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Francesca stand auf dem Holzsteg, der zum Eingangstor der Friedhofsinsel San Michele führte, und blickte auf die grauen Wellen hinaus. Ein eisiger Wind strich über ihr Gesicht und verwirbelte ihre Haare, doch sie bemerkte es nicht einmal. Ihre Mutter trat schweigend neben sie. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, genau wie Francesca.

Sie waren die Letzten, die San Michele verließen, der Rest der Familie war mit den Trauergästen bereits vorausgefahren. Francesca hatte den Eindruck gehabt, dass zur Beerdigung halb Venedig erschienen war. Die Kirche war voll von Menschen gewesen, die von Fiorella Abschied nehmen wollten, einige mussten sogar stehen.

Knapp eine Woche war seit der Nacht vergangen, in der sie Nyarlath besiegt hatten, und Francesca hätte schon längst wieder in Deutschland in der Schule sein müssen, doch das war momentan nicht wichtig.

Die letzten Tage waren sehr turbulent gewesen. Viola, Stella und Isabella hatten jedes noch so kleine Detail der Beerdigung organisiert und Bekannte und Freunde empfangen, die zum Palazzo gekommen waren, um der Familie ihr Beileid auszusprechen. Abends saßen die drei Schwestern beieinander, sprachen über Fiorella, weinten, trösteten sich gegenseitig, erzählten sich Kindheitserinnerungen und brachten sich damit wieder zum Lachen. Francesca beneidete sie darum. Seit Fiorella in ihren Armen gestorben war, fühlte sie sich wie eine leere Hülle, in der immerwährender Winter herrschte. Selbst als ihre Großmutter in der Grabstätte der Medicis neben ihrem Ehemann zur letzten Ruhe gebettet wurde und Francesca zum Abschied zwei ineinander verschlungene Rosen niedergelegt hatte, war sie nicht imstande gewesen, zu weinen.

»Es war eine schöne Beerdigung, nicht wahr?«, unterbrach ihre Mutter ihre trüben Gedanken. »So viele Menschen sind gekommen. Es war so feierlich und friedlich. Es hätte Fiorella gefallen.«

Francesca nickte. »Wahrscheinlich«, gab sie wortkarg zurück.

Nur Isabella und Gianna wussten, was in der besagten Nacht wirklich geschehen war. Francesca hatte ihrer Mutter die ganze abenteuerliche und fantastische Geschichte von Anfang an erzählt. Sie hatte schon befürchtet, sie würde ihr nicht glauben, doch schließlich warf ihre Mutter ihr einen dankbaren Blick zu.

»Ich bin froh, dass ich nun alles weiß«, meinte sie. »Schon immer hatte ich das Gefühl, dass mit unserer Familie etwas nicht stimmt. Das seltsame Verhalten von Papa, seine besessene Suche nach einem Buch, über das wir nichts Genaues wissen durften, seine Schreie, die wir in der Nacht oft gehört hatten, Cecilias schlagartige Veränderung nach seinem Tod, ihr Selbstmord – alles fügt sich plötzlich zusammen.«

Trotzdem hatten sie beschlossen, den anderen eine nicht ganz so fantastische Version der Vorkommnisse zu erzählen. Francesca musste sie auswendig lernen, sodass ihr am nächsten Morgen, als die anderen Familienmitglieder zurück in den Palazzo kamen, die Lügengeschichte ohne zu stocken über die Lippen kam: Fiorella, so erzählte Francesca den anderen, sei bei Maria eingefallen, dass sie im Palazzo ihren Ehering vergessen habe. Stur wie sie war, sei sie nicht mehr davon abzubringen gewesen, noch einmal zurückzufahren. Als dann jedoch das schwere Erdbeben einsetzte, wäre Francesca um ein Haar von einer herabstürzenden Deckenplatte getroffen worden und Fiorella habe dabei so einen Schreck bekommen, dass ihr Herz versagte.

Natürlich waren alle geschockt und bestürzt über Fiorellas Tod. Viele Tränen flossen an diesem Tag. Doch sie trösteten sich auch damit, dass für Fiorella dieser schnelle Tod in Anbetracht ihres Gesundheitszustandes eine Gnade gewesen sei.

