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Nervös trommelten Francescas Finger auf das Buch, das zugeschlagen auf ihren Knien lag. Einen Großteil der Reise hatte sie mit Lesen verbracht, doch nun, so kurz vor dem Ziel, konnte sie sich nicht mehr auf die Geschichte konzentrieren.
Ihr Blick blieb an dem Titel hängen – »Das Gänsehaut-Trio und der dunkle Magier«. Es klang spannender, als es in Wirklichkeit war. Jedenfalls starrte Francesca lieber auf die graue Winterlandschaft, die am Zugfenster vorbeiflog, als darin weiterzulesen. Der einzige Farbtupfer weit und breit waren Francescas lange rote Locken, die sich im Zugfenster spiegelten.
Warum nur hatte ihre Großmutter sie so eindringlich darum gebeten, sofort nach Venedig zu kommen? Am Telefon hatte sie kein Wort über den Grund verlauten lassen. Francesca hoffte, dass es sich um keine schlimme Nachricht handelte und ihre Großmutter nicht ernsthaft krank geworden war. Allerdings hätte sie dann sicher auch Francescas Mutter Isabella nach Venedig bestellt. Doch sie hatte ausschließlich ihre Enkelin darum gebeten, zu kommen …
Der einsetzende Regen, der in dicken Tropfen an das Fenster des Zuges klatschte, bedeckte ihr Spiegelbild mit Tränen. Francesca lächelte ihm aufmunternd entgegen, doch ihr durchnässtes Ebenbild schien das Lächeln nur widerwillig zurückzugeben. Sie streckte ihm kurzerhand die Zunge heraus. Das hatte sie zuletzt als Fünfjährige getan. Mamma mia, durchfuhr es sie peinlich berührt, wenn wir nicht bald ankommen, fange ich wahrscheinlich noch an, mit mir selbst zu sprechen.
Zu ihrer Erleichterung hatte die dreiköpfige Familie aus Deutschland, die mit ihr im Abteil saß, keine ihrer Grimassen mitbekommen.
»… verfolgt von den Franken flohen die Menschen im Jahr 810 in die rivus altus genannte Lagune und siedelten sich auf der fast uneinnehmbaren Inselgruppe an. Das zukünftige Venedig war damals nur ein Archipel aus etwa 100 morastigen Inseln, mit stinkigen Schlammkanälen und voller Malaria-Mücken …«
Francesca stöhnte innerlich auf. Seit Verona saß sie mit der Familie zusammen in einem Abteil und fast genauso lange hielt der Mann seinem Sohn und seiner Frau nun schon einen Vortrag über Venedig. Einleitend hatte er ihnen ein Kapitel aus Goethes »Italienische Reise« vorgelesen und nun hielt er ein Buch mit dem Titel »Das historische Venedig« in den Händen. Sein Gesicht wirkte trotz der Brille und des Dreitagebartes nichtssagend und ausdruckslos. Er war einer dieser Menschen, die man sofort wieder vergaß, sobald sie den Raum verlassen hatten. Er erinnerte Francesca in unangenehmer Weise an ihren Geschichtslehrer Herrn Hartmann. Die Begeisterung, die während des Unterrichts in Herrn Hartmanns Augen funkelte, wirkte sich leider in keinster Weise auf seinen geschichtlichen Vortrag aus. Seine monotone Sprechweise, die an das gleichbleibende Rattern eines Zuges erinnerte, führte schon nach zehn Minuten zu epidemieartigen Gähnanfällen, starren Blicken und einer immer schlaffer werdenden Sitzhaltung. Francesca und ihre Freundin Monika waren sich sicher, dass Herr Hartmann die geheimnisvolle Gabe besaß, seine Schüler in Untote zu verwandeln, um ungestört seinen Unterricht halten zu können.
Der Mann in Francescas Abteil schien diese Gabe allerdings auch zu besitzen, denn sein Sohn, der Francesca schräg gegenüber saß, hatte seinen Mund gerade zu einem herzhaften Gähnen aufgerissen. Er war etwa halb so alt wie Francesca und ging wahrscheinlich in die erste oder zweite Klasse der Grundschule. Seine blonden Haare standen wirr vom Kopf ab und von seinen großen braunen Augen war durch die herabgesunkenen Lider kaum noch etwas zu sehen.
»Frederick!«, ermahnte ihn sein Vater in strengem Ton. »Langweile ich dich etwa?«
»Nein, natürlich nicht!«, antwortete seine Frau anstelle ihres Sohnes. Sie war etwas rundlich um die Hüften und in ihren Augen lag ein gutmütiges Funkeln. »Wir finden deinen Vortrag sehr interessant.«
Ihr Mann warf einen prüfenden Blick in die Runde, ehe er fortfuhr. »Gut, wo war ich stehen geblieben?« Er blätterte hektisch in seinem Buch herum. »Ach ja: Die Venezianer entwickelten eine interessante Technik, um die Inselufer zu befestigen. Mit Brettern errichteten sie Sperren gegen die Lagune und schöpften den Innenraum frei. Dann schlugen sie mit einer Handramme zwei Meter lange Eichen- und Erlenpfähle in den Boden und füllten die Zwischenräume mit Schlick und Lehm. Danach mussten die Pfähle wieder vollständig mit Wasser bedeckt sein, um eine Verwitterung …«
Francesca gähnte nun ebenfalls. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu und musste einen freudigen Aufschrei unterdrücken: Endlich, sie hatten das Meer erreicht! Wo eben noch graue Vorstädte, Fabriken und regennasse Straßen zu sehen waren, tanzten nun die Wellen der Lagune so unruhig auf und ab, als würden sie sich jeden Moment über die Brücke erheben und den Zug mit sich in die dunkle Tiefe des Meeres spülen. Unzählige Male war Francesca schon die fast vier Kilometer lange Ponte della Libertà, die Brücke der Freiheit, nach Venedig entlanggefahren, allerdings nie zu dieser Jahreszeit. Noch bei ihrer letzten Reise vor wenigen Monaten hatte der Sonnenschein auf die grünblauen Wellen goldene Sterne gemalt, die Francesca wie zur Begrüßung angefunkelt hatten. Nun schien das Meer seine Farbe verloren zu haben, verblasst wie abgestorbenes Laub. Die Wellen, der Himmel, die Wolken – alles war grau und düster. Unwirklich. Francesca konnte nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken. Heute hatte sie nicht das Gefühl, willkommen geheißen zu werden. Eher, dass Venedig sie mit diesem ungastlichen Empfang zum Umkehren überreden wolle.
Francesca versteckte ihre kalte Nasenspitze in ihrem Schal. Die Heizung des Abteils war scheinbar nicht für solch bitterkalte Wintertage gemacht. Der Zug, der im Sommer mit Touristen und Pendlern brechend voll war, brachte heute nur wenige Menschen nach Venedig. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, nicht unbedingt die Zeit, der Stadt der Romantik und Liebe einen Besuch abzustatten.
Francesca seufzte wehmütig auf. Eigentlich hätte sie wie jedes Jahr mit ihrer Mutter im Skiurlaub in der Schweiz sein sollen. Nicht, dass Francesca ein großer Fan dieses Sports gewesen wäre. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hielt sie sich mehr schlecht als recht auf den Brettern und wunderte sich jedes Mal, wenn sie am Fuße des Berges angekommen war, dass sie sich nicht den Hals gebrochen hatte. Trotzdem freute sie sich jedes Jahr auf diesen Urlaub, da sie ihre Mutter zwei Wochen für sich allein hatte. Francesca liebte die Momente, wenn es draußen schneite, sie gemeinsam vor dem knisternden Kaminfeuer saßen, Karten spielten oder aneinandergekuschelt in einem Buch lasen. Dieses Jahr jedoch hatte ihre Mutter ihr kurz vor Heiligabend mitgeteilt, dass der Urlaub ausfallen müsse, weil sie als frischgebackene Leiterin der Übersetzungsabteilung bis zum Jahreswechsel noch wichtige Dinge abzuarbeiten habe. Auch wenn Francesca enttäuscht darüber war, konnte sie dennoch Verständnis aufbringen – immerhin war ihre Mutter alleinerziehend und auf den Job angewiesen. Doch für Francescas Geschmack war ihre Mutter nach Großmutter Fiorellas Anruf nur allzu schnell bereit gewesen, sie umgehend in den nächsten Zug nach Venedig zu setzen. Sie hatte das Gefühl, dass es ihrer Mutter ganz recht gewesen war, sich für eine Weile nicht um sie kümmern zu müssen.
