fiorella wandte sich dem Ober zu. »Meine Enkelin nimmt ein Stück von der Schokoladencremetorte.«
Francesca stöhnte auf. Das war wieder einmal typisch – wenn sich ihre Großmutter etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht mehr davon abzubringen.
Als der Ober außer Hörweite war, konnte Francesca ihre Neugier nicht mehr zurückhalten.
»Was willst du mir denn nun sagen?«, platzte es aus ihr heraus. Nach ihrer schlaflosen Nacht und der seltsamen Begegnung mit Horatio Baldini hoffte sie, dass wenigstens ihre Großmutter eine gute Nachricht für sie hatte. Als sie sah, wie sich Fiorellas Gesicht jäh verdüsterte, verflüchtigte sich jedoch ihre Hoffnung.
»Ich wünschte, ich hätte mir mit dem, was ich dir nun sagen muss, noch etwas Zeit lassen können. Du bist noch so unglaublich jung. Zu jung, um dich mit all dem zu belasten. Doch ich habe keine andere Wahl und muss dich in das Geheimnis einweihen. Außer mir weiß niemand in unserer Familie darüber Bescheid. Dein Großvater hat mir kurz vor unserer Heirat davon erzählt und glaube mir, ich weiß aus eigener Erfahrung, wie fantastisch diese Geschichte in deinen Ohren klingen wird.«
»Was denn?«
»Was ich dir nun anvertrauen werde, muss unbedingt unter uns bleiben. Wie ich dir schon gestern gesagt habe, darf auch niemand aus der Familie davon erfahren«, beschwor Fiorella ihre Enkelin. »Besonders deiner Mutter solltest du nichts verraten.« Erneut seufzte sie gequält auf. »Sie ist ja grundsätzlich anderer Meinung als ich«, fügte sie kaum hörbar hinzu.
Francesca hielt es für klüger, sich aus dem permanent schwelenden Streit zwischen Fiorella und Isabella herauszuhalten. Glücklicherweise brachte in diesem Moment der Ober ihre Bestellung, sodass sie um einen Kommentar herumkam. Kaum war er wieder verschwunden, holte Fiorella einen Flachmann aus ihrer Tasche. Sie befeuchtete ihren Zeigefinger mit Spucke, steckte ihn in den heißen Tee und befüllte die Tasse bis zum Rand mit dem durchsichtigen Inhalt des Flachmanns. Durch diesen Trick war sie trotz ihrer Blindheit in der Lage, sich ohne fremde Hilfe etwas einzuschenken.
»Ist das etwa Alkohol?«, fragte Francesca entgeistert. »Da hättest du ja gleich den Wein bestellen können. Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat!«
»Ach, so ein Quacksalber, der hat doch keine Ahnung«, winkte Fiorella ab und zuckte mit einem breiten Grinsen die Schultern. »Wenn ich überhaupt je unbesorgt einen Schluck Alkohol trinken konnte, dann jetzt. Das ist der einzige Vorteil am Altsein – alles, was bisher verboten war, kann man jetzt machen. Letztens habe ich sogar versucht, mit dem Pfeiferauchen anzufangen, nur so zum Spaß.« Ihre Großmutter verzog das Gesicht. »Hat aber eklig geschmeckt.«
»Wenn du meinst.« Francesca seufzte ergeben. »Was ist denn nun mit diesem ominösen Geheimnis, das ich niemandem verraten soll?«
Anstatt einer Antwort nippte Fiorella erst einmal in aller Seelenruhe an ihrem Tee. Sicherlich machte es ihr Freude, Francesca derart auf die Folter zu spannen.
»Unsere Familie hat einen Fluch auf sich geladen, Kind«, sagte sie schließlich mit unheilvoller Stimme. »Einen bösen Fluch!«
Francesca war froh, dass Fiorella nicht sehen konnte, wie ihre Augenbrauen zweifelnd in die Höhe schossen. Ein Fluch? Sie war zwar schon einiges von ihrer Großmutter gewohnt, doch solche abergläubischen Äußerungen waren selbst für sie außergewöhnlich.
