26
»Wo gehen wir hin?«, fragte Lani, als die Raupe auf einen der Boulevards der Freizone einbog. Der Verkehr war spärlich, und der Fahrer kam schnell voran.
»Mung hat einen Sicherplatz«, sagte Okasan. »Seit wir von dem Kaze-Holocaust gehört haben, hat er alle verfügbaren Informationen über das Flagge-Datencenter gesammelt.«
»Das kann nicht viel sein. Selbst die Leute, die dort arbeiten, wissen fast überhaupt nichts darüber.«
»Sie würden überrascht sein, wie viel wir uns im Laufe der Jahre aus Bruchstücken zusammengefügt haben«, sagte Okasan mit einem schwachen Lächeln. »Und mit Ihrer Hilfe hoffen wir, noch ein paar wichtige Lücken zu füllen.«
»Bitte, erhoffen Sie sich nicht zu viel. Ich weiß sehr wenig über das Datencenter. Ich hatte nur Zugang zu den Bereichen, wo ich eingesetzt werde, sonst nirgends.«
»Ich bin überzeugt, dass Sie mehr wissen, als Sie denken.«
Lani hoffte das auch. Alle ihre im Datencenter tätigen Bekannten hatten nach Betreten der Anlage nur Zugang zu wenigen Stellen. Sie war überzeugt, dass das ganz bewusst so gehandhabt wurde. Vermutlich hatte nur eine Hand voll Leute in den oberen Etagen von Flagge Einblick in das gesamte Geschehen.
Sie zuckte zusammen, als sie einen Polizeischweber von Flagge über ihnen dahingleiten sah. Ihr erster Instinkt war es, den Kopf einzuziehen, um ihr Gesicht zu verbergen; dann erinnerte sie sich daran, dass die Glaskuppel der Raupe eine Einbahnmembran war.
Sie ergriff Okasans Arm. »Verfolgen die uns?«
Okasan blickte auf und beugte sich dann zu ihrem Fahrer vor. »Was meinst du, Charl?«
Charl zuckte mit den Achseln. Er hatte breite Schultern und einen breiten, gelben Haarstreifen, der über seine Schädelmitte verlief. Lani vermutete, dass er ein Mimik war, aber sie war sich dessen nicht sicher.
»Der da ist gerade erst aufgetaucht. Hier draußen wimmelt es heute regelrecht von Rotköpfen. Das ist jetzt der Dritte, den ich gesehen habe. Die gehen längsseits, schweben ein oder zwei Sekunden über uns und drehen dann wieder ab. Ich glaube, wir fallen deshalb auf, weil heute so wenig Verkehr ist.«
»Trotzdem«, sagte Okasan. »Ich denke, wir sollten besonders vorsichtig sein. Fahr ein paar Umwege. Wir müssen darauf achten, dass man uns nicht verfolgt.«
Lani sah zu, wie der Schweber noch ein paar Sekunden verweilte und dann nach links abdrehte.
Erleichtert lehnte sie sich zurück und dachte an Tristan … und dass es ganz anders gewesen war, mit ihm als Trev zu schlafen, als sie das erwartet hatte. Er hatte wie Trev ausgesehen, sich wie Trev angefühlt. Aber er hatte sie nicht wie Trev geliebt. Es war anders gewesen.
Besser.
Bis jetzt hatte sie sich das nicht klargemacht, aber Trev war im letzten Jahr ihres Zusammenseins häufig innerlich abwesend gewesen – im letzten Jahr seines Lebens. Selbst wenn er sie geliebt hatte, hatte sie immer das Gefühl gehabt, er sei teilweise abwesend. Da war etwas an ihm, das ihr den Eindruck vermittelt hatte, er würde durch sie hindurchsehen.
Aber Tristan … Tristan war da gewesen. Voll und ganz – in ihr, nur für sie da. In diesen wunderbaren, ekstatischen Augenblicken war sie seine Welt gewesen.
Und er die ihre.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann jemand je ein solches Gefühl in ihr erweckt hatte.
