12

 

Während Lani dem Mimik im Korridor folgte, spürte sie, wie ihr Herz wie wild gegen ihren Brustkasten schlug, wie ein Gefangener, den man in eine Isolierzelle gesteckt hatte.

Das ist Wahnsinn, dachte sie. Wir beiden … zusammen … wenn jemand in den Korridor kommt und uns sieht, wie erkläre ich das?

Wie erkläre ich das?

Oh, das ist meine Cousine … aus Kaze Glom. Sie ist bloß hier, um ein paar Flaggegeheimnisse zu stehlen.

Tristan gab ihr ein Zeichen, als er stehen blieb und sich unmittelbar vor Eels Tür aufbaute.

Sie hatten das geübt, um nicht reden zu müssen, wenn der Augenblick gekommen war. Innerlich zitternd, bezog sie neben der Tür Stellung. Lehnte sich gegen die gerippte Wand, sodass man sie von der Tür aus nicht sehen konnte.

Ihr Kopf schien so etwas wie ein Eigenleben entwickelt zu haben und bewegte sich immer wieder so, dass ihr Blick von dem schweren Stück Elfenbein, das der Mimik hinter seinem Rücken versteckt hielt – es war ein Bein eines ihrer Fußhocker, das er abgebrochen hatte –, zu dem Flur auf der anderen Seite und wieder zurück zu dem Stück Elfenbein wanderte.

Bringen wir es hinter uns!

Der Mimik berührte die Türplatte mit der linken Hand. Die Tür blieb geschlossen – sie war nicht auf ihn eingestellt –, aber Lani wusste, dass irgendwo im Inneren des Apartments ein Gong ertönte.

Ihre Muskeln spannten sich an. Jetzt war es so weit. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte Mr. Dohan Lee in seinem Apartment angerufen und gefragt, ob sie vielleicht irgendwann einmal vorbeikommen dürfe. Sie sah immer noch das hungrige Leuchten in seinen Augen, als er sofort eine Einladung gestammelt hatte – »Jederzeit! Wirklich jederzeit!« –, die sie akzeptiert hatte.

Die Tür schob sich beinahe im gleichen Augenblick auf – jemand war wirklich sehr an ihrem Kommen interessiert.

»Oh, hallo!« Lani erkannte die Stimme. »Ich wollte schon eine Ewigkeit mit Ihnen zusammenkommen!«

»Vielen Dank, dass Sie mich eingeladen haben«, sagte der Mimik lächelnd und nickte dann zu Lani hinüber. »Und damit der Nachmittag wirklich interessant wird, habe ich eine Freundin mitgebracht.«

Lee – oder Eel – schob den Kopf in den Flur und musterte sie von oben bis unten. Sein Grinsen verblasste, und seine Augen weiteten sich.

»Was im Namen -«

Der Lani-Mimik riss den Arm hoch und ließ das Stuhlbein auf Eels Kopf herunterkrachen. Er taumelte zurück, und Tristan folgte Eel in seine Wohnung. Sie hörte ein Krachen, dann das Geräusch eines weiteren Schlages und dann das Poltern von etwas Schwerem, das auf den Boden fiel.

Sekunden später sah sie ihr eigenes, gerötetes Gesicht aus der Türöffnung spähen.

»Schnell. Kommen Sie rein!«

Lani schlüpfte in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Eine reglose Gestalt lag ausgestreckt auf dem Boden. Ein dünnes Blutrinnsal hatte sich unter dem Haaransatz von Eel gebildet und rann ihm quer über die Stirn.

»Ist er … ist er tot?«

»Nein«, sagte der Mimik. »Bloß bewusstlos.« Er winkte sie zu sich. »Kommen Sie. Helfen Sie mir, ihn aufzuheben.«

Sie presste sich gegen die Tür. Sie wollte ihn nicht berühren. »Nein … ich könnte niemals …«

»Schauen Sie – wenn Sie einen stärkeren Körper hätten, könnte ich ihn allein bewegen, aber den haben Sie nicht, also kommen Sie jetzt, und helfen Sie mir.«

Lani bewegte sich zögernd auf Eels Füße zu und hob sie auf Tristans Anweisung an. Der Mimik packte die Schultern, und dann schleppten sie die leblose Gestalt in ein hinteres Zimmer und stemmten sie auf ein Bett.

