22

 

Tristan warf einen leeren Konzentratbehälter auf den Boden und griff dann nach dem nächsten und riss ihn auf. Er hatte das Gefühl, von der grünen, geleeartigen Substanz gar nicht genug bekommen zu können.

Als er gestern in sein Abteil zurückgekehrt war, hatte er sofort ins Nullstadium gefluxt und war gleich darauf in tiefen, erschöpften Schlaf gesunken.

Er war glatt und ohne sichtbare Merkmale aufgewacht, wiedergeboren. Und er war hungrig.

Während Tristan in seine Eigenmasque fluxte, sah er sich ein von seinem PDA aufgebautes Multi-Blasen-Display an.

Die oberste Reihe war gefüllt mit eingefrorenen Holobildern der jüngsten Nachrichten. Wieder Zusammenstöße zwischen Mimiks und Bluts, mit Glomwachen, die untätig zusahen, wie Mimiks verprügelt wurden. Und die neuesten Untersuchungsergebnisse hinsichtlich des Mordes an dem Blutführer.

Ich weiß, wer das getan hat, dachte Tristan.

Eine weitere Packung war leer, und er ließ sie auf den Boden fallen.

Und weitere Nachrichten … ein Durchbruch auf dem Mars. Natürlich, das sagen sie ja immer. Immer »große Durchbrüche« auf dem Mars, und dennoch blieb der Planet unbewohnbar. Wer konnte schon widersprechen, wenn die Gloms sagten, dass auf dem Mars alles prächtig lief?

Er sah auf das körperlose Gesicht, das neben der Holoblase schwebte.

»Was hast du sonst noch, Joe?«

»Ich kann eine Folge von Live-Sendungen holen, die Sie vielleicht interessieren. Die Ritterspiele in McMurdo und -«

»Schon gut. Aus.«

Joe und die Blase verschwanden.

Er war jetzt satt und wollte wieder schlafen. Er hatte noch eine Menge Schlaf nachzuholen. Als er auf seine Krippe zuging, ertönte ein Signal.

Jemand war an der Tür. Aber er erwartete keinen Besuch.

»Wer ist da?«

Der Bildschirm zeigte das Gesicht von Tristans Besucher.

»Argus? Was zum -?«

Er überlegte, ob er den widerwärtigen Mutagen überhaupt zur Kenntnis nehmen sollte, aber an dessen Grinsen war etwas, das Tristan nachdenklich machte. Argus wirkte beinahe … glücklich. Und das konnte nur bedeuten: schlechte Nachrichten für jemand anderen.

Er öffnete die Tür, und Argus drängte sofort ins Zimmer.

»Du bist zurück, Tristan.«

Tristan nickte. »Wie aufmerksam, Argus. Ja, und ich wollte mich gerade hinlegen, wenn es dir also nichts ausmacht -«

Argus knallte die Tür hinter sich zu und blieb grinsend vor Tristan stehen. Dieser fragte sich, ob er die Gehegepolizei alarmieren sollte. Argus wäre nicht der erste Mimik gewesen, der durchdrehte.

Sie hatten sogar eine Bezeichnung dafür. Mimikkoller. Manchmal drehte ein Mimik durch. Zu viele Fluxe, zu viel Psycker.

Argus stieß ihm in die Rippen. »Du hast es versaut, Tristan.«

»Tatsächlich?« Tristan versuchte, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Argus weiß etwas. »Wenn du damit meinst, dass ich dir aufgemacht habe, hast du Recht.«

Argus blinzelte ein paar Mal schnell hintereinander. Eine Art Tick, als würde etwas die Signale stören, die von seinem Gehirn zu seinem Mund flossen. Seltsam.

»Du kannst dir deine Träume von Selbstheit abschminken, Tristan.«

Wieder versuchte er, ihm einen Hieb zu versetzen, diesmal in die Magengrube, aber Tristan hob den Arm und lenkte den Schlag ab. Allmählich ging ihm das hier auf die Nerven.

»Sag, was du zu sagen hast, und dann verschwinde, Argus.«

»Ich habe dir schon gesagt: das hätte mein Einsatz sein sollen. Wenn ich gegangen wäre, hätte ich den richtigen Virus mitgebracht.«

Tristan erstarrte und hatte das Gefühl, ein Schwall interstellarer Kälte würde durch seine Adern schießen. Er versuchte, seiner Stimme nichts anmerken zu lassen.

