31

 

»Die haben uns die Energie abgeschaltet«, sagte Krek.

Tristan war gerade mit Lani aus der Aufzugkabine gestiegen. Er hatte erwartet, den Polizeiposten ebenso hell vorzufinden, wie er ihn verlassen hatte. Aber jetzt leuchteten nur die Notpaneele an der Decke.

»Wann?«

»Ist noch nicht lange her. Wir haben es kommen sehen. Auf den Displays konnte man sehen, dass sie sämtliche unterirdischen Etagen evakuieren, und dann sahen wir, wie sie die Energie abschalteten, eine Etage nach der anderen, bis es schließlich auch hier dunkel wurde.«

»Verdammt«, sagte Callin und hob seinen Pulser. Er war vor Tristan und Lani allein mit dem Aufzug nach oben gefahren. »Ich wollte das Ding hier neu aufladen.«

Sie hatten gemeinsam dem Datencenter beträchtlichen Schaden zugefügt, waren von Zelle zu Zelle gegangen und hatten sämtliche Lagerstätten für Katzenaugen und alle Übertragungs- und Replikationseinheiten zerstört, die sie hatten finden können.

»Ich bin sicher, in den Waffenschränken gibt es genug aufgeladene Pulser«, sagte Tristan. Er drehte sich zu Krek um. »Ist Okasan schon frei?«

Krek schüttelte den Kopf. »Nein, bis jetzt noch nicht. Es sind so viele Stangen, und das Schneiden geht so furchtbar langsam vonstatten.«

»Kann ich sie sehen?«, fragte Lani.

Sie hatte sich ihren Clingsuit zurückgeholt, und doch stand sie vielleicht einen Meter von ihnen entfernt, die Arme vor der Brust verschränkt, als wäre sie immer noch nackt, und starrte Krek und die anderen Mimiks mit einer Art ehrfürchtiger Scheu an. Tristan war aufgefallen, dass sie sich während der Fahrt in der Aufzugkabine an die Wand gelehnt hatte. Er hatte sich so danach gesehnt, sie in die Arme zu nehmen, es aber nicht gewagt – nicht mit diesen blutigen Schuppenarmen. Er hatte gehofft, gleich nach dem Eintreffen hier oben wieder in Trev zu fluxen, aber das schien jetzt nicht besonders klug. Die Situation verschlechterte sich schnell, und er würde jedes Quäntchen Kampfkraft brauchen, das diese Drachenmasque ihm bot.

Tristan ließ Krek und Callin stehen und führte sie zu den Wartezellen. Als sie näher kamen, hörte er Okasan lautstark rufen:

»Lasst mich, ich sage es euch! Jede Minute, die ihr mit mir verschwendet, verringert eure Chancen, hier lebend rauszukommen!«

»Okasan!«, rief Lani und rannte auf die Zellentür zu, musste aber, bevor sie ihr Ziel erreichte, stehen bleiben, weil der Mimik immer noch mit dem Schneidlaser an den unteren Stangen arbeitete.

Okasan lächelte erleichtert und zwängte ihren Finger zwischen zwei der waagerechten Stangen hindurch.

»Lani! Die haben Ihnen nichts zu Leide getan! Oh, ich bin so froh! Ich hätte mich verantwortlich gefühlt.« Ihr Lächeln verblasste. »Und ich bin schon für so viel verantwortlich.«

Lani strich zärtlich über die Finger der alten Frau.

»Nein. Mir fehlt nichts. Tristan hat mich gerettet. Und, Okasan – das Loyalitätsgen … die einzige Kopie ist zerstört.«

»Aber Streig -«

»Den gibt es auch nicht mehr. Tristan … hat das erledigt.«

Okasan sah ihn über Lanis Schulter hinweg an. »Das ist Tristan?«

Der nickte. »Ja, ich bin es, Okasan. Und das Gen ist zerstört.«

Okasans Blick schien ins Leere zu wandern. »Dann ist das Geheimnis von 662RHC wieder ein Geheimnis. Meines.«

Tristan beugte sich vor, um zu sehen, welche Fortschritte die Schneidarbeit machte.

Erst zwei von den unteren Stangen waren entfernt worden, und der Laser hatte die Dritte an einem Ende gerade erst zur Hälfte durchgeschnitten. Okasan würde die Beine bis zum Knie durchschieben können, aber ganz bestimmt nicht mehr.

Tristans Stimmung, dem die Befreiung Lanis und die Zerstörung des 662RHC Mut gemacht hatten, sank wieder.

Bei diesem Tempo würden sie alle getötet werden, bis Okasan frei war. Er zermarterte sich das Gehirn, suchte nach einer Lösung. Wie konnte man das hier beschleunigen?

Krek glitt herein. »Die haben die Energiezufuhr zu den Schächten abgeschnitten.«

Lani wandte sich von Okasan ab und sah sie an. »Dann sitzen wir hier in der Falle – genauso eingesperrt wie Okasan.«

»Nicht unbedingt«, erwiderte Tristan. »Wir könnten Energie aus Notaggregaten in die Schächte leiten.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen, Bruder«, sagte Krek.

Tristan zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. Um die Schächte würde er sich später kümmern. Im Augenblick gab es ein viel dringenderes Problem: Sie mussten Okasan befreien.

