27

 

Tristan blickte auf und sah sich in der großen Kaverne des unterirdischen Verstecks von mindestens einem Dutzend finster blickender Proteaner umgeben. Callin war unter ihnen.

»Ein hübscher Trick, Trevs Masque zu tragen«, sagte Callin.

»Kein Trick«, erwiderte Tristan. »Darum hat man mich gebeten.«

»Sagst du. Aber was auch der Grund sein mag, uns macht es das schwer, auf dich richtig wütend zu werden. Trev war ein guter Realmensch. Einer von ganz wenigen. Fast wie ein Bruder.«

Wo führt das hin?, dachte Tristan, während sich hinter Callin weitere Mimiks zusammendrängten. Er begann sich zu fragen, ob diese kampfgestählten Ex-Gladiatoren vielleicht hier unten gelegentlich ihre alten Fähigkeiten erprobten.

Sekunden später sollte seine Frage beantwortet werden.

»Aber wir haben hier jemanden, der Trev nie gekannt hat«, sagte Callin. »Und den hält deshalb auch nichts zurück.«

Er drehte sich um und brüllte über seine Schulter: »Dee! Dee, komm her!«

Die Proteaner machten eine Gasse frei, die direkt auf Tristan wies … ließen ihm freien Ausblick auf den Mimikgladiator, der auf ihn zukam.

Und der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn einen Schritt nach hinten treten, wo er gegen eine Wand von Mimiks prallte, die ihn wieder zurückstießen.

Der Mimik, den er hier sah, war der größte, den Tristan je zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte gar nicht gewusst, dass es so große Mimiks überhaupt gab.

Callin trat näher an Tristan heran, als würde er seine Not genießen.

»Ich darf Dr. Dee vorstellen. Die haben ihn in dem Jahr gemacht, in dem die Masse-Vorschriften noch nicht eingeführt waren. Als Zweibeiner hat er die optimale Größe – noch größer, und sein Gewicht würde seine Beweglichkeit beeinträchtigen. In der Arena unbesiegt, bis dann die Masse-Vorschriften wieder eingeführt wurden. Die meisten übergroßen Kämpfer wie er wurden für andere Arbeiten eingesetzt. Nicht Dr. Dee. Er ist entkommen.« Callin lachte. »Wer hätte ihn auch aufhalten können?«

»Dr. Dee«, sagte Tristan. Obwohl er schwitzte, spürte er, wie ihm innerlich eiskalt wurde. Er musste sich jetzt bemühen, seine Körperfunktionen unter Kontrolle zu bekommen.

»Dr. Dee ist eine Abkürzung«, sagte Callin und grinste. »Sein voller Name ist Dr. Death.«

Callin und die übrigen Mimiks lachten, während Dr. Dee ganz langsam auf Tristan zuging. Er war sich offenkundig der Dramatik seines Auftritts bewusst und wusste auch, wie man einen Gegner einschüchtert.

Tristan erinnerte sich, solche Vids gesehen zu haben. Ein Sportvergnügen wie in der Mimikarena. Die Kämpfe waren alle arrangiert, aber die Kämpfer trugen alle exotische Namen und waren auch entsprechend kostümiert. Ganz ähnlich der Arena, nur dass dort die Körper ebenso exotisch wie die Namen und die Kostüme waren.

Tristan starrte die auf ihn zukommende Fleischmasse an.

Dr. Deaths Kopf war oben knollenförmig ausgewölbt, eine harte Stirnramme, die so aussah, als bestünde sie hauptsächlich aus Knochen mit wenig Platz für ein Gehirn. Selbst wenn sich zwei oder mehr Gegner an ihn klammerten, konnte Dr. Dee leicht mit dem Kopf zustoßen und ein oder zwei Angreifer von sich schleudern. Seine Hände waren riesige Pranken, und jeder seiner dicken Finger endete in einem langen Nagel.

Damit konnte man jemanden packen und ihn aufreißen.

Tristan spürte, wie seine Lippen trocken wurden, und hörte seinen Herzschlag in den Ohren dröhnen. Er erkannte, dass er die Kontrolle über sein Nervensystem völlig verloren hatte.

Als Dr. Dee in den Kreis trat, warf er seinen schmutzigen Umhang von sich und legte so seinen muskelbepackten Oberkörper frei. Nur mit einem Lendentuch bekleidet, das gerade bis an sein Interface reichte, stand er jetzt vor Tristan. Er ließ seine Muskelstränge spielen, streckte beide Hände über den Kopf, packte das linke Handgelenk mit der rechten Hand, sodass seine an Baumstämme erinnernden Arme zu bersten drohten. Er riss den Mund auf, sodass man spitz zugefeilte Fänge erkennen konnte, und dann atmete er mit einem keuchenden Geräusch einen Schwall Luft ein.