»Sieh mich nicht so skeptisch an«, keifte Fiorella. »Ich spüre deine ungläubigen Blicke wie kleine Nadelstiche auf meiner Haut, junges Fräulein!« Sie atmete tief durch und ihre Gesichtszüge glätteten sich wieder.
»Einst waren die Medicis in Venedig eine wichtige Familie, die durch ihre Bankgeschäfte immer mehr an Einfluss gewann, doch urplötzlich – von einem Tag auf den anderen – erlosch ihr Stern, die Familie verarmte. Es blieb nichts als der große Name. Niemand kann dir sagen, wie es dazu gekommen ist.«
Sicher, das war bedauerlich, aber Francesca bezweifelte, dass deswegen gleich ein Fluch auf der Familie lasten sollte.
»Erinnere dich, was uns allein in den letzten Jahren zugestoßen ist«, fuhr Fiorella fort. »Unser stetig wachsender Schuldenberg, das Feuer im Restaurant vor zehn Jahren, meine Blindheit, Giannas Gehbehinderung, Cecilias Selbstmord und natürlich der Mord an deinem Großvater …«
»Mord?«, unterbrach Francesca sie entgeistert. »Wieso denn Mord? Ich dachte, es war ein Unfall!«
»Das ist die offizielle Version der Polizei, aber daran glaube ich nicht.« Fiorella schüttelte entschieden den Kopf. »Dein Großvater und sein Freund Horatio Baldini haben damals gemeinsam nach einem seltenen Buch gefahndet. Leonardo war wie besessen davon. Er meinte, wenn er dieses Buch endlich fände, würde alles gut werden. Doch er hat mir nie erzählt, um welches Buch es sich dabei handelte oder warum es so wichtig für ihn war. Wenn ich ihn danach gefragt habe, meinte er, es wäre zu meiner eigenen Sicherheit besser, wenn ich so wenig wie möglich darüber wüsste. Hätte er geahnt, dass er so früh und überraschend stirbt, hätte er wohl anders gehandelt. An jenem Abend, als dein Großvater …« Fiorella stockte für einen Moment und räusperte sich. »An jenem Abend war er mit Horatio verabredet. Er war in Hochstimmung, wollte mir jedoch nicht sagen, worum es ging – es sollte eine Überraschung werden. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, hat er mir einen Kuss gegeben und gesagt, dass schon morgen ein neues Leben für uns beginnen werde.«
Fiorella war immer leiser geworden. Die Erinnerung an den Tod ihres Mannes war durch ihre Erzählung wieder schmerzlich lebendig geworden. Francesca ergriff tröstend die Hand ihrer Großmutter und um Fiorellas Mund flackerte ein Lächeln.
»Francesca, ich bin mir absolut sicher, dass Baldini das Buch gefunden hatte! Aus keinem anderen Grund wäre Leonardo so guter Laune gewesen. Wahrscheinlich war es sehr wertvoll, ansonsten hätte er mir nicht solche Versprechungen gemacht. Was ist, wenn Baldini das Buch nicht mehr hergeben wollte? Oder er einen höheren Preis verlangt hat und die beiden darüber in Streit geraten sind?« Fiorella hatte sich so in Rage geredet, dass ihre Wangen zu glühen begannen.
»Am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang, wurde die Leiche deines Großvaters in einem Kanal in der Nähe des Antiquariats gefunden. Aber ich konnte nie beweisen, dass Baldini etwas mit seinem Tod zu tun hatte.«
»Und was hat Baldini gesagt, was an jenem Abend geschehen ist?«, hakte Francesca nach.
»Er hat bei der Polizei angegeben, dass Leonardo nie bei ihm angekommen sei. Leider war niemand aufzufinden, der etwas anderes bezeugen konnte. Baldini hat behauptet, dass er und Leonardo nie gemeinsam nach einem seltenen Buch gesucht hätten – da müsste ich etwas missverstanden haben.« Fiorellas Hände ballten sich zu Fäusten. »Dieser elende Lügner! Aber die Zeit wird kommen, in der ich die Wahrheit ans Licht bringen werde. Deswegen lasse ich ihm seit Jahren von Stella das Mittagessen fast umsonst in sein Antiquariat liefern. Ich will ihn im Auge behalten.«
Francesca schüttelte zweifelnd den Kopf. Baldini sollte ein Mörder sein? Das konnte sie nicht glauben. Sicher, der alte Mann war vielleicht etwas schrullig, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er jemanden hätte umbringen können.
