Juli
2. Juli
Sonderbar, was für Gesprächsfetzen man in den Straßen von London aufschnappt. Weil man den ganzen Zusammenhang nicht mitkriegt, hören sie sich oft völlig absurd an. Als ich vom Entfernen der Klammern zurückkehrte – hat kein bisschen wehgetan, und danach fühlte ich mich deutlich weniger wie das Ungeheuer aus der schwarzen Lagune –, kam ich vor meinem Gartentor an einem Mädchen vorbei, das mit munterem Lächeln zu ihrer Freundin sagte: »Jetzt weiß ich wenigstens, wie es ist, vergewaltigt zu werden …«
5. Juli
Hab mich endlich aufgerafft, Unterschriften für die Petition zu sammeln. Marion wollte mich begleiten und erschien in langem Jeansrock und merkwürdigem Stricktop. Sie hatte ein Klemmbrett dabei und ging am Stock. Stellte sich heraus, dass sie gestern von einer Leiter gefallen war. Es regnete in Strömen.
»Du kannst sicher nicht weit gehen, und ich bin immer noch nicht fit wegen der OP«, sagte ich. »Wir werden bestimmt nicht viele Unterschriften ergattern.«
»Ach, weiß nicht«, erwiderte Marion unverdrossen. »Die Leute haben bestimmt Mitleid mit uns. Wir können die ›Wir sind furchtbar alt‹-Trumpfkarte ausspielen.«
Da ich soeben ein kleines Vermögen für ein Facelifting ausgegeben hatte (oder es zumindest tun würde, wenn meine Bilder verkauft wurden), stand mir nicht der Sinn danach, ausgerechnet diese Karte auszuspielen. Aber ich schwieg dazu, und wir zogen los.
Erstaunlicherweise hatten wir binnen anderthalb Stunden an die fünfzig Unterschriften beisammen. Die Leute waren sehr erpicht darauf zu unterschreiben, vor allem, nachdem sie verstanden hatten, dass wir ihnen nichts verkaufen wollten, und ich wunderte mich, wie viele jüngere Leute an einem Montagnachmittag zuhause waren anstatt am Arbeitsplatz. Vielleicht ist doch was dran an den Meldungen vom »Hetzkurier«. Danach waren wir beide erschöpft und gingen zu mir, um eine Tasse Tee zu trinken. Und da legte Marion los. (Sie ist so ein lieber, warmherziger Mensch, aber wenn es einen Doktortitel für Jammern gäbe, dann hätte sie ihn auf jeden Fall verdient.)
»So viele Arbeitslose«, seufzte sie, als wir uns setzten. »Was ist nur aus der Welt geworden? Es ist zum Verzweifeln. Wusstest du, dass wir eine halbe Million Arbeitslose haben und so viele Alleinerziehende? Die Frauen werden schwanger, damit sie eine Sozialwohnung und das Kindergeld kriegen, aus keinem anderen Grund. Und dann geben sie es für Drogen aus.«
Ich wartete darauf, dass das Wasser kochte, während Marion fortfuhr: »Ganz ehrlich, die Leute können sich heutzutage auf gar nichts mehr konzentrieren, es ist einfach schlimm. Wenn wir erst mal tot sind, liest bestimmt keiner mehr ein Buch. Nur noch dieses Facebook und Twitter, weiß der Himmel, wie das ganze Zeug heißt, kein Wunder, dass sie in den Straßen randalieren, sie haben ja nichts zu tun und sind total materialistisch …«
»Lass uns die Unterschriften zählen«, sagte ich entschieden. »Und wir können uns glücklich schätzen, dass drei von denen versprochen haben, in ihrem Wohnblock selbst welche zu sammeln.«
»Ist es nicht traurig, dass sich heutzutage keiner mehr für irgendwas engagieren will?«, redete Marion unbeirrt weiter. »Früher haben wir ständig demonstriert und Petitionen verfasst und versucht, die Welt zu retten, und heute können die Leute nicht mal was unterschreiben, was man ihnen unter die Nase hält. Haben wahrscheinlich Angst. Wenn ich daran denke, wie wir in den Siebzigern waren, so voller Hoffnung, dass wir mit Liebe und Frieden die Welt verändern könnten, und nun schau dir das an …« Sie schüttelte trübsinnig den Kopf.
»Ach, na ja, wir sind ja sowieso alle bald tot«, sagte ich beruhigend. Ich kann das nicht mal bei der lieben Marion ertragen, wenn sich jemand über die guten alten Zeiten auslässt. »Oder wir werden von einer Seuche dahingerafft. Oder von einer Atombombe vernichtet. Oder das Internet bricht zusammen, was dann das Ende unserer bestehenden Zivilisation wäre. Damit wäre doch dann alles geregelt, nicht wahr? Schau dir die Kultur der alten Ägypter an. Spurlos vom Erdboden verschwunden.«
»Oh, sag so was nicht!«, erwiderte Marion.
Die Vorstellung vom Weltuntergang erschütterte sie so sehr, dass sie die Tischkante umklammerte und den Mund hielt. Ich kam mir ein bisschen gemein vor, deshalb dankte ich ihr besonders herzlich, als ich sie zur Tür brachte. Ich schaute ihr noch nach, wie sie mit ihrem Klemmbrett und ihrem Stock davonhinkte, und kroch dann ins Bett, um mich endlich auszuruhen.
6. Juli
Sehe zwar immer noch ziemlich eigenartig aus, habe jedoch beschlossen, Sylvie bei der Suche nach einem geeigneten Pflegeheim für Archie zu begleiten. Mrs Evans bleibt tagsüber bei ihm, und Harry, Sylvies Mann, ist auf Geschäftsreise. Ich fand es ziemlich rührend, dass Sylvie mich um Beistand bat.
