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»Euer Lordschaft, es ist jetzt Zeit. Kommen Sie, bitte … Sie wollen doch sicherlich Ihre Besprechung nicht verpassen, Lord Tristan. Mr. Cyrill wartet bestimmt schon.«

Tristan schlug die Augen auf.

Blau … sein Einzimmerabteil war in weichem Blau beleuchtet, fast als ob er sich unter Wasser befände. Tristan hatte noch nie eines der Meere der Welt aus erster Hand zu sehen bekommen und doch …

Der Name Cyrill ließ ihn hellwach werden, während Regis weiterplapperte.

»Er erwartet Sie in einer knappen Viertelstunde, Lord Tristan, und Sie wissen, dass er es nicht mag, wenn man ihn warten lässt.«

Tristan glitt aus dem Bett, und Regis zog sich zurück. Als seine Füße den Boden berührten, veränderte der Raum die Farbe. Das blaue Licht wurde zu einem rötlichen Orange, und ein paar Stellen im Raum begannen in einem schwachen weißen Licht zu leuchten.

Die Anordnung von Seifenblasen, die er am vergangenen Abend betrachtet hatte, schwebte immer noch am Fußende seines Bettes.

Tristan warf jetzt einen Blick darauf, eine Anordnung seiner antiken Lieblingsvids, fast alle schwarzweiß. Das Fehlen von Farbe schien sie realer zu machen, so als kämen sie aus einer anderen Welt, einem Planeten ohne Farbe, aber angefüllt mit Emotionen, angefüllt mit Menschen, die ihm etwas bedeuteten.

Seine Welt hatte Farbe. Keine Emotionen, keine Glaubensgrundsätze, keine Menschen – aber Farbe im Überfluss.

Tristan trat näher an die schwebenden Bilder heran.

Die Vids waren in Schlüsselszenen erstarrt, Momenten, die Tristan besonders interessierten. Ein Mann stand an der Brücke einer Kleinstadt, riesige Schneeflocken flogen ihm ins Gesicht. Sollte er springen oder nicht? War sein Leben wirklich sinnlos?

Wie konnte das sein?, dachte Tristan. Mit einer Frau und Kindern und der Stadt voller Menschen, die ihn liebten?

Das nächste Bild ließ Tristan lächeln. Ein Mann namens Rick saß an einem Tisch, eine Zigarette in der einen, ein Glas in der anderen Hand; er redete mit der schönsten Frau der ganzen Welt.

Die soeben seinen Club betreten hatte.

Tristan streckte die Hand aus und schob sie durch das Bild, worauf das flache Schwarzweißbild auf seiner Hand tanzte.

Er wünschte, er könnte in diese Welt hineintreten.

Er schüttelte den Kopf. Es war wie Träumen. Wenn er diese Vids ansah, träumte er von einer Welt, die es wahrscheinlich nie gegeben hatte.

»Nachrichten aufrufen, Regis.«

»Oh, da ist nichts, was Sie wirklich interessiert, Euer Lordschaft. Und Sie sind bereits spät dran.«

»Abspielen«, sagte Tristan und dachte, dass er sich jetzt wirklich einmal die Zeit nehmen musste, seinen PDA neu zu programmieren.

Das mit dem englischen Butler wurde allmählich langweilig. Er war auf die Idee gekommen, nachdem er sich all diese alten Vids angesehen hatte, die Schwarzweiß-Flachis; er hatte gedacht, es könnte vielleicht Spaß machen, einen eigenen Butler zu haben. Aber im wirklichen Leben, Tag für Tag, ging einem das ganz schön auf die Nerven.

Vor dieser Reprogrammierung war Regis ein Kardinal gewesen und hatte Tristan mit »Euer Heiligkeit« angesprochen.

Spaß … für eine Weile.