Vielleicht war es nur die Erregung des Augenblicks gewesen – als würde sie etwas Verbotenes tun, indem sie einen Mimik in der Masque ihres toten Liebhabers liebte.
Aber nein. Es war mehr als nur die Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse gewesen. So etwas, die physischen Empfindungen, konnte sie ebenso gut aus dem Ocean herunterladen. Und das hatte sie auch … oft seit Trevs Tod. Das mit Tristan war ganz anders gewesen. Sie hatte förmlich in der wilden Leidenschaft gebadet, die von Tristan ausging, etwas, was keine virtuelle Realität ihr geben konnte.
Leidenschaft.
Tristan liebte sie. Das hatte sie gespürt.
Und, bei der Helix, sie glaubte, dasselbe zu empfinden – befürchtete, dasselbe zu empfinden.
In einen Mimik verliebt … war das etwas Ekelhaftes? Wie konnte man jemanden lieben, der ständig seinen Körper wechselte? Sicher, heutzutage konnte jeder den Körper wechseln, aber nicht binnen Minuten – Nanitenrestrukturierung und Genspleißen kosteten Zeit. Ein Mimik konnte gerade noch der tote Ex und im nächsten Augenblick eine Frau sein.
Aber der Tristan im Herzen des Mimik änderte sich nicht. Welche Masque er auch immer trug, sie hatte in ihm diesen Kern von Anstand gespürt, jemanden, der erfahren und zugleich naiv war, reif, und doch in einem Stadium des … Werdens.
Und das hatte sie erfrischend gefunden … und so ungemein anziehend.
Ein Schatten fiel über die Raupe, und sie hörte Charl sagen: »Ich glaube, wir kriegen Ärger.«
Lani blickte auf und sah drei Flagge-Polizeifahrzeuge über ihnen schweben. Sie hatte das Gefühl, plötzlich ein bleischweres Gewicht im Magen zu haben.
»Was machen die?«, fragte sie, als die drei Schweber auf die Raupe heruntersanken – einer vorn, einer dahinter und einer unmittelbar über ihnen.
»Sie nehmen uns in die Zange«, sagte Charl.
»Sie haben es auf mich abgesehen.«
»Warum?«, fragte Okasan. »Sie haben doch nichts verbrochen.«
»Aber sie verdächtigen mich. Und ich hätte mein Apartment nicht verlassen dürfen – und sicherlich nicht in die Freizone gehen, jeder, der sich in meiner Gesellschaft befindet, wird jetzt mit hineingezogen werden. Lassen Sie mich raus, dann renne ich weg. Während die auf mich Jagd machen, können Sie entkommen.«
»Sie werden nichts dergleichen tun«, sagte Okasan. »Sie können vor einem Polizeischweber nicht wegrennen, das schaffen Sie nicht, und wir auch nicht.«
»Aber diese Raupe ist wesentlich geländegängiger als ein Schweber«, sagte Charl. »Bis jetzt bin ich ganz korrekt gefahren, aber ich glaube, es ist jetzt Zeit, das zu ändern.«
Er riss das Steuerrad nach rechts und trat aufs Gas. Lani hielt sich fest, als die Raupe in eine Seitengasse bog und dann schneller wurde -
Und plötzlich zum Stillstand kam.
»Verdammt!«, schrie Charl.
Lani sah, warum er abgebremst hatte. Ein Flagge-Schweber blockierte die schmale Gasse. Sie drehte sich um und sah, wie einer der ersten drei Schweber hinter ihnen hereinglitt.