Obwohl ich sie ausgiebig vorgewarnt hatte, dass ich mit Sonnenbrille und Tüchern antreten würde, um meine Blutergüsse zu verbergen, wirkte Sylvie etwas schockiert, als sie mich empfing. Sie versicherte mir aber höflich, in ein paar Wochen würde ich bestimmt großartig aussehen. Danach zeigte sie mir ein paar Prospekte und berichtete, dass keines der Heime, die sie bislang besichtigt hätte, infrage käme. Es blieben nur noch zwei übrig, und eines davon wollten wir uns jetzt anschauen. Es hieß »Residenz Abendlicht«, gehörte zu einer amerikanischen Kette und war in dem Teil von Devon gelegen, der immer als »sanfte Hügellandschaft« bezeichnet wird.
Die Residenz Abendlicht erwies sich als beängstigend nobel und bombastisch. Es gab einen See, einen Wald, einen riesigen Parkplatz für Besucher (auf dem hauptsächlich SUVs aus der Stadt standen) und sogar ein Café und einen Spielraum im Empfangsbereich für Familien mit Kindern. Das Ganze erinnerte an eine dieser Landhaus-Schönheitsfarmen, die in den Siebzigern so angesagt waren; ich hatte mal bei einer Verlosung einen einwöchigen Aufenthalt in so einem Ding gewonnen, und Penny hatte damals witzelnd gesagt: »Erster Preis: eine Woche in Luxus-Schönheitsfarm. Zweiter Preis: zwei Wochen.« Die Residenz Abendlicht bestand jedenfalls aus drei Gebäuden. Eines hieß »Haus Nachmittag«, und dort liefen jede Menge Leute in normaler Kleidung herum, die den Eindruck erweckten, als könne man sich mit ihnen unterhalten. Was wir aber beide nicht versuchten, weil wir zu nervös und verstört über das Ambiente waren, um zu sprechen.
Dann gab es »Haus Abend«, einen lang gestreckten, zweistöckigen Bau mit Blick auf den See. Und schließlich »Haus Abenddämmerung«, der Palliativpflege vorbehalten. Das war ein tristes von Kiefern umgebenes Gebäude mit wenigen Fenstern; es war einstöckig, für den Fall, dass jemand sich urplötzlich aus dem Fenster stürzen wollte. Wobei die meisten dort wohl dazu gar nicht mehr im Stande waren.
In den Häusern wurde uns plötzlich bewusst, wie erstickend heiß es überall war.
»Warum herrschen hier solche tropischen Temperaturen?«, fragten wir eine der Schwestern.
»Unsere Gäste haben häufig keinen inneren Thermostat mehr«, antwortete sie. »Hyperthermie.«
Sylvie und ich sahen uns an. Wie ich schon sagte, es war nirgendwo kälter als in Archies Haus.
Wir besichtigten eines der Zimmer, in denen auch Archie untergebracht sein würde. Hätte schlimmer sein können. Es war hell und mit einem hohen Bett mit vielen Hebeln ausgestattet, vermutlich für die Zeit, wenn er bettlägerig wurde und es selbst bedienen musste. Ferner ein hübscher Sessel und ein Stuhl für Besucher, ein Fernseher. Durch eine Doppeltür konnte man hinausgehen in einen kleinen von einer Mauer umgebenen Garten, bestückt mit roten und weißen Blumen, die aussahen, als hätte man sie erst an diesem Morgen gepflanzt. Sichtlich keine Calibans von der »Blütenpracht«-Gärtnerei.
»Was denkst du, Marie?«, fragte Sylvie, als wir aufbrachen. »Es ist schon trist, ich weiß, aber wenigstens ist es auf dem Land. Macht auch einen gut geführten Eindruck. Und das Personal wirkt sehr freundlich.«
»Finde ich auch«, antwortete ich. »Es ist schon Klassen besser als die meisten Altersheime, die ich bislang zu Gesicht bekommen habe.« Ich erinnerte mich an einen Besuch bei meiner Tante. In dem Heim hatte es überall nach Urin gerochen, und an ihre Stühle geschnallte alte Männer hatten nach ihren Müttern geschrien. »Wenn du dir das hier leisten kannst, ist es sicher das Beste, was man kriegen kann. Die Aussicht ist jedenfalls sehr schön.«
»Das andere Heim können wir uns sparen, denke ich«, sagte Sylvie. »Das hier ist bislang mit Abstand das beste. Und ich hab schaurige Orte gesehen, das sage ich dir!«
Ich legte auch keinen Wert darauf, mir das andere Heim noch anzuschauen, vor allem da ich schlagartig völlig erschöpft war – typisch nach einer Operation. Es kam mir vor, als könnte ich jeden Moment in Ohnmacht fallen.
»Ich werde ihn dort anmelden. O Marie, ist das nicht traurig!«
Ist es, aber da Archie wohl gar nicht mehr richtig merkt, wo er überhaupt ist, wird es ihm vielleicht nicht so viel ausmachen.
8. Juli
Habe fast den ganzen Tag im Bett gelegen, weil ich abends noch zurückgefahren bin und die Erlebnisse gestern mich sehr angestrengt haben.
Ich hoffte insgeheim, dass James die Sache mit der Installation inzwischen vergessen hatte. Aber heute rief er an, um zu fragen, ob er mir Abendessen vorbeibringen dürfe – was natürlich sehr nett ist, obwohl ich es inzwischen mühelos allein zubereiten kann –, und erkundigte sich dabei, ob er auch gleich seine »gefundenen Objekte« mitbringen dürfe. Ich sollte mich dann in den Garten setzen, während er die Objekte zusammenstellte, um mich »entstehen zu lassen«.