Alles wurde mit der Zeit lästig. Oder langweilig. Besonders, wenn das Leben so streng definiert war. Das Mimikgehege verfügte über alle Annehmlichkeiten … mit Ausnahme der Bewegungsfreiheit. Kein Mimik durfte das Gehege verlassen, wenn sein Roaming-Grid nicht von Glom freigegeben war. Tristan konnte sich die verlockenden Holovisionen all der Orte, die so ganz anders als die Gloms waren, nur ansehen. Da gab es Dschungel, üppig und in allen Grünschattierungen, fleckige Schlangen, die sich in den Bäumen versteckten, und seltsame kleine Säugetiere mit dunklen gehetzten Augen. Wie wunderbar es doch sein müsste, tatsächlich zu ihnen zu gehen, dachte er. Oder man stelle sich die Berge, diese gewaltigen zackigen Gipfel vor. Man stelle sich vor, an diesen felsigen Klippen emporzuklettern, den harten Stein und den eisigen Wind auf der Haut zu spüren.

Tristan konnte es sich vorstellen, und das machte sein Leben, dieses Gefangensein, noch viel unerträglicher.

Aber heute würde er nach draußen gehen und sich bewegen, wenn auch nur in der von Menschen geschaffenen Welt des Glom. Ja, heute würde ein guter Tag sein.

Er drehte sich um und sah sein Abbild in dem großen, glitzernden Spiegel an der Wand. Seine Gesichtszüge waren ausdruckslos, mit flachen Wangenknochen, einer rudimentären Nase, einem Schlitz als Mund und fast weißen Iriden. Sein glatter, nackter Körper stand schlank und blass da, ohne Geschlechtsorgane.

Er trat einen Schritt auf den Spiegel zu. Seine Schablonen lagen auf der Anrichte, auch die neuen, die Cyrill herübergeschickt hatte.

Eine Kugel aus Licht materialisierte sich hinter ihm in der Luft, als Regis anfing, seine persönlichen Nachrichten ablaufen zu lassen.

»Lord Tristan, mir wäre es wirklich lieber, wenn Sie auf die heutigen -«

Die Stimme eines Ansagers unterbrach Regis.

»In den Freizonen ist es zu einer neuen Welle von Gewalttätigkeiten gegen Mimiks gekommen.«

Tristan warf einen Blick auf seinen PDA. »Du versuchst immer noch, mich abzuschirmen, Regis?«

Dann wandte er sich wieder dem Holo zu. Aber sicher, dachte er, in der Freizone konnte einem Mimik alles Mögliche passieren. Wenn er kein Glom hinter sich hatte, war ein Mimik so gut wie tot. Das hämmerten einem die Gloms ständig ein.

Die Seifenblase füllte sich mit real wirkenden Bildern von zwei rennenden Mimiks. Die sie verfolgende Menge schrie hinter den Flüchtigen her, und ihre Schreie füllten Tristans Apartment.

»Bringt sie um, die Nachmacher! Bringt sie um, die Missgeburten!«

Bluts auf der Pirsch … wie viele von ihnen wohl im Ramsch unterwegs waren?

Einige aus der schreienden Menge trugen Waffen – Stöcke, Steine, Messer. So primitiv. Ekel durchfuhr Tristan, aber er sah trotzdem hin, beobachtete fasziniert. An der Szene war etwas so Urtümliches, fast wie ein Rassengedächtnis.

Aber Mimiks hatten keine Rasse.

In der Kugel bogen die Mimiks um eine Ecke. Die Robocams folgten ihnen, zeichneten das Geschehen von oben und von hinten auf, kippten die Bilder in den Ocean, damit jeder sich das Vergnügen machen konnte, die Bilder zu sehen, zu ändern oder sie seiner Vidsammlung hinzuzufügen.

Einfach wieder ein Satz Bilder, um damit zu spielen.

Die Stimme des Ansagers, distanziert und ausdruckslos, beschrieb das, was jeder sehen konnte.

»Wir verfolgen zwei entkommene Mimiks, die von Bluts identifiziert worden sind. Die Menge hat die Verfolgung aufgenommen und will den beiden Flüchtigen den Garaus machen.«

»Lord Tristan, Sie sollten sich wirklich beeilen. Mr. Cyrill erwartet Sie -«

Tristan hob eine Hand.

Der Mob hatte jetzt die beiden Mimiks erreicht und überflutete sie wie eine strömende Wassermasse. Fäuste hoben sich, Messerklingen blitzten, selbst im schwachen Morgenlicht – silbern zuerst, dann rot. Die Kamera verweilte. Sicher … auch nicht anders als die Arena, nicht sehr jedenfalls … einfach auch Unterhaltung, eine Show.

Der Kopf des Ansagers schwebte über dem Gemetzel.