»Was soll das heißen?«

»D-Dass ich F-Freunde im Daten-l-labor habe«, stotterte Argus, und da war wieder dieses seltsame Blinzeln. »Und die haben mir gesagt, dass sie nicht wissen, was du gebracht hast, aber jedenfalls haben sie noch nie einen solchen Dataviron ge-s-sehen. Sie schicken M-Muster herum, um ihn zu iden-iden-ti-fizieren.«

Wieder das Blinzeln. Argus’ Mund ging auf und zu. Es sah geradezu komisch aus, ein verrückter Mimik, der versuchte -

Jetzt hing Argus die Zunge halb aus dem Mund, und dann, so als würde er versuchen, Tristan mit einem Trick zu beeindrucken, begann sich die Zunge wie ein Ballon auszudehnen.

Tristan lachte.

»Argus, ich habe gar nicht gewusst, dass du -«

Die Zunge dehnte sich noch weiter aus und platzte, bespritzte Tristan mit rotem Zeug. Tristan fuhr entsetzt zurück, als sich in Argus’ Gesicht plötzlich Höcker bildeten, pulsierten, sich hin und her bewegten, ausdehnten und schließlich aufplatzten.

Was zum Teufel ging hier vor? Zu häufiges Fluxen war schädlich … das wussten alle Mimiks. Aber so etwas hatte Tristan noch nie gesehen. Argus verdrehte die Augen in einem völlig verformten Kopf; sie sahen aus, als wollten sie ihm aus dem Schädel springen.

Und dann taten sie genau das … ein widerliches Geräusch, und dann hingen die weißen Kugeln aus den blutigen Höhlen, als etwas im Inneren von Argus’ Schädel sie herausquetschte.

Tristan keuchte entsetzt.

»Joe! Was geht hier vor?«

Argus sank auf die Knie. Er griff sich an den Hals, seine beiden Hände schlossen sich um seine Kehle. Er musste dort schreckliche Schmerzen haben – oder dachte Argus vielleicht, er könne damit dem Schrecklichen Einhalt gebieten, das in seinem Kopf vor sich ging?

Das Joe-Gesicht erschien und sagte ruhig: »Sir, über dieses Phänomen ist in meinen medizinischen Dateien nichts zu finden. Und es gibt auch keine Bilder im Ocean, die …«

Ein erstickter Schrei von Argus übertönte den Bericht des PDA. Seine Hände sanken von seinem Hals herunter, die Finger blähten sich auf wie kleine Ballons, schwollen an … aber statt zu platzen, schien das Fleisch der Finger zusammenzuschmelzen und rosa Klumpen am Ende seiner stummelhaft wirkenden Arme zu bilden.

Argus sank zu Boden und krümmte sich stöhnend und ächzend zusammen. Seine Kleider verbargen, was sonst noch mit seinem Körper geschah. Tristan wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte Angst, sich Argus zu nähern, besonders Argus’ Kopf – seine Kopfhaut warf Blasen, als ob die harte Knochenstruktur seines Schädels zu Brei geworden wäre.

Tristan spürte die Nährflüssigkeit in seinem Magen gluckern. Er hatte Argus nie gemocht und sich einige Male ernsthaft überlegt, ihn zu töten, aber das … niemand verdiente das.

»Sir?«

»Joe! Hast du etwas gefunden?«

»Ja, Sir. Ich glaube, es gibt verwandte Vorkommnisse.«

Eine Holoblase erschien vor Tristan, verdeckte Argus’ sich windenden Körper, der sozusagen ohne Hitze auf dem Boden kochte. Die Blase zeigte andere Mimiks in diesem schrecklichen Schmelzvorgang, den Argus gerade durchmachte.

»Was ist das?«

»Eine Live-Schaltung zu irgendeinem anderen Raum im Gehege, Sir. Andere scheinen unter dem gleichen Gebrechen zu leiden.«

Aber mit wem genau passierte das?

Tristans Herz schlug schneller. Was ging hier vor?

Er trat durch die Holoblase und sah, dass Argus zu atmen aufgehört hatte … dass sein Körper sich langsam in eine Pfütze verwandelte.

Tristan rannte zur Tür … hinaus ins Gehege.

 

Nur Mimiks … nur Mimiks litten darunter.

Tristan stand auf dem freien Platz in der Mitte des Geheges und musste sich immer wieder daran erinnern, dass er atmen musste, dass er den Gestank, das Blut, die Blasen werfenden Körper … überall … ignorieren musste.

Nicht jeder sterbende Mimik befand sich im gleichen Zustand. Ein paar schienen länger zu brauchen, um die Kontrolle über ihre Zellstruktur zu verlieren, während andere sich schon in eine klebrige Masse verwandelt hatten.