»Also gut«, sagte er. »Wo ist dieser Schläfer?«

Lani zog die kleine schwarze Scheibe aus der Tasche und reichte sie ihm. Sie hatte bereits sämtliche Voreinstellungen und Interrupts gelöscht und die Scheibe auf die maximale Schlafdauer programmiert, die sie bewältigen konnte – zwölf Stunden.

Der Mimik presste die Scheibe gegen Eels Schädel und ließ sie dort.

»Damit dürfte er uns aus dem Weg sein. Und jetzt« – er begann, Eel auszuziehen – »jetzt wollen wir sehen, ob Mr. Dohan Lee wirklich ein Mimik ist.«

Lani fühlte sich plötzlich unbehaglich und trat zwei Schritte zurück.

»Vielleicht sollte ich besser hier draußen warten.«

»Nun, dann machen Sie sich aber während des Wartens nützlich. Sehen Sie sich um, ob irgendwo ein Vorrat von Nährkonzentrat ist.«

»Warum?«

»Ein aktiver Mimik hat solche Vorräte immer in Reichweite.«

Lani ließ die beiden Mimiks allein und ging durch die Wohnung. Sie stellte fest, dass sie gut zwanzig Prozent größer als die ihre war. Sie sah sich in Dohan Lees Küche um, fand aber unter seinen Vorräten keine Spur von Konzentrat.

Zum ersten Mal regte sich Unsicherheit in ihr. Vielleicht war Dohan Lee gar nicht Eel, der große Arenakämpfer. Konnte es sein, dass Trev sich getäuscht hatte?

Nein. Sie musste es weiter glauben – Trev hatte es schließlich gesagt, und Trev hätte sie nie angelogen. Außerdem: Eel … Lee … es war so offensichtlich, wenn man einmal darüber nachdachte.

Trotzdem … wo war das Konzentrat, das dem Mimik anscheinend so wichtig war?

Sie durchsuchte das Wohnzimmer und das Esszimmer, fand aber nichts. Sie fing schon an, unruhig zu werden, als sie in den hinteren Bereich der Wohnung ging und dort einen der Räume betrat. In der Tür blieb sie stehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Bild, das sich ihr bot.

Ein Trophäenraum. Trophäen aus der Mimikarena? Sie trat näher. Was konnte das sonst sein? Ihre Stimmung hob sich wieder. Das würde der Beweis sein, dass Trevs Geschichte nicht bloß etwas mit Eifersucht zu tun hatte.

Als sie dann sah, dass sämtliche Trophäen in Pitsaur-Kämpfen gewonnen worden waren, sank ihr Mut wieder. Rex … Rex … Rex. Alle Trophäen für etwas, das Rex hieß. Sie lehnte sich dicht neben das Holo eines bösartig aussehenden Zwergraptors, der nur aus Zähnen und Klauen zu bestehen schien, und erschauderte; sie war plötzlich froh, dass in dieser Anlage keine Haustiere erlaubt waren.

Lani durchsuchte das restliche Zimmer, aber wohin sie auch blickte, überall war nur dieser eklige Pitsaur zu sehen. Lee oder Eel oder wer auch immer er war, schien auf diese Kreatur regelrecht versessen. Sie wollte gerade aufgeben, als sie unter den vielen Trophäen einen Stauraum entdeckte.

»Wahrscheinlich weitere Holos von Rex«, murmelte sie und kniete nieder und drückte den Verschlussknopf.

Die Platte klappte auf, und sie sah hinein, wusste nicht recht, was sie da gefunden hatte.

Flaschen, Tuben, Gelpäckchen, alles sauber aufgereiht, alles …

»Haben Sie es gefunden?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich um und sah, dass der Mimik auf sie zukam.

»Da, sehen Sie!«, sagte sie. »Das beweist es doch, oder? Lee ist Eel. Sehen Sie sich all das Zeug an. Er ist ein Mimik.«

Tristan hockte sich neben sie und zog eine große Spritzflasche aus dem Schränkchen.

»Ja, ich weiß.«

Er biss die Spitze ab und begann, den Inhalt der Flasche in sich hineinzusaugen.