Er sah aus wie ein Dschinn aus einer Lampe, den man aus einem dunklen Winkel der Hölle heraufbeschworen hatte.

Tristan sah sich um, suchte nach Hilfe oder einem Ausweg. Nichts. Im Augenblick wäre ihm sogar ein Besuch der Flagge-Polizei willkommen gewesen.

»Mimiks – bereit zum Kampf!«, brüllte Callin.

Dr. Dee stieß den rechten Arm in die Luft und brüllte: »Proteus!«

Das Wort war kaum zu verstehen. Sprache war nicht die starke Seite des guten Doktors.

»Das ist nicht fair!«, sagte jemand.

Tristan sah sich um und entdeckte Eel – immer noch in seiner Echsenmasque, den Arm bandagiert –, der sich in den Kreis drängte.

»Du hast hier nichts zu sagen, Eel«, erklärte Callin. »Du bist noch nicht einmal einen Tag lang Mitglied.«

»Nun, ich werde trotzdem sprechen. Wir beide, du und ich, wissen, dass Krek Okasan versprochen hat, dass wir diesen Mimik nicht töten würden.«

»Stimmt«, sagte Callin sichtlich unbeeindruckt. »Und daran werden wir uns auch halten. Aber Krek ist gerade nicht hier, und es war ja auch nicht davon die Rede, dass wir diesen Mimik-Killer nicht wünschen lassen, dass er tot wäre.«

»Dann lasst ihn wenigstens in etwas fluxen, das ihm eine Chance verschafft«, sagte Eel.

Callin antwortete mit zusammengebissenen Zähnen: »Er bekommt dieselbe Chance, die er den Brüdern in Kaze gegeben hat. Und jetzt weg mit dir, Eel.«

Die anderen Mimiks zogen Eel zur Seite und stießen ihn aus dem Kreis heraus. Er sah Tristan an, zuckte mit den Achseln und deutete dabei auf seinen verletzten Arm, wie um zu sagen: Ich würde dir ja gern zu Hilfe kommen, aber so kann ich nicht viel ausrichten.

Tristan nickte dankbar. Wenigstens hatte er es versucht.

»Fangt an«, schrie Callin. »Kampf!«

Dr. Dee vergeudete keine Sekunde. Seine erste Bewegung war ebenso schnell wie unerwartet. Sein rechter Fuß zuckte in die Höhe und krachte gegen Tristans Schläfe. Tristan sah grelle Blitze und flog zur Seite.

Die Mimiks jubelten – und Tristan wurde plötzlich etwas bewusst. Das ist genauso wie die Arena. Der einzige Unterschied ist, dass es hier die Mimiks sind, die nach Blut schreien.

Er kam mühsam auf die Beine.

»Gefällt dir das?«, sagte er zu Callin. »Mimiks, die gegen Mimiks kämpfen? Nicht anders als -«

Aber Dr. Dee ließ ihn nicht ausreden. Diesmal schossen seine beiden mächtigen Fäuste vor und versuchten, Tristans Kopf einzuklemmen.

Tristan ließ sich gerade noch rechtzeitig auf die Knie fallen, und die beiden Fäuste krachten gegeneinander – sicherlich ohne dem »Doktor« ernsthaften Schmerz zuzufügen –, Zentimeter über seinem Kopf. Tristan kam hoch und schlug Dr. Dee die Faust in den Unterleib, ein gewaltiger Schlag, der dem Mimikriesen einen Grunzlaut entlockte, ihn aber nicht weiter beeindruckte. Er stürmte vor und zwang Tristan, den Rückzug anzutreten, bis er gegen eine Wand stieß.

Er konnte sich nirgends verstecken, nicht fliehen. Der Mimikgladiator grinste.

Und dann ertönte eine schrille Stimme, verschaffte sich in all dem Lärm Gehör.

»Aufhören! Halt! Macht Schluss!«

Dr. Dee neigte den Kopf zur Seite. Er sah Callin an, der seinerseits in den hinteren Bereich des großen Saals blickte. Schwer zu glauben, dass die aufgeputschten Mimiks auf diese Stimme hören würden.

Tristan drehte sich um und sah dorthin, wo alle hinsahen … sah zuerst ein kleines Geschöpf, einen Zwerg-Triceratops, der in den Saal galoppierte, gefolgt von einer runden Gestalt in fließenden Gewändern – Mung.