Tristan zwang sich, an all dem Wahnsinn vorbeizugehen.

Ein Mimik, der den Kopf unnatürlich schief hielt, versuchte, den Mund zu öffnen, so als ob er etwas zu Tristan sagen wollte. Bitte … hilf mir, bedeutete das vielleicht.

Aber der Mund des Mimik war nur noch ein unförmiger Klumpen … der bald völlig verschwinden würde. Ein Auge starrte Tristan an, bis es schließlich aus dem herauströpfelte, was früher einmal ein Kopf gewesen war.

Tristan taumelte weiter. Das kann einfach nicht sein. Das muss ein Traum sein, ein Albtraum. Aber wenn es geschieht, warum geschieht es dann nicht auch mit mir?

Weitere Schritte zu einer Stelle, wo die schmelzenden Mimikkörper nur noch dampfende Haufen waren, dampfend aufgrund der Hitze der schnellen Zellauflösung. Tristan versuchte, einen Sinn in das Schreckliche zu bringen. Es war beinahe so, als ob seine Mimikkollegen plötzlich einen Schnellflux begonnen hätten … ins Nichts. Etwas verwandelte ihre Körper in rohes, organisches Material, ohne jeden genetischen Plan.

Die Schreie verhallten jetzt allmählich, und der Wahnsinn – zumindest dieser Teil davon – neigte sich dem Ende zu. Die wenigen Menschen, die in der Nähe des Geheges wohnten oder arbeiteten, sahen mit entsetzten Gesichtern zu.

Benommen lehnte sich Tristan an eine Wand und ließ sich dann in die Hocke sinken. Wieder wanderte sein Bewusstsein zu der entscheidenden Frage zurück.

Warum nicht ich?

Dann erschien das Joe-Gesicht.

»Sir, Cyrill wünscht Sie -«

»Ja«, sagte Tristan. Cyrill … Cyrill wird es wissen …

Und dann erschien Cyrill in einer Blase, das Gesicht wutverzerrt.

»Tristan – das hast du getan!«

Tristan schoss in die Höhe und schüttelte den Kopf. Tristans VAE-Programm registrierte all seine Gesten, seinen Gesichtsausdruck. Für Cyrill würde es genau so sein, als ob er ihn sähe.

»Ich habe das nicht getan, Cyrill. Wie können Sie sagen -?«

»Dieses Katzenauge, von dem du ein Muster mitgebracht hast … die müssen gewusst haben, dass du kommst. Die haben gewollt, dass du ein Muster zurückbringst. Und schau, was es angerichtet hat -«

Die Blase füllte sich mit einem Dutzend schneller Bilder von Mimiks, überall in Kaze Glom, und alle durchliefen sie dieselbe Zellauflösung.

»Jeder Mimik?«, sagte Tristan leise.

»Der Virus ist überall, von unseren eigenen Shuttles zu all unseren weltweiten Zentren gebracht … noch hat nicht jeder Mimik Anzeichen der Seuche erkennen lassen, aber wir müssen annehmen, dass auch die scheinbar Gesunden infiziert sind und sich in der Inkubationsperiode befinden. Bald wird jeder Kaze-Mimik eine Pfütze aus Schleim sein.«

Ein Virus? Innerhalb der Grenzen von Kaze war jeder Mimik für Informationen und Anweisungen mit dem Glom verbunden. Aber einen Virus hatte es nie gegeben. Ein Virus konnte unmöglich unentdeckt bleiben. Unmöglich – bis jetzt.

»Und alles deinetwegen, Tristan!«

»Meinetwegen?« Tristan wurde zornig. »Wer hat die Mission geplant? Sie! Wer hat bestimmt, von welchem Katzenauge das Muster entnommen werden soll? Sie. Ich habe Ihre Anweisungen befolgt.«

»Jetzt fehlt grade noch, dass du all deinen anderen Verbrechen auch noch das der Insubordination hinzufügst.«

»Der Tod all dieser Mimiks ist Ihre Schuld!«

»Mimiks? Wen schert schon, was mit euch Mimiks passiert. Wir können immer wieder welche von euch klonen – oder zumindest konnten wir das. Auf die DNS-Bänke kommt es an, und die sind verseucht! Unser Goleman-Bestand ist ruiniert. Unsere Mimikoperationen sind gelähmt – Kaze Glom selbst ist gelähmt!«

Irgendetwas musste Tristan entgangen sein. Der Schock, der Schrecken erschwerte das Denken.