»Wir haben jemanden aus der Menge gefragt, ob er Reue darüber empfinde, diese hilflosen Mimiks anzugreifen und zu töten.«

Plötzlich füllte sich die Blase mit einem geröteten Vollmondgesicht, brutal und streitsüchtig. Tristan trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Warum denn? Die verdammten Dinger sind keine Menschen, und doch nehmen diese Genmonster uns die Arbeit weg, uns, der menschlichen Familie. Das ist der Preis dafür, unsere Jobs zu stehlen. Jeder tote Mimik macht einen Job für einen richtigen Menschen frei.« Er hob die Faust. »Die Brüderschaft der Menschen, für immer vom selben Blut!«

»Lord Tristan«, sagte Regis, »Sie haben jetzt nicht einmal mehr sieben Minuten. Ich schlage vor, Sie -«

Tristan sagte: »Aus.« Die Seifenblase reagierte darauf, indem sie über dem Gesicht kollabierte, es gleichsam zerquetschte.

Das kümmert mich nicht, dachte Tristan.

Nein, das Einzige, was ihn augenblicklich kümmerte, war der Auftrag, für den er trainiert hatte. Er begann heute.

Tristan wandte sich wieder dem Spiegel zu. Er nahm die zwei Vier-Zentimeter-Disketten von der Anrichte. Sie waren beide flexibel, halb durchsichtig und fühlten sich beinahe wie schwielige Haut an. Aber die Erste bestand aus einem Stück, eine typische ROM-Schablone von Cyrill – der Ansatzpunkt für den neuen Auftrag.

Die andere war etwas Neues, sie hatte ein abnehmbares Siegel: Kaze Gloms beschreibbare Schablone. Aber im Augenblick musste er die ROM-Schablone aktivieren.

Männlich oder weiblich, fragte er sich. Mal sehen, was sie diesmal für mich vorbereitet haben.

Er griff nach unten und strich mit der Fingerspitze über seine linke Unterleibshälfte, schob die Haut auseinander und öffnete einen sechs Zentimeter breiten Schlitz. Er schob die neue Diskette hinein und strich dann mit dem Finger wieder über die Öffnung. Der Schlitz verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Und jetzt begann der Flux. Er konzentrierte sich, als die Wetware anfing, den Code auf der Diskette zu lesen, zu digitalisieren, und die Sequenzdaten anschließend auf bioelektrischem Weg an seine Zellkerne weitergab. Jetzt würde der Augenblick -

Da! Er verspürte die vertraute Aufwallung, als seine mDNS auf den neuen genetischen Code zu reagieren begann. Seine Zellen, zuerst eine nach der anderen, dann in Kaskaden von Milliarden – Gehirnzellen, Blutzellen, Nervenzellen –, begannen den Code zu kopieren, ihn nachzuahmen.

Er hatte sich gestern Abend darauf vorbereitet, sich mit Nährstoffen voll gestopft – Kohlenhydrate und Aminosäuren.

Alles war nur ein physischer Vorgang … nur physische Veränderungen.

Wenigstens redeten sich das alle ein, die mit Mimiks arbeiteten.

Aber Tristan war sich dessen nicht so ganz sicher.

Er blickte in seinen Spiegel. Sein Gesicht fing bereits an, sich zu ändern, ein kantiges Kinn begann sich vorzuschieben, und seine Augen nahmen eine eierschalenblaue Färbung an.

Gut aussehende Masque, dachte Tristan. Da würde mich interessieren, wer die Spender sind … oder waren.

Auftragsmasquen waren immer Komposite, für die speziellen Bedürfnisse der jeweiligen Aufgabe zusammengefügte Einzelkomponenten. Es sei denn natürlich, man musste eine real existierende Person verkörpern.

Ein Druck wuchs in seinen Knochen, als sein Körper sich zu strecken begann. Jetzt kam der schmerzhafte Teil, als die Haut zu ziehen anfing und die Zellen Mühe hatten, mit den schnellen Änderungen Schritt zu halten. Er wusste, wenn er jetzt sein Neuronet überprüfte, würden seine persönlichen Werte eine geradezu irrsinnige Beschleunigung von Atmung und Puls zeigen, als ob sie außer Kontrolle geraten wären. Er hatte schon Geschichten von Mimiks gehört, die nach zu häufigem Fluxen gestorben waren.