»Sie wissen? Also, warum musste ich dann hier herumwühlen -?«

Während er schluckte, hielt er ihr ein dünnes, beigefarbenes Plättchen hin. »Ich habe sein Interface gefunden.«

»Und was ist das?«

»Seine Dohan-Lee-Schablone.«

Lani sprang auf. »Und Sie haben sie ihm weggenommen? Einfach so?«

»Natürlich.«

»Aber was ist mit ihm?«

»Er fluxt jetzt in den Neutralzustand zurück.« Ihr Gesicht verriet ihre Verwirrung, und er neigte seinen Lani-Kopf leicht zur Seite und starrte sie an. »Sie wissen nicht viel über Mimiks, wie?«

»Ich weiß so viel wie jeder andere auch.«

»Also, wenn Sie es aus erster Hand wissen wollen, dann sollten Sie zusehen.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Er beißt nicht. Er wird die nächsten zwölf Stunden schlafen.«

Lani war sich gar nicht so sicher, ob sie das wirklich sehen wollte, aber dann gewann die Neugier in ihr die Oberhand. Einen Mimik ohne Masque zu sehen, sozusagen ausgezogen.

»Was werden Sie jetzt machen?«

»Mich nach seinem Garderobenetui umsehen. Er hat es ganz bestimmt irgendwo hier versteckt. Und während ich nachsehe, lagere ich Nährstoffe ein.«

»Für Ihr nächstes … haben Sie das ›Fluxen‹ genannt?«

»Ja, ich fluxe mich jetzt zu Dohan Lee.« Er hob den Behälter und nahm einen weiteren Schluck.

Lani begab sich zögernd zu dem Raum, wo sie Mr. Lee zurückgelassen hatten – nein Eel. Dieser ganze Tag kam ihr jetzt völlig surreal vor. Gestern war sie noch so normal und vernünftig gewesen. Sie war aufgestanden, in die Zitadelle gegangen, hatte ihre Datameisterpflichten erfüllt und war wieder nach Hause gekommen. Ganz einfach.

Heute war sie vor ihre Tür getreten, und seitdem war nichts mehr so wie vorher.

Sie wurde langsamer, während sie sich dem Raum näherte. Wollte sie das wirklich sehen?

Ja. Das musste sie. Trev hatte mit diesen Kreaturen zu tun gehabt. In seiner Vorstellung waren sie tatsächlich menschlich gewesen, oder zumindest verdammt nahe am Menschlichen. »Eine genetische Variante«, hatte er sie genannt.

Aber jetzt hatte sie die Gelegenheit, einen dieser Mimiks in dem Zustand zu sehen, den sie den »Neutralzustand« nannten, was auch immer das bedeutete.

Auf der Schwelle hielt sie inne. Das Zimmer war abgedunkelt, aber immer noch hell genug, um eine kräftige Gestalt auf dem Bett liegen zu sehen. Sie schob sich näher heran. Jetzt bemerkte Lani, dass Eel mit gespreizten Beinen dalag, und ertappte sich dabei, wie ihr Blick beinahe automatisch zu seinem Unterleib wanderte.

Sie keuchte auf.

Sie hatte von Trev ein wenig über Mimiks erfahren. Er hatte ihr gesagt, wie das Goleman-Chromosom bei Mimiks an die Stelle des Sexualchromosoms trat, sodass sie im neutralen Zustand asexuell waren. Zumindest physisch. Mental und emotional, hatte er gesagt, behielten sie die sexuelle Orientierung ihrer Quell-DNS. Wenn diese Quell-DNS mit einem Y-Chromosomen ausgestattet gewesen war, dann führte das dazu, dass die Überreste des Y den Mimik dazu veranlassten, in sich einen »Er« zu sehen. Das Gegenteil galt, wenn das Goleman-Chromosom an die Stelle eines X trat.

Sicher. Fakten … die Fakten kannte sie. Aber diese Fakten hatten sie nicht auf den Anblick eines neutralen Mimik vorbereitet.

Ihre Augen öffneten und schlossen sich ein paar Mal, aber auch das fügte dem glatten Fleisch zwischen den Schenkeln keine Details hinzu. So glatt … wie eine Puppe.