Er ist wirklich ein Goldschatz. Als er hereinkam, betrachtete er mich eingehend und sagte dann: »Na bestens, Süße! Ist ja prima geworden! Die Schwellung ist zurückgegangen, oder? Nur noch ein bisschen um die Augen, aber das ist auch bald weg. Was für ein Erfolg! Bist du nicht entzückt?«
Da James nun mein Gesicht sozusagen abgesegnet hat, kann ich auch die Skype-Kamera wieder einschalten, ohne dass Jack und Chrissie etwas merken werden. Bei Skype sieht ohnehin jeder so verzerrt aus, als hätte er sich liften lassen, da fällt es nicht auf, wenn es dann wirklich so ist.
»Und wie geht’s Ned?«, erkundigte ich mich.
»Gut!«, antwortete James emphatisch. »Und weißt du, was? Ich konnte ihn gestern wahrhaftig überreden, ein bisschen Butter zu essen! Ist das nicht toll! Vielleicht schaffe ich es sogar, aus dem Veganer einen Vegetarier zu machen. Und danach, wer weiß … Lammkoteletts, Steaks …«
»Wie wär’s mit gekochten Babys, leicht angebraten?«, sagte ich.
Im Garten packte James seine Sachen aus und wirkte angesichts meiner schockierten Miene ob seines Sammelsuriums etwas beunruhigt. Zum Vorschein kamen eine alte fadenscheinige Tagesdecke, diverse Wäscheklammern, ein paar rostige Rasierklingen, ein halbes Fahrrad, ein Fuchsschädel und ein ramponiertes Gehgestell.
»Du findest doch wohl hoffentlich nicht, dass diese Dinge wie ich aussehen!«
»Nein, nein, das wird ganz anders«, erwiderte James hastig. »Die habe ich nur als Inspiration mitgebracht.«
»Also, ich hätte erwartet, dass du einen Krug Wasser, einen Blumenstrauß, ein Stück Moos und ein Vogelnest oder irgendwas anderes Romantisches anschleppst, nicht diesen alten Plunder«, gab ich empört zurück.
»Ja, ja, es kommen noch ganz viel Moos und andere hübsche Sachen dazu«, versicherte James mir nervös, während er mit den Sachen herumfuhrwerkte. »Es geht jetzt erst einmal um die Grundstruktur. Das Gehgestell soll nichts aussagen. Es dient nur als Stütze.«
Ich ließ mich in einem wackligen Gartenstuhl nieder, beäugte argwöhnisch das Gerümpel und horchte auf das Bimmeln des Windspiels aus dem Nachbargarten, während Pouncer durch die Gegend sprang und Fliegen zu erlegen versuchte.
»Ist das nicht entsetzlich?«, bemerkte ich dann.
»Was denn?«
»Dieses Windspiel!« Um ein Haar hätte ich hinzugefügt: »Bist du taub?«
James legte geziert den Kopf schief. Dann sagte er: »Komisch – bis du es erwähnt hast, habe ich gar nichts gehört. Aber das klingt ja wundervoll – so beruhigend!«
»Beruhigend! Ich höre das andauernd. Ehrlich, diese neuen Nachbarn! Sie sind ja sehr nett, aber dieser Krach ist nicht sehr rücksichtsvoll, oder? Manchmal höre ich das Ding sogar schon in windlosen Nächten bimmeln. Womöglich muss ich umziehen.«
James schwieg, während er mit Drahtstücken herumhantierte und dann ein paar Zweige von einem Busch abbrach und sie in seltsamen Winkeln in den Fuchsschädel steckte.
»Du könntest nicht vielleicht mal eben über die Mauer springen und das Teil abnehmen, mein Engel?«, fragte ich. »Und das da sollen doch wohl nicht meine Haare sein, oder?«
James sah mich erschüttert an. »So etwas mache ich nicht. Nicht mal für dich, meine Herzkönigin. Ich will doch nicht verhaftet werden. Nimm das Teil doch selbst ab, wenn du es nicht magst!«
Was mich auf eine Idee brachte.
Später
Gegen Mitternacht, nachdem ich mir drei große Gläser Pinot Grigio zu Gemüte geführt und die Best of Aretha Franklin auf voller Lautstärke gehört hatte – dazu war ich ein bisschen durchs Wohnzimmer getanzt, um mir Mut zu machen, wie diese Maori-Rugbyspieler –, begab ich mich mit einer Schere und dem wackligen Klappstuhl in den Garten. Ich ging bis ans Ende, stellte den Stuhl an die Mauer, kletterte darauf, zog den Stuhl nach oben und ließ ihn auf der anderen Seite wieder hinab. Dann stellte ich mich drauf, stieg hinunter und schlich mit pochendem Herzen zu dem Baum, an dem das Windspiel hing. Ich hätte mir natürlich haufenweise Watte mitnehmen sollen, um die Laute zu ersticken, aber da ich ein Glas zu viel intus hatte und das Ganze eine Spontanaktion war, musste ich das Ding jetzt in meinen Rock wickeln. Danach stieg ich wieder auf den Stuhl und trat dabei prompt auf Pouncer, der mir gefolgt war, um nichts zu verpassen. Ich schrie auf, Pouncer gab ein schrilles »Miauuu!« von sich, und mein Fuß brach mit lautem Krachen durch die Sitzfläche des Stuhls.
Ich sage euch, als Einbrecherin bin ich eine Vollniete. Nur weil es nachts in Shepherd’s Bush so viel Krach und so viele Schreie gibt, kam niemand angelaufen, um die Ursache zu erkunden.
