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Tristan stand am Ausgang von Smalley’s.

Es war ihm endlich gelungen, von dem NOK-Tisch zu entkommen, was Padre dazu veranlasste, sich das nächste Opfer zu suchen, ohne dabei in irgendeiner Weise erkennen zu lassen, dass etwas vorgefallen war.

Der NOK-Stein steckte in Tristans Tasche. Er sah zum Ausgang hinüber, auf die Türscanner, die die Gäste nach Waffen überprüften, und auf die muskelbepackten Polizisten mit ihren schwarzen Gesichtsscheiben, die jeden scharf musterten, der das Lokal betrat oder verließ.

Er atmete tief durch und ging an den Scannern vorbei, passierte die gesichtslosen Wachen. Aber kein Alarm ertönte. Er war draußen.

Geh weiter, sagte er sich – falls es eine Verzögerung gibt.

Und warum erfassten die Scanner – deren Herstellerfirma sich rühmte: »Wir können sehen, was Sie zum Frühstück gegessen haben« – eigentlich den gestohlenen Spielstein nicht?

Gute Frage … es sei denn, Smalley war an der Übergabe beteiligt, von Kaze Glom dafür bezahlt, diese kleine illegale Transaktion ungehindert über die Bühne gehen zu lassen.

Oder vielleicht waren sie einfach nicht darauf programmiert, nach NOK-Stücken Ausschau zu halten. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von Gesicht und Hals – und spürte etwas.

Da – unmittelbar unter dem Halsansatz, etwas Winziges, das an seiner Haut klebte. Er zupfte daran und hielt eine Art Pflaster von der Größe eines Daumennagels in der Hand.

Ein Dosispflaster!

Tristan starrte es an und spürte, wie ihm erneut am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Wo war das hergekommen? Und womit hatte man ihn dosiert? Und wer hatte das getan? Es musste diese Katzenfrau gewesen sein. Sie war die Einzige, die ihn berührt hatte – er erinnerte sich deutlich an ihren Schwanz, der sich um seinen Hals geringelt hatte.

Aber womit? Irgendein Aphrodisiakum? Oder ein Psychoaktivum? Er spürte keinerlei nachteilige Auswirkungen – spürte überhaupt keine Auswirkungen.

Vielleicht war das Präparat nicht durch seine Haut eingedrungen, oder es wirkte bei ihm nicht.

Er würde auf irgendwelche Symptome achten müssen. Aber zunächst musste er zusehen, dass er weiterkam, musste eine Stelle suchen, wo er den Schlüssel aktivieren konnte.

Er eilte eine Straße hinunter, passierte den inzwischen nicht mehr so lauten Basar … die meisten besseren Sachen hatten inzwischen den Besitzer gewechselt. Er sah zu, wie ein ziemlich heruntergekommen wirkender Mann seine Sachen aufbaute, sie aus einem alten Sack zog. Seine Schätze.

Tristan blieb stehen.

»Was ist das?«, sagte er zu dem Mann.

Der Mann blickte verstört, vielleicht sogar verängstigt auf.

Der Mann hielt etwas in der Hand, etwas, das Tristan schon einmal gesehen hatte. Er sollte jetzt wirklich weitergehen, sollte keine Zeit damit vergeuden, sich den Gegenstand anzusehen, aber -

Der Mann war nervös. Tristan rief sich ins Gedächtnis, dass seine Masque groß und imposant war … vielleicht sogar – bedrohlich.

»W-W-Was wollen Sie?«

Tristan trat näher. »Das Ding, das Sie da in der Hand halten. Was ist das?«

Die nervösen, kleinen Augen des Mannes huschten zwischen dem Sack mit seinen Schätzen und Tristan hin und her.

»Das? Sie meinen -«

Der alte Mann hielt den Gegenstand hoch.

»Ja.«

Der alte Mann sah den Apparat an. Er las die Aufschrift. »Das ist – das ist ein ›Mr. Coffee‹.«

Tristan lächelte. Genau. Ein Mr. Coffee. Er hatte sie in den alten Vids in Küchen gesehen. Da hatte oft ein Mr. Coffee auf einer Art Theke gestanden. Die Leute gingen hin und holten sich Kaffee. Sie tranken Kaffee wegen des Koffeins, vielleicht auch wegen des Geschmacks.

Tristan trat näher. »Das ist alt … darf ich -?«

Der alte Mann wirkte desinteressiert. »Ja. Es ist sehr alt … denke ich -« Der Mann zuckte mit den Achseln. Wenn man alles zusammentat, was er nicht über seine Schätze wusste, würde man damit wahrscheinlich einen kleinen Datenspeicher füllen können.

Tristan sah den Plastikapparat an. Er hatte in einem alten Vid einmal gesehen, wie jemand ihn mit Wasser gefüllt und dann gemahlenen Kaffee hineingelöffelt hatte -

Er fingerte an einem Knopf herum, und plötzlich schob sich ein kleines tassenähnliches Teil heraus.

