23

 

Die Freizone hatte sich verändert.

Tristan spürte das in dem Augenblick, in dem er die Plattform der Rohrbahnstation in der Freizone Nord betrat. Spannung lag in der Luft.

Er sah sich auf der überfüllten Plattform um. Die Leute drängten, schubsten, hatten es eilig, die nächste Bahn zu besteigen. Ein Stück rechts von ihm kam es zu einer Rangelei, und eine Frau wäre beinahe von der Plattform gefallen.

Angst, die an Panik grenzte.

Tristan ahnte den Grund: Mimik-Schmelzer. Der Virus hatte inzwischen zweifellos die Freizone erreicht, und das hatte zur Folge gehabt, dass sich arglose Mimiks, ob ihre Anwesenheit nun legal war oder nicht, in Schleim verwandelt hatten. Die verängstigten Menschen, die sich hier auf der Plattform zusammendrängten, wussten offensichtlich nicht, dass der Virus nur Mimiks erfasste. Wie konnten sie auch?

Dass Flagge zugeben würde, über den Virus Bescheid zu wissen, konnte er sich nicht vorstellen. Und Kaze würde sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus politischen Gründen Stillschweigen bewahren. Die Welt würde bald genug erfahren, dass der Mimikbestand von Kaze Glom vernichtet war, aber wie konnten sie zugeben, dass sie selbst den tödlichen Virus aus Flagge herausgeschmuggelt und sich selbst mit der Seuche infiziert hatten?

Das würde sie zur Zielscheibe des Spotts sämtlicher Welten machen.

Da die meisten Mimiks in der Freizone Flüchtlinge waren und sich alle Mühe gaben, als Reals angesehen zu werden, konnten diese verängstigten Menschen hier lediglich wissen, dass einige ihrer Mitbewohner auf schreckliche Weise ums Leben gekommen waren. Und wenn das eine ansteckende Krankheit war, wollten sie schleunigst hier weg.

Ja, es ist ansteckend, dachte Tristan, wandte sich ab und ging zum Ausgang. Eine regelrechte Seuche. Aber keine Sorge – ihr seid alle immun.

Und ich bin es auch.

Warum?

Diese Frage hatte ihn während der ganzen Fahrt von Kaze bis hierher gequält.

Tristan warf einen Blick auf sein Grid, während er die Rampe hinuntereilte, und schlug dann die Richtung zu dem Lagerhaus ein, wo er Okasan das erste Mal begegnet war.

Äußerlich schien die Freizone unverändert, aber die Stimmung und die Menschen waren anders. Es gab weniger Leute, die sich in den Straßen drängten, und überhaupt niemanden, der gemächlich dahinschlenderte. Diese Freizonler hasteten alle mit angespannten Gesichtern und zielbewusst dahin, als hätten sie es eilig, ihr Ziel zu erreichen, um dort die Tür hinter sich zu schließen. Es herrschte Belagerungsmentalität.

Immerhin machte es die Fortbewegung leichter. Es ging schnell voran, aber einmal kam er dabei auch an einer in Fäulnis übergehenden Pfütze vorbei – alles, was von einem Freizonen-Mimik übrig geblieben war. Die Leute schlugen einen weiten Bogen um die Pfütze oder machten kehrt. Tristan wandte beim Vorbeigehen die Augen ab.

Das habe ich getan, dachte er. Und dann flüsterte er: »Tut mir Leid!«

Er sah sich immer wieder nach Polizeipatrouillen um, entdeckte aber nur zwei, und die machten auf ihn den Eindruck, ein bestimmtes Ziel zu haben. Obwohl er wusste, dass sie ihn in dieser Masque nicht erkennen würden, machte ihn ihre Anwesenheit dennoch nervös. Und dass sie so beiläufig in ihrem Schweber dahinglitten, verstärkte das Gefühl noch … geradeso, als ob die Freizone ihnen gehörte.

Tristans Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass das vielleicht das nächste Ziel von Flagge sein könnte: Freizone Nord für sich zu beanspruchen und zu annektieren.