Irgendwie gelang es mir, die belastenden Überbleibsel des Stuhls einzusammeln und über die Mauer zu werfen und durch die Vorgärten in mein Haus zurückzukehren. Wo ich, angetrunken und vor Angst schweißüberströmt, überlegte, was ich nun mit dem Windspiel machen sollte. Da ich fürchtete, entlarvt zu werden, wenn ich es in meine Mülltonne warf oder im Haus behielt, umwickelte ich es mit Isolierband, schlich aus dem Haus und über die Straße und warf es in die große Mülltonne von Pfarrer Emmanuels Werkstatt-Kirche.
Zitternd legte ich mich ins Bett und rechnete damit, jeden Moment ein Klopfen an der Tür zu hören und von Polizisten verhaftet und in Handschellen gelegt zu werden. Ich sah schon förmlich die Schlagzeile des »Hetzkurier« vor mir, ergänzt durch ein unscharfes Bild von einer Überwachungskamera, auf der man mich im Nachthemd sieht, wie ich verstohlen das Windspiel in die Mülltonne werfe. Der Text dazu würde dann lauten: »DIEBISCHE RENTNERIN STIEHLT WINDSPIEL! Die 65-jährige Marie Sharp, von Nachbarn als wertvolles Mitglied der Gemeinde beschrieben, führt ein Doppelleben wie Jekyll und Hyde. Am Tage eine friedliebende pensionierte Kunstlehrerin treibt sie nachts ihr Unwesen im Viertel und stiehlt Gartendekor. ›Sie hatte ein Facelifting‹, sagt eine Nachbarin, die nicht genannt werden möchte. ›Vielleicht hat das ihr verrücktes Verhalten ausgelöst.‹ Die Polizei verhört Marie Sharp auch im Fall des aus einem Hospizgarten verschwundenen Gartenzwergs …«
Bin wieder aufgestanden, es ist drei Uhr nachts (Beginn der Sorgen-Zeit), und ich wünsche mir inständig, ich hätte das nicht getan. Aber jetzt ist es natürlich zu spät. Ich kann das Windspiel nicht aus der Mülltonne klauben, es vom Isolierband befreien, erneut über die Mauer klettern und es wieder aufhängen. Zumal mir nun mein treuer Stuhl nicht mehr zur Verfügung steht.
Ist das nicht furchtbar, wenn man etwas Schlimmes tut und es nicht mehr rückgängig machen kann? Die Last der Schuld! Fühle mich so schlimm, dass ich am liebsten im Schlaf das Zeitliche segnen würde.
4:00
Während ich schrieb, hörte ich plötzlich von irgendwoher Soul-Musik. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Wer hörte denn um diese Uhrzeit so laut Musik! Unglaublich. Ich versuchte, es zu überhören, aber es gelang mir nicht, und ich schleppte mich schließlich nach draußen, um festzustellen, wo der verfluchte Lärm herkam.
Als ich mich der Küche näherte, wurde die Musik immer lauter – und dann merkte ich, dass ich den CD-Player angelassen hatte, der nun immer wieder Aretha Franklin spielte. Ich brach in Gelächter aus, stellte ihn ab und stolperte zurück ins Bett.
9. Juli
Nichts von den Nachbarn gehört wegen des Windspiels, aber als ich heute aus dem Haus ging, kam Sharmie auch gerade heraus, und es war zu spät, um zurückzuweichen. Ich lächelte verkrampft und lief dabei rot an. Sie erwiderte das Lächeln, kombiniert mit einem wissenden Zwinkern. Ich bin aufgeflogen, dachte ich. Sie lächelte nur, weil sie längst die Polizei informiert hatte, die jetzt jeden Moment hier aufkreuzen würde. Und ihr Anwalt-Gatte war schon dabei, Beweise zu sammeln, um mich hinter Gitter zu bringen. Ich bemerkte ihren mitleidigen Blick, weil sie wusste, dass dies meine letzten Minuten auf freiem Fuße waren. Vielleicht bereute sie sogar kurz ihr Handeln … Doch nein.
»War wohl ’ne gute Party letzte Nacht, wie?«, fragte sie grinsend.
»Oh, tut mir sehr leid«, stammelte ich. »Das war meine Untermieterin. Ich habe sie zurechtgewiesen. Ich hoffe, es hat Sie nicht so schlimm gestört!«
»Ach was, wir schlafen alle wie die Murmeltiere«, sagte sie. »Sie sehen übrigens toll aus nach Ihrer OP! Muss mir den Namen Ihres Arztes geben lassen. Ach, und was hat es mit diesem Gerede über die Bäume in dieser Anlage auf sich? Die werden doch wohl dort kein Hotel hinbauen, oder?«
Und so konnte ich zum Glück auf ein anderes Thema ausweichen, eine Schmährede gegen den Stadtrat halten und sie und Brad zum nächsten Treffen des Anwohnervereins verdonnern. Rettung in letzter Minute.
12. Juli
Heute kam der neue Staubsauger an, in einem dieser Kartons, die so gigantisch sind, dass man auch eine Leiche darin verstauen könnte. Endlich. Ich riss ihn auf – was sich wie ein Ringkampf mit einem dieser gefährdeten Nashörner anfühlte – und stellte dann aufgebracht fest, dass ein Teil fehlte. Die Maschine als solche, in der dann der Staub und Schmutz landet, war vorhanden, dito diese Bürste, die alles aufsaugt, sowie diverse Ersatzbürsten und der Schlauch. Doch anstelle von zwei Plastikröhren zum Ineinanderstecken für den Schlauch war nur eine da.
