Prolog

 

Der dicke Mann atmete schwer. Er stand in der Tiefe der gewaltigen Schlucht zwischen zwei leeren schwarzen Gebäuden, deren Träger und Säulen wie die Skelette gigantischer vorgeschichtlicher Geschöpfe aussahen, die man mit Speeren zur Strecke gebracht und dann zum Verfaulen liegen gelassen hatte.

Wenigstens verfaulen sie langsam, dachte er. Von den Gebäuden war genug übrig geblieben, um Tausende von Outsiders unterzubringen.

Der Rand des Dschungels. Der Machtbereich des Glom endete bereits Meilen davor, aber diese Stadtwildnis war keine Freizone. Hier gab es nichts außer Meilen verlassener, ausgebrannter Gebäude. Konnte man sich einen gefährlicheren Ort vorstellen? Finster wie der interstellare Weltraum, in dem es nur gespenstisch schimmernde Lichter gab, die wie Schatten über die Gebäude huschten, Lichter von Outsiders, die ihn sehen konnten … ihn beobachten konnten …

Sie würden wissen, dass er allein war. Sie würden annehmen, dass er aus dem warmen Herzen des Ramschs gekommen war, aus einem der Gloms. Er würde möglicherweise Waffen haben oder eine Spleißkarte oder einen Credit Chip – alles so gut wie Metall.

Falsch, in allen Punkten, aber sie konnten Dinge mit ihm tun … Dinge, vor denen seine Phantasie zurückschauderte.

Er blieb stehen und lauschte.

Er hörte Schreie, die Stimme zuerst schwach, dann lauter werdend, erregter. Gut, sie waren also noch da, er hatte sie nicht verloren. Er leckte sich über die Lippen, ließ den Blick über die zerbröckelten Wände auf beiden Seiten wandern und setzte sich dann wieder in Bewegung.

Der dicke Mann kam an eine Straßenkreuzung, der Randstein war dort zu einem gerundeten glatten Höcker abgewetzt. Andere skelettartige Gebäude reichten bis in weite Ferne.

Und jetzt sah er sie. Fünf Gestalten, die eine sechste verfolgten. Er war ihnen von der westlichsten Stelle von Flagge Glom gefolgt, durch das Labyrinth der Outsider Camps, die die Grenze wie ein Gürtel umschlangen und sich daran festsaugten.

Der dicke Mann war den fünf gefolgt, die ihrerseits den einsamen Mimik jagten.

Jetzt schob er sich dichter an die Seite eines der Gebäude, aber nicht so dicht, dass sich da eine Schlinge herausschlängeln und ihn in den Gestank und die Finsternis hineinziehen konnte.

Trotzdem durften die Männer ihn nicht sehen … und er musste noch näher heran.

Wer waren diese fünf? Jäger, die den Mimik wegen eines Kopfgelds schnappen wollten? Ein Mimik fliegt aus irgendeinem Grund in den Ramsch, und man ruft die Jäger. Das kommt immer wieder vor. Die Mimiks kommen nie sehr weit.

Sie wissen alle, dass es keinen Sinn hat, aber die Verzweiflung ist manchmal stärker als die Vernunft.

Möglicherweise waren die fünf Bluts. In dem Fall war der Mimik dem Untergang geweiht. Bluts gaben den Mimiks die Schuld für all ihre Probleme. Mimiks hatten den großen Zusammenbruch verursacht … Mimiks nahmen allen die Arbeit weg, ließen den Reals nichts übrig … Mimiks waren eine Schande für die Brüderschaft aller Menschen.

Also lass sie uns alle töten.

Sie würden den verhassten Mimik in Stücke reißen, und das würde das Ende sein.

Der Dicke hatte nicht den Nerv, dabei zuzusehen. Es war ja schon schlimm genug, eine Straßenschlacht zwischen Mimiks zu beobachten.