»Und was meinte die Polizei dazu?«, bohrte sie weiter.
Fiorella schnaubte auf. Sie schien nicht sonderlich viel von der Polizei zu halten. »Da es ein kalter, düsterer Winterabend war und die Brücken vereist waren, ging die Polizei davon aus, dass er ausgerutscht und in einen Kanal gefallen sei. An seinem Leichnam fand man keine Verletzungen, die nicht auch von einem schlimmen Sturz hätten verursacht werden können.«
Francesca hatte das untrügliche Gefühl, dass ihre Großmutter ihr noch nicht die ganze Wahrheit verraten hatte. »Er ist einfach so ausgerutscht?« Die meisten Brücken in Venedig hatten ein Geländer oder eine Mauer, sodass man selbst bei Glatteis nicht so ohne Weiteres in einen Kanal fallen konnte.
Fiorella zögerte einen Moment. Was sie nun sagte, war ihr sichtlich unangenehm. »Nun, bevor er zu Baldini gegangen ist, hat Leonardo anscheinend in der Osteria bei uns um die Ecke reingeschaut und eine Runde für seine Freunde ausgegeben. Nach seinen Blutwerten zu urteilen, war er danach nicht mehr ganz nüchtern«, räumte Fiorella widerwillig ein. »Dein Großvater hat vielleicht das ein oder andere Mal zu tief ins Glas geschaut, aber deswegen war er noch lange kein Trinker, so wie die Polizei behauptet hat.«
Francesca starrte ihre Großmutter mit geöffnetem Mund an und war nicht in der Lage, etwas zu sagen. In all den Jahren hatte Fiorella ihren verstorbenen Mann wie einen Heiligen verehrt und keiner in der Familie hatte je gewagt, ihr in diesem Punkt zu widersprechen. Was Francesca jedoch nun von ihr erfuhr, brachte dieses Bild gehörig ins Wanken. Auch ihre Großmutter schien dies zu bemerken.
»Es war nicht seine Schuld. Der Alkohol hat ihm nur geholfen, zu vergessen und die Nächte erträglicher zu machen«, verteidigte sie ihren Ehemann inbrünstig. »Der Fluch hat ihn dazu getrieben!«
Francesca fuhr sich erschöpft über das Gesicht. Wenn ihr Großvater tatsächlich betrunken gewesen war, als er zu Baldini aufbrach, war es auch in ihren Augen sehr viel wahrscheinlicher, dass sein Tod nur ein bedauerlicher Unfall gewesen war. Wie kam ihre Großmutter nur auf die fixe Idee, dass der beste Freund ihres Großvaters ihn ermordet hatte? Fiorella hatte nicht einen einzigen Beweis für ihre Anschuldigung. Niemand konnte bezeugen, dass Baldini gelogen hatte und Leonardo in Wahrheit doch im Antiquariat angekommen war – und vielleicht hatte Fiorella wegen des seltenen Buches tatsächlich etwas missverstanden. Nur mit Mühe konnte Francesca einen Seufzer unterdrücken. Ihre Großmutter hatte sich hier eine vollkommen absurde Geschichte zusammengesponnen und Francesca hatte keine Ahnung, wie sie Fiorella wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen konnte.
»Was hat denn jetzt der Fluch damit zu tun?«, fragte sie mit matter Stimme.