»Du hast uns verkauft, Tristan. Du bist ein Verräter an deinem Glom!«

»Nein. Wie könnte ich -?«

Cyrill stieß mit dem Finger nach Tristan, geradeso, als könnte er damit die Meilen überwinden und ihm ins Auge stoßen.

»Du warst es nicht? Du hast nichts getan? Dann sag mir dies – wie kommt es dann, dass du noch auf den Beinen bist? Wie kommt es, dass du am Leben bist, während jeder Mimik – jeder Kaze-Mimik, um es genau zu sagen – tot ist oder im Sterben liegt? Jeder Einzelne mit nur einer Ausnahme – dir!«

Richtig, dachte Tristan. Das ist es. Ich lebe. Das muss Cyrill argwöhnisch machen. Ganz natürlich, dass er mich für einen Verräter hält.

»Geh jetzt zurück in dein Quartier, Tristan. Ich schicke ein Polizeiteam, das dich in den Tower bringt. Vielleicht finden wir heraus, was dich am Leben erhält. Denk daran, es gibt für dich kein Versteck. Und jetzt beeil dich -«

Cyrill verschwand. Er hatte das Recht, Angst zu haben. Und Wut – obwohl Tristan nicht verstand, was geschehen war und weshalb er allein überlebt hatte.

Und dann erinnerte er sich an etwas.

Cyrill wusste nicht, dass er einen Universalschlüssel hatte.

Ich kann hier raus … wenn ich will.

Aber wohin? Wo gab es Sicherheit?

Und noch eine Frage: Wer hatte sonst noch gewusst, was er gestohlen hatte? Jetzt, wo er darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass es trotz allem gar nicht so schwierig gewesen war, an das Katzenauge zu kommen. Es war sogar eher leicht gewesen.

Zu leicht.

Hatte Lani Rouge gewusst, was in dem Katzenauge war? Hatte Flagge Glom darauf gewartet, dass Kaze jemanden schicken würde, um es zu stehlen?

Er musste nachdenken. Wenn Cyrill ihn erwischte, würde er eine komplette Psychosondierung an ihm vornehmen und genau erfahren, was Tristan getan hatte, um zurückzukommen. Das allein würde schon als Grund für seine Liquidierung ausreichen. Aber selbst ohne das würden sie ihn zweifellos auseinander nehmen, um herauszufinden, was ihn am Leben hielt, während andere starben.

Da waren zwei Dinge, die im Augenblick zu seinen Gunsten sprachen, wurde ihm bewusst. Das eine war, dass niemand wusste, dass er einen Universalschlüssel besaß. Cyrill dachte, dass Tristan in einem engen Sektor von Kaze Glom eingeschlossen war. Das andere war, dass jeder ihn für einen Menschen halten würde, weil ja alle Mimiks tot waren oder starben. Und inmitten von all dem Chaos hier würde er so lange nicht überprüft werden, bis Cyrill Alarm schlug.

Und bis dahin kann ich draußen sein, dachte Tristan. Vielleicht.

Aber wohin?

Ich lebe, ich bin frei … aber wie in der alten Fabel trage ich einen Fluch … das Kainsmal.

Ich habe meinen Bruder erschlagen – Hunderte meiner Brüder.

Ich klinge wie Krek, dachte er.

Aber im Augenblick könnte er einen Bruder gebrauchen.

Was würden Okasan und Mung denken? Er hatte geschworen, dass er nie an das Katzenauge herangekommen war; er hatte ihnen in die Augen gesehen und versprochen, es noch einmal zu versuchen und ihnen das Muster zu bringen, falls er Erfolg haben sollte.

Lügen waren die geringsten seiner Verfehlungen. Er hatte für eines der beiden großen Gloms die Rolle eines Trojanischen Pferdes gespielt, hatte ihm die Möglichkeit gegeben, seinen wichtigsten Rivalen in die Knie zu zwingen. Er hatte ganz allein das sensible Machtgefüge zunichte gemacht, und jetzt stand Flagge Glom kurz davor, die entscheidende Kraft auf dem Planeten zu werden.

Aber die größten Verlierer bei all dem würden die Mimikrebellen sein. Sie würden -

Bei dem Gedanken, was in den Freizonen geschehen könnte, wenn all die entflohenen Mimiks schmolzen, erfasste Tristan Entsetzen.