Einer der kleinen Aphorismen, die offiziellen Wetfitti, die den ganzen Ocean erfüllten, kam ihm plötzlich in den Sinn. Die Welt ist gut und wird ständig besser. Na klar – und die Gloms wollen nur Frieden und Harmonie für die ganze Welt.

Hm, und ich habe eines der besten Rohrbahn-Systeme im Ramsch. Für einen vernünftigen Preis können sie es haben.

Der dicke Mann schob sich an die nächste Ecke heran. Dahinter sah er ältere Gebäude, sogar ein paar Eisenbetonungeheuer aus dem zwanzigsten Jahrhundert, in der Dunkelheit kauernd, zu armseligen Haufen zerfallend, die das Wort »Gebäude« nicht mehr verdienten. In den höhlenähnlichen Öffnungen flackerten Feuer.

Ein eisiger Windstoß erfasste ihn … heute Nacht könnte es Frost geben. Schlechte Nachrichten für jeden, der keine Energiezuteilung hatte, und das betraf praktisch jeden außerhalb der Gloms.

Der Mimik schrie jetzt. Der Dicke konnte nicht verstehen, was er schrie. Noch nicht. Er drückte sich enger an den alten Beton des Gebäudes, presste sich gegen die Mauer. Die fünf Schläger, wer auch immer sie sein mochten, konnten ebenso gut kehrtmachen und auf ihn losgehen. Und wenn sie dahinterkamen, dass er sie verfolgt hatte, gab es nichts, was ihn retten konnte.

Noch ein paar Schritte. Er hörte den Mimik schreien, er brüllte vor Angst.

Dann schoss etwas aus der Dunkelheit hervor und schlang sich um den Hals des dicken Mannes. Er schaffte es gerade noch, die Hand unter die Schlinge zu schieben, ehe sie sich straffte. Er kämpfte gegen die aufwallende Panik an und malte sich dabei die grauhaarige Gestalt am anderen Ende der Schlinge aus. Hoffentlich war sein Angreifer allein. Wenn nicht, dann konnte sein Leben binnen Sekunden zu Ende sein.

Die freie Hand des dicken Mannes schob sich hinter seinen Gürtel, tastete nach seinem Pulser – blieb aber leer.

Die Schlinge straffte sich und zog ihn in die Dunkelheit hinein. Er biss die Zähne zusammen.

Das Schreien und Brüllen des Mimik schien wie eine Begleitmusik zu dem, was mit ihm geschah.

Wo war seine Waffe? Hatte er sie verloren, während er hinter dem Mimik und seinen Jägern herrannte? Hatte er das Klappern überhört, als sie auf den Boden gefallen war?

Er packte das Kabel mit der freien Hand und riss daran, legte sein ganzes, nicht unbeträchtliches Gewicht hinein. Die meiste Zeit war ihm seine Körperfülle von Nachteil, aber jetzt verschaffte sie ihm einen Vorteil. Ein menschliches Bündel aus Haut und Knochen purzelte aus dem Schatten heraus und krachte auf das Pflaster.

Als das Kabel sich gelockert hatte, nutzte der dicke Mann die Gelegenheit, griff noch einmal an den Gürtel, und diesmal spürte er die Waffe genau dort, wo sie sein sollte. Er zog sie heraus und drückte die Mündung gegen die schorfige Kopfhaut des armen Teufels.

»Tut mir Leid, Bruder«, flüsterte er. »Ich weiß, dir geht’s dreckig, aber das ist keine Entschuldigung.«

Er drückte ab, und das Knochenbündel sackte in sich zusammen, als ein Ultraschallpuls sein Gehirn in eine Gallertmasse verwandelte.

»Frieden, Bruder«, flüsterte der dicke Mann und verspürte ein leichtes Gefühl der Übelkeit, als er seine Waffe wieder wegsteckte.

Er sah wieder zu der Straßenecke.

Verdammt! Der Mimik hatte sich bewegt, und seine Verfolger waren hinter ihm her. Er konnte sie nicht sehen, konnte sie nicht einmal mehr hören. Vielleicht war schon alles vorbei, und er hatte diese mitternächtliche Jagd vergeblich riskiert.