Sie trat näher an das blasse Geschöpf heran, beobachtete, wie sich seine haarlose Brust langsam hob und senkte, und blickte dann zum Kopf mit seinem blassen, ovalen Gesicht und dem farblosen Haar hinauf – welches das rote Blut aus der Kopfwunde noch erschreckender erscheinen ließ. Die Schlafscheibe haftete immer noch am Schädelansatz.

Sie stand da und starrte das Gesicht, die glatten, ausdruckslosen Züge an – den beinahe lippenlosen Mund, die glatten Halbkugeln der Lider über den Augen – und fühlte … ja, was fühlte sie eigentlich?

Lani hatte mit Abscheu gerechnet, aber stattdessen spürte sie, wie die Unschuld dieses Gesichts sie beeindruckte. Hier war so etwas wie ein leerer Bildschirm, der nur darauf wartete, dass eine Form, ein Umriss, ein Wort ihm Bedeutung verlieh. Schwer vorzustellen, dass dies einer der Champions der Mimikarena war, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, gegen andere Mimiks zu kämpfen – und sie manchmal auch zu töten.

Als sie das Zimmer verließ, erinnerte sie sich daran, wie Trev in den Monaten vor seinem Tod manchmal Atemprobleme gehabt hatte, wie er nach zahlreichen Gläsern Dewar’s Greenies nach Hause getaumelt war und wie mürrisch er geworden war. Sie konnte immer noch seine lallende Stimme hören: »Was haben wir getan, Lani? Was zum Teufel haben wir getan?«

Er hatte sich nie deutlich darüber ausgelassen, auf wen sich dieses »wir« bezog oder was sie getan hatten. Jetzt glaubte Lani zu verstehen.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß der Mimik da, nippte immer wieder an einem weiteren Behälter mit Konzentrat und starrte dabei etwas an, was er in der Hand hielt.

Er … wenn Mimiks asexuell waren, weshalb war er dann in ihren Gedanken ein »Er«, obwohl er einen weiblichen Körper trug? Zu allem Überfluss den ihren? Aber als sie ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, war er männlich gewesen – Trev. Das musste es sein. Irgendwo in ihrem Bewusstsein war er mit Trev gekoppelt … irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er immer noch ein Stück von Trev in sich trug.

Der Mimik blickte auf, als sie eintrat.

»Ich habe seine Garderobe gefunden«, sagte er.

Lani sah auf das flache Etui, das er in der Hand hielt. Fünf kleine, scheibenförmige Fächer im äußeren Bereich, die eine leere Vertiefung in der Mitte umgaben – offensichtlich für die Dohan-Lee-Schablone. Jedes Fach war mit einem Symbol gekennzeichnet.

»Der Stoff, aus dem die Träume sind«, sagte er leise.

»Was?«

»Nichts. Etwas aus einem alten Vid.«

»Wo haben Sie es denn gefunden?«, wollte Lani wissen. »Ich habe mich doch gründlich umgesehen.«

»Manchmal braucht es einen Mimik, um das zu finden, was ein anderer Mimik versteckt.«

»Was bedeuten diese Symbole?«

»Sie sind Teil eines Codes – Eels persönlicher Code für seine Schablonen.«

»Wozu braucht er denn einen Code?«

»Aus demselben Grund, weshalb er das Etui versteckt hat – die Garderobe eines Mimik ist so etwas wie sein persönlicher Werkzeugsatz, damit arbeitet er. Sie können auch noch einen Schritt weitergehen und sagen, das ist es, was er ist. Und wenn man sich seinen Lebensunterhalt in der Mimikarena verdient, dann will man ganz sicher nicht, dass irgendeiner der Rivalen sich Zugang zu der Garderobe verschafft. Die könnten sonst verkrüppelte oder kranke Genome anstelle der Kampfschablonen dort einschmuggeln.«

Lani lachte. »Das könnte eine unangenehme Überraschung geben.«

»Das könnte den Tod bedeuten. Besonders, wenn sie Schmelzer in die Garderobe legen würden.«