»Jetzt haben sie uns völlig in der Zange«, sagte Charl. »Die müssen uns schon die ganze Zeit gefolgt sein.«
»Die Frage ist«, sagte Okasan, »wen wollen sie haben?«
»Ganz bestimmt mich«, sagte Lani. Ihre Hände zitterten. Ihretwegen würde Okasan jetzt in eine Gefängniszelle in Flagge wandern. »Was sollten die von Ihnen wollen?«
Okasans Gesichtsausdruck hatte sich verhärtet. »Oh, die sind schon eine ganze Weile hinter mir her.« Sie beugte sich vor. »Ist dein IDplant in Ordnung?«
Charl nickte. »Das Beste, das ich bekommen konnte.«
»Und meines weist mich als Spleißerin im Ruhestand aus.« Sie sah zu Lani hinüber. »Aber was ist mit Ihnen?«
Lani sah, wie einer der rot behelmten Männer aus dem Schweber vor ihnen stieg und auf sie zukam.
»Das geht schon klar«, sagte sie, bemüht, zuversichtlicher zu klingen, als ihr zumute war. »Ich bin schließlich wertvoll. Datameister wachsen nicht auf Bäumen.«
Der Polizist schlug mit seiner behandschuhten Hand gegen die Fahrertür der Raupe. »Aufmachen und IDs zeigen.«
Charl legte einen Schalter um, worauf sich die Membran zurückrollte. Der Polizist hob die Hand; jetzt konnte man die schwarze Scheibe einer Vid-Platte in seiner Handfläche erkennen. Seine Augen waren hinter der Sichtscheibe verborgen, und die untere Hälfte seines Gesichts ließ keinen Ausdruck erkennen.
»Wir haben sie, Sir.« Eine kurze Pause und dann: »Ja, sofort, Sir. Und was machen wir mit dem Fahrer?« Wieder eine Pause, dann ein kaum wahrnehmbares Nicken. »Ja, Sir.«
Er schob die Vid-Platte wieder ein und gab dann dem Schweber, aus dem er gekommen war, ein Handzeichen. Zwei weitere Rothelme stiegen aus und näherten sich ihnen.
»Alle raus«, sagte der erste Polizist.
Charl stand auf und war Okasan behilflich, aus dem hinteren Abteil zu steigen. Lani folgte ihr.
»Wo bringen Sie uns hin?«, fragte Okasan.
»Wir machen eine kleine Spazierfahrt. Sie beide jedenfalls.« Dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf Charl. »Er bleibt hier.«
»Ich gehe mit ihr«, sagte Charl und bewegte sich auf Okasan zu.
»Irrtum«, sagte der Polizist.
Und dann sah Lani eine Pistole in seiner Hand, sah einen Blitz, und plötzlich fiel Charl mit weit ausgebreiteten Armen nach hinten. Sein Mund war entsetzt aufgerissen, und in seiner Brust war ein rauchendes Loch zu sehen.
Lani schrie auf, als die Männer sie und Okasan packten und zu dem wartenden Schweber stießen.
»Wie lange werden die uns hier festhalten?«, sagte Lani.
Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie in diesem winzigen, fensterlosen Raum auf und ab gegangen war. Kahle Wände, kahler Boden und so klein, dass sie das Gefühl hatte, nicht richtig atmen zu können. Keinerlei Möbel mit Ausnahme eines einzigen, wackligen Stuhls, den sie Okasan überlassen hatte.
»Das ist die übliche Taktik«, sagte Okasan. »Das Warten soll einen zermürben.«
Lani blieb stehen und sah die alte Frau an. »Das klingt so, als ob Sie das schon einmal durchgemacht hätten.«
»Das stimmt.«
»Wann?«
»Das ist nicht wichtig.«
Lani setzte ihren endlosen Marsch fort.
»Der arme Charl«, sagte sie. »Die haben ihm keine Chance gegeben. Ihn einfach niedergeschossen wie einen … einen -«
»Wie einen weggelaufenen Mimik.«
Ein großer, schlanker Mann in mittleren Jahren mit einem schwarzen Clingsuit stand in der Tür und lächelte.
»Und genau das war er«, fuhr er fort. »Flüchtlinge können jederzeit liquidiert werden.« Der Mann lachte. »Das ist das Gesetz. Und das war mein Wunsch.«
Er wandte sich Okasan zu. Sein Lächeln wurde breiter, als er vor sie trat.