Er bewegte sich so schnell, wie seine Körperfülle das zuließ, versuchte dabei keine zu schweren Schritte zu machen, war aber hauptsächlich von der Sorge getrieben, ihm könnte etwas von dem Geschehen entgehen.

Der dicke Mann entdeckte sie nach der nächsten Straßenecke. Er blieb nur ein paar Meter von der Stelle entfernt stehen, wo sie sich mitten auf einer ehemaligen Straße zusammendrängten, ihr Opfer umkreisten. Der in die Enge getriebene Mimik in Männermasque, noch keine zwanzig Jahre alt, schrie laut, und seine Stimme hallte von den kalten Mauern wider, die rings um sie aufragten.

»Nein … bitte!«

»Ganz ruhig, Clown«, sagte einer der Verfolger, »wir sagen dir doch dauernd, dass wir dir nicht wehtun werden.«

Der Mimik drehte sich ständig im Kreis, studierte die Männer. Der dicke Mann sah etwas in seiner Hand. Keine Waffe. Wenn er eine gehabt hätte, hätte er sie gegen die Verfolger einsetzen können, als sie noch hinter ihm hergerannt waren. Nein, es sah eher wie eine Klinge aus … irgendetwas Scharfkantiges.

Und warum töten sie ihn dann nicht? Warum stehen diese fünf Männer da und reden auf ihn ein?

»Flux doch, Mimik!«, sagte einer der Männer.

»Los doch! Wir wollen sehen, wie du dich veränderst.«

Der Mimik drehte sich langsam im Kreis. Er wirkte ebenso verwirrt, wie der dicke Mann es war. Was ging hier vor? Wenn sie Bluts wären, hätten sie ihn bereits getötet. Und radikale Imagisten würden wahrscheinlich dasselbe getan haben – wenn auch die Prediger der großen Wahren Form im Ocean behaupten, dass sie für die armen Missgeburten bloß »ewige Freiheit« wollten.

Und Jäger hätten dem verängstigten Mimik einfach einen Kragen angelegt und ihn zu seinem Besitzer zurückgeschleppt, was schließlich seinen Tod in der Arena bedeutet hätte.

Wer waren also diese Männer, was machten sie? Das war es, was der dicke Mann in Erfahrung bringen sollte. Das waren die Anweisungen Okasans. Die Augen offen halten, auf jede irgendwie ungewöhnliche gegen Mimiks gerichtete Aktivität achten, auf alles, was irgendwie aus dem üblichen Rahmen fällt.

Aber dem dicken Mann war jetzt ziemlich unwohl zumute. Das hier war für seinen Geschmack etwas zu ungewöhnlich.

»Los schon, Mimik, schieb schon deine Schablone rein. Wir wollen was sehen.«

Der Mimik musterte die zornigen Gesichter. Er sah aus wie ein Tier, von dem man ein Kunststück verlangt und das weiß, dass es am Ende Prügel statt eines Leckerbissens bekommt.

Einer der Männer zog eine Waffe heraus – die Normalversion des Minipulsers, den der Dicke bei sich trug. Dieses Modell konnte man ganz nach Wunsch und Bedarf so programmieren, dass sein Strahl entweder jemanden zehn Minuten bewegungsunfähig machte oder ein Loch in eine Stahlwand riss. Die Standardwaffe der Glompolizei.

Der Mimik stand mit geweiteten Augen da, ganz sicher ebenso verängstigt wie jeder Mensch, den der dicke Mann bisher zu Gesicht bekommen hatte. Seine Instinkte drängten ihn zu helfen, etwas zu tun, um die Chancen des armen Teufels zu verbessern. Aber er durfte nur zusehen und musste Okasan dann sagen, was er gesehen hatte.

»Drück deinen Knopf«, bellte eine Stimme.

Der Mimik nickte resigniert.