Als ob ich ihr ein Klotz am Bein wäre, dachte sie missmutig.
Der Mann neben Francesca rammte ihr seinen Ellenbogen in den Arm und sie schreckte aus ihren trüben Gedanken hoch.
»Entschuldigung«, murmelte er. »Scusa!«, setzte er unsicher hinzu, da Francesca ihn im ersten Moment verständnislos anblinzelte.
»Non c’è problema«, gab sie automatisch auf Italienisch zurück. Ehe sie ihm noch einmal auf Deutsch antworten konnte, hatte er sich jedoch wieder abgewandt und hob das Buch, das ihm aus den Händen gefallen war, vom Boden auf.
»In den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung wurde Venedig nicht nur eine der schönsten Städte Europas«, dozierte er weiter und rückte dabei seine Brille zurecht, »sondern auch eine der einflussreichsten und mächtigsten. Sie wurde zum Knotenpunkt der Weltwirtschaft, die Venezianer kontrollierten die Seewege im östlichen Mittelmeer und …«
Francesca wollte sich schulterzuckend abwenden, als ihr Blick auf den Jungen, Frederick, fiel. Seine Augen waren nun vollständig zugefallen, sein Mund stand weit offen und sein Kopf kippte langsam, aber sicher zur Seite. Francesca betrachtete ihn mitleidig und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Sein Vater sah sicherlich jeden Augenblick wieder von seinen Unterlagen auf und den Jungen würde eine unangenehme Standpauke erwarten.
»Die Insel der Verdammten!«, entfuhr es Francesca so plötzlich, dass alle im Abteil in die Höhe schreckten.
Sie räusperte sich und fragte in ruhigerem Ton: »Haben Sie schon einmal etwas über die Insel der Verdammten gehört?«
Fredericks Vater sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Du sprichst unsere Sprache?«, gab er beleidigt zurück, ohne auf Francescas Frage einzugehen. Er vermutete wahrscheinlich, dass sie sich absichtlich nicht als Deutsche zu erkennen gegeben hatte.
Francesca warf ihm ein entschuldigendes Lächeln zu. »Ich bin zwar in Deutschland geboren, aber meine Mutter ist Italienerin. Beide Sprachen sind für mich so selbstverständlich, dass ich oft nicht bemerke, in welcher ich gerade spreche.« Sie streckte dem Mann die Hand entgegen. »Ich bin Francesca. Francesca di Medici.«
»Ich bin Gerhard Kessler, das sind meine Frau Ingrid und mein Sohn Frederick.« Er schüttelte ihr die Hand und lächelte ihr zu. »Du trägst einen berühmten Namen, Francesca di Medici.« Er ließ den Namen wie ein Stückchen Schokolade auf der Zunge zergehen.
Sie zuckte mit den Schultern. »In Florenz vielleicht, hier jedoch nicht. Die Medicis kamen vor einigen Jahrhunderten nach Venedig, um auch in dieser wichtigen Handelsstadt ein Bankimperium zu errichten. Aber es ist meinen Vorfahren nie gelungen, die Macht und den Einfluss zu erreichen wie in Florenz.«
Das war sogar noch positiv ausgedrückt. In Wahrheit war ihre Familie völlig verarmt und bis auf einen halb verfallenen Palazzo im Herzen Venedigs besaß sie nichts mehr von Wert.
Frederick hatte sich in der Zwischenzeit interessiert aufgesetzt. Seine Müdigkeit schien plötzlich wie weggeblasen. »Was ist das für eine Insel, von der du gesprochen hast? Diese Insel der Verdammten?«
Francesca schmunzelte. Sie hatte sich gedacht, dass ihn dies mehr interessieren würde als die langweiligen geschichtlichen Daten.
Fredericks Vater dagegen tippte mit seinem Zeigefinger eifrig auf sein Buch. »In der Buchhandlung haben sie mir erzählt, hier drin stehe alles, was je in Venedig geschehen ist, und von einer Insel mit diesem Namen habe ich kein Wort gelesen!«
»Das glaube ich gern«, gab Francesca lächelnd zurück. »Ich und meine Cousine Gianna haben die Geschichte dieser Insel von meiner Großmutter erzählt bekommen und sie ist wohl nur unter Venezianern bekannt.«
Sie machte eine spannungsvolle Pause, ehe sie fortfuhr. »Im Jahr 1630 wurde Venedig von einer schrecklichen Pestepidemie heimgesucht und auf den Kanälen Venedigs fuhren Gondeln voller Leichen. Diejenigen, die Symptome des Schwarzen Todes aufwiesen, wurden auf eine Insel südlich der Stadt in das Lazzaretto Vecchio gebracht – in das Pestkrankenhaus. Viele Venezianer hatten vor diesem Ort noch größere Angst als vor der Pest selbst. Wer dorthin gebracht wurde, fand sich in der Hölle wieder. Die Insel war Tag und Nacht von einer weißen Rauchwolke umgeben. Man sah kaum die Hand vor Augen und der süßliche Geruch raubte einem den Atem. Es war der Rauch der brennenden Leichen.«
Frederick hing mit aufgerissenen Augen an Francescas Lippen und seine Mutter schlang fröstelnd die Arme um sich.
»Im Lazarett selbst war es noch schlimmer«, erzählte Francesca mit gesenkter Stimme. »Die Kranken waren so zahlreich, dass sich mehrere von ihnen ein Bett teilen mussten. Es roch nach Verwesung, Urin, Kot und den eitrigen Wunden der Pest. Männer, Frauen und Kinder stöhnten und schrien vor Schmerzen und Not – der Schwarze Tod verschonte niemanden. Aber es gab kaum Krankenschwestern, die sich um die Sterbenden kümmerten. So krochen die Erkrankten auf Händen und Knien durch die Gänge, auf der Suche nach Essen und Trinken. Nur einmal am Tag betraten Helfer die Krankenzimmer und holten die Leichen aus den Betten, um sie zu verbrennen. Manchmal jedoch lebten diejenigen noch, die im Feuer landeten. Seither trägt der Ort diesen Namen – die Insel der Verdammten.«
»Cool!«, entfuhr es Frederick.
»Wohl eher gruselig!«, hauchte seine Mutter. Sie war ganz blass um die Nasenspitze geworden. »Eine wirklich schreckliche Geschichte.«
»Nun, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat, will ich nicht beschwören«, beruhigte Francesca sie. »Meine Großmutter ist oft sehr fantasievoll, wenn es um das Ausschmücken von Geschichten geht.«
»Von dieser Epidemie habe ich auch gelesen«, schaltete sich Fredericks Vater ein. »Nach eineinhalb Jahren ist die Pest weitergezogen, fast ein Drittel der Bevölkerung ist ihr zum Opfer gefallen. Viele meinten damals, der Zorn Gottes habe die Stadt heimgesucht.«
»Kannst du noch eine Geschichte deiner Großmutter erzählen?«, bettelte Frederick aufgeregt.
Francesca dachte einen Moment lang nach. »Hast du schon einmal etwas von der Toteninsel gehört?«, fragte sie schließlich.
Frederick schüttelte den Kopf, den Mund voller Erwartung geöffnet.
»San Michele ist eine Insel, die nur mit dem Boot erreicht werden kann, doch es ist eine Insel der Toten. Denn dort findet man Tausende Gräber, Familiengrüfte und schaurige Statuen. Bevor die Friedhofsinsel gegründet wurde, begrub man die Toten mitten in Venedig. Meine Großmutter hat mir erzählt, dass jedes Mal, wenn es Hochwasser gab, die Leichen und Skelette nach oben geschwemmt wurden und durch die Gassen Venedigs trieben. Doch sie meinte, dass die Toten auch auf San Michele keinen Frieden finden können«, erzählte Francesca und senkte ihre Stimme geheimnisvoll. »Ein Totengräber, der dort arbeitet, hat ihr nämlich anvertraut, dass die Leichen in ihren Gräbern nicht verwesen. Selbst nach Jahrzehnten sehen sie immer noch so lebendig aus, als wären sie eben erst in den Sarg gelegt worden. Man nimmt an, dass es an der außergewöhnlichen Lagunenluft liegt. Aber der Totengräber hat meiner Großmutter den wahren Grund erzählt.« Francesca machte eine kurze Pause und ihre drei Zuhörer hielten gespannt die Luft an.