Er fand den Lagerhaus-Distrikt und verweilte kurz in einer Gasse zwischen den langweilig wirkenden Zweckbauten. Sie sahen sich alle so ähnlich. Welche von diesen quaderförmigen -

»Hallo, Verräter Tristan.«

Tristan fuhr herum. Die Stimme kannte er. Krek stand am Eingang zu der Seitengasse und schlug sich mit der Faust in die offene Handfläche. Er war nicht allein. Tristan erkannte Callin und ein paar von den anderen Proteanern, die er in dem Versteck gesehen hatte.

Freude und Erleichterung verdrängten sein Entsetzen, und Tristan trat zögernd einen Schritt auf sie zu.

»Krek? Du lebst? Der Helix sei Dank! Wieso?«

»Überrascht? Hast wohl gedacht, du bist der einzige Mimik außerhalb von Flagge, der noch auf den Beinen ist, wie?«

»Nein. Nein, das ist nicht -«

»Also, es hat nicht geklappt. Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen.«

»Nein, du verstehst nicht. Ich bin wirklich froh -«

Callin sprang mit einem Satz vor und versetzte Tristan, ehe er reagieren konnte, einen Fausthieb. Ein weiß glühender Schmerz zuckte durch sein Gehirn, und er taumelte gegen die Wand.

Er schüttelte heftig den Kopf, um damit den Schmerz zu verdrängen, und als er aufblickte, waren die Proteaner näher gerückt. Er sah den Hass in ihren Augen lodern und wusste, dass er ihn verdient hatte.

Er wollte wegrennen, kämpfte aber dagegen an. Sein Gefühl sagte ihm, dass er ohnehin nicht sehr weit kommen würde.

»Wir haben heute eine Menge Brüder verloren, Verräter«, sagte Krek. »Jeder Kaze-Mimik ist tot. Nur du nicht.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er und fühlte sich dabei unsagbar erbärmlich. »Aber ich weiß nicht, wieso. Ihr lebt auch – ihr alle. Warum? Ich verstehe das alles nicht.«

»Lügner!«, schrie Callin. Er trat mit erhobener Faust drohend einen Schritt auf ihn zu, aber Krek packte ihn.

Tristan breitete die Arme aus, wie um ihn willkommen zu heißen. »Nur zu. Tu es. Ich habe es verdient.«

Und das meinte er auch so. Er lehnte sich an die Wand und ließ sich langsam in die Hocke sinken.

Der Tod wirkte jetzt so einladend auf ihn. Sich all den toten Mimiks anzuschließen … Er hatte nur wenige von ihnen gekannt, und keiner hatte ihm etwas bedeutet, aber ihr Tod lastete unsagbar schwer auf seinen Schultern. Mimiks, die aus irgendeinem Grund überlebt hatten, gaben ihm die Schuld und hassten ihn. Wenn Kaze Glom nicht schon jetzt einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt hatte, würde das sicher bis zum Abend geschehen. Cyrill, sein spiritueller Vater, wollte seinen Kopf. Lani war irgendwo in Flagge und möglicherweise Teil dieser schrecklichen Verschwörung.

Es gab niemanden mehr, dem er vertrauen konnte, niemanden, der ihm vertraute – und alle, die er kannte, waren entweder tot oder machten auf ihn Jagd. Welchen Sinn hatte es also, sich zu wehren?

»Komm schon«, sagte Tristan. »Bringen wir es hinter uns.«

Als nichts geschah, blickte er auf und sah, wie die Proteaner auf ihn herunterblickten.

»Gut gespielte Reue, Verräter«, sagte Krek. »Bei einem anderen könnte mich das vielleicht sogar überzeugen. Aber das bin ich nicht.« Er trat näher. »Und außerdem wird es nicht so leicht sein. Dich in Stücke reißen? Dich zu Tode prügeln? Obwohl wir das im Augenblick mit dem größten Vergnügen tun würden – es ist zu gut für dich. Wenn du hier abtrittst, dann werden wir dafür sorgen, dass es genau so geschieht wie bei deinen Brüdern. Du wirst am eigenen Leib ihre Angst und ihre Qual zu spüren bekommen. Aber im Augenblick ist es noch nicht so weit.«

Tristan sah ihn erstaunt an. »Was soll das bedeuten?«

»Das soll bedeuten, dass wir, was dich betrifft, ein Versprechen gegeben haben, und dieses Versprechen beabsichtigen wir zu halten.«

Krek gab zwei Mimiks ein Zeichen, worauf diese Tristan in die Höhe zerrten und ihn festhielten, während Callin eine Art Pflaster auf Tristans Hals drückte.