»Und endlich, nach all den Jahren, begegnen wir uns wieder.«
Okasan starrte ihn mit unverhohlener Abscheu an. »Hallo, Streig.«
»Oooh – wie schmeichelhaft, dass Sie sich an meinen Namen erinnern«, sagte er und verbeugte sich spöttisch. »Aber welchen Ihrer Namen soll ich benutzen? Den, unter dem Sie geboren wurden, oder einen Ihrer vielen Decknamen?«
»Okasan reicht. Daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Gut. Also Okasan.«
Lani hatte den Mann während des kurzen Wortwechsels studiert. Diese Stimme … sie hatte sie schon einmal gehört.
Plötzlich wusste sie es. »Sie sind das! Sie sind dieser Polizei-Lieutenant, der mich unter Hausarrest gestellt hat!«
Er drehte sich halb zu Lani herum. »Mein Kompliment zu Ihrer Beobachtungsgabe. Aber ich bin kein ›Lieutenant‹, und ich bin auch nicht bei der Polizei.« Wieder eine spöttische Bewegung. »Commander Streig, Flagge-Abwehr, zu Ihren Diensten.«
»FA? Aber warum haben Sie -?«
»Eine Polizeiuniform getragen? Bloß eine der vielen Rollen, die ich in diesem kleinen Spiel übernehmen musste. Und es war ein ganz beachtliches Spiel. Mein Spiel, um es genau zu sagen. Ich habe Jahre damit verbracht, alles vorzubereiten.« Er lächelte. »Und es ist genau so abgelaufen, wie ich das geplant hatte.« Er hob den rechten Zeigefinger. »Nein, warten Sie. ›Genau‹ ist nicht ganz richtig formuliert. Es ist besser abgelaufen, als ich es geplant hatte. Schließlich ist ja nicht nur die gesamte Industrie von Kaze praktisch erledigt, sondern ich habe auch noch als Dreingabe die berüchtigte ›Okasan‹ geschnappt.«
»Und dabei vielleicht auch noch einen Sitz im Aufsichtsrat von Flagge ›geschnappt‹?«, sagte Okasan.
Lani sah die alte Frau an. Sie wirkte so ruhig, als habe sie sich mit allem abgefunden. Und sie und dieser FA-Beamte schienen sich von früher zu kennen. Wieso?
Streig zuckte mit den Achseln. »Das ist nicht mehr und nicht weniger, als mir zusteht. Als ich erfahren hatte, dass die G-Kette entwickelt worden war, wusste ich sofort, dass wir sie einsetzen mussten. Die Frage war nur, wie. Wir wussten, dass man den Virus am Ende zu uns würde zurückverfolgen können, selbst wenn es uns gelang, ihn an den Verteidigungseinrichtungen von Kaze vorbeizuschmuggeln. Die negative Publicity und die ganzen juristischen Probleme würden unsere Gewinne schmälern, sie vielleicht sogar zunichte machen. Und da hatte ich eine Idee: Wenn wir es nicht hineinschmuggeln, wenn wir Kaze dazu bringen konnten, den Virus zu holen, würde Kaze niemandem außer sich selbst die Schuld geben können. Der Aufsichtsrat hat meinen Plan gebilligt, und dann habe ich ihn mit Hilfe unserer Kontakte in Kaze erfolgreich durchgeführt.«
»Aber der Mimikagent war durch den Virus verletzbar«, sagte Okasan. »Wie haben Sie ihn immunisiert?«
Warum stellt sie ihm ständig Fragen?, überlegte Lani.