Warum wartet er so lange?, fragte sich der dicke Mann. Ist doch keine große Sache. Wahrscheinlich nichts, was der Mimik nicht schon dutzende Male beim Kampf in der Arena getan hatte. Und wenn er ein Agent war, dann fluxte er vielleicht ein paarmal die Woche.

Warum war er jetzt so nervös?

Der Mimik sagte: »Ich weiß, ihr habt etwas mit mir gemacht. Was habt ihr -?«

»Maul halten!«, herrschte einer der Männer ihn an.

Die Augen des Mimik reflektierten das spärliche Licht, als er sich umblickte. Der dicke Mann sah sich ebenfalls um. Er fragte sich, ob die Tausende in den verwobenen Stahlnestern zusahen.

Einer der Männer im Kreis trat einen Schritt näher. »Hör auf, Zeit zu schinden, Nachmacher!«

Und jetzt bemerkte der dicke Mann etwas Seltsames an den Augen des Mimik. Eine Traurigkeit, so etwas wie Resignation. Seine Hand tastete über seinen Unterleib, öffnete den Interfaceschlitz, zog die dort verwahrte Schablone heraus. Er blickte sich erneut um und blinzelte ein paarmal.

Und dann begann er zu fluxen.

Seine Gesichtszüge veränderten sich, das Fleisch ging auf wie Teig, als hätte die darunterliegende Skelettstruktur es losgelassen.

Und dann ein zischendes Geräusch. Einer der Männer im Kreis, der dicht bei dem Mimik stand, bewegte sich nach rechts, versperrte dem dicken Mann die Sicht. Wieder ein Zischen, dann ein schreckliches, tiefes Stöhnen, ein trauriges animalisches Geräusch, der Schrei von etwas Sterbendem, der sich plötzlich zu einem kreischenden Brüllen erhob. Ein schreckliches Geräusch, wie man es früher in – wie hießen die doch? – Schlachthäusern gehört haben musste.

Was zum Teufel ist das?, dachte er. Was geht hier vor? Wenn ich es nur sehen könnte.

Das Kreischen ging in ein grässliches Gurgeln über, und dann hörte er ein klatschendes Geräusch, als etwas auf das Pflaster fiel.

Der dicke Mann zog sich zurück, versuchte sich langsam zu bewegen und wollte doch schleunigst hier weg. Sein rechter Fuß stieß an einen Stein, worauf dieser ein Stück wegrollte.

Er ließ die Männer nicht aus den Augen. Hatten sie es gehört? Nein. Sie umringten immer noch den Mimik, der jetzt den Augen des dicken Mannes verborgen war. Und sie waren verstummt, als wäre ihre Brutalität von dem, was sie sahen, gesättigt.

Der dicke Mann zog sich noch ein Stück weiter zurück, dann drehte er sich um und entfernte sich mit schnellen Schritten. Und als er sich weit genug entfernt glaubte, richtete er sich auf und rannte zurück in die zivilisierteren Bereiche des Ramsch.

Dabei suchte er die ganze Zeit die Gebäude nach den flackernden Lichtern ab, hielt Ausschau, ob da jemand riskierte, ihn anzugreifen. Den Pulser behielt er in der Hand.

Während er lief, bemühte er sich, das, was er gesehen – und nicht gesehen – hatte, zu begreifen.

Ein Mimik war aufgespürt und in die Enge getrieben, aber nicht getötet worden, sondern wurde einfach dazu gezwungen, in Flux zu gehen. Aber etwas war passiert. Etwas Tödliches.

Aber was?

Eines wusste der dicke Mann: Der Vorgang, dessen Zeuge er gerade geworden war, war weder für seine noch für die Augen irgendeines anderen außerhalb jenes Kreises bestimmt gewesen. Und sein Leben würde wertlos sein, wenn er öffentlich über das sprach, was er hier in dieser Nacht gesehen hatte.

Aber Okasan würde er es sagen.

Okasan würde es verstehen. Okasan würde es erklären. Okasan wusste alles.