»Zwar ist unsere ganze Familie vom Unglück verfolgt, doch der Fluch trifft insbesondere alle Erstgeborenen der Medici-Familie. Zuerst dachte ich, dass Luca als mein erstgeborener Enkel den Fluch zu tragen hätte, aber er zeigte keinerlei Anzeichen. Der Fluch hat jemanden erwählt, der den Namen Medici trägt.«
Es dauerte einen Moment, bis Francesca begriff, was ihre Großmutter ihr damit zu sagen versuchte. »Du meinst, der Fluch liegt nun auf mir?«
Fiorella nickte schweigend. Zum ersten Mal ließ der Anblick ihrer milchigen, ausdruckslosen Augen Francesca frösteln. »Und was soll damit gemeint sein? Was für ein Fluch soll auf mir liegen?«
»Es sind deine Albträume, Francesca.«
Sie starrte ihre Großmutter wie vom Donner gerührt an. Woher wusste sie von ihren Albträumen? Hatte Gianna etwa ihr Versprechen gebrochen und Fiorella davon erzählt?
»Es sind keine normalen Albträume, das hast du wahrscheinlich schon selbst bemerkt. Du kannst in ihnen klar denken, riechen, Schmerzen empfinden und egal, was du tust, es gelingt dir nicht, aufzuwachen. Du bist in diesem Traum gefangen.«
Sie machte eine Pause, ehe sie mit besorgter Stimme fragte: »Hat er dich schon gefunden?«
Francesca schluckte schwer. »Letzte Nacht.«
Fiorella zog scharf die Luft ein. Sie hielt Francescas Hand so fest umklammert, dass sie ihr fast die Finger zerquetschte.
»Es wird schlimmer werden«, sagte sie schließlich in die Stille hinein. »Noch nicht heute oder morgen. Er hat Zeit.«
»Was … was wird dann geschehen?«
Francesca war sich nicht sicher, ob sie die Antwort tatsächlich wissen wollte. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie ihre Großmutter, die mit sich zu ringen schien.
»Er fängt an, dich zu quälen«, antwortete sie. »Er fügt dir Schmerzen zu. Schlimme Schmerzen. Ihre Folgen wirst du auch noch in der Realität spüren. Manchmal war Leonardo am nächsten Morgen nicht in der Lage, das Bett zu verlassen. Am Ende wachte er sogar mit blutenden Wunden auf.«
Sofort erinnerte sich Francesca an ihren Sturz während des Albtraums. Schmerzte ihr Knöchel heute Morgen nicht auch nach dem Aufwachen?
»Was genau in seinen Träumen geschah, wollte mir Leonardo nie erzählen. Ich schätze, er wollte mir die grauenvollen Einzelheiten ersparen. Auch so musste ich Nacht für Nacht miterleben, wie sehr er zu leiden hatte. Dein Großvater hat dies all die Jahre nur verkraftet, weil er ein willensstarker Mann war, entschlossen, diesem Fluch die Stirn zu bieten. Doch auch er hatte schwache Momente, in denen er fast verzweifelte. Oft war er sehr niedergeschlagen. Manchmal ging er tagelang nicht aus dem Haus, als ob ihn die nächtliche Bedrohung selbst bis in die Realität verfolgte. Besonders nach Einbruch der Dämmerung verließ er nur dann den Palazzo, wenn es absolut notwendig war.«
Francesca presste die Augen zusammen und hoffte mit jeder Faser ihres Körpers, dass dies ebenfalls nur ein schlechter Traum war und sie jeden Moment wieder erwachte. Bisher hatte sie zumindest die Hoffnung gehabt, dass ihre Albträume irgendwann weniger und schließlich ganz verschwinden würden – wie bei jedem anderen Kind. Was sie nun erfahren hatte, war schlimmer, als sie sich je hätte vorstellen können. Wie konnte sie jemals wieder in einen wohligen Schlaf versinken, da sie nun wusste, was für schreckliche Dinge sie dort erwarteten? Laut Fiorellas Erzählung war ihre nächtliche Flucht durch die Dunkelheit wohl noch harmlos im Gegensatz zu dem, was sie in Zukunft im Traum erleben musste.
Wut loderte in ihr auf. Wieso sollte ausgerechnet sie von diesem unsinnigen Fluch getroffen worden sein? Sie hatte niemandem etwas getan. Nur, weil sie Medici hieß, sollte sie für immer zu diesen Albträumen verdammt sein? Sie lebte ja nicht einmal hier in Venedig – sie gehörte nicht hierher!