Nur Geschichten.

Schwitzend und ächzend lehnte er sich an die Wand. Sein Atem ging schwer, rasselnd, als er seinen neuen Körper gebar.

Als er die Augen wieder öffnen konnte, war die erste Stelle, auf die sein Blick fiel, sein Unterleib.

Heute bin ich ein Mann. Nicht, dass es darauf ankam.

Nicht, dass es darauf ankam. Das war es, was er sich einredete.

Aber im Laufe der Jahre hatte er festgestellt, dass er dazu neigte, sich als »Er« zu sehen – ein Hinweis darauf, dass seine Quellen-DNS vermutlich mit einem Y-Chromosomen angefangen hatte.

Er sah auf seine Hände – gute, starke Finger, muskulöse Unterarme.

Langsam legten sich die Schmerzen, und er warf einen Blick auf sein Spiegelbild.

Das bin ich beute.

Nicht schlecht. Glattes braunes Haar, klare blaue Augen, kräftiges Kinn, schlanker, muskulöser Körperbau. Er lächelte. Hübsche Zähne.

»Du hübscher Teufel«, murmelte er. Das stammte auch aus irgendeinem alten Vid.

Ein Phänotypus, mit dem man sich sehen lassen konnte. Die Schablone, die man ihm für seinen letzten Auftrag gegeben hatte, hatte ihn in eine gebeugte rattengesichtige Frau verwandelt. Er hatte jede Sekunde in jener Masque gehasst.

Er spürte, wie seine Kräfte nach dem Flux schwanden. Er würde eine kleine Stärkung brauchen.

»Sie haben leider keine Zeit für das Frühstück, Euer Lordschaft«, erklärte ihm Regis.

»Ich werde während der Konferenz essen.«

»Euer Lordschaft! Das wäre beleidigend.«

Tristan ignorierte ihn. Er ging durch Regis hindurch und kam auf der anderen Seite heraus – das tat er bewusst. Ich mag ja ein Mimik sein, aber wenigstens bin ich körperlich.

Körperlicher, als man es von einem Personal Data Avatar sagen konnte. Und noch dazu von einem verdammt lästigen.

Ich mag zwar Eigentum sein, aber dich zumindest besitze ich.

Tristan nahm eine Kombi aus dem Kleiderschrank, schlüpfte in das einteilige Stück und wartete, bis der Smartstoff seine Größe seinem neuen Körper angepasst hatte. Gewöhnlich brauchte er keine Kleidung, um sich mit Cyrill im Ocean zu treffen. Er konnte splitternackt hier sitzen und bei der Besprechung in einer mit Edelsteinen besetzten Rüstung erscheinen. Aber er wusste nicht, wie viel Zeit er haben würde, bis er mit dem Einsatz beginnen musste.

Und er wusste, dass Cyrill den neuen Phänotyp sehen wollte.

»Scann mich«, sagte er.

»Ja, Mylord.«

Laserblitze schossen fächerartig aus der Wandeinheit, hüllten ihn einen Augenblick lang ein und verloschen dann wieder. Sein neues Image war bereit, in den Ocean zu tauchen.

»Lord Tristan«, sagte Regis. »Ich empfange gerade eine Nachricht. Mr. Cyrill trifft in der ICE-Box ein. Er wird erwarten, dass Sie dort sind und auf ihn warten!«

»Ich weiß, Regis.« Er schnappte sich eine Tube Konzentrat und warf Regis, der einen angemessen besorgten Gesichtsausdruck zur Schau stellte, einen ernsten Blick zu. »Ich weiß, und vielen Dank.«

Tristan machte es Spaß, Cyrill warten zu lassen.

Er blinzelte zweimal mit dem rechten Auge, dann einmal mit dem linken und aktivierte damit sein Neuronet. Er hatte es so programmiert, dass es in drei Sekunden in Cyrills supergesicherten virtuellen Konferenzraum klinken würde.

Zwei.

Eins.

»Ich tauche, Regis. Und dass mir keine Klagen kommen.«

Tristans Abteil löste sich in einem grellen Blitz auf. Ein Wirbel von Regenbogenfarben, donnernde Musik, ein Augenblick des Schwindels.