»Aber nachdem wir diese Verpflichtung erfüllt haben, gehörst du uns. Und dann werden wir uns näher mit dir befassen.«

Tristan spürte ein Prickeln auf seiner Haut, und dann sah er Lichter vor seinen Augen tanzen. Aber sie lösten sich viel zu schnell auf und machten alles umfassender Schwärze Platz.

 

Tristan erwachte nach Luft ringend. Er hustete, wischte sich faulig riechendes Wasser von den Augen und sah sich um. Er kannte diesen Ort: das Proteus-Versteck.

»Bist du jetzt wach?« Das war wieder Krek. »Gut, ich werde das, was ich jetzt sage, nämlich nicht wiederholen. Der einzige Grund, weshalb wir dich da draußen nicht in Stücke gerissen haben, ist Okasan. Die alte Frau möchte mit dir reden.«

»Okasan?« Wie konnte er ihr unter die Augen treten? »Ich will sie nicht sehen.«

Krek schubste ihn unsanft. »Was du willst, ist ohne Belang. Sie hat gesagt, du könntest vielleicht etwas Wichtiges wissen. Etwas Nützliches. Ich denke zwar, dass sie sich da täuscht, aber die Entscheidung liegt bei ihr. Sie hat diese Gruppe gegründet, hat die ersten Mitglieder zusammengebracht, dieses Versteck für uns gefunden – und deshalb stehen wir in ihrer Schuld. Wir tun das, was sie uns sagt. Wir haben ihr versprochen, dass wir sie zuerst mit dir reden lassen, ehe wir dich in die Mangel nehmen. Aber nachher …«

»Tut doch, was ihr wollt«, sagte Tristan.

»Du hast bloß Glück, dass sie noch nicht da ist. Eine Art Aufschub, könnte man sagen. Aber das wird nicht lang dauern. Sie ist schon unterwegs.« Er grinste – nicht gerade ein hübscher Anblick. »Und während wir hier warten, kannst du dir ja die Zeit mit einem alten Freund vertreiben. Ein Wiedersehen, könnte man sagen.«

Krek gab Callin ein Zeichen, worauf dieser sich von dem Vid abwandte, in dem gerade Nachrichten liefen, und Tristan gemeinsam mit Krek durch einen muffigen Korridor schleppte, den beiderseits Türen säumten, die früher einmal in Lagerräume geführt haben mochten.

»Ja, Verräter Tristan«, sagte Krek. »Wir haben Okasan versprochen, dass wir dich uns erst dann vornehmen, wenn sie mit dir gesprochen hat. Aber für das, was jemand tut, der nicht zu Proteus gehört, sind wir ja nicht verantwortlich, oder?«

Sie blieben vor der letzten Tür des Korridors stehen. Sie stand offen. Krek klopfte an den Türstock.

»Besuch!«, sagte er.

Dann stießen er und Callin Tristan hinein und schlossen die Tür hinter ihm. Er hörte sie beim Weggehen lachen.

Tristan blickte sich schnell um – zwei Betten, eine schwache Leuchtplatte in der Decke, ein alter Aluminiumklapptisch mit zwei nicht dazu passenden Stühlen …

… und jemand, der mit dem Gesicht zur Wand auf dem Bett zu seiner Rechten lag.

Tristan sah zu, wie die Gestalt sich regte, sich zur Seite wälzte und sich schließlich auf der dünnen Matratze aufsetzte. Er stellte fest, dass die Gestalt einen dicken Verband an der rechten Schulter trug. Und als er die echsenartige Haut und die mächtigen Fänge in ihrem Gesicht sah, trat er einen Schritt zurück.