»Ich habe eine Idee«, sagte Okasan. »In der Wand hier neben der Tür ist so eine Art Platte. Sie befindet sich genau gegenüber dem Schlossmechanismus auf eurer Seite. Wenn ich diese Platte öffnen kann, finde ich vielleicht eine Möglichkeit, das Schloss zu überbrücken.«

»Tatsächlich?«, fragte Krek. »Wie ist die Platte an der Wand befestigt? Kann man sie wegstemmen?«

»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Schiebt mir einen von euren Pulsern unter der Stange durch, dann versuche ich, einen Strahl darauf zu richten. Schlimmer kann ich es damit ja schließlich nicht machen.«

»Man soll alles probieren«, erklärte Krek. Er zog eine Pistole aus dem Gürtel und reichte sie dem Egelmimik, der den Laserschneider bediente. »Da. Schieb sie unten durch.«

Als der Egelmimik den Pulser unter der Stange durchschob, blickte Okasan auf. Ihre Augen blieben kurz an denen von Tristan hängen, und der schrie entsetzt auf, als er die schreckliche Entschlossenheit in ihrem Blick sah.

»Nein! Gib sie ihr nicht!«

Aber zu spät. Okasan hob die Waffe vom Boden auf und trat von der Tür zurück.

»Warum nicht?«, fragte Krek. »Was ist denn?«

Aber Okasan ließ Tristan nicht zu Wort kommen.

»Ihr könnt mich nicht rechtzeitig hier rausholen«, sagte sie leise. »Ihr seid alle sehr tapfer, und ich bin zutiefst gerührt von eurer Loyalität, aber die traurige Wahrheit ist, dass ich, ganz gleich, was ihr tut, immer noch in dieser Zelle sein werde, wenn die Flagger diesen Posten zurückerobern. Und das werden sie. Die einzige Frage ist jetzt, wie viele von euch dabei sterben werden. Wenn ihr hier bleibt und mich zu befreien versucht, werdet ihr alle sterben.«

»Wir verlassen dich nicht«, erklärte Krek.

»Das weiß ich«, sagte Okasan. »Und deshalb muss ich euch verlassen.«

Nein, dachte Tristan, der genau wusste, was Okasan vorhatte. Nicht jetzt, nicht nachdem ich erfahren habe, wer du bist.

Lani, Krek und die anderen flehten sie im Chor an, als ihnen bewusst wurde, was Tristan bereits erraten hatte.

Okasan schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Dank Tristan ist die Welt gerade vor 662RHC bewahrt worden. Aber wenn ich am Leben bin, wenn dieser Posten zurückerobert wird, wird jemand von der FA – ein anderer Streig – mich erneut sondieren lassen. Und dann wird Flagge Glom wieder den Schlüssel zur Herrschaft über die Welt haben. Ich darf nicht zulassen, dass das geschieht.«

»Okasan«, sagte Tristan und hörte, wie seine Stimme zu einem Schluchzen wurde. »Mutter … bitte!«

»Mutter …«, sagte sie und sah sie mit feuchten Augen an. »Ich habe mich so lange Zeit wegen des Missbrauchs meiner mDNS geschämt. Aber wenn ich euch jetzt ansehe, durch die schrecklichen Gestalten hindurchsehe, die ihr angenommen habt, sehe ich da etwas Gutes, Edles. Ich bin stolz auf euch – euch alle.«

»Weiterschneiden«, wies Krek den Egelmimik an. »Wir holen dich raus.«

»Das Beste, was ihr für mich tun könnt, ist überleben. Das ist das größte Geschenk, das ihr mir machen könnt. Lebt weiter und findet andere Mimiks und befreit sie. Wenn euer Aufstand sich herumspricht, wird das andere Mimiks nachdenklich machen. Ihr habt hier ein Feuer entfacht – breitet seine Flammen über den ganzen Globus aus, über die Planeten. Aber um das zu tun, müsst ihr mich hier zurücklassen. Lebt wohl.«

Wieder flehten Lani, Krek und die anderen Mimiks sie an, aber Tristan war von der Kraft der fremdartigen Gefühle, die in ihm tobten, wie benommen. Er packte die Gitterstäbe, wollte sich hindurchzwängen und diese alte Frau packen, sie umarmen und ihr sagen, dass er sie gerade erst gefunden hatte und sie nicht schon wieder verlieren wollte.

Aber Okasan achtete nicht auf die verzweifelten Rufe. Kühl entschlossen trat sie an die plattformartige Erhebung, die ihr in der Zelle als Bett diente, und legte sich auf den Rücken. Sie nahm eine Einstellung an der Pulserpistole vor und presste sich die Mündung dann über ihrem Herzen gegen die Brust.

Sie wandte den Kopf zu ihnen. »Geht«, sagte sie. »Bitte, seht euch das nicht an.«

Aber Tristan wollte nicht gehen – und die anderen ebenfalls nicht. Ihre Bitten wurden noch lauter.

»Nun gut«, sagte Okasan mit einem bebenden Lächeln. »Lebt wohl.«

Als Lanis Schreie an seine Ohren drangen, fand Tristan endlich seine Stimme wieder, aber der Protestschrei, den er ausstoßen wollte, kam als ein gequältes Heulen heraus.

Und das erstickte in seiner Kehle, als er sah, wie Okasans Daumen den Abzug betätigte, sah, wie ihr Körper sich aufbäumte, als der Strahl ein Loch in ihr Herz bohrte. Ihre Arme bewegten sich zuckend, und der Pulser fiel klirrend zu Boden. Ihr Körper bäumte sich einen Augenblick lang auf und wurde dann schlaff.

Die Schreie verstummten, wie erstickt von dem Schrecken, den sie gerade miterlebt hatten, wichen Schluchzen und Stöhnen. Lani drehte sich um und klammerte sich einen Augenblick an Tristan, wich dann aber zurück – von dem Blut auf seiner Drachenhaut angewidert? – und taumelte davon.

Tristan folgte ihr nicht. Er blieb, wo er war, starrte durch die Gitterstäbe und hatte das Gefühl, er müsse vor Schmerz ohnmächtig werden.

Okasan … Teresa Goleman … seine Mutter … war tot.