Die Zerstörung der Wand, hinter der Francesca den Dolch gefunden hatte, schoben sie ebenfalls auf das Erdbeben. Die Familie konnte ihr Glück über Francescas Fund kaum fassen. Jahrelang hatten sie mit Geldproblemen zu kämpfen, dabei war inmitten des Palazzos ein solcher Schatz versteckt gewesen! Dank des juwelenbesetzten Dolches gehörten ihre finanziellen Sorgen erst einmal der Vergangenheit an, die Schäden des Erdbebens konnten repariert werden und der Umbau zur Gästepension war, zur Erleichterung aller, nicht mehr notwendig.

Auch wenn die Trauer um Fiorella noch allgegenwärtig war, so schien im Grunde alles ein glimpfliches Ende genommen zu haben: Venedig war gerettet, die Medicis hatten sich von ihrer Schuld befreit und Fiorella hat das Ende gefunden, das sie sich gewünscht hatte.

Francesca seufzte auf. Trotzdem fühlte sie sich, als wäre ihr Herz in jener Nacht zu Eis gefroren.

Das Vaporetto legte mit dröhnendem Motor am Steg an und ließ sie an Bord. Francesca lief zum Bug des Schiffes und ihre Mutter folgte ihr. Vor ihnen lag Venedig – der leichte Nieselregen ließ die Dächer in den unterschiedlichsten Rottönen schimmern, die Häuser drängten sich dicht an dicht wie in einer Umarmung und dazwischen ragten die ehrwürdigen Türme und Kuppeln der Kirchen auf.

Isabella atmete geräuschvoll die salzige Luft ein. »Ich habe ganz vergessen, wie schön Venedig ist. Selbst an so einem stürmischen Wintertag.«

Sie wandte sich Francesca zu. »Die anderen warten sicherlich schon auf uns. Viola hat es sich nicht nehmen lassen, all unsere Freunde ins Restaurant einzuladen. Sie kocht heute nur Fiorellas Lieblingsspeisen.« Isabella verzog das Gesicht. »Du weißt, was das bedeutet?«

Francesca nickte. »Taubensuppe mit Brotkruste, weiße Krakeneier und in der eigenen Tinte gekochte Tintenfische.«

»Wir sollten uns auf dem Weg ins Restaurant noch eine Kleinigkeit zu essen kaufen, meinst du nicht?«

Francesca zuckte mit den Schultern. »Ich habe sowieso keinen großen Hunger.«

»Du trägst Fiorellas Tod mit ungewöhnlicher Stärke«, stellte Isabella mit ernster Miene fest. »Nicht einmal bei der Beerdigung hast du geweint.«

»Mir war nicht danach«, antwortete sie, etwas patziger als beabsichtigt.

»Manchmal weigert sich das Herz, einen Schmerz zuzulassen«, fuhr Isabella fort, ihre Worte vorsichtig abwägend. »Weil er einem zu qualvoll erscheint, zu groß für das eigene kleine Herz. Doch nur wenn man die Trauer zulässt, können die Wunden auf Dauer verheilen.«

Francesca starrte auf ihre Hände, die sich an der Reling wie an einem Rettungsring festklammerten. Ihre Finger waren schon rot vom kalten Fahrtwind.

»Ich glaube, ich habe Angst«, gestand sie schließlich mit einiger Überwindung. »Wenn ich anfange, zu weinen, werde ich vielleicht niemals wieder aufhören können.«

Ihre Mutter legte die Arme um sie und drückte sie an sich. »Die Tränen löschen den Schmerz«, flüsterte sie in ihre Haare. »Fiorella wird dich dein ganzes Leben begleiten, genau wie mich. Wenn du die Erinnerung an sie in deinem Herzen behältst, wird sie nie wirklich fort sein.«

»Ich werde sie nie vergessen«, versprach Francesca mit erstickter Stimme.

Isabella nahm ihr Gesicht in beide Hände und lächelte ihr aufmunternd zu. »Und wenn sie mit ihrer Vision recht hatte und du irgendwann deinen Kindern eine ihrer vielen Geschichten erzählst, dann wird sie auch in ihnen weiterleben.«

Gegen ihren Willen musste auch Francesca lächeln. Die Vorstellung, dass sie Kinder haben sollte, war einfach zu absurd. Doch es gab noch einen anderen Grund, warum sie sich besser fühlte: Es tat gut, mit ihrer Mutter über Fiorella zu sprechen.