Nachdem ich fast verrückt geworden war, weil ich die Nummer des Herstellers aus dem Internet herausgesucht und dann in einer Hotline stundenlang gewartet hatte, wurde ich schließlich zu einem Mann namens Nairit durchgestellt, der sich erkundigte, wie er mir behilflich sein könne.
»Das werd ich Ihnen sagen!«, schrie ich wütend, nachdem ich ewig auf dem Boden herumgekrochen war, um auf dem Gerät die Nummer des Fabrikats abzulesen, und mich dann durch die zerrissene Verpackung gewühlt hatte, um meine Auftragsnummer zu suchen, die in einem Plastikumschlag am Boden des Kartons befestigt war, und nachdem ich zum hundertsten Mal meinen Namen buchstabiert und meine Postleitzahl durchgegeben hatte. »Wochenlang habe ich darauf gewartet, dass Ihr verdammtes Gerät endlich geliefert wird, und nun fehlt ein Teil!«
Er fragte mich geduldig, welcher Teil denn fehle, und ich legte los. »Es ist einfach entsetzlich! Früher ging man in ein Geschäft, ein netter Mann verkaufte einem, was man brauchte, und erklärte es auch gleich noch«, tobte ich, nun komplett im »Hetzkurier«-Modus. »Und jetzt läuft das alles nur noch übers Internet, man wird nicht mehr richtig betreut, ich weiß nicht mal, wie Sie aussehen, Sie könnten genauso gut auf dem Mars sitzen … Man zahlt Geld, erwartet tadellosen Service von einer Firma wie der Ihren, man wartet Ewigkeiten, bis man die Ware in Empfang nehmen kann, und dann fehlt ein entscheidendes Teil! Bin ich wütend!«
Am anderen Ende herrschte Schweigen.
»Haben Sie die Bedienungsanleitung gelesen, Madam?«, fragte Nairit dann ruhig.
»Und das kommt noch dazu!«, schrie ich. »Da ist keine Bedienungsanleitung! Nur irgendwelche unsinnigen Bildchen mit Haken und Kreuzen, die für jeden normalen Menschen unverständlich sind!«
»Haben Sie eines der Plastikrohre?«, erkundigte sich Nairit.
»Ja. Aber was nützt mir das eine kurze Ding? Wäre ich nicht größer als eine Hand, also etwa so groß wie ein Kobold, wäre Ihr Staubsauger ideal für mich. Aber da ich nun mal ein voll ausgewachsener Mensch bin und nicht auf dem Boden herumkriechen möchte, um mein Haus zu säubern …«
»Schauen Sie doch bitte mal nach«, warf Nairit höflich ein, »ob sich auf der Außenseite des bei Ihnen eingetroffenen Plastikrohrs ein kleiner Knopf befindet. Wenn Sie den drücken, werden Sie feststellen, dass ein weiteres Rohr erscheint, das für die notwendige Länge sorgt.«
Jetzt war ich natürlich sprachlos. Ich stammelte und druckste herum und murmelte mürrisch, die Bedienungsanleitung sei unbrauchbar. Und als ich auflegte, kam ich mir wie eine komplett durchgedrehte Irre vor.
14. Juli
Oje, ein Teil von mir vermisst meine Familie so sehr, dass ich am liebsten manchmal zum Land’s End fahren, meinen Badeanzug anziehen, mich mit Gänsefett einreiben und dann so lange drauflos schwimmen würde, bis ich in New York bin. (Sehr unwahrscheinlich. Ich schaffe im Schwimmbad nicht mal eine ganze Länge.) Aber ihr versteht, was ich meine. Sie fehlen mir so sehr, dass ich es kaum aushalten kann.
»Es ist ganz anders hier, Oma«, sagte Gene entschieden, als wir beim nächsten Mal skypten. Ich hatte mein Gesicht mit Make-up zugepinselt und mich so weit von der Kamera weggesetzt, dass er mich nicht genau erkennen konnte. Er zögerte einen Moment. »Zu Kacka sagen die hier ›Scheiße‹, Oma. Das ist ein ganz ungezogenes Wort, oder?«
»Und wie ist dein Lehrer?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. Aber vielleicht war »Lehrer« gar nicht das richtige Wort. Vielleicht sagte man in Amerika »Tutor« oder »Dozent« oder »Erzieher« oder »Ausbilder«.
»Der ist richtig dumm«, antwortete Gene im Brustton der Überzeugung. »Er weiß gar nichts. Und jeden Morgen müssen wir so ein blödes Lied über Amerika singen, na ja, Dad sagt, es sei blöd. Es hört mit ›my home sweet home‹ auf, aber Dad meint, Amerika sei nicht unsere Heimat, sondern England.«
»Na, dein Dad hat sicher Recht«, sagte ich vorsichtig, »aber es ist schon wichtig, da mitzumachen, weil manche Leute sehr empfindlich sind, und wenn du denen sagst, du magst ihr Land nicht, dann benehmen die sich vielleicht ganz blöd. Ich meine, du würdest es doch auch nicht mögen, wenn jemand sagt, England sei blöd, oder?«
»Und zu Pommes sagen sie hier ›Fritten‹. Das ist auch doof, oder? Es sind doch Pommes, nicht Fritten.«
»Das ist bestimmt alles sehr verwirrend für dich«, entgegnete ich. Diese Geschichten zu hören tat mir in der Seele weh. »Ich wünschte, ich könnte bei euch sein und dich manchmal von der Schule abholen und so.«
»Es ist total kalt hier«, sagte Gene. »Wir haben Arcon und können es nicht runterschalten. Hast du auch Arcon, Oma?«
»Ich glaube, du meinst Aircondition«, erwiderte ich. »Das ist die Abkürzung für dieses Wort.« Das ist wieder so eine typisch blöde Bemerkung von Menschen, die Kinder nebenbei erziehen wollen. Es ist doch nun wirklich einerlei, ob es eine Abkürzung ist oder nicht.