Eel.

»So«, sagte der Mimikgladiator mit seiner rauen Stimme. »Du bist das also.«

Jeder Instinkt in Tristan riet ihm wegzurennen, aber es gab von hier kein Entkommen, und selbst wenn er sich hätte befreien können: Wohin sollte er gehen? Mit ihm würde es ohnehin bald aus sein. Warum also nicht hier?

Er sah den anderen an. »Ja. Ich. Hallo Eel.«

Eel stand auf und ging mit schweren Schritten auf ihn zu. Seine Augen loderten. Tristan blieb stehen.

Mach es schnell. Tu es jetzt. Auf diese Weise brauche ich wenigstens Okasan nicht unter die Augen zu treten.

Eel schob sein Gesicht dicht an das von Tristan heran, so nahe, dass ihre Nasen sich fast berührten, und starrte ihn an. Tristan hielt dem reptilischen Blick stand. Er spannte alle Muskeln an, wusste, dass ihm die Krallen an Eels unverletztem Arm jeden Augenblick die Eingeweide aufreißen würden.

Aber der erwartete Schlag kam nicht.

Worauf wartest du?

Eel trat einen Schritt zurück und wandte sich ab.

»Die sagen, dass dein Name Tristan ist.«

Tristan wusste, dass das Gefühl der Erleichterung darüber, immer noch unversehrt zu sein, unberechtigt war, aber er konnte es nicht verdrängen.

»Die?«

»Diese geflohenen Mimiks hier.«

»Ja … Tristan.«

»Die haben mich zu einer Ärztin gebracht, weißt du«, sagte er, ohne Tristan dabei anzusehen. Seine Stimme war ausdruckslos, so, als würde er die Worte irgendwo ablesen.

»Ich habe den Verband gesehen.«

»Sie hat mir gesagt, ich hätte Glück gehabt. Großes Glück. Dass ich es nie lebend bis zu ihr geschafft hätte, wenn jemand mir nicht die Wunden verstopft hätte.«

»Ja, da hat sie wahrscheinlich Recht.«

»Aber das war keiner von diesen Mimiks. Die sagen, das musst du gewesen sein.«

»Nun, du hast ziemlich stark geblutet.«

Jetzt drehte sich Eel wieder zu ihm um. »Dann warst das also tatsächlich du. Warum?«

»Die Ärztin hat es ja gesagt – du wärst sonst verblutet.«

»Aber warum hast du das getan?« Er trat wieder vor ihn. »Ich war darauf aus, dich zu töten – und es hätte mir sogar Spaß gemacht. Dieser Schuss hat dir das Leben gerettet. Was sollte es dich kümmern, dass ich sterben würde?«

»Ich hatte keinen Streit mit dir.«

»Aber ich mit dir! Als die Polizei mich geweckt und mir gesagt hat, ein Mimikagent aus Kaze hätte meine Masque gestohlen, war ich wütend. Aber als ich dann feststellte, dass meine Garderobe verschwunden war, da hätte ich beinahe durchgedreht. Ich habe mir ein paar Reserveschablonen geschnappt und bin zur Rohrbahnstation gerannt und habe dort gewartet. Der Polizei könntest du vielleicht entwischen, aber nicht mir. Ich war dort, um dich umzubringen.«

»Und mit Recht. An deiner Stelle hätte ich ganz genauso gehandelt. Man hat auf dich geschossen, weil du auf dieser Plattform warst, und du warst meinetwegen dort. Also fühlte ich mich verantwortlich. Ich weiß nicht viel über dich, aber ich wusste jedenfalls, dass du etwas Besseres verdient hast, als von einem Blut hinterrücks erschossen zu werden.«

»Das war kein Blut. Das war ein Scharfschütze von der Flagge-Polizei. Man hat mir gesagt, die hätten ihn dort aufgestellt, um sicherzugehen, dass niemand dich daran hindern würde, zu deinem Glom zurückzukehren.«

Tristan schloss die Augen und spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Die Schuldgefühle für die von ihm verursachte Katastrophe waren seit dem Schock seiner Gefangennahme durch Proteus etwas abgeklungen, fluteten aber jetzt wie eine Welle zurück.