»Das ist nicht fair«, presste sie zornig hervor.
»Nein, das ist es nicht.«
Das Mitleid in Fiorellas Stimme fachte Francescas Zorn nur noch mehr an. Ihr Kopf fuhr herum. »Weißt du überhaupt, dass Mama mich wegen dieser blöden Albträume sogar zu einem Kinderpsychologen geschickt hat, der ihr die Schuld dafür geben wollte? Jahrelang musste ich diese Sache hüten wie ein dunkles Geheimnis und nun erfahre ich, dass du die ganze Zeit über davon wusstest! Du hättest mit mir darüber reden und mir helfen können. Wieso hast du mir nicht schon früher davon erzählt?«
»Warum hätte ich das tun sollen, Kindchen? Was hätte es geändert? Du hättest nur noch mehr Angst davor bekommen, was dich unausweichlich erwarten wird.«
Francesca wusste, dass sie recht hatte. Ein Teil von ihr wünschte sich sogar, dass Fiorella ihr niemals die Wahrheit erzählt hätte.
»Diese Albträume können einen Menschen in den Wahnsinn treiben«, fügte Fiorella kaum hörbar hinzu.
Schlagartig wurde ihr klar, was ihre Großmutter damit sagen wollte. Ihre Worte wirkten auf Francesca so ernüchternd wie eine kalte Dusche. Ihre Wut war plötzlich wie weggeblasen.
»Cecilia«, stammelte sie. »Sie war deine erstgeborene Tochter. Sie hatte die Albträume auch, nicht wahr?«
Fiorella nickte traurig. »Mit Leonardos Tod haben die Albträume bei Cecilia eingesetzt und sie wurden mit jeder Nacht schlimmer. Ich habe mit ihr zusammen in einem Zimmer geschlafen, doch ich konnte ihr nicht helfen. Zwar bin ich aufgewacht, wenn sie zu schreien begonnen hat, doch egal was ich versuchte, ich konnte sie dem Albtraum nicht entreißen. Leonardo hatte ein Hilfsmittel, wodurch er wenigstens ein paar Stunden ruhigen Schlaf gefunden hat, aber es war nach seinem Tod verschwunden.« Wieder legte sich ein Schatten von Trauer auf ihr Gesicht, als Fiorella weitersprach. »Mit ihrer zarten Haut und den roten langen Haaren schwebte Cecilia wie eine Principessa durch den Palazzo und ihr Lachen war so ansteckend, dass wir sie alle nur »Sonnenschein« nannten. Aber dann kamen die Albträume und plötzlich lachte sie nicht mehr. Sie konnte diese Qualen nicht mehr ertragen. Eines Nachts hat mich der Schlaf übermannt und ich habe nicht bemerkt, wie sie sich aus dem Zimmer geschlichen hat. Sie ist auf das Dach des Palazzos gegangen und hat sich …« Fiorellas Stimme erstarb. Eine stille Träne suchte sich einen Weg durch die tiefen Falten in ihrem Gesicht. Francesca hatte ihre Großmutter noch nie weinen sehen. Ihr wurde plötzlich so kalt, als wäre sie selbst es gewesen, die sich vom Dach des Palazzos in den Tod gestürzt hatte.
Francesca schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. So etwas durfte sie nicht denken! Sie musste sich ablenken.
»Was für ein Hilfsmittel besaß denn Großvater?«
»Er hat es von seinem Vater erhalten und es immer wie einen Schatz bei sich getragen. Sein Vater ist im Krieg gefallen, als Leonardo noch ein Kind war, aber er hat ihm damals von der Front noch einen letzten Brief geschickt. Moment, ich habe ihn mitgebracht.« Sie öffnete ihre Handtasche und ihre Finger tasteten einen Moment lang suchend darin herum.