»Was ist ein Schmelzer?«

»Ein speziell erzeugtes Genom, das mit jeder Art von Leben inkompatibel ist. Man fluxt in einen missgestalteten Protoplasmaklumpen ohne Herz, ohne Lungen, ohne Gehirn, oder vielleicht wird man auch in Urschleim umgewandelt. Was auch immer, von einem Schmelzer gibt es keine Rückkehr. Man ist tot.« Er deutete auf das Etui, und sein Finger kreiste über die Fächer. »Eine von den Schablonen hier ist ein Schmelzer.«

»Woher wissen Sie das?«

»Wir haben alle einen in unserer Garderobe.«

»In der Ihren auch?«

»Je etwas von russischem Roulette gehört? Es ist ein wunderbares Abschreckungsmittel. Ein anderer Mimik wird es sich zweimal überlegen, einem die Schablonen zu stehlen, wenn er weiß, dass eine davon ein Schmelzer ist.«

»Also würde Sie eine von den Schablonen hier töten, aber Sie wissen nicht, welche.«

»Richtig.«

»Warum waren Sie dann so erpicht darauf, diese Garderobe zu finden? Was nützt sie Ihnen?«

»Es könnte sein, dass ich aus der Lee-Masque in jemand anderen fluxen muss.«

»Aber was ist, wenn Sie die falsche Schablone erwischen?«

Er sah ihr in die Augen. »Dann sterbe ich.«

»Aber warum -?«

»Vertrauen Sie mir, ich würde das wirklich nur tun, wenn mein Leben davon abhängt – wenn es auf Fluxen oder Sterben hinausläuft.« Er klappte den Deckel des Etuis zu und hielt ihr das kleine Kästchen hin. »Das hier bietet mir zumindest eine Vier-zu-Fünf-Chance zum Überleben.«

»Russisches Roulette?«

Jetzt lächelte er. »Genau. Nur, dass das kein Spiel ist.«

Er stand auf und ging langsam durchs Wohnzimmer, berührte Gegenstände, strich mit seinen Lani-Händen über die Wände und das Mobiliar. Dann blieb er stehen und starrte mit einem merkwürdigen, sehnsuchtsvollen Blick ins Leere.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Ich will das«, flüsterte er.

»Diese Wohnung?«

»Dieses Leben. Ich will eine Identität haben; ich will jeden Tag dieselbe Person sein, jemand, den andere Leute kennen lernen und vielleicht sogar mögen. Ich möchte meine eigenen Dinge – selbst nutzlose Dinge! – und einen Ort, der nur mir gehört, wo ich sie hintun kann. Und ich möchte diesen Ort dann verlassen, wann ich will, so lange wegbleiben, wie ich will, und dann wieder zurückkommen, wenn mir danach ist. Ich …«

Plötzlich änderte sich der Ausdruck in seinen Augen, und man hatte den Eindruck, dass er sich gewaltsam von einem Ort in weiter Ferne losriss.

»Tut mir Leid«, sagte er.

»Ist schon gut. Ich verstehe.« Sie hatte immer angenommen, Mimiks wären wie Roboter, ohne Identität, ohne Gefühle. Aber was sie gerade gehört hatte … bewegte sie.

Er warf ihr einen schnellen, durchdringenden Blick zu. »Sie verstehen? Sie können das unmöglich verstehen.«

»Nun, vielleicht nicht völlig. Aber ich bin auch nicht frei. Meine Bewegungsfreiheit ist für die Dauer meines Vertrags stark eingeengt, ich werde streng kontrolliert. Man erwartet von mir, dass ich mir jede Abweichung von meinem üblichen Tagesablauf genehmigen lasse, und wenn ich auch nur eine einzige Zugangssitzung verpasse, kommt sofort eine Polizeipatrouille und sieht nach. Verdammt, ich habe die Freizone seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Also sagen Sie mir bloß nicht, dass ich das nicht verstehen kann.«

»Das ist nicht dasselbe«, sagte er. »Nicht einmal annähernd. In fünf Jahren läuft Ihr Vertrag aus, und Sie sind dann jung und attraktiv, haben ein dickes Konto und können den Rest Ihres Lebens tun und lassen, was Sie wollen, überall auf der Welt.«

Richtig, dachte sie. Den Rest meines Lebens, aber vielleicht nur mehr mit meinem halben Verstand, wenn Trev Recht gehabt hat.