Er setzte sich auf das andere Bett und starrte auf den Boden.

»Wie – woher weißt du das?«

»Diese Proteus-Mimiks haben es mir gesagt. Sie haben den Schützen gefangen und es aus ihm herausgequetscht.«

Was bin ich doch für ein Plasmid, dachte Tristan. Was für ein wertloser Mutagen! Da hielt ich mich für so schlau, weil ich ständig der Flagge-Polizei entwischen konnte, und dabei haben die die ganze Zeit bloß mit mir gespielt.

»Was ist mit diesen Mimiks hier?«, fragte Eel.

Tristan kämpfte gegen die Selbstverachtung an, die immer wieder in ihm aufwallte. »Was?«

»Diese Proteus-Gruppe. Was ist mit denen?«

»Das sind Flüchtlinge, viele aus Arenen – wie du.«

»Ich bin nicht weggelaufen«, herrschte Eel ihn an, aber dann änderte sich sein Tonfall. »Aber vielleicht sollte ich das.«

»Weil sie auf dich geschossen haben?«

Der mächtige Reptilkopf nickte. »Von meinem eigenen Glom in den Rücken geschossen. Die mussten wissen, dass ich das bin – alles andere haben sie ja auch gewusst –, aber das hat sie nicht abgehalten. Für die war ich entbehrlich.«

»Ich würde das an deiner Stelle nicht persönlich nehmen«, sagte Tristan. »Ich wette, die hätten sogar einen von ihren eigenen Polizisten erschossen, bloß um mich entkommen zu lassen.«

»Trotzdem macht es einen nachdenklich. Und dann sind da diese Mimiks hier. Die haben mich nicht gekannt. Nicht persönlich. Die einzige Gelegenheit, ihre Bekanntschaft zu machen, wäre in der Arena gewesen, und in dem Fall hätte ich sie bestimmt ziemlich zugerichtet – und trotzdem haben sie mich zu einer Ärztin geschleppt. Sie haben mir das Leben gerettet. Und deshalb habe ich jetzt das Gefühl, in ihrer Schuld zu stehen.«

»Ich bin sicher, dass die das nicht so sehen.«

»Wie die es sehen, ist mir egal. Schuld ist Schuld. Und dir gegenüber empfinde ich genauso. Weil du meine Wunde versorgt hast.« Er wandte sich wieder ab. »Dabei mag ich es nicht, jemandem verpflichtet zu sein.«

»Nun, meinetwegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Es war meine Schuld, dass man auf dich geschossen hat, also sind wir quitt. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre – ich bezweifle, dass es mich noch lange geben wird.«

»Ja«, sagte Eel. »Die hassen dich wirklich abgrundtief. Sie geben dir die Schuld am Tod all dieser Kaze-Mimiks. Dabei haben sie keinen Einzigen von ihnen gekannt. Ich verstehe Proteus nicht.«

»Sie sind der Ansicht, alle Mimiks seien miteinander verwandt. Du weißt schon, das Goleman-Chromosom und das alles.«

»Ja, das haben sie zu mir auch gesagt. Die wollen, dass ich mich ihnen anschließe.«

»Nun, da für Proteus ja alle Mimiks eine einzige große Familie sind, würde ich sagen, dass du bereits Mitglied bist.«

»Eine Familie«, sagte Eel leise.

»Eine eigentümliche Vorstellung für einen Mimik, wie? Ich habe gehört, diese ganze Proteus-Sache geht auf Okasan zurück.«

»Okasan.« Eel starrte ihn an. »Dann gibt es sie also wirklich? Das ist nicht bloß eine Legende?«

»Ich habe eine alte Frau kennen gelernt, die sich Okasan nennt. Sie scheint mir echt zu sein. Und obwohl sie eine Realperson ist – wenigstens behauptet sie das –, scheint sie wirklich um uns Mimiks besorgt zu sein.«