»San Michele gehörte einst einer Gruppe von Mönchen. Sie wurden jedoch aus ihrem Kloster und von der Insel vertrieben, da Venedig dort den Friedhof erbauen wollte. Ein alter Mönch war darüber so erzürnt, dass er einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist. Bevor der Mönch dem Teufel seine Seele übergab, wünschte er sich, dass die Toten auf dieser Insel niemals Frieden finden sollen. Deswegen bleiben die Leichen dort so gut erhalten – weil der Teufel ihre Seelen nicht ins Jenseits ziehen lässt.«
»Abgefahren!«, hauchte Frederick fasziniert.
»Wenn es dich interessiert, solltet ihr der Insel einen Besuch abstatten«, schlug Francesca vor. »Besonders morgens, wenn der Nebel durch die Grabsteine und Engelsstatuen streicht, fällt es nicht schwer, an die Geschichte der ruhelosen Seelen zu glauben.«
Frederick sah sofort fragend zu seiner Mutter, die lächelnd die Schultern hob. »Mal sehen, vielleicht finden wir die Zeit dafür.« Sie wandte sich an Francesca. »Schade, dass wir nicht schon früher ins Gespräch gekommen sind! Du hättest Frederick sicherlich noch einige Geschichten erzählen können, die seinen Venedigaufenthalt etwas spannender gemacht hätten.«
Francesca sah auf. Wie aufs Stichwort war der Zug langsamer geworden – sie hatten den Bahnhof Santa Lucia fast erreicht.
Francesca öffnete den Rucksack zu ihren Füßen, stopfte ihr Buch hinein und strich sich eine ihrer langen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Tizianrot!«, rief Frau Kessler plötzlich aus und klatschte begeistert in die Hände. »Endlich ist es mir eingefallen: Es ist tizianrot.«
Francesca sah sie verständnislos an. »Wie bitte?«
»Deine Haarfarbe! Seit wir zu dir ins Abteil gestiegen sind, habe ich überlegt, an welche außergewöhnliche Farbe mich deine Haare erinnern. Es ist tizianrot! Die Farbe, die der venezianische Maler Tizian den Frauen auf seinen Gemälden oft gegeben hat.«
»Mhm«, gab Francesca wortkarg zurück. Ihre Haarfarbe war ein Thema, auf das sie sehr empfindlich reagieren konnte. Man war gut damit beraten, die Farbe Rot in ihrer Gegenwart gar nicht erst zu erwähnen. Im Laufe der Jahre hatte sich Francesca deswegen schon zu viele Sticheleien gefallen lassen müssen.
»Dazu noch deine blaugrünen Augen, die Farbe des Lagunenwassers!«, schwärmte Frau Kessler weiter. »Tizian hätte dich sicherlich mit Freuden gemalt. Du bist eine echte venezianische Schönheit!«
Francesca spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. Ein Umstand, den sie noch weit weniger mochte, als über ihre Haarfarbe zu sprechen. Wahrscheinlich, dachte sie bitter, sieht mein Kopf gerade aus wie eine übergroße Kirsche mit Locken!
Sie war noch nie als Schönheit bezeichnet worden und am allerwenigsten hätte sie selbst den Ausdruck für sich verwendet. Dafür fand sie sich viel zu schlaksig und blass. Sie hätte alles für die hellbraunen Augen und schwarzen Haare ihrer Mutter gegeben.
»Ich bin keine Venezianerin«, murmelte sie verlegen. »Mein Zuhause ist in Deutschland.«
Ihre Worte wurden vom Quietschen der Bremsen übertönt. Der Zug kam ruckelnd zum Stehen und alle im Abteil erhoben sich.
»Du musst meine Frau entschuldigen«, sagte Herr Kessler, der ihr Unbehagen zu bemerken schien. Er streckte sich und half Francesca, ihren Koffer aus der Ablage zu ziehen. »Sie ist ein großer Kunstfan und hat das Auge einer Malerin. Deswegen habe ich ihr zu Weihnachten auch diese Reise geschenkt. Wir wollen uns alle bedeutenden Kunstwerke Venedigs anschauen.«
Aus den Augenwinkeln sah Francesca, wie Frederick genervt mit den Augen rollte, während er sich seine Jacke überstreifte. Sie konnte sich ein verständnisvolles Grinsen nicht verkneifen. Ihr wäre es an seiner Stelle nicht anders ergangen! Während der Weihnachtsferien einen Bildungsurlaub in Venedig verbringen zu müssen, war für kein Kind eine verlockende Vorstellung. Obwohl Francesca nun schon so oft in Venedig gewesen war, hatte sie ihre Sommerferien lieber mit spannenderen Dingen verbracht. Wie zum Beispiel mit ihrer Cousine Gianna am Lido am Strand zu liegen oder sich auf der Rialto-Brücke mit Stock, Schnur und einem Widerhaken bewaffnet beim Sonnenbrillenangeln zu versuchen – denn nichts fiel den Touristen so oft vom Kopf wie ihre Sonnenbrillen, wenn sie sich über die Brüstung beugten. Auch hatten die beiden Mädchen schon gemeinsam ein Floß gebaut, um damit wie die Erwachsenen in ihren Booten die Kanäle Venedigs zu durchkreuzen. Damals hatte Francesca ihr erstes und letztes Bad in einem Kanal genommen, denn das Floß wurde schon nach wenigen Minuten vom Wasser verschluckt und versank in der Tiefe. Oder sie schrieben ihr größtes Geheimnis auf einen Zettel und versuchten, eine Flaschenpost von einem Kanalende zum nächsten zu verschicken. Aber tatsächlich war sie in all den Jahren noch nie freiwillig in eines der Museen gegangen.
Auch Frau Kessler schien das gequälte Gesicht ihres Sohnes nicht entgangen zu sein. »Wir haben viel zu tun und sollten uns auf keinen Fall durch die Gerüchte über den drohenden Untergang Venedigs ablenken lassen.« Sie zwinkerte Francesca verschwörerisch zu.
Frederick sog scharf die Luft ein. »Die Stadt geht unter?«
Soweit Francesca wusste, war Venedig in den letzten hundert Jahren nicht mehr als dreiundzwanzig Zentimeter abgesunken. Man konnte somit nicht unbedingt von einer akuten Gefahr sprechen. Trotzdem ahnte sie, worauf Fredericks Mutter hinauswollte.
»Ganz richtig«, stimmte sie deswegen Frau Kessler zu. »Bei einer Stadt, die mitten im Wasser auf Millionen von Baumstämmen erbaut worden ist, ist diese Gefahr tagtäglich gegeben.«
Wie erwartet blitzte in Fredricks braunen Augen eine Mischung aus Spannung, Abenteuerlust und einer kleinen Prise Furcht auf.
»Und wenn Venedig untergeht, während wir hier sind?«
Francesca öffnete den Mund, doch sie brachte plötzlich kein Wort mehr über die Lippen.
Sie wusste nicht, warum, aber bei Fredericks Frage hatte sie ein kalter Schauer ergriffen – so unvermittelt, als habe sie etwas Dunkles und Eiskaltes gestreift.
Jäh tauchten erschreckende Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Von Booten und Gondeln, die von Wassermassen verschluckt werden und von prunkvollen Palazzi, die im aufgewühlten Meer versinken. Sie schüttelte den Kopf in der Hoffnung, damit die Schreckensbilder vertreiben zu können.
Es ist doch alles nur eine dumme Flunkerei, schalt sie sich selbst, um für einen kleinen Jungen einen Bildungsurlaub interessanter zu machen. Es war wirklich lächerlich, wenn sie nun anfing, selbst daran zu glauben!
Fredericks Mutter tätschelte ihrem Sohn die Schulter. »Du solltest auf jede kleinste Erschütterung zu deinen Füßen achten und auch immer wissen, wo das nächste Boot liegt, auf das man sich flüchten könnte – dann kann uns nichts geschehen!«, riet sie ihm lächelnd.
Er nickte so eifrig, dass seine Haare noch eine Spur zerzauster aussahen. »Das mache ich, versprochen!«
Francesca zwang sich zu einem Lächeln. Doch als sie aus dem Zug auf den Bahnsteig trat, kroch das Gefühl einer nahenden Bedrohung ihr wie mit kalten Fingern den Rücken hinunter.