Und Proteus … wenn sie nicht schon tot waren, würden sie das bald sein. Er dachte an Krek. Er war schroff und hart gewesen, aber er hatte eine Lebensfreude an sich gehabt, um die Tristan ihn beneidete. Und er hatte Tristan auf der Plattform der Rohrbahn das Leben gerettet.

Ich wette, das tut Krek jetzt Leid, dachte er. Falls er noch am Leben ist.

Wenn Tristan die Freizone erreichte, würde er allen überlebenden Proteanern aus dem Weg gehen müssen … ihnen aus dem Weg gehen müssen wie … wie eine Seuche.

Ein ersticktes Geräusch – halb Lachen, halb Schluchzen – drang aus seiner Kehle und verhallte.

Aber die Wahrheit blieb. Jeder überlebende Proteaner würde ihn sofort töten, wenn er ihn zu Gesicht bekam. Und das mit allem Recht.

Am Leben, frei … und verflucht.

Tristan begann sich seinen Weg durch die schreckliche Leichenlandschaft zu bahnen. Er wäre am liebsten zum Tor gelaufen, aber sein eingeschränktes Grid würde ihn nicht passieren lassen. Er musste in sein Abteil zurück, den Universalschlüssel benutzen und dann das Gehege verlassen, ehe Cyrills »Team« eintraf.

Tristan zwang sich, schnell zu gehen – nicht zu rennen – die Gehweise eines Real, der erregt und angewidert war, aber vor niemandem floh.

 

Tristan würgte es, als er sein Abteil betrat. Der Gestank, der von Argus’ Überresten ausging, war überwältigend. Er hielt den Atem an und holte den Universalschlüssel. Dann füllte er sich die Taschen mit Konzentratpackungen, schnappte sich jede Schablone, die er finden konnte, und rannte in den Flur.

Wenn er Glück hatte, würde er auf dem Weg nach draußen dem »Team« nicht begegnen; wenn er noch mehr Glück hatte, würden die Überreste von Argus sie eine Weile ablenken, sie vielleicht glauben lassen, dass dieser Tristan-Mimik schließlich doch nicht immun gewesen war.

Und er, wenn er wirklich Glück hatte, würde das Innere von Kaze Glom nie wiedersehen.

Aber selbst wenn ihm die Flucht gelang, hatte er immer noch kein Ziel …

»Joe, den sichersten Weg zur Freizone Nord -«

»Aber Cyrill hat Sie angewiesen, in Ihr Abteil zurückzukehren und zu warten -«

»Darüber setze ich mich hinweg. Ich möchte zu dem Lagerhaus zurück, wo ich gestern Morgen Okasan begegnet bin.«

Er dachte an seine Träume von Selbstheit und wie naiv er gewesen war.

Heute hat die Welt sich verändert, dachte Tristan. Und ich war das Instrument – das Werkzeug – jener Veränderung.

Ein verfluchtes Werkzeug … das war alles, was er je gewesen war. Er würde -

»Cyrill wird sehr ärgerlich sein.«

Er wünschte, er hätte jetzt Zeit, die situativen Logikkomponenten des PDA auszuschalten. Bis das hier alles vorbei war, brauchte er nichts, was ihn jede Sekunde daran erinnerte, was seiner Ansicht nach Tristan tun sollte. Das war ein für alle Mal vorbei. Von diesem Augenblick an war Tristan derjenige, der die Entscheidungen traf.

»Vergiss Cyrill, Joe. Hast du den Weg?«

Rote Linien in Tristans Roaming Grid zeigten einen labyrinthischen Weg zu den Rohrbahnen, in die Freizone und zu dem Lagerhaus.

Tristan beeilte sich. Selbst in den Fluren füllte sich die Luft mit dem Ekel erregenden Gestank von sich auflösenden Mimiks hinter jeder Tür.

Er verdrängte die Bilder, aber die Erinnerung an die Angst in Cyrills Gesicht konnte er nicht verdrängen.

Krieg … das Wort hallte durch sein Gehirn.

Heute ist Krieg ausgebrochen, dachte er. Und ich bin daran beteiligt.

Ein anderes Wort trat an die Stelle von Krieg, ein Wort, das bislang für ihn keine Bedeutung gehabt hatte, ein Wort aus den Vids, besonders den eigenartigen Vids, die sich mit Männern mit Waffen befassten, die einander in den alten Wüsten des Wilden Westens gegenüberstanden, um der Ehre und um ihres Landes willen.

Sühne.

Er konnte nur einen Pfad vor sich sehen: Verbindung mit Okasan aufnehmen. Wenn sie ihn haben wollte. Wenn es nicht zu spät war.

Und dann Lani finden.