»Selbst um dich?«

Tristan schluckte. »Als ich sie das erste Mal sah, hat sie mir diesen Eindruck gemacht. Aber ich bezweifle, dass das jetzt noch der Fall ist.« Nicht, nachdem ich sie angelogen und mein tödliches kleines Päckchen nach Hause geschmuggelt habe. »Die Proteaner werfen mir Genozid vor, und Okasan ist da vermutlich der gleichen Ansicht. Nachdem sie mit mir gesprochen hat, werden die Proteaner mich wahrscheinlich von meinem Elend erlösen.«

»Vielleicht hatten sie gehofft, dass ich ihnen das abnehmen würde. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb sie dich hier reingesteckt haben. Aber ich kann dir kein Leid zufügen. Ich kann ein gutes Wort für dich einlegen.«

Tristan rührte das Angebot, aber er wusste, dass es sinnlos war. »Spar dir die Mühe. Und überhaupt – warum sollten sie auf dich hören?«

»Weil ich vorhabe, mich ihnen anzuschließen.«

Das war nun wirklich eine Überraschung. »Mit all der Freiheit, die du genießt? Deinem eigenen Apartment? Warum solltest du das aufgeben, um hier zu leben?«

»Weil ich schließlich doch in einem solchen Loch enden werde. Das Apartment gehört nicht mir. Das haben die Arena-Bosse zur Verfügung gestellt. Das Gleiche gilt für meine Bewegungsfreiheit. Alles Vergünstigungen, die man als Champion genießt … solange ich Champion bleibe. Aber was geschieht, wenn ich anfange zu verlieren?« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ab ins Gehege.«

»Immer noch besser als dieses muffige Loch.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Eel fing an, auf und ab zu gehen. »Ich hatte hier Zeit zum Nachdenken … über diese Idee von einer Familie … die Vorstellung, zu etwas zu gehören, das größer ist als ich … mit einem größeren Organismus verbunden zu sein. Ich glaube, das gefällt mir.«

Tristan nickte. »Ich weiß, was du meinst.« Er hatte ebenfalls angefangen, an der Vorstellung Gefallen zu finden. Aber das konnte er ja jetzt vergessen.

»Und nach dem, was Flagge den Kaze-Mimiks angetan hat«, sagte Eel. »Das zeigt ja, was sie von uns halten. Wegwerfprodukte.«

»Eigentum. Ein Werkzeug, das man ersetzen kann.«

»Ja, eben, etwas, das man wegwirft, wenn man es nicht mehr braucht. Aber eine Familie … eine Familie ist etwas für immer.« Er blieb stehen. »Zum Teufel mit Flagge. Ich schließe mich Proteus an.«

Tristan fragte sich, wie lange ein Mimik, der ein Luxusapartment gewöhnt war, das Leben hier unten aushalten würde. Aber was er dachte, war schließlich unwichtig.

Tristan griff in seine Tasche. »Dann wirst du das hier brauchen.«

Er stellte überrascht fest, dass alle Taschen leer waren, und dann wurde ihm bewusst, dass seine Überraschung fehl am Platz war. Warum sollten die Proteaner ihm seine Schablonen lassen?

»Ich habe deine Garderobe mitgebracht. Deine neuen Brüder haben sie. Frag sie danach.«

Eel starrte ihn einen Augenblick lang an. »Das hast du getan? Du hast sie mitgebracht?«

So war es eigentlich nicht gewesen, dachte Tristan.

In seiner Eile, Kaze hinter sich zu lassen, hatte er nach allem gegriffen, was auch nur annähernd nützlich ausgesehen hatte. Und Eels Garderobe war einfach zur Hand gewesen.

Tristan zuckte mit den Achseln. »Ich werde sie bestimmt nicht mehr brauchen.«

Eel ging auf die Tür zu. »Ich weiß nicht, ob es viel nützen wird, aber ich werde für dich tun, was ich kann.«

Tristan sagte nichts, als Eel hinauseilte. Er blieb zusammengekauert auf dem Bett sitzen und starrte zu Boden. Und dann hörte er, wie die Tür aufging. Er blickte auf und erwartete, Krek oder Callin zu sehen. Aber es war eine Frau.

Lani.