Francesca trat aus dem Bahnhofsgebäude und sog genüsslich die salzige Lagunenluft ein. Aus dem Stand eines Händlers tönten die Klänge eines italienischen Weihnachtsliedes über den Platz. »Tu scendi dalle stelle, o Re del Cielo, e vieni in una grotta al freddo e al gelo … «
Wie jedes Mal fiel Francescas Blick zuerst auf die große, türkisfarbene Kuppel der Kirche San Simeon Piccolo und das emsige Treiben auf dem Canal Grande. Aus dieser Perspektive hätte man Venedigs größten Kanal auch für einen Fluss halten können, an den die Menschen ihre Häuser so nahe gesetzt hatten, dass das Ufer verschwunden war. Doch auf keinem Fluss hatte Francesca je so ein buntes Durcheinander an Booten, Gondeln und Transportschiffen gesehen. Kreuz und quer, scheinbar ohne jede Ordnung, fuhren die Boote durch die Kanäle, die in dieser Stadt die Autos und Straßen ersetzten. Die Luft war erfüllt vom Tuckern der Motoren, dem unrhythmischen Schlag der Wellen und den Warnungen und Verwünschungen, die sich die Bootsführer gegenseitig zuriefen.
Eine frische Brise, die vom Canal Grande zu ihr herüberwehte, ließ Francesca erschaudern. Sie zog den Verschluss ihrer Jacke so weit nach oben, wie es ging, und vergrub ihre Hände in ihren Taschen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass es in Venedig wärmer als in Deutschland wäre, doch auch hier hatten sich die Menschen in Schals, Mützen und dicke Winterjacken gehüllt. Der Händler, der an seinem Stand Plastikgondeln, bunte bemalte Masken oder Briefbeschwerer in Form geflügelter Löwen feilbot, rieb fröstelnd seine Hände aneinander, während er auf Kundschaft wartete.
Francesca sah sich suchend um. Familie Kessler überquerte gerade den Vorplatz des Bahnhofs und winkte ihr ein letztes Mal zu. Francesca hatte ihnen eben noch den schnellsten Weg zu ihrem Hotel erklärt und dankbar hatte sich die Familie von ihr verabschiedet. Der Vorplatz, der im Sommer von Reisenden nur so wimmelte, lag heute wie ausgestorben vor ihr. Nur vereinzelt standen Menschen mit Koffern und Stadtplänen in der Hand herum, während einige Venezianer den Touristen in einem geübten Zickzackkurs auswichen.
Francesca runzelte die Stirn. Wo war nur Gianna? Am Telefon hatte ihre Cousine noch darauf bestanden, sie persönlich vom Bahnhof abzuholen, doch nun konnte Francesca sie nirgendwo entdecken.
Unschlüssig blieb sie einige Minuten stehen, ehe sie sich dazu entschied, mit dem Vaporetto zum Palast der Medicis zu fahren. Wenn Gianna und sie sich verpasst haben sollten, würde ihre Cousine wahrscheinlich dort auf sie warten. Gerade tauchte von rechts eines der Linienschiffe auf, das auf festgelegten Routen über den Canal Grande fuhr. Francesca schnappte sich ihren Koffer und steuerte zielstrebig auf den Ticketschalter der Haltestelle zu. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es noch rechtzeitig auf das Schiff schaffen.
Sie war so sehr darauf konzentriert, in ihrer Hosentasche nach Kleingeld zu angeln, dass sie erst zu spät bemerkte, wie ein Jugendlicher mit schwarzen fettigen Haaren und verbeulten Turnschuhen auf sie zusteuerte. Gerade als sie mit glücklichem Lächeln einige Münzen hervorgezogen hatte, rempelte er sie so rabiat an, dass sie nach vorne stolperte und fast das Gleichgewicht verloren hätte.
»Hey!« Verärgert drehte sich Francesca um.
Als sie den Jungen erblickte, spannten sich ihre Schultern an und ihre Augen verengten sich.
»Du warst das!«, stieß sie zähneknirschend aus. »Das hätte ich mir ja denken können!«
Er hatte sein pickliges Gesicht zu einer grinsenden Fratze verzogen. »Buongiorno, Hexe.«
Es gab nur einen, der sie mit diesem Spitznamen bedachte – ihr Cousin Luca. Er wusste genau, wie sehr sie es hasste, mit ihrer Haarfarbe aufgezogen zu werden. Luca war drei Jahre älter als Francesca und hatte schon als kleiner Junge keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu ärgern. Sie konnte sich noch allzu gut daran erinnern, wie er damals ihrem Teddybären den Kopf abgeschnitten und ihr erzählt hatte, dass er nun als kopfloser Teddygeist nachts durch den Palazzo wandeln und rothaarige Mädchen fressen würde. In der darauffolgenden Nacht hatte Francesca kein Auge zugemacht und ängstlich auf jedes noch so kleine Geräusch gehört. Erst als ihre Großmutter sie davon überzeugt hatte, dass Lucas Geschichte völliger Unsinn sei, weil kopflose Teddygeister schließlich keinen Mund hätten und somit auch niemanden fressen konnten, hatte Francesca einschlafen können.
»Habe ich dir wehgetan?«, fragte Luca nun in gespieltem Bedauern. »Tut mir leid, da ist die Wiedersehensfreude wohl mit mir durchgegangen.«
Während sie noch überlegte, ob sie Luca zuerst beschimpfen oder ihm lieber gleich kräftig auf den Fuß treten sollte, hörte sie eine atemlose Stimme rufen: »Francesca, dem Himmel sei Dank, du bist noch da!«
Die Nase vor Kälte gerötet und die fast hüftlangen braunen Haare wie einen Schleier um die Schultern gelegt, kam Gianna in hinkendem Schritt auf sie zu. Fast hätte Francesca ihre Cousine nicht wiedererkannt. Ihr fein geschnittenes Gesicht lag unter einer roten Strickmütze verborgen und den Schal hatte sie sich mehrmals um den Hals gewickelt.
Gianna warf Luca einen wütenden Blick zu. »Hast du Francesca etwa schon geärgert? Sie ist doch gerade erst angekommen! Du und dein kleiner Bruder, ihr seid solche fiesen, gemeinen …«
»Pass auf, was du sagst«, unterbrach er sie und hob warnend seinen Zeigefinger. »Du weißt, dass du alle Gemeinheiten doppelt und dreifach zurückbekommst, Hinkebein!«
Gianna hielt inne und schluckte schwer.
Jedes Mal, wenn Luca seine Cousine mit diesem Schimpfwort bedachte, hätte Francesca vor Wut platzen können. Gianna hatte von Geburt an eine Fehlstellung der Hüfte und dadurch eine leichte Gehbehinderung. Francesca versicherte ihr immer wieder, dass man das Hinken kaum bemerkte, doch für Gianna war es ein unübersehbarer Makel, für den sie sich zutiefst schämte.
Francesca betrachtete Luca mit zusammengekniffenen Lippen.
»Hör einfach nicht auf ihn!«, versuchte sie ihre Cousine aufzumuntern. »Komm, lass uns gehen, ich bin schon halb erfroren.« Sie hakte sich bei Gianna unter und manövrierte die Rollen ihres Koffers geschickt über Lucas linken Fuß, der mit schmerzverzerrtem Gesicht aufjaulte.
Schlagartig hellte sich Giannas Miene auf und der Schatten, der sich eben noch über ihre schokoladenbraunen Augen gelegt hatte, war verschwunden. »Was hast du denn da drin? Backsteine?«, kicherte sie.
Francesca räusperte sich verschämt. »Etwas in der Art.«
Sie blickte über ihre Schulter und mit einer Mischung aus Schadenfreude und Besorgnis sah sie, wie Luca immer noch auf einem Bein herumhüpfte. Francesca musste ihn mit dem Koffer ganz schön erwischt haben und sie kannte Luca gut genug, um zu wissen, dass er dies nicht einfach auf sich sitzen lassen würde.
Sie liefen einige Meter, bis sie zu einem Anlegeplatz kamen, vor dem ein Schild mit den Worten »Privato, Fausto Gagliardi« wissen ließ, dass der altersschwache Lastkahn der Medicis hier eindeutig nicht hingehörte. Zwischen allerlei Brettern und Baumaterialien eingequetscht saß ihr Cousin Matteo und starrte gelangweilt in die Runde. Er war der jüngste der vier Medici-Enkel und für seine zehn Jahre relativ klein, was er anscheinend durch seine Körperfülle auszugleichen versuchte. An seinen runden Pausbäckchen sah man deutlich, dass er das Essen seiner Mutter Viola über alles liebte.
»Hi!«, begrüßte er sie mit einem lauten Rülpser.
Francesca verzog angewidert ihr Gesicht.
»Was soll das denn?«, fragte sie irritiert. Zwar half Matteo seinem Bruder oft genug bei dessen gemeinen Streichen, trotzdem hatte Francesca ihren kleinen Cousin mit seiner tollpatschigen Art immer gemocht und wenn Luca nicht in seiner Nähe war, konnte er sogar richtig nett sein.