»Ja, da hat man den Kaffee reingetan.«

Tristan gab dem alten Mann den Apparat zurück. Eigentlich hätte er ihn gern gehabt, dieses Objekt aus einer Welt, wo die Dinge noch einen vernünftigeren Eindruck machten, wo -

Wo es keine Mimiks gab.

Wo alle Menschen waren.

»Was haben Sie denn sonst noch?«

Tristan beugte sich vor und sah in den Sack des alten Mannes hinein. Er sah einen zerkratzten, leicht korrodierten Metallbehälter. Er stammte vermutlich aus derselben Periode, nahm Tristan an. Nur, dass Metall nicht so lange hielt.

Er hatte auch gesehen, wie man ihn benutzte, für eine bestimmte Art von Drink … damals, als es in Bars nur Alkohol gab.

Tristan nickte … und dann äffte er einen Satz nach, an den er sich von dem flachen Vid erinnerte: »Geschüttelt … nicht gerührt.«

Der alte Mann war ganz entschieden verwirrt. Er kratzte sich seinen knochigen Schädel und leckte sich über die aufgesprungenen Lippen.

Geschüttelt, nicht gerührt … Tristan drehte das Objekt in den Händen.

»Wollen Sie es haben? Ich kann Ihnen einen guten Preis machen … für beide zusammen. Credits oder -«, der alte Mann leckte sich die Lippen, – »wenn Sie etwas Hhhelll haben, kann ich -«

Tristan nickte bedächtig.

»Ich würde sie gern haben«, sagte er. »Aber ich kann sie jetzt nicht mitnehmen.«

Der alte Mann rieb sich seinen Bart und schob den Apparat auf dem Tisch etwas in den Hintergrund.

»Ich bin immer hier«, sagte er.

Tristan nickte; die Vid-Erinnerungen begannen zu verblassen.

Er verließ den Basar.

 

Tristan stand in der dunklen Gasse, in der es nach Exkrementen, nach Müll und nach Fäulnis stank. Wie ein Schwarzmarkthändler sah er immer wieder zur Mündung der Gasse hinüber.

Er zog den NOK-Stein aus der Tasche und drehte ihn zwischen den Fingern.

Die glatte Oberfläche spiegelte das Licht vom Ende der Gasse wider. Ob er einen Fehler gemacht hatte?, fragte er sich. War die wirkliche Kontaktperson irgendwo aufgehalten worden?

Aber nein … er entdeckte eine kleine rechteckige Einbuchtung im Sockel der Spielfigur.

Könnte sein -

Er schob den Nagel unter den Rand, und eine kleine Metallklappe öffnete sich … und dahinter war jetzt eine winzige, rechteckige Linse zu sehen.

Der Codeschlüssel.

Er sah sich wieder nach allen Seiten um. Er war immer noch allein, es sei denn, unter einem der Müllhaufen schlief etwas, das früher einmal eine Person gewesen war.

Er hob den Spielstein ans Auge, zögerte dann aber.

Alles war planmäßig gelaufen … und, zur Hölle mit seinem Wesen, genau das machte ihn argwöhnisch.

Er blinzelte und aktivierte sein Neuronet. Regis erschien und fuhr dort fort, wo er das letzte Mal abgeschnitten worden war.

»Lord Tristan, ich muss Sie erinnern, dass Sie jetzt hinter Ihrem Ablaufplan zurück sind. Sie werden -«

Tristan hob den NOK-Stein hoch.

»Regis, was ist die potenzielle Gefahr bei diesem Codeschlüssel?«

»Es besteht immer die Möglichkeit eines Schattencodes. Aber leider kann selbst ich nicht jede versteckte Subroutine entdecken.«

Tristan nickte. Ein Raubcode war imstande, sein Neuronet innerhalb einer Millisekunde aufzufressen. Dann würde Tristan in der Freizone gefangen sein.

Er zwang sich zur Ruhe, hielt den Spielstein vor sein rechtes Auge und starrte in die Linse. Eine Folge kreiselnder Blitze schoss den optischen Code in sein Neuronet.

Im gleichen Augenblick erschien sein Roaming Grid. Alles schien einwandfrei, das Kaze Quarter befand sich am unteren Rand, dann die Weite der Freizone und -

Das Gitter wanderte nach Norden. Nach Flagge Glom. Zuerst war es rot umrandet, aber dann verschwanden die roten Linien, wurden grün. Ein Pfad erschien auf der Karte von Flagge, führte zu einem Gebäude. Nichts deutete an, was das für ein Gebäude war, und es gab für ihn auch keine Möglichkeit, es Regis herausfinden zu lassen – nicht, bis sie sich tatsächlich dort befanden.

Der einzige Weg, um es herauszufinden, bestand also darin, dort hinzugehen.

Und dort würde er das bekommen, was er brauchte, um in das Herz von Flagge Glom einzudringen … in die Zitadelle.

Zumindest hoffte er das.