»Also, unsres heißt Arcon«, erwiderte Gene bockig. »Was macht mein Pullover?«, fragte er dann. »Kann ich ihn sehen?«
Ich holte ihn. Mit Marions Hilfe hatte ich die Achselhöhlen bewältigt, und das Rückenteil war nun fertig,
»Der ist ja cool!«, sagte er und hörte sich dabei schrecklich amerikanisch an. »Wann wird er fertig?«
»Wahrscheinlich, wenn du zwölf bist. Schon viel zu groß, um noch was mit Elefanten darauf anzuziehen.«
»Also beeil dich«, sagte er streng. Dann: »Muss los … Dad ruft mich. Hab dich lieb, Oma.«
»Ich dich auch, mein Schatz«, sagte ich und pustete ihm ein Küsschen zu.
3:30
Kann heute Nacht vor Sorgen kein Auge zutun. Muss immerzu an meinen armen Gene denken, der so bedrückt ist und so sehr frieren muss. Einen Moment lang wünschte ich mir wahrhaftig, ich hätte Jack nicht bekommen, denn dann hätte Jack Gene nicht bekommen, und Gene müsste all das nicht durchleiden. Und ich auch nicht. Ich weiß allerdings auch, dass ich genau dasselbe über Jack gedacht habe, als er ganz bedrückt aus der Schule heimkam, weil er ungerecht behandelt worden war. Ich hatte das Gefühl, ich sei daran schuld. Entsetzlicherweise fing ich dann auch noch an, darüber nachzudenken, wie Gene als Erwachsener Kinder haben würde, die dann ebenfalls schrecklich leiden müssten. An diesem Punkt rief ich mich zur Vernunft, goss mir ein Glas Wasser ein und las das Horoskop im »Hetzkurier«, den ich auf dem Nachttisch liegen hatte. Zu meiner Erleichterung stand da: »Sie können sich nach Belieben Sorgen machen, doch sosehr Sie sich auch selbst quälen, werden Sie den Aufstieg des Uranus nicht aufhalten, der aus Ihren wildesten Träumen Wirklichkeit machen wird.« (Ich hoffte nur, dass damit nicht meine aktuellen Träume gemeint waren.) »Ihnen steht die glücklichste und friedlichste Phase Ihres Lebens bevor. Für mehr Informationen über Ihre wunderbare nächste Woche rufen Sie bitte folgende Nummer an, und ich sage Ihnen als Steinbockgeborenem Ihre Zukunft voraus. Anrufe aus dem Festnetz 75 Pence pro Minute, Mobil je nach Anbieter.«
Am Ende der Spalte fand sich ein merkwürdiges gezeichnetes Porträt des Astrologen, eines halb glatzköpfigen Mannes, der mit stechendem Blick auf eine Tabelle der Tierkreiszeichen starrte.
Das Ganze war zwar wirklich dumm, aber ich fühlte mich trotzdem besser. Ich schluckte ein halbes Temazepam, starrte auf meinen Bücherstapel und überlegte, ob ich Letters to Monica von Philip Larkin weiterlesen sollte, mit dem ich in diesem Monat angefangen hatte. Schließlich entschied ich mich dagegen und schlief endlich ein.
20. Juli
Ein Glück; inzwischen finde auch ich selbst, dass ich ziemlich normal aussehe. Einige der Blutergüsse sind jetzt zum Halsende gewandert, was den Eindruck macht, als hätte mich jemand erwürgen wollen, aber wenn ich ein Tuch oder einen Rolli trage, fällt das nicht weiter auf. Ich sehe nur noch ein klein bisschen verquollen aus und habe beschlossen, keinen Hehl aus dem Lifting zu machen – wenn ich in die Staaten fahre, werde ich Jack davon erzählen. Ich möchte ihn nur nicht vorher beunruhigen. Übrigens will ich nicht deshalb offen damit umgehen, weil ich ein besonders aufrichtiger und mutiger Mensch bin. Sondern weil ich die Vorstellung nicht leiden kann, dass die Leute hinter meinem Rücken über mein Lifting tratschen, als wäre ich eine alberne, eitle, alte Frau, die heimlich versuchen will, die Zeit zurückzudrehen. Alle sollen wissen, wie alt ich bin und dass ich ein Facelifting hatte. Und wenn sie was dagegen haben, dürfen sie gerne heimgehen.
23. Juli
Sharmie, Brad und Alice waren gerade hier, und sie sind absolut entzückend. Mit typischer amerikanischer Großzügigkeit brachten sie eine Flasche Sekt und Pralinen und einen riesigen Strauß Rosen mit, und ich kam mir furchtbar schäbig vor, weil ich nur warmen Weißwein, Oliven und Cracker anzubieten hatte. Und außerdem ihr Windspiel vernichtet hatte.
Alice ist ein süßes Mädchen. Sie stürzte sich sofort auf die Kiste mit Genes Spielsachen, die im Wohnzimmer steht, und vertiefte sich in eine aufregende Geschichte, in der ein Plüschkänguru, ein orangefarbener Frosch und ein blauer Hase mitspielten. Ich sah, dass dann auch noch ein Plastik-Batman auftrat, und sehnte mich danach, mit ihr am Boden zu hocken und in ihre Fantasiewelt einzutauchen. Aber die Erwachsenenwelt hatte mich in den Fängen, und ich erstattete ihren Eltern Bericht über unser Viertel. Ich weihte sie in die Sache mit der Grünanlage ein und berichtete von meinem Baumgemälde-Projekt. Brad erbot sich sofort, als Gutachter anzutreten, sollte es zu Ermittlungen kommen. Beide wollten unbedingt in den Anwohnerverein eintreten. Dann erzählte ich von Pfarrer Emmanuels evangelischer Kirche und der Moschee, deren Gelände sowohl an ihren als auch an meinen Garten grenzte.