»Nimm es nicht persönlich! Matteo hat vor einigen Tagen sein großes und wohl einziges Talent entdeckt«, erklärte Gianna. »Auf Kommando aufzustoßen! Jetzt will er einen Weltrekord aufstellen: Alles, was er von sich gibt, untermalt er mit einem Rülpser.«
Francesca sah ihren Cousin fassungslos an. »Matteo, das ist echt eklig!«
»Es hat auch seine Vorteile«, räumte Gianna ein. »Seit er seinen Weltrekordversuch begonnen hat, sagt er so gut wie nichts mehr und wenn, ist es relativ kurz.«
Matteo nickte und grinste Francesca wortlos an. Sie schüttelte lachend den Kopf. »Total bekloppt!«
Gianna deutete auf die vielen Bauutensilien. »Wir mussten bei einem Freund meines Vaters dieses ganze Zeug abholen! Deswegen sind wir auch zu spät gekommen.«
»Wozu braucht ihr denn das alles?«
Gianna seufzte gequält auf. »Das erzähle ich dir später«, winkte sie ab. »Jetzt steig erst mal ein!«
Francesca verstaute ihren Koffer und gerade als sie sich zwischen zwei Mörtelsäcke zwängen wollte, sprang Luca zu ihnen in den Kahn. Er packte sie unsanft am Arm. »Das wirst du noch bereuen, Hexe!«, raunte er ihr zu.
Francesca stöhnte innerlich auf. Genau das hatte sie befürchtet! Jetzt würde sie den Rest ihres Aufenthalts damit verbringen müssen, ihren Kleiderschrank nach Juckpulver zu durchsuchen. Wenn sie Glück hatte, bewarf er sie gleich heute Nacht, während sie schlief, mit einer Stinkbombe, dann hätte sie es wenigstens hinter sich.
»Gab es Probleme? Ist jemand gekommen?«, fragte Luca seinen Bruder.
»Nein!«, rülpste Matteo. Er schien seinen Weltrekordversuch tatsächlich konsequent durchzuziehen.
Luca verschränkte die Arme vor der Brust und sah Francesca herausfordernd an. »Los, zieh die Schwimmweste an!«
»Aber Matteo und Gianna haben doch auch keine Schwimmwesten an.«
»Ich fahre nicht los, ehe du sie angezogen hast. Schließlich bist du keine Venezianerin und an das Fahren auf dem Wasser nicht so gewohnt wie wir. Ich bin nur auf deine Sicherheit bedacht, liebste Cousine.«
Francesca sah zu Gianna, die hilflos die Schultern in die Höhe zog. »Er bringt es fertig, dass wir bis heute Abend hier herumstehen.«
»Na schön!«, presste Francesca hervor. Fluchend zog sie sich die orangefarbene Weste an, die zu allem Überfluss auch noch feucht war.
Mit einem zufriedenen Lächeln wandte sich Luca ab und fädelte den vollbeladenen Kahn in den Verkehr des Canal Grande ein. Sobald sie an Fahrt gewonnen hatten, stach der Wind Francesca wie mit kleinen Nadeln ins Gesicht und ihre Ohren wurden so kalt, dass sie schmerzten. Die Luft war kristallklar, sodass sich die prunkvollen Palazzi im Wasser spiegelten, als gäbe es dort unten ein zweites, ihnen unbekanntes Venedig. Doch ihr Boot zerteilte die Spiegelbilder ohne Erbarmen, die kunstvollen Traumgebäude zerfielen und wurden von den Wellen davongetragen. Nachdenklich sah ihnen Francesca hinterher. Dieses Venedig war so anders. Ohne den strahlenden Sonnenschein des Sommers wirkten die Palazzi grau und abweisend. Nur einige weihnachtliche Lichterketten, die an manchen Balkonen angebracht waren, zauberten etwas Farbe in die Stadt. Selbst die Stimmen Venedigs klangen gedämpft, das Rufen, Lachen und Murmeln, das die Stadt im Sommer erfüllte, war zu einem kaum hörbaren Wispern und Flüstern geworden.
Sie verließen den Canal Grande und bogen in einen Seitenkanal ein. Luca drosselte das Tempo und lenkte den Kahn geschickt zwischen den angelegten Boote herum.
»Wisst ihr, warum mich Nonna Fiorella unbedingt sehen wollte?«, unterbrach Francesca die Stille. »Es klang so, als ob das, was sie mit mir bereden möchte, ungeheuer wichtig sei.«
»Du bist wegen Nonna hergekommen?«, fragte Gianna verblüfft. Sie drückte den Mörtelsack, der zwischen ihnen stand, hinunter und sah Francesca erstaunt an. »Sie hat uns nur erzählt, dass deine Mutter keinen Urlaub bekommen hat und du uns deswegen über die Weihnachtsferien besuchen wirst.«
»Das stimmt zwar, allerdings wäre ich nicht extra hergekommen, wenn Nonna nicht darauf bestanden hätte.«
»Seltsam. Uns gegenüber hat sie kein Wort davon erwähnt. Oder, Matteo?«
Er winkelte die Arme an, zog die Schultern in die Höhe und zeigte mit den Handflächen in Richtung Himmel. Dies sollte wohl bedeuten, dass er keine Ahnung hatte.
Gianna winkte ab. »Ich wette mit dir, dass Nonna nur wieder eine ihrer Visionen hatte!«
Matteo nickte eifrig, anscheinend war er Giannas Meinung. Fiorellas Visionen waren in ganz Venedig legendär, besonders ihre Todesvoraussagen. Die meisten Menschen erfreuten sich jedoch immer noch bester Gesundheit, obwohl Fiorella ihnen einen baldigen – und meist schrecklichen – Tod vorausgesagt hatte. Darauf angesprochen meinte Fiorella jedoch immer, die Zeit würde ihr schlussendlich recht geben.
Francesca atmete erleichtert auf. Ihre größte Sorge, dass ihre Großmutter krank geworden sei, war anscheinend unbegründet.
Gianna richtete sich alarmiert auf. »Luca, du musst nach links ausweichen, eine Gondel kommt uns entgegen!«, warnte sie ihren Cousin. »Sei bloß vorsichtig!«
Der Gondoliere stand stolz aufgerichtet am Heck der Gondel, seine frischverliebten Passagiere saßen zusammengekuschelt auf der rot gepolsterten Mittelbank unter einer schwarzen Felldecke und schienen an den Lippen aneinander festgefroren zu sein.
»Ich habe sie längst gesehen«, gab Luca genervt zurück. »Außerdem lenke ich nicht zum ersten Mal ein Boot. Papa hat mich schon damit fahren lassen, als du noch in die Windeln gemacht hast.«
Das stimmte zwar, trotzdem besaß Luca mit seinen sechzehn Jahren offiziell noch keinen Bootsführerschein. Was, solange er keinen Unfall verursachte oder zu schnell durch die Kanäle düste, im Grunde niemanden interessierte. Es gehörte jedoch in Venedig zu den ungeschriebenen Regeln, dass man eine entgegenkommende Gondel immer auf der rechten Seite passieren ließ, was sogar ein Rüpel wie Luca beherzigte.
Sie bogen in den Canale del nebbione, den Kanal des dichten Nebels, ab. Zum ersten Mal sah Francesca mit eigenen Augen, warum der Kanal diesen Namen trug. Bisher hatte sie nur aus Erzählungen gehört, dass im Winter über dem dunklen Wasser stets eine graue Nebelschicht lag. Wie eine schwere Decke hing er über dem Kanal, formte sich stellenweise zu kleinen Säulen, die mit gierigen Fingern nach den Häusern und Booten tasteten. Einige Meter weiter vorne gabelte sich der Kanal. Genau dazwischen ragte gleich einem großen, steinernen Schiff der Palazzo der Medicis auf, der nur mit einer geländerlosen Brücke mit den schlichten Häusern auf seiner rechten Seite verbunden war. Wie eine kleinere Ausgabe der prächtigen Palazzi am Canal Grande war er mit Säulen, gotischen Fenstern und dämonischen Wasserspeiern geschmückt. Am auffälligsten jedoch war seine Kalksteinfassade, die im Laufe der Jahrhunderte eine schwärzliche Färbung angenommen hatte und die dem Palazzo seinen Namen gab: Ca’nera. Der schwarze Palast.
Wie jedes Mal erschauderte Francesca bei seinem Anblick und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Wieder einmal war sie angekommen. Am Ort ihrer schlimmsten Albträume.