Aber sie musste zugeben, dass ihre Situation auch nicht annähernd dieselbe war. Sie war normal aufgewachsen, hatte den Datameistervertrag in Kenntnis der Risiken unterzeichnet und hatte, obwohl nur der Tod oder ein Hirnschaden zu einer Auflösung des Vertrags führen konnte, immerhin ihren eigenen Weg gewählt.

Aber ein Mimik … von einem Glom ausgebrütet, von einem Glom aufgezogen, ausgebildet und trainiert, genetisch nach Laune eines Glom verändert und dies so oft, wie das Glom das für notwendig hielt.

Und was dann? Was geschah mit alten Mimiks, die zu nichts mehr zu gebrauchen waren? Wo kamen sie hin? Lani wollte nicht fragen. Wahrscheinlich in die Bottiche … Mimikbottiche.

Sie sah diesen Mimik an und wusste, dass er, obwohl er keine Hoffnung hatte, doch noch immer einen Traum hegte. Und obwohl er ihre Haut trug, war er innen jemand anderer. Nicht nur ein Mimik … eine Person … ein Jemand.

Jemand namens Tristan.

War es das, was Trev gesehen hatte? War es das, was ihn verändert hatte?

Warum habe ich es nicht gesehen? Warum habe ich so lange gebraucht?

Vielleicht, weil sie nie mit einem Mimik zusammengewesen war – zumindest nicht wissentlich. Trev war durch seine Arbeit die ganze Zeit mit ihnen in Berührung gewesen. Aber Lani … sie war wie alle anderen: Mimiks waren etwas, wovon man hörte, aber was man nie zu Gesicht bekam, es sei denn, man hatte etwas für den Arenasport übrig.

Sie blickte auf und sah, wie dieser Mimik – Tristan – den Rest seiner Konzentrate zu sich nahm.

»Und jetzt, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagte er nach einem letzten Schluck, »ist es für mich Zeit zu fluxen. Warten Sie hier auf mich.«

Einfach so … es ist Zeit zu fluxen.

Als Lani ihm nachsah, wie er in eines der hinteren Zimmer ging, kämpfte sie gegen den plötzlichen Impuls an, ihn aufzuhalten. Warum sollte er nicht in Dohan Lee fluxen und seiner Wege gehen?

Weil er mir fehlen wird.

Was? Wo war diese verrückte Idee hergekommen? Er war in ihr Leben eingedrungen, hatte ihre Identität gestohlen, sie in ein Datenvergehen verwickelt und in einen tätlichen Angriff auf einen Arenamimik hineingezogen. Das Beste war, ihn schnell loszuwerden.

Aber der Gedanke ließ sie nicht los. Er besaß eine Kopie ihres eigenen Körpers, und das … verband sie irgendwie miteinander. So dünn dieses Band auch sein mochte, irgendwie spürte sie es.

Merkwürdig, dachte sie, wie Schwestern, Zwillinge … sie waren verbunden, und sie war seit Monaten von allem und jedem losgelöst gewesen.

Zum ersten Mal seit Trevs Tod fühlte sie sich nicht mehr so verdammt allein.

Ihre Augen weiteten sich, als sie aus dem hinteren Bereich der Wohnung ein Stöhnen hörte. Zögernd erhob sie sich und ging den Flur hinunter, auf eine geschlossene Tür zu. Wieder ein Stöhnen. Sie stand steif und reglos da, lauschte, die Hand auf halbem Weg zur Türplatte. Die sonst rote Anzeigeplatte war schwarz, und das bedeutete, dass die Tür nicht versperrt war.

Tristan war da drinnen … veränderte sich. Sie konnte sich nur ausmalen, wie das aussehen musste. Dabei brauchte sie bloß die Türplatte zu berühren und würde zusehen können. Würde sie jemals wieder eine solche Gelegenheit bekommen? Es könnte schrecklich sein, faszinierend.

Sie zog die Hand zurück. Nein … wenn Tristan gewollt hätte, dass sie es sah, hätte er vor ihr gefluxt.

Lani ging ins Wohnzimmer zurück. Und wartete.