»Wir sind nicht so begeistert von der Moschee, Marie«, äußerte Brad daraufhin.
»Weißt du, was die gemacht haben?«, sagte Sharmie und nahm sich einen Cracker. »Sie haben doch wahrhaftig das Windspiel in unserem Garten abgeschnitten.«
»Kann ich nicht begreifen«, fügte Brad hinzu. »Ich meine, was kann man gegen ein Windspiel haben?«
»Wir glauben, dass es was mit deren Glaubensvorstellungen zu tun hat«, warf Sharmie ein. »Sie haben etwas gegen Musikinstrumente. Und vielleicht hat das Geräusch die Gebete gestört?«
»Aber wir unternehmen nichts«, ergänzte Brad. »Wir wollen keinen heiligen Krieg anfangen. Deshalb lassen wir es auf sich beruhen.«
»Vor allem Alice hat sich aufgeregt«, sagte Sharmie und nahm sich mit ihren makellosen Fingernägeln eine Olive. »Sie hatte dieses zauberhafte Windspiel von ihrer Oma in Florida bekommen. Und Oma hatte ihr gesagt: ›immer wenn du dieses Klingeln hörst, mein Schatz, kannst du an mich denken und weißt, dass ich an dich denke.‹ Ist das nicht süß?«
An diesem Punkt beschloss ich, mich in japanischem Stil zu entleiben. Ein Geschenk der Großmutter! Hätte ich das gewusst, hätte mich das Geklimper doch nicht gestört! Ich wurde rot und röter und war kurz davor, alles zu gestehen, als Alice sich zu Wort meldete. »Aber Oma schickt mir ein neues, und das hängen wir dann in meinem Schlafzimmer auf, damit diese schrecklichen Moschee-Leute nicht drankommen!«
»Gute Idee!«, sagte ich mit erstickter Stimme.
Zu allem Überfluss wollten sie dann auch noch unbedingt meine vier Baumbilder sehen, die ich bislang gemalt hatte, und überschlugen sich fast vor Begeisterung. Brad erkundigte sich sogar, ob er alle Bilder kaufen könne, wenn der Zyklus vollständig sei. »Als Andenken an unsere schöne Zeit in London«, fügte er hinzu.
Als sie aufbrachen, fühlte ich mich so entsetzlich, dass ich bereitwillig schnurstracks in die Hölle marschiert wäre, wenn Pfarrer Emmanuel mir die Pforte gezeigt hätte.
24. Juli
Soeben war wieder ein Treffen des Anwohnervereins, und Sharmie und Brad von nebenan haben auch teilgenommen. Brad erweist sich als genial. Er hat nur einen Blick auf die Website des Stadtrats geworfen und alle entscheidenden Punkte des Planungsrechts auf einen Blick erfasst. Dann hat er einen brillanten Brief entworfen, in dem er Unterabschnitt 5 aus den eigenen Planungsrichtlinien des Stadtrats zitiert und darauf hinweist, dass es gemäß Punkt 19 a in der Planungsvorgabe für den Bezirk gegen die eigene Politik verstößt … oder so. Ich verstehe kein Wort, aber Penny meint, es sei alles exzellent, was natürlich eine große Hilfe für uns ist.
Heute Morgen hatte ich einen verblüffenden Brief von dem Investor des geplanten Hotels bekommen, in dem er um ein Treffen mit den Anwohnern bat. Als ich der versammelten Truppe davon berichtete, gab es Freudenschreie wie bei den Römern, wenn man den Löwen wieder ein paar Christen zum Fraß vorwerfen wollte.
»Ja! Auf ihn mit Gebrüll!«, schrie Sheila die Dealerin, von Rauchschwaden umnebelt. »Dem werd ich die Meinung geigen!«
Pfarrer Emmanuel saß als Einziger still da, vermutlich in erbaulichen Gedanken versunken.
Unsere Petition war ellenlang geworden, weil alle möglichen Leute ihrerseits Unterschriften gesammelt hatten. Sogar Pfarrer Emmanuel brachte dreißig Unterschriften von seinen zum Höllenfeuer verdammten Schäfchen an. Sheila die Dealerin hatte um die einhundert ergattert – ich weiß nicht, wie, aber es gibt wohl eine Menge Leute, die ihr »einen Gefallen schuldig« sind. Kann mir gut vorstellen, wie sie ihren Crack-Süchtigen, die hohläugig vor ihrer Tür Schlange stehen und um Nachschub betteln, mitteilt: »Erst wenn du diese Petition unterschrieben hast, Freundchen!« Alles in allem haben wir fünfhundertsechzig Unterschriften beisammen, so dass der Stadtrat unseren Widerstand wohl kaum mehr ignorieren kann.
Penny wird die Petition kopieren, und am Donnerstag werden wir damit beim Stadtrat vorstellig.
25. Juli
Als ich heute Morgen aufgewacht bin, war nicht nur der Boiler kaputt, und es gab kein heißes Wasser mehr, sondern der »Hetzkurier« verkündete auch noch: »KINDERHURE! Prostituierte aus Loughborough hat zehn Kinder von acht verschiedenen Vätern, alle Sozialschmarotzer …« Schönen Dank auch. Das will ich wirklich nicht wissen. Ich muss den »Hetzkurier« wohl doch abbestellen. Wie oft habe ich mir das schon vorgenommen? Er hat eben den außergewöhnlichen Effekt, einen zugleich aufzuputschen und runterzuziehen.