Als Francesca den Palazzo betrat, wurde sie von lautem Hämmern und Klopfen empfangen.
»Mein Papa und Onkel Emilio konnten Nonna davon überzeugen, den Palazzo zu einer Pension umzubauen«, erklärte Gianna den Geräuschpegel, als sie die steile Steintreppe emporstiegen. »Gerade bauen sie im ersten Stock einige Räume zu Gästezimmern um. Deswegen mussten Luca, Matteo und ich auch den Mörtel und all die anderen Sachen besorgen.«
Francesca verzog das Gesicht. Die Vorstellung, in Zukunft gemeinsam mit Fremden im Palazzo zu leben, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie war froh gewesen, dass sich ihre Großmutter als Familienoberhaupt jahrelang gegen diese Idee gewehrt hatte. Doch wahrscheinlich musste sie sich nun dem finanziellen Druck beugen. Der Unterhalt des Palazzos war kostspielig und das Restaurant, das Fiorellas Töchter Stella und Viola gemeinsam mit ihren Ehemännern in der Nähe der Rialto-Brücke führten, warf gerade so viel ab, um die beiden Familien zu ernähren.
»Sie haben einen kleinen Kredit für den Umbau bewilligt bekommen, aber die meisten Arbeiten müssen Papa und Onkel Emilio selbst übernehmen. Das permanente Hämmern und Sägen verbreitet wirklich eine ungeheuer weihnachtliche Stimmung«, bemerkte Gianna in sarkastischem Ton.
Sie liefen durch den düsteren Flur im zweiten Stock, an dessen Ende das Zimmer der Mädchen lag. Natürlich hätte Francesca bei der Größe des Palazzos ein Zimmer für sich alleine haben können, doch die beiden Mädchen wollten jede Minute gemeinsam verbringen.
Als Gianna die Tür aufstieß, blendete Francesca nach der Dunkelheit des Flurs im ersten Moment das Licht. Ihr Bett stand wie immer direkt neben dem Fenster und auf dem bunt geblümten Kopfkissen hatte es sich gerade Giannas Kater Cosimo gemütlich gemacht. Unwillig blinzelte er die beiden Störenfriede an, ehe er sich mit einem Seufzer wieder schlafen legte. Mit dem Marmorfußboden und den weiß getünchten Wänden hätte das Zimmer kalt gewirkt, wenn Gianna es nicht mit ihren selbst gemalten Bildern verschönert hätte. Die zarten Aquarelltöne ihrer Kunstwerke zauberten Farbe in den Raum und zeugten von der Liebe Giannas zu ihrer Heimatstadt. Denn ihre Bilder, so unterschiedlich sie auch sein mochten, zeigten doch nur Variationen eines einzigen Motivs: Venedig. An der linken Wand über dem Schreibtisch hing ein kleines Regal, das Giannas Vater für sie gezimmert hatte und auf dem ihre gemeinsamen Schätze lagerten: die in unzähligen Sommern zusammen erfischten Sonnenbrillen.
Francesca blieb vor einem Bild direkt über ihrem Bett stehen. »Ist das neu?«
»Gefällt es dir?« Nervös blinzelte Gianna sie an. »Als wir uns bei deinem letzten Besuch den Sonnenaufgang am Markusplatz angesehen haben, hattest du deinen Fotoapparat vergessen. Da dachte ich, ich male es für dich.«
Francesca warf ihr ein dankbares Lächeln zu. »Das Bild ist toll! Ich wünschte, ich könnte so gut zeichnen wie du.«
Giannas Augen leuchteten vor Freude auf und ihre Wangen röteten sich.
Francesca wandte sich wieder dem Bild zu, auf dem die beiden Granitsäulen des Markusplatzes in blutrotes Licht getaucht waren. »Nur schade, dass wir das Brüllen des Markuslöwen nicht gehört haben. Obwohl Nonna steif und fest behauptet hat, dies sei mehr als nur eine alte venezianische Legende.«
»Zu mir hat sie gesagt, wir hätten uns einfach besser die Ohren putzen sollen, dann hätten wir das Brüllen des Löwen auch gehört.« Gianna lachte.
»Wahrscheinlich wollte sie nur ausprobieren, ob sie es schafft, zwei Teenager in den Ferien morgens um fünf Uhr aus den Federn zu bekommen.«
Francesca setzte sich auf das Bett und kraulte Cosimo am Hals, was der Kater mit einem genüsslichen Schnurren kommentierte.
»Weißt du was? Ich packe für dich aus und du kannst solange Großmutter begrüßen«, schlug Gianna vor. »Es gibt sowieso bald Abendessen. Allerdings muss ich dich warnen – meine Mutter kocht heute.«
Normalerweise war Tante Viola, die Mutter von Luca und Matteo, für das Kochen zuständig. Wenn das Restaurant jedoch wie nun über die Weihnachtsfeiertage geschlossen war, legte sie sich den ganzen Tag über ins Bett, sah sich Liebesfilme an und wollte ihre Ruhe haben. Selbst Matteo konnte seine Mutter noch so sehr um eine ihrer Leckereien anbetteln, sie weigerte sich, auch nur einen Fuß in die Küche zu setzen. So musste notgedrungen Giannas Mutter Stella für die Verköstigung sorgen. Auch wenn Stella Francescas Lieblingstante war, musste sie doch zugeben, dass deren Kochkünste in der ganzen Familie gefürchtet waren.
»Nicht so schlimm«, winkte sie ab und erhob sich wieder, da Cosimo ihr mit einem unwilligen Fauchen deutlich gemacht hatte, dass die Schmusezeit nun beendet war und er nicht weiter betatscht werden wollte. »Ich habe sowieso keinen großen Hunger.«
Ehe Francesca sie davon abhalten konnte, hatte Gianna schon ihren Koffer auf das Bett gewuchtet.
»Himmel, was hast du denn da drin?«, keuchte sie. »Nein, lass mich raten: Bücher, stimmt’s?«
Francesca steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern in die Höhe. »Stimmt«, gab sie verlegen zu. »Mama hat mir zu Weihnachten so viele interessante Bücher geschenkt, dass ich mich nicht entscheiden konnte, welche ich mitnehmen soll.«
Die Leidenschaft für das Lesen hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Isabella di Medici nutzte genau wie Francesca jede freie Minute, um ihre Nase in ein Buch zu stecken.
»Und da hast du einfach alle eingepackt?« Gianna zog den Reißverschluss des Koffers auf und vor Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen. »Sind da drin überhaupt irgendwelche Kleider? Hast du denn nicht einmal Unterwäsche mitgenommen?«
»Natürlich«, verteidigte sich Francesca empört. »Sieh mal, unter den Büchern sind Socken und Unterwäsche! Aber ich dachte, da wir beide sowieso die gleiche Größe haben, könntest du mir vielleicht …« Sie stockte.
»Ein paar Kleider ausborgen?«, beendete Gianna ihren Satz grinsend. »Natürlich! Aber ich muss dir leider sagen, dass du mindestens genauso verrückt bist wie Matteo mit seinem Rülpsweltrekord.«
Gianna nahm ein Buch heraus und betrachtete die blutroten Buchstaben auf dem Cover. »Das sieht wirklich gruselig aus. Was für ein Buch ist das?«
»Der Hexer des Teufels«, übersetzte Francesca den deutschen Titel.
Gianna erschauderte sichtlich. »Es wundert mich nicht, dass du immer Albträume hast, wenn du solche Sachen liest!«
Francescas Lächeln verblasste. »Die Bücher sind nicht daran schuld«, widersprach sie leise.
Natürlich lag der Verdacht nahe, doch sie wusste es besser. Es waren die Albträume, die zuerst dagewesen waren. Erst ihretwegen hatte Francesca begonnen, diese gruseligen Bücher zu lesen. In ihnen hoffte Francesca eine Antwort zu finden.