»Ich hoffe, es ist der richtige Brief, den ich aus der Schublade gezogen habe.«
Francesca nahm ein vergilbtes Papier entgegen, das vom vielen Falten und Lesen brüchig geworden war. Die Buchstaben waren von einer zittrigen Hand geschrieben und teilweise verwischt, als ob Tränen daraufgefallen wären.
Leonardo, mein geliebter Sohn,
wenn dich dieser Brief erreicht, werde ich diese Welt schon verlassen haben. Ich wünschte, ich könnte dir mehr vererben, doch du wirst noch erkennen, dass das, was ich diesem Brief beigefügt habe, noch von großem Wert für dich sein wird. Es schmerzt mich, dass ich dir dies schreiben muss, doch auch dich, mein kleiner, unschuldiger Leonardo, wird der Fluch unserer Familie treffen: Im Moment meines Todes werden bei dir Albträume beginnen, die einem nächtlichen Besuch in der Hölle gleichkommen. Je älter du wirst und je mehr du dem Kindesalter entwächst, umso schlimmer werden die Albträume sein. Nur diese Traumgondel kann dir helfen, sie erträglicher zu machen. Ich habe sie von meinem Vater im Augenblick seines Todes bekommen. Angeblich ist sie schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz und wurde von einem venezianischen Geisterseher hergestellt, der in Kontakt mit höheren Wesen aus einer anderen Welt stand. Zwar weiß ich nicht, ob dies der Wahrheit entspricht, doch in all den Jahren war die Gondel das Einzige, was mir gegen die Träume geholfen hat. Pass gut auf sie auf, mein Sohn!
Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander gehabt!
In Liebe,
dein Vater
Lange starrte Francesca auf den Brief ihres Urgroßvaters. Er beseitigte die letzten Zweifel, die sie noch gehabt hatte. Jedes Wort, das Fiorella ihr gesagt hatte, entsprach der Wahrheit.
Mit klopfendem Herzen glitten ihre Finger in die Jackentasche. Die Gondel war noch da! Nun, da sie wusste, wie wichtig sie war, würde Francesca sie nicht mehr aus den Augen lassen.
»Das hier hatte Leonardos Vater dem Brief beigelegt, nicht wahr?« Francesca legte die Traumgondel vorsichtig in die Hand ihrer Großmutter.
Fiorella wurde blass. Ungläubig betasteten ihre Finger das schwarz polierte Holz. »Wo hast du sie her?«
»Von Baldini. Er hat sie mir gegeben, als ich ihm heute Mittag das Essen gebracht habe«, erzählte sie. »Deswegen hast du mich doch zu ihm geschickt, oder? Du hast gehofft, dass wir miteinander ins Gespräch kommen und ich etwas herausfinde!«
Fiorella presste beschämt die Lippen aufeinander.
»Nun ja, vielleicht«, gab sie zu. »Ich hätte es natürlich nie getan, wenn es für dich in irgendeiner Weise gefährlich gewesen wäre. Aber es hat funktioniert, oder nicht?« Fiorella hob triumphierend die Hand, in der sich die Traumgondel befand. »Ich wusste es! Das ist der Beweis. Er muss etwas mit Leonardos Tod zu tun haben. Dein Großvater hätte ihm niemals freiwillig die Gondel überlassen.«
Francesca musste zugeben, dass der alte Antiquar vielleicht nicht ganz so unschuldig war, wie sie anfangs angenommen hatte. Vielleicht war Fiorellas Verdächtigung doch nicht nur ein Hirngespinst …
»Aber wie sollen wir ihm die Wahrheit entlocken? Meinst du, er gibt mir gegenüber einfach zu, dass er Großvaters Mörder ist?«, fragte sie zweifelnd.