Heute Nachmittag kam der Klempner und starrte auf meinen Boiler. Wir absolvierten die üblichen Fragen wie: »Wer hat den installiert? Wieso ist er so eingestellt? Er soll doch wohl nicht den ganzen Tag eingeschaltet sein? Wieso ist die Kontrolllampe aus? Wie hoch ist Ihr Wasserdruck?« Alles Fragen, bei denen mir – wie bei den Computerfragen – ganz übel wird vor Angst. Aber dann gelang es ihm doch, das Ding wieder in Gang zu bringen, wobei er allerdings verkündete, die Heizkörper müssten entlüftet werden, und ein Röhrensockel könnte undicht sein, weshalb der Boiler an Druck verliere. Der Mann hätte ebenso gut Japanisch sprechen können. Er marschierte durchs Haus, suchte nach undichten Stellen und entdeckte schließlich in Michelles Zimmer unter Bergen von schmutziger Unterwäsche einen undichten Heizkörper, aus dem bereits Wasser in den Teppich gesickert war.
»Hier ist Ihr Problem«, äußerte der Klempner mit ausdrucksloser Stimme.
Ich wünschte, jemand könnte meine Heizkörper entlüften, dachte ich. Und meine undichten Stellen reparieren. Ich habe schon beim Aufstehen das Gefühl, dass ich an Druck verliere.
27. Juli
Heute Morgen traf das Geld vom Verkauf der drei Gemälde und der Brosche bei der Auktion ein. Wundersamerweise alles in allem neuntausend Pfund, so dass ich nicht nur meine Schulden bei Mr P bezahlen, sondern vom Rest auch noch auf manierliche Weise in die Staaten fliegen kann.
Ich war so entflammt von dieser Idee, dass ich sofort im Internet nach Flugverbindungen Ausschau hielt. Muss sagen, dass die Vorstellung, meine Familie wiederzusehen, mich enorm beflügelte.
Jack freute sich riesig, als ich es ihm beim Skypen abends erzählte.
»Ach, das ist ja toll, Mom!«, sagte er und rief Gene und Chrissie, die in einem anderen Zimmer waren, laut zu: »Mom kommt zu Besuch!«
Ich war ein bisschen erstaunt, dass er sich wirklich so sehr freute. Vermisste er mich womöglich? Vermutlich eher London.
»Wann?«, fragte er. »Komm bald. So bald du kannst. Im nächsten Monat. Oder Anfang September, da haben wir ein paar Tage frei. Das wäre wunderbar.«
Gene kam in seinem Flugzeugschlafanzug hereingerannt und kletterte auf Jacks Schoß, um mitreden zu können.
»Oma, Oma!«, rief er. »Kommst du uns besuchen? Ich kann dir meine neue Schule zeigen! Und nächste Woche gehen wir zelten! Es ist so cool hier! Wir gehen mit dir aufs Empire State und machen eine Bootsfahrt. Dad, können wir mit Oma Boot fahren, bitte, bitte, hast du mal versprochen …«
Genes schlagartige Begeisterung für New York veränderte meine Stimmung natürlich komplett, als mir klar wurde, dass er ganz verrückt war nach der Stadt. Aber ich lächelte tapfer weiter, und nachdem wir die Termine geklärt hatten, war mir plötzlich nach Tanzen zu Mute. Ich legte in der Küche eine alte Dr. John-CD auf und sprang durch die Gegend wie eine Verrückte.
28. Juli
Als Penny heute Morgen bei mir klingelte, war ich schon wieder am Tanzen. Schwitzend und keuchend machte ich ihr die Tür auf.
»Was um alles in der Welt hast du denn getrieben?«, fragte sie.
»Getanzt! Ich fliege nach New York! Ist das nicht toll?«
»Wann?«
»Ich hoffe im September.«
»Oh, dann verpasst du aber meinen Geburtstag!«, sagte Penny, die das alles nicht erfreulich zu finden schien.
»Aber du kannst deinen Geburtstag doch gar nicht leiden«, erwiderte ich verdattert.
»Ach, ich hatte nun schon so viele von denen, dass ich aufgehört hab, sie zu hassen«, erklärte Penny.
Wir sortierten die Papiere für die Petition auf dem Küchentisch und steckten sie in einen Hefter, damit unser Antrag ordentlich und professionell wirkte.
Der Bus zum Rathaus war ziemlich voll, und eine junge Frau mit Kopfhörern bot Penny ihren Sitzplatz an, den Penny aber ablehnte.
»Ich bin doch nicht altersschwach!«, murmelte sie wütend, während sie sich an der Haltestange im Bus festklammerte. »Wie kann die es wagen, mir ihren Platz anzubieten!«
Als wir ausstiegen, nahm ich sie mir zur Brust. »Du hast wirklich schlechte Manieren! Wenn jemand dir einen Platz anbietet, solltest du ihn gefälligst annehmen, auch wenn du dich dann alt fühlst. Man muss junge Leute darin bestärken, höflich zu sein, und wenn man ihre Hilfsangebote ablehnt, entmutigt man sie. Ich wünschte, sie hätte mir den Platz angeboten! Ich hätte ihn sofort angenommen!«
»Tja, aber dir hätte sie wohl keinen angeboten, oder?«, fauchte Penny mich an. »Weil du ja jetzt so jung aussiehst, nicht wahr!«
Wir marschierten in eisigem Schweigen weiter, doch nachdem wir die Petition eingereicht hatten, war unser Ärger verflogen.
»Ja, na schön, ich werd solche Angebote in Zukunft annehmen«, brummte Penny auf dem Rückweg.
»Tut mir leid, dass ich so grantig war«, sagte ich.