»Ah!«, sagte Streig. »Das war ein Problem. Ich wusste natürlich, dass er einen sterilen Negativdruck-Behälter dazu benutzen würde, um die Virusprobe unterzubringen, aber was war, wenn es zu einer Panne kam und er angesteckt wurde? Er durfte unter gar keinen Umständen vor der Ankunft in Kaze schmelzen. Ich entschied mich dafür, dass er am besten in Smalley’s Smart Bar immunisiert werden konnte. Sein Kontakt dort war ein NOK-Spieler« – eine weitere Verbeugung –, »in dessen Maske sich Ihr sehr Ergebener befand. Während -«
»Ich bin beeindruckt, Streig«, sagte Okasan. »Sie erlauben, dass ich Ihnen ein Kompliment zu dieser Fähigkeit mache, so viele Identitäten anzunehmen. Man könnte fast den Verdacht bekommen, dass Sie vielleicht … ein Mimik sind.«
Streigs Gesicht rötete sich vor Wut – die erste Empfindung, die er seit dem Betreten der kleinen Zelle hatte erkennen lassen. »Hüten Sie Ihre Zunge, alte Frau. Was mit Ihnen in den nächsten paar Stunden geschieht, kann lediglich unangenehm oder ein absoluter Albtraum sein. Die Entscheidung liegt bei mir.«
Okasan schien unbeeindruckt. »Das kann ich mir gut vorstellen.«
»Dann sollten Sie es nicht vergessen.« Streig hatte seine Beherrschung wieder zurückgewonnen. »Wie ich schon sagte, während der Zeit, die der Mimik bei Smalley’s verbrachte, hat einer meiner Leute an ihm ein transdermales Pflaster mit einem Gegenmittel für G-Ketten angebracht.«
»Das klingt ja gerade so, als ob Sie jede Komplikation vorhergesehen hätten«, sagte Okasan. »Aber ich bezweifle stark, dass Sie auch den Absturz Tristans in der Freizone geplant haben.«
»Nun, das nicht. Ich muss gestehen, dass das nicht Teil des Szenarios war. Als er mit dem Polizeischweber auf die Mauer zuraste, trieben wir ihn in Richtung einer Laserbatterie, die vorher ausgeschaltet worden war. Wenn er ein besserer Pilot gewesen wäre, hätte das auch geklappt: Er hätte die Mauer überflogen, und dann hätte ich dafür gesorgt, dass er uns entkommt. Aber der ungeschickte Plasmid hat sein Fahrzeug beschädigt und musste deshalb in der Freizone aussteigen.
Aber Improvisation ist eine meiner Stärken. Ich hatte ihn zwar aus den Augen verloren, als er im Untergrund war, aber dafür hatte ich in den Rohrbahnen Waffen aufgestellt und Scharfschützen eingesetzt, um damit sicherzustellen, dass niemand seine Rückkehr nach Hause störte. Es ist alles prächtig gelaufen. Wir haben ihm solche Schwierigkeiten gemacht, dass er nie auf die Idee kam, dass er in Wirklichkeit für uns arbeitete.«
»Aber Sie haben ihn zum Mörder gemacht!«, sagte Lani. »Er hat seinen Mimikkameraden den Tod gebracht. Haben Sie eigentlich eine Vorstellung, wie schrecklich ihm zumute war?«
Kaum dass die Worte ausgesprochen waren, kam sie sich albern vor. Aber sie hatte den Schmerz in Tristans Gesicht gesehen und jetzt ohne lange nachzudenken ihren Gefühlen freien Lauf gelassen.
Streig starrte sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. Oder unter dem Einfluss von Hhhelll stünde.
»Haben Sie eigentlich auch nur die leiseste Ahnung, wie wenig mir die Gefühle eines Kaze-Mimikagenten bedeuten? Ja, ob er überhaupt Gefühle hat?« Er trat einen Schritt auf sie zu, und man konnte die Wut in seinen Augen sehen. »Ich würde wirklich gern wissen, weshalb Sie eine so idiotische Frage überhaupt stellen?«
Lani wich zurück; sie hatte Angst, er könnte sie schlagen. Aber dann verflog sein Zorn, und er lächelte.