Warum war Mung hier? Er sollte sich doch mit Okasan und Lani treffen. Tristan sah, wie Krek hinter ihm hereinkam. Ihre grimmigen Mienen sagten ihm, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.

»Die haben Okasan!«, rief Mung.

»Wer?«, fragte Callin.

»Flagge-Polizei. Drei oder vier Schweber haben sie abgefangen, als sie zu mir unterwegs waren.«

»O nein!«, sagte Tristan.

Er hatte schon zuvor geglaubt, Angst zu haben, aber jetzt erlebte er viel tiefer gehendes Entsetzen. Er schob sich an Dr. Dee vorbei, wich der gewaltigen Pranke aus, die ihn zu packen versuchte, und eilte zu Mung.

»Was ist mit Lani?«

»Die haben sie auch. Sie haben beide Frauen mitgenommen. Aber Charl haben sie getötet. Ihn einfach … ermordet.«

»Wieder ein Mimik tot!«, sagte Krek und stieß mit dem Finger nach Tristans Gesicht. »Wenn du daran schuld bist -«

»Sei doch kein Idiot«, entgegnete Tristan. Krek machte ihm jetzt keine Angst mehr, nicht einmal Dr. Dee. Nur das, was vielleicht Lani passieren könnte. Er drehte sich zu Mung um. »Haben Sie eine Ahnung, wo man sie hingebracht hat?«

»Ja. Und das ist seltsam. Augenzeugen, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, die Flagge-Polizei hätte Okasan gefangen genommen, aber als ich ihren Peiler eingeschaltet habe -«

»Peiler?«

»Ja. Okasan hat ein Peiler-Implant. Als sie nicht pünktlich an unserem Treffpunkt erschien, habe ich den Peiler aktiviert und gesehen, dass sie nicht mehr in der Freizone war. Sie war in Flagge Quarter. Und dann verschwand ihr Peilsignal vor meinen Augen.«

»Bedeutet das, dass sie tot ist?«, fragte Tristan, dessen Herz wie wild schlug.

»Nein. Nur, dass sie ein abgeschirmtes Gebäude betreten hat.«

»Die Flagge-Polizeizentrale«, sagte Krek. »Dass die abgeschirmt ist, überrascht mich nicht.«

»Aber das ist ja gerade das Seltsame. Man hat sie nicht zur Polizeizentrale gebracht. Man hat sie zum FA-Gebäude gebracht.«

»Die Flagge-Abwehr!«, sagte Tristan. »Aber sagten Sie nicht -?«

»Ja. Sie ist von der Polizei verhaftet, aber dann zur FA gebracht worden. Und das deutet für mich darauf hin, dass die Flagge-Abwehr hinter diesem widerwärtigen Komplott steckte, den G-Ketten-Virus nach Kaze Glom zu bringen.«

»Aber was sollten diese Mistkerle von Okasan wollen?«, fragte Krek.

»Die FA ist ihr seit Jahrzehnten auf den Fersen, wahrscheinlich lange vor der Zeit, wo man die meisten von euch deinkubiert hat. Und jetzt haben sie sie.«

»Eine verdammte Schande«, sagte Krek und schüttelte den Kopf. »Sie ist die beste Realperson, die wir je gekannt haben.«

»Und je kennen werden!«, sagte Mung. »Ihr müsst sie befreien!«

»Augenblick mal, Mung. Wir lieben und verehren sie, und sie hat vielen von uns das Leben gerettet, aber selbst wenn wir nicht all unsere Mitglieder in Kaze verloren hätten« – Tristan zuckte bei dem Blick zusammen, den Krek ihm zuwarf –, »könnten wir trotzdem das FA-Gebäude nicht angreifen. Wir -«

»Aber dort ist sie ja gar nicht mehr!«, rief Mung. »Die haben sie in die Zitadelle gebracht!«

Krek lachte bellend. »Na prima! Das ist natürlich etwas anderes! Wir ziehen einfach in die Flagge-Zitadelle und holen Okasan heraus.«

»Ihr versteht nicht«, sagte Mung, und Tristan hatte einen Augenblick lang das Gefühl, der Ex-Mimik würde gleich in Tränen ausbrechen. »Die FA ist all die Jahre nicht deshalb hinter ihr her, weil sie Okasan ist, sondern wegen eines Gens, das sie vor vielen Jahren entwickelt hat.«

»Ein Gen?«, sagte Tristan. »Sie war Spleißer?«

»Nicht irgendein Spleißer – der Spleißer. Sehen Sie, Okasan selbst war einmal ein Werkzeug der Gloms – aller Gloms. Sie hat freiberuflich für den gearbeitet, der das höchste Gebot abgab – damals konnte man das noch. Sie hat nie viel darüber nachgedacht, wie die Produkte ihrer Arbeit benutzt wurden – ihr kam es nur auf die Arbeit selbst an. Sonst hatte sie für nichts Interesse.