Abgesehen von Gianna wusste niemand von ihren Schlafproblemen. Früher konnte Francesca sich noch in das Bett ihrer Mutter flüchten, wenn die Albträume allzu schlimm gewesen waren. Doch als sie älter geworden war, hatte ihre Mutter begonnen, sich Sorgen zu machen. Sie meinte, diese schaurigen Albträume seien nicht mehr normal, und so hatte sie Francesca kurzerhand zu einem Kinderpsychologen geschickt. Dem musste sie jede Woche genauestens ihre Träume schildern, was nicht einfach war, da sich Francesca kaum an Einzelheiten erinnern konnte. Sie wusste nur, dass sie durch die Finsternis rannte und von irgendetwas gejagt wurde. Aber vor was lief sie davon? Auch der Ort, an dem ihr Traum jedes Mal spielte, kam ihr trotz der Dunkelheit seltsam bekannt vor. Tagsüber hatte sich jedoch ein Schleier des Vergessens über all dies ausgebreitet, als sei das, was sie Nacht für Nacht träumte, zu schlimm, zu grauenvoll, als dass ihr Verstand mehr als nur schemenhafte Erinnerungen zulassen konnte. Alles, was nach dem Aufwachen blieb, war die Angst. Eine Angst, deren Kälte ihren ganzen Körper erfasste und die so intensiv war, dass sie ihr die Kehle zuschnürte.
Der Kinderpsychologe vermutete damals, dass Francescas Mutter etwas mit den Albträumen zu tun hatte. Im Verlauf der Sitzungen hatte er immer öfter begonnen, Francesca nach der Beziehung zu ihrer Mutter auszufragen und wollte ihr Worte und Anschuldigungen in den Mund legen, die sie niemals gesagt hatte. Daraufhin behauptete Francesca einfach, dass die Albträume aufgehört hatten. Doch ihrer Cousine konnte sie die Wahrheit nicht verheimlichen, oft genug wurde Gianna nachts von ihrem Schluchzen und ängstlichen Wimmern aus dem Schlaf gerissen. Denn an keinem anderen Ort waren Francescas Albträume so schlimm wie in Venedig.
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn sie nur endlich herausfinden könnte, warum diese Albträume eine so große Angst in ihr weckten, dann könnte sie sie auch besiegen, da war sich Francesca sicher! Aber kein Buch, so unheimlich und grauenerregend es auch sein mochte, hatte es bisher geschafft, dieselbe Angst hervorzurufen.
Gianna legte eine Hand auf Francescas Arm. »Entschuldige, ich weiß, du sprichst nicht gern über dieses Thema.«
»Ist schon in Ordnung!« Francesca zwang sich zu einem Lächeln. »Wenigstens bist du die Einzige, mit der ich offen über alles reden kann. Es tut gut, wenn man sich nicht andauernd verstellen muss.«
Gianna nickte und packte die Bücher zurück in den Koffer. »Du solltest jetzt endlich Nonna begrüßen«, erinnerte sie Francesca. »Sie erwartet dich schon sehnsüchtig, wie immer.«
Etwas in Giannas Tonfall ließ Francesca stutzen. War sie etwa eifersüchtig? Doch als sie in Giannas Augen blickte, sah sie keine Anzeichen von Neid oder Missgunst. Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht.
Francesca erhob sich. »Gut, dann versuche ich gleich herauszubekommen, warum mich Nonna unbedingt sprechen wollte. Sonst platze ich noch vor Neugierde!«
Auf dem Weg zum Zimmer ihrer Großmutter hallten ihr die Klänge eines Orchesters entgegen. Vivaldi, erkannte Francesca schon nach wenigen Takten, der Lieblingskomponist ihrer Großmutter. Jedes seiner Stücke, so meinte Fiorella immer, erzähle von der Schönheit Venedigs und in jedem Motiv sei das Wasser der Lagune zu hören.
Ohne anzuklopfen betrat Francesca das Zimmer. Die Wände waren mit einem dunklen Holz verkleidet, wodurch es warm und gemütlich wirkte. In dem Kamin, vor dem ein Lehnstuhl und ein schon reichlich abgenutztes Sofa standen, knisterte ein Feuer. Im gegenüberliegenden Teil des Zimmers befand sich Fiorellas Bett, über dem ein schlichtes Holzkreuz hing, und ein antiker Schreibtisch, den Fiorella allerdings nur selten benutzte. Ihre Großmutter saß mit stolz aufgerichtetem Rücken im Lehnstuhl, auf ihren Schultern lag wie immer eine schwarze grob gestrickte Stola. Ihr Gesicht verriet mit keiner Regung, ob sie Francescas Eintreten bemerkt hatte. Ihre Augen, die von einem milchigen Schleier überzogen waren, blickten ins Leere.
Francesca blieb schweigend neben der Vitrine stehen, in der die wertvollen Bücher ihres Großvaters untergebracht waren. Wenn sich Fiorella ein Musikstück anhörte, konnte sie auf Störungen sehr ungehalten reagieren. Sie meinte, jedes menschliche Geräusch würde den Zauber der Musik vertreiben – als würde man der Musik den Atem rauben.
Francescas Blick fiel auf die Kommode, auf der sich die goldgerahmten Bilder aller Familienmitglieder reihten. Trotz ihrer Blindheit wusste Fiorella immer genau, welches Foto an welchem Platz zu stehen hatte. Francescas Bild stand links außen und zeigte sie als Siebenjährige am Badestrand des Lido, wie sie aus Sand eine Nachbildung des Dogenpalastes gebaut hatte. Sie strahlte glücklich in die Kamera, obwohl ihr kleiner Dogenpalast mit seinen vielen Fenstern eher einem viereckigen Stück Käse glich. Eine Sekunde, nachdem das Foto aufgenommen worden war, hatte Luca einen Eimer Wasser über Francescas Sandpalazzo ausgegossen, mit den Worten »Rekordhochwasser in Venedig!«. Woraufhin Francesca ihm ihre hellblaue Plastikschippe auf den Kopf gehauen hatte. Tante Stella hatte die beiden Kinder damals nur mit Mühe wieder beruhigen können.
Genau in der Mitte standen zwei Fotografien, deren rechte Ecken mit einer schwarzen Binde umschlungen waren und vor denen eine kleine Kerze flackerte. Das eine Bild zeigte Francescas Großvater, der schon lange vor ihrer Geburt unter mysteriösen Umständen gestorben war. Man fand ihn eines Morgens tot in einem Kanal treibend, anscheinend war er abends auf dem Heimweg ausgerutscht, hatte sich den Kopf gestoßen und war in einen Kanal gefallen. Ihre Großmutter war nie über seinen frühen Tod hinweggekommen und verehrte sein Andenken wie das eines Heiligen. Nur fünf Jahre später starb ihre älteste Tochter Cecilia. Ihr Tod war ein Thema, über das niemand in der Familie gerne sprach. Erst vor einigen Jahren hatte Francesca herausgefunden, dass Cecilia sich aus dem obersten Stockwerk des Palazzos in den Nebelkanal gestürzt hatte. Ein Unfall war ausgeschlossen.
Das Orchester stimmte den Schlussakkord an, die darauffolgende Stille wirkte so befremdlich, dass Francesca automatisch die Luft anhielt. Leise schwang die Nadel des Schallplattenspielers nach oben und zur Seite.
»Francesca, worauf wartest du?« Fiorella trommelte ungeduldig auf den Griff ihres Stocks. »Willst du deine alte Großmutter etwa nicht begrüßen?«
Francesca schüttelte schmunzelnd den Kopf. Auch wenn ihre Großmutter blind war, so waren ihre anderen Sinne derart geschärft, dass es fast schon unheimlich war. Fiorella breitete erwartungsvoll ihre Arme aus und Francesca beugte sich zu ihr hinunter. Im selben Moment umhüllte sie der Duft von Seife und Kaffee, der für Fiorella so typisch war. Wieder einmal erschrak Francesca, wie gebrechlich sich ihre stolze und strenge Großmutter unter ihren Händen anfühlte.
»Entschuldige, ich wollte dich nur nicht stören, während du Vivaldi hörst.«
»Wenn du mich mit deiner Kenntnis der klassischen Musik beeindrucken möchtest, dann solltest du mir auch sagen, welche seiner Kompositionen ich mir angehört habe?«
»Das müsste das Cellokonzert in c-Moll gewesen sein«, tippte Francesca, ohne zu zögern.
Überrascht zog Fiorella eine Augenbraue hoch, doch einen Moment später lachte sie leise auf. »Du kleines Schlitzohr hast beim Reinkommen auf die Schallplattenhülle gesehen, nicht wahr?«
»Es könnte sein, dass ich zufällig einen Blick darauf geworfen habe«, gestand Francesca.
»Du bist genau wie dein Großvater, Gott hab ihn selig. Er hat auch immer versucht, mich zu veräppeln.« Sie beugte sich vor. »Aber es ist ihm nie gelungen, meine Liebe.«
Sie deutete auf das Sofa, das ihrem Lehnstuhl gegenüberstand. »Setz dich zu mir, meine letzte Medici!«
Francesca verzog das Gesicht. Sie mochte es nicht, wenn ihre Großmutter sie so nannte. Doch es war eine Tatsache, dass sie die Einzige von Fiorellas Enkelkindern war, die den Nachnamen Medici trug und ihn somit vor dem Aussterben bewahrte.