Isabella strich ihr die zerzausten Haare glatt.

»Habe ich dir schon einmal erzählt, dass sie mir eine ihrer Geschichten geschenkt hat?«

Francesca schüttelte den Kopf.

»Es ist meine Lieblingsgeschichte. Als ich ein Kind war, musste Fiorella sie mir immer wieder erzählen und jedes Mal hatte ich am Ende Tränen in den Augen. Deswegen hat sie mir die Geschichte geschenkt und versprochen, dass sie sie nie jemand anderem außer mir erzählen wird.« Sie warf Francesca einen unsicheren Seitenblick zu. »Hat sie dir ihre Geschichte von der Entstehung Venedigs erzählt?«

»Nein.«

»Dann hat sie ihr Versprechen also gehalten.« Isabella lächelte. »Möchtest du die Geschichte hören? Leider werde ich sie nicht ganz so gut erzählen können wie Fiorella, aber sie wird dir sicherlich gefallen.«

Francesca nickte, lehnte sich an die Schulter ihrer Mutter und blickte über die tanzenden Wellen auf die näher kommende Stadt.

»Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin, die den Namen Venetia trug«, begann Isabella zu erzählen. »Die Prinzessin war wahrhaft einzigartig, denn dank des Zaubers einer Fee war es ihr vergönnt, immer glücklich zu sein. Schon am frühen Morgen erfüllte ihr Lachen den Palast, selbst in der Stadt war es zu hören und stimmte alle Bewohner froh. Eines Tages kam ein schöner Königssohn in das Land, der sich sofort, als er Venetia erblickte, in sie verliebte. Er war so stattlich und edelmütig, dass auch Venetia ihm augenblicklich ihr Herz schenkte. Doch ihr Vater war eifersüchtig und nicht bereit, seine geliebte Tochter gehen zu lassen. Er verlangte von dem Königssohn, dass er in den Krieg zog, um sich die Hand seiner Tochter zu verdienen. So mussten sich die Liebenden trennen. Aber Venetia versprach ihrem Prinzen, so lange am Fenster des höchsten Turms zu warten, bis er wieder zurückkäme. Wenn ihm jedoch etwas zustieße, so schwor sie, dann würde sie nie mehr glücklich sein. So zog der Prinz für ihre gemeinsame Liebe in den Krieg und mit bangem Herzen wartete die Prinzessin auf seine Rückkehr. Die Wochen vergingen und Venetia sorgte sich immer mehr. Als ein Bote, selbst schwer verwundet und halb verhungert, vom Schlachtfeld zurückkehrte, wurde Venetias schlimmste Angst bestätigt: Ihr geliebter Prinz war gefallen und würde nie mehr zurückkehren. Doch Venetia weigerte sich, das Turmfenster zu verlassen. Sie starrte in die Ferne, als könne die Nachricht seines Todes sie nicht davon abhalten, zu hoffen, ihren Liebsten jeden Moment dort auftauchen zu sehen. Vor Kummer weinte die Prinzessin, wie noch nie jemand auf dieser Welt geweint hatte. Die, die einst das glücklichste Herz auf Erden hatte, hatte nun das unglücklichste. Sie weinte Tag um Tag, Woche um Woche. Der König versuchte seine Tochter zu trösten, flehte sie an, endlich wieder fröhlich zu sein, doch Träne um Träne rann über das Gesicht der Prinzessin. Sie liefen über ihre Wangen, den Turm hinab und in die Gassen der Stadt. Immer weiter versank die Stadt in Venetias Tränen, bis die Häuser im Wasser standen und die Bewohner sich Boote bauen mussten, um trockenen Fußes durch die Gassen zu gelangen. Ihre Boote waren von einem glänzenden Schwarz, weil sie mit ihrer geliebten Prinzessin trauerten. Venetia zu Ehren beschlossen sie, der Stadt einen neuen Namen zu geben: Venedig, die Stadt, die aus Tränen, aus Trauer und aus Liebe entstand. Doch als Venetia den Kopf hob und zum ersten Mal auf diese neue, zauberhafte Wasserstadt hinabblickte, auf ihr Venedig, versiegten ihre Tränen.«

Eine Böe strich kräuselnd über das Wasser, tastete sich auf das Vaporetto zu und wischte sanft über Francescas tränennasses Gesicht.