Aber dann kam der Tag, wo sie ein Gen lokalisierte, das allen Leuten gemeinsam ist, die die besten Soldaten, die besten Firmenangestellten und die besten Mannschaftsspieler sind. Dieses Gen hat sie modifiziert. Dann spleißte sie es in ein paar Schablonen, die sie an einigen Mimiks erprobte. Die Ergebnisse waren verblüffend. Die Testmimiks waren ihr blind ergeben – sie wären für sie gestorben. Das Loyalitätsgen, Willfährigkeitsgen oder Unterwürfigkeitsgen, oder wie man es sonst auch nennen will – sie hatte es als 662RHC bezeichnet –, hat funktioniert.

Und das machte ihr Angst. Besonders, als sie sich umsah und feststellte, wie die anderen Gentechniken, die sie entwickelt hatte, von den Gloms missbraucht wurden. Plötzlich waren ihre Augen geöffnet. Ihre Arbeit hatte zu gewaltigen Konsequenzen geführt, die weit über das hinausgingen, was sie sich in ihrem Labor vorgestellt hatte. Und die Konsequenzen dieses neuen Gens würden die allerschlimmsten sein. Also zerstörte sie ihre gesamten neuen Forschungsergebnisse – einschließlich der 662RHC-Schablonen und aller Hinweise darauf.

Und dann tat sie etwas Unvorstellbares. Sie ging vor Gericht und erhob Anklage gegen die Gloms wegen Missbrauchs einiger ihrer vorangegangenen Erfindungen. Die Gloms hatten damals die Gerichte noch nicht völlig unter Kontrolle, deshalb schickten sie Killerkommandos nach ihr aus. Sie täuschte ihren Tod vor, aber die Gloms fanden Hinweise darauf, dass sie ein Loyalitätsgen entwickelt hatte. Ganz haben sie an ihren Tod nie geglaubt, und deshalb haben sie die ganze Zeit nicht aufgehört, nach ihr zu suchen. Und jetzt haben sie sie gefunden.«

Mung hielt inne, um Atem zu holen.

»Deshalb haben sie sie in die Zitadelle gebracht. Sie werden ihr Gedächtnis sondieren – sie wird sie daran nicht hindern können. Und am Ende werden sie das Loyalitätsgen haben.«

Er kämpfte gegen ein Schluchzen an und blickte sich um.

»Und dann wird der Schrecken erst anfangen: Die werden es in jeden Mimik und jede Schablone spleißen, aber damit werden sie sich noch nicht zufrieden geben. Anschließend werden sie dafür sorgen, dass jeder Bürger von Flagge es bekommt. Und da sie bald das mächtigste Glom sein werden, wird es nicht lange dauern, bis sie es jedem einspleißen. Man stelle sich vor: Jedes Lebewesen auf Erden Flagge loyal ergeben – bis in den Tod!«

Die Proteaner standen stumm da, während das Schreckensszenario in Tristans Kopf Gestalt annahm. Aber noch etwas anderes, was Okasan betraf, beschäftigte ihn. Sie war alt … eine Genetikerin mit bahnbrechenden Erfindungen … die ihren Tod vorgetäuscht hatte.

Jetzt fing Krek zu reden an und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

»Ach, das ist doch bloß Geschwätz. Die Leute reden seit Ewigkeiten von einem Loyalitätsgen. Milliarden sind dafür ausgegeben worden, und bis jetzt hat nie jemand eines erfunden. Außerdem mag Okasan ja wirklich eine großartige Person sein, aber ich kann einfach nicht glauben, dass diese nette, alte Frau etwas erfunden hat, was all die andern klugen Köpfe nicht geschafft haben.«

»Ihr Plasmiden!«, schimpfte Mung. »Seid ihr denn alle so dämlich? Okasan ist nicht irgendeine alte Frau! Sie ist Teresa Goleman! Sie hat mDNS erfunden. Flagge hat die einzige Frau entführt, die ihr alle hier jemals als ›Mutter‹ bezeichnen könnt!«