»Dein Italienisch ist übrigens grauenvoll! Du hast einen ganz unangenehmen Akzent«, tadelte Fiorella sie. »Du musst mehr üben, auch wenn du in Deutschland bist! Es ist die Sprache deiner Vorfahren.«
Francesca rutschte unruhig auf der Kante des Sofas herum. Sie war nicht hier, um über ihre italienische Aussprache zu plaudern. »Warum hast du mich gebeten, nach Venedig zu kommen?«, platzte es aus ihr heraus.
»Nicht jetzt!«, wich Fiorella ihr aus. »Erzähle mir erst einmal, wie es dir geht!«
»Gut.«
»Und wie geht es deiner Mutter?«
»Auch gut.« Francesca hatte nicht vor, sich in eine belanglose Unterhaltung verwickeln zu lassen. Sie wollte nun endlich wissen, was los war!
»Wird meine jüngste Tochter denn endlich einmal heiraten?« Fiorella rümpfte die Nase. »Ich hoffe doch, sie trifft sich nicht wieder mit diesem nichtsnutzigen, verd…«
»Nonna!«, fiel Francesca ihr ins Wort. »Du sprichst doch nicht etwa von meinem Vater, oder? Hast du nicht gesagt, man soll nicht fluchen?«
Ihre Großmutter reckte herausfordernd ihr Kinn. »Jawohl, wenn es nicht unbedingt sein muss, sollte man das Fluchen vermeiden. Aber in diesem Fall ist es leider notwendig.«
Fiorella konnte es einfach nicht lassen, auf diesem Thema herumzuhacken. Dies war auch einer der Gründe, warum Francescas Mutter so selten wie möglich nach Venedig kam. Denn kaum waren Fiorella und Isabella länger als fünf Minuten zusammen in einem Raum, endete dies in einem Streit. Hauptthema ihrer Auseinandersetzungen war die Tatsache, dass Isabella der Familie den Rücken gekehrt hatte und im weit entfernten Deutschland lebte und arbeitete. Dass sie dabei von einem Deutschen schwanger wurde, der Isabella noch vor der Geburt sitzen gelassen hatte, war in Fiorellas Augen der Beweis dafür, dass Isabella ohne die Familie nicht zurechtkommen konnte. Obwohl Fiorella ihre Tochter damals eindringlich darum gebeten hatte, nach Venedig zurückzukommen, hatte sich Isabella geweigert und Francesca in Deutschland zur Welt gebracht. Zwar hatte Francescas Vater in den Jahren danach sein feiges Verhalten bereut und besuchte nun seine Tochter regelmäßig mit einem Berg von Geschenken, doch für Fiorella blieb er nach wie vor ein Nichtsnutz.
Francesca setzte sich auf. »Jetzt erzähle mir bitte, warum du mich unbedingt sehen wolltest«, verlangte sie.
Fiorellas Miene wurde ernst. »Das hat Zeit. Später.«
»Nein, das hat nicht Zeit«, widersprach Francesca. »Was ist passiert? Hattest du wieder eine deiner Todesvisionen?«
Die letzte Frage entwich Francesca in einem ungewollt ironischen Ton, der ihrer Großmutter nicht entgangen war. Ihre Augenbrauen, die so weiß waren, dass sie über ihrer hellen Haut schon fast unsichtbar schienen, zogen sich wie zwei Wolken über ihrer Nase zusammen. »Hast du etwas an meinen Todesvisionen auszusetzen?«, fragte sie gereizt.
»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Francesca zu versichern.
»Francesca!«, ermahnte Nonna sie. Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, wenn Francesca ihr nicht die Wahrheit sagte.
Ergeben seufzte Francesca auf. »Deine Todesvisionen sind zwar immer sehr spektakulär, allerdings sind noch so viele von den Menschen, denen du einen baldigen Tod prophezeit hast, am Leben.«
Zu Francescas Überraschung breitete sich auf dem Gesicht ihrer Großmutter ein heimtückisches Lächeln aus. »Ja, das war sehr klug von mir.«
»Klug?«
»Manchmal muss man den Menschen ihre eigene Vergänglichkeit ins Gedächtnis rufen, um sie auf den richtigen Weg zu führen«, erklärte sie Francesca. »Seit ich unserem Nachbarn Alfredo prophezeit habe, dass er innerhalb eines Jahres an Leberversagen sterben wird, hat er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Dadurch hat er wieder seinen alten Arbeitsplatz bekommen und seiner Familie geht es seither viel besser.«
Sprachlos starrte Francesca ihre Großmutter an. So etwas Hinterlistiges hätte sie ihr niemals zugetraut, selbst wenn es einem guten Zweck diente.
Fiorella beugte sich vor und tätschelte Francescas Hand.
»Ich verstehe, dass du neugierig bist, doch hab noch ein wenig Geduld. Du solltest erst einmal richtig ankommen, etwas essen und eine Nacht schlafen«, sagte Fiorella in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ich gehe morgen Mittag zur Messe. Wir treffen uns danach im Caffè Florian. Dort werde ich dich in alles einweihen.«
Erstaunt sah Francesca auf. Es musste sich um etwas Wichtiges handeln, wenn Nonna sie in das teuerste Kaffeehaus Venedigs einladen wollte.
»Aber …«, wagte Francesca dennoch einzuwerfen.
»Morgen!«, fiel ihr Fiorella ins Wort. »Was ich dir zu sagen habe, ist vertraulich und hier haben die Wände Ohren. Keiner aus der Familie darf davon erfahren, hast du verstanden? Auch nicht Gianna.«
Francesca warf ihrer Großmutter einen irritierten Blick zu. Das klang ja immer geheimnisvoller.
»Jetzt möchte ich jedoch noch einige grundsätzliche Dinge mit dir besprechen«, verkündete Fiorella. »Du bist die letzte Medici. Das bedeutet eine große Verantwortung. Wenn du einmal heiratest, muss dein Mann deinen Namen annehmen. Hast du verstanden?«
Francesca dachte, sie hätte sich verhört. Sie war erst dreizehn Jahre alt und bisher hatte sie noch nicht einmal einen festen Freund. Das Letzte, an was sie dachte, war zu heiraten. Fiorella hatte sie doch nicht etwa nach Venedig beordert, um mit ihr solche Dinge zu besprechen? Fehlte nur noch, dass ihre Großmutter gleich zu einem peinlichen Aufklärungsgespräch mit Bienen- und Blumenmetaphern ansetzte!
»Und wenn mein zukünftiger Mann nicht den Namen Medici annehmen will?«, fragte sie bissig.
»Dann ist er sowieso der Falsche«, winkte Fiorella ab. »Dann suchst du dir einen anderen.«
Francesca verschränkte die Arme vor der Brust und stieß ein entnervtes »Pffff« aus. Wenn man Fiorella so reden hörte, hätte man meinen können, sie entstammten einer einflussreichen Königsfamilie und müssten die Thronfolge sichern.
»Und wenn du Kinder hast …«, fuhr Fiorella prompt fort, hielt dann jedoch besorgt inne. »Ich habe dich nie gefragt, ob du Kinder haben möchtest. Du willst doch welche, oder?«
»Nonna, ich bin dreizehn«, erinnerte Francesca ihre Großmutter ärgerlich. »Ich weiß noch nicht, ob ich Kinder haben möchte.«
Fiorella schwieg einen Moment, dann breitete sich ein entschuldigendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
»Du hast recht, es tut mir leid«, lenkte sie in versöhnlichem Tonfall ein. »Du bist noch zu jung, um dir über solche Dinge Gedanken zu machen.« Sie grinste. »Venezianer wie ich, die in einem Labyrinth aufgewachsen sind, denken eben oft auch etwas kompliziert und verquer. Aber ich kann dich beruhigen, morgen werden wir über etwas anderes sprechen – nämlich über das düstere Geheimnis der Medici-Familie.«
Ehe Francesca etwas erwidern konnte, hob Fiorella den Kopf und sog die Luft ein. »Stella ist mit dem Essen fertig! Es riecht angebrannt.« Sie stand auf und stützte sich schwer auf ihren Stock. »Bring mich nach unten, Kind.«
Francesca seufzte ergeben, stand auf und reichte Fiorella ihren Arm. Anscheinend hatte sie keine andere Wahl, als den nächsten Nachmittag abzuwarten.