Fiorella dachte einen Moment lang nach. »Dass er dir die Gondel gegeben hat, hat etwas zu bedeuten. Er will dir helfen und setzt dabei sogar seine Freiheit aufs Spiel. Er hat ein schlechtes Gewissen.«
»Logisch, wenn er tatsächlich Großvater umgebracht hat!«
»Nein, da ist noch etwas anderes.« Fiorella schüttelte den Kopf. »Cecilias Selbstmord hat ihn damals sehr getroffen, fast noch mehr als Leonardos Tod. Er wirkte bei Cecilias Beerdigung völlig verzweifelt.« Fiorella tippte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich an die Lippen. »Ich frage mich, warum.«
Francesca ließ ihren Blick durch das Caffè Florian schweifen. Die Gäste an den anderen Tischen lasen Zeitung, tranken Espresso, unterhielten sich oder beobachteten die Fußgänger auf dem Markusplatz. Alles wirkte so normal und friedlich. Es stand in völligem Gegensatz zu dem, was Francesca gerade erlebte. Vor wenigen Augenblicken hatte sie erfahren, dass ihr ein unheilvolles Schicksal vorherbestimmt war, und nun stellte sie zusammen mit ihrer Großmutter auch noch Mutmaßungen über die Mordmotive Baldinis auf.
»Wir fischen im Trüben!«
Fiorella sah sie verständnislos an. »Was meinst du damit?«
»Dass das alles nur wilde Spekulationen sind. Es gibt nur einen Weg, etwas herauszufinden: Ich werde mit Baldini sprechen, wenn ich ihm das nächste Mal das Essen bringe. Vielleicht kann ich ihm etwas über die Traumgondel oder dieses mysteriöse Buch entlocken.«
»Du hast wahrscheinlich recht. Da er dir die Gondel geschenkt hat, scheint er dich zu mögen.« Ein besorgter Ausdruck legte sich auf Fiorellas Gesicht. »Aber du musst auf dich aufpassen, meine Kleine! Wenn es gefährlich werden sollte, rennst du weg.«
»Versprochen!«
Fiorella nickte zufrieden. »Und erinnere dich daran, worum ich dich anfangs gebeten habe: zu keinem ein Wort. Niemand aus der Familie weiß von diesem Fluch. Dein Großvater wollte nicht, dass seine Töchter damit belastet werden, und auch ich halte mich daran. Abgesehen davon«, Fiorella grinste spitzbübisch, »würde dir sowieso keiner glauben.«
Sie ergriff Francescas Arm und beugte sich zu ihr. »Wir beide, du und ich, werden beenden, was dein Großvater angefangen hat«, sagte sie in feierlichem Ton. »Als Erstes werden wir Baldini überführen und dann finden wir heraus, was für eine Schuld die Medicis auf sich geladen haben, um mit solch einem Schicksal gestraft zu werden. Denn ich werde nicht zulassen, dass auch du daran zugrunde gehst.«
»Danke, Nonna.«
Fiorellas Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Sofort wurde es Francesca leichter ums Herz. Sie wusste, Fiorella würde nicht eher locker lassen, bis sie die Sache zu Ende geführt hatten. Plötzlich konnte sie dieser ganzen Geschichte auch positive Seiten abgewinnen: Sie war nicht mehr alleine, die Geheimnistuerei hatte ein Ende und nun wusste sie ihre Großmutter an ihrer Seite! Und da Baldini ihr die Traumgondel gegeben hatte, konnte sie sich in der kommenden Nacht zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ohne Angst ins Bett legen und auf angenehme Träume hoffen.
Zufrieden aß Francesca nun doch ein Stück von der Torte und ließ die Schokoladencreme genüsslich auf der Zunge zergehen, sie schmeckte herrlich! Es gab nur noch eine Kleinigkeit, die sie beschäftigte.
»Und warum erzählst du mir ausgerechnet jetzt alles?«, fragte sie Fiorella. »Wieso hatte es nicht Zeit bis zu meinem Besuch im nächsten Sommer?«
Fiorella zögerte.
»Ich hatte eine Todesvision«, antwortete ihre Großmutter mit sichtlicher Überwindung. »Dieses Mal war es eine echte Vision, Francesca. Sie wird eintreffen, sogar sehr bald.«
Der Ernst in ihrer Stimme ließ Francesca alarmiert aufsehen.
»Und wer muss schon bald sterben?«
Fiorella schwieg einen quälend langen Augenblick, ehe sie sagte: »Ich selbst.«