»Aber warum sollte mich eine solche Idiotie bei jemandem überraschen, der sich mit einem Mimik-Lover einlässt.«
Lani keuchte. »Trev! Sie haben mich beobachtet?«
»Nein, ihn haben wir beobachtet, in der Hoffnung, dass er uns zu Okasan führen würde. Bedauerlicherweise sind die Bluts uns zuvorgekommen. Aber wir dachten, er könnte uns nützlich sein, also haben wir unserem Kontakt in Kaze sein Genom zugesteckt – um den Mimikagenten gleich zu erkennen, wenn er hier auftauchte.«
Lani hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt, aber Okasan erhob die Stimme und gab Streig die Gelegenheit, sich wieder seinem Lieblingsthema zuzuwenden: Streig.
»Ihr Plan ist also auf geradezu triumphale Weise gelungen, und Ihr Aufstieg in den Weltaufsichtsrat ist sichergestellt. Warum haben Sie mich dann weiterhin verfolgt?«
»Weil in den Aufsichtsrat zu kommen nur der erste Schritt ist.«
»Natürlich, Sie wollen Vorsitzender sein. Das wundert mich überhaupt nicht. Aber Sie werden in einer neuen Arena spielen, Streig, mit Gegenspielern, die viel erfahrener und besser für den Kampf gerüstet sind als ein paar harmlose Mimiks.«
»Ja. Aber denen wird nicht Spleiß 662RHC zur Verfügung stehen.«
Lani sah, wie Okasan auf ihrem Stuhl erstarrte. Ihr Gesicht wurde weiß. Als sie weiterredete, klang ihre Stimme heiser.
»Spleiß 662 … was ist das?«
Streig lachte. »Spleiß 662RHC. Das Loyalitätsgen … das Unterwürfigkeitsgen … wie auch immer Sie es nennen wollen. Jetzt tun Sie bloß nicht so, als hätten Sie noch nie davon gehört, alte Frau. Sie haben es geschaffen.«
»Ich … ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Und beleidigen Sie mich nicht, indem Sie lügen. Ich habe nach Ihrem ›Tod‹ das wenige, was wir von Ihren Aufzeichnungen finden konnten, gründlich durchkämmt. Ich fand drei Hinweise auf 662RHC … aber keine Sequenz dafür. Ich weiß, dass es existiert. Ich weiß, dass Sie damit experimentiert haben. Ich weiß, dass es funktioniert.« Streig schob sein Gesicht ganz dicht an das von Okasan. »Und ich will es.«
Offenbar hatte Okasan erkannt, dass es wenig Sinn hatte, ihr Wissen um diesen »Spleiß« länger zu leugnen. Sie wich Streigs Blick nicht aus und sagte leise:
»Lieber sterbe ich.«
»Wenn Sie es nicht hergeben, nehmen wir es uns. Sie wissen, dass wir das können.«
»Dann müssen Sie sich verdammt anstrengen.«
»Darauf können Sie sich verlassen.« Streig richtete sich auf und sagte, ohne sich umzuwenden: »Also gut. Zeit für den Transport.«
Im gleichen Augenblick traten zwei Polizeiwachen ein. Einer nahm Okasans Arm und zog sie in die Höhe.
»Wo bringen Sie sie hin?«, schrie Lani.
»In die Zitadelle. Und nicht nur sie. Sie kommen ebenfalls mit.«
Lanis Mund wurde trocken. Sie schluckte. »Ich? Aber ich -«
»Sie sind Datameister, nicht wahr. Wir werden Ihrer Freundin ein paar Informationen abzapfen – sogar eine ganze Menge. Und die müssen wir aufzeichnen und codieren. Und dazu brauchen wir Sie.«
Der zweite Polizist packte sie am Arm und zerrte sie zur Tür. Plötzlich hatte Lani Angst – aber nicht um sich selbst, sondern um Okasan.
»Was werden Sie mit ihr machen?«, schrie sie. »Sie ist doch bloß eine alte Frau. Sie weiß überhaupt nichts!«
Streig drehte sich um und starrte sie an. Er musterte ihr Gesicht einige Augenblicke, ehe er sprach.
»Ich dachte, Sie machen uns hier etwas vor, aber das ist gar nicht der Fall. Erstaunlich … wirklich erstaunlich. Sie haben also keine Ahnung, wer sie wirklich ist, oder?«