September

1. September

War eben beim Notar. Er wird einen Entwurf von meinem Testament machen. Ich habe einen wunderbaren Notar, einen richtig altmodischen mit Schlips und Kragen, der zwischen Bergen von Papieren in einem schäbigen, staubigen Büro hockt. Er heißt Mr Rankle und hat einen weißen Schnauzbart, und ich kann nur hoffen, dass er lange genug lebt, um mit diesen Aktenbergen fertigzuwerden. Er besitzt nicht mal einen Computer. Weiß der Himmel, wie er heutzutage noch zurechtkommt. Er schreibt vielleicht nicht mehr mit Federkiel, aber das würde gut zu ihm passen.

Wir plauderten ein bisschen über unsere Familien, dann legte er sich ein Blatt Papier zurecht. »Nun, dann wollen wir mal beginnen.«

Er sagte Dinge wie: »Stellen wir uns das Undenkbare vor: Jack stirbt vor Ihnen.«

»Stellen wir uns das Undenkbare vor: Jack hat einen Nervenzusammenbruch und wird danach spielsüchtig.«

»Stellen wir uns das Undenkbare vor: Chrissie bekommt Multiple Sklerose und hat eine Affäre.«

Der Gute entwarf so viele grauenvolle Szenarios – die sich bei seinen Klienten wirklich ereignet hatten, wie er mir versicherte –, dass ich nur lachen konnte.

»Können wir uns dagegen absichern, dass ich einen Nervenzusammenbruch habe, danach komplett plemplem bin und mein Geld auf der Straße verstreue oder es einem jungen afrikanischen Gigolo schenke, den ich aus Gambia mitgebracht habe?«, fragte ich.

»Interessanter Gedanke«, erwiderte Mr Rankle. »Genau das ist einer Klientin von mir vor einigen Jahren passiert. Für solche Fälle ist es immer gut, wenn man jemandem eine Vollmacht erteilt hat.«

Inzwischen konnte ich mich vor Lachen nicht mehr halten, und er fing auch zu kichern an und konnte nicht mehr aufhören. Das Thema Tod ist vermutlich so beängstigend, dass man es entweder verdrängen muss oder unglaublich komisch findet.

»Haben Sie Pläne für Ihre Bestattung?«, fragte er schließlich, nachdem wir eine Patientenverfügung gemacht hatten, aufgrund derer Jack den Ärzten sagen darf, dass sie die Maschinen abschalten können, wenn ich gehen will – dieses Thema scheint mir keine Ruhe zu lassen.

Ich antwortete, jetzt reiche es mir erst mal mit Tod, und ich würde es mir übers Wochenende überlegen. Bestattung. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Vorstellung, ohne Trara in einer Kiste aus recyceltem Karton auf einer stillen Waldlichtung begraben zu werden, oder aber mit Pomp und Gloria und geschmückten Pferden in der Westminster Abbey. Deshalb überlasse ich die Entscheidung darüber Jack.

Das ist bestimmt am besten.

Man kann schließlich die Welt vom Grab aus nicht mehr lenken (und sollte es auch nicht versuchen).

3. September

Penny ist sehr beunruhigt, weil wir wegen der Petition nichts vom Stadtrat gehört haben – und auch niemand mehr etwas von den Hotelplänen verlauten lässt. Wir wissen also nicht, ob sie nun bewilligt wurden oder nicht. Inzwischen müssten sie ja bearbeitet worden sein. James hat Ned gefragt, ob er irgendetwas herausfinden kann, und laut Neds Spionen weiß der Investor nun von der Unterschriftenliste und hat einen etwas veränderten Plan vorgelegt. Offenbar aber nicht so stark verändert, dass erneute Rücksprache mit den Anwohnern rechtlich notwendig wäre. Deshalb sind wir jetzt alle sehr nervös. Wir befürchten, dass der Stadtrat mit dem Investor unter einer Decke steckt und diese kleinen Veränderungen verlangt hat, um unsere Petition außer Kraft zu setzen. Ich wette, jemand im Stadtrat wird bestochen. Oder der Investor hat den Stadträten vielleicht die neuen Parkplätze versprochen. Wäre durchaus denkbar. Schleimiger Widerling.

In gut drei Wochen fliege ich nach New York, und heute war James schon mal da, um sich alles anzugucken, weil er sich um Pouncer und das Haus kümmern wird, während ich weg bin. Michelle ist ein paar Wochen in Polen bei Maciej. Einerseits sicherlich, um ihn zu sehen, aber andererseits bestimmt auch, um ihn bei der Stange zu halten. Ich befürchte allerdings das Schlimmste.

Natürlich habe ich Angst, dass während meiner dreiwöchigen Abwesenheit Drogendealer hier einbrechen und meinen Computer stehlen, dass Pouncer verendet, weil er von einer Horde orientalischer Schaben überfallen wird, dass Rohre platzen und die wenigen verbliebenen Pflanzen im Garten verdorren. Es dauerte Ewigkeiten, James alles zu erklären, aber er machte sich Notizen, und ich ließ ihn mehrmals die Alarmanlage ein- und ausschalten, damit er es beherrschte.

»Wenn du zurückkommst, habe ich eine große Überraschung für dich«, sagte er geheimnisvoll.

»Oh, das Kunstwerk vielleicht?«, fragte ich so enthusiastisch wie möglich.

»Sag ich nicht«, antwortete James. »Du musst dich in Geduld fassen.«

»Wollt ihr heiraten, Ned und du?«, hakte ich hartnäckig nach.

»Das wird leider immer unwahrscheinlicher«, gab er betrübt zu. »Es ist nämlich so: Je mehr ich ihn von seiner veganen Ernährung abbringe, desto mehr verändert er sich. Neulich hat er in der Uxbridge Road lüstern eine Frau beäugt, nachdem er ein Stück Schellfisch gegessen hatte.«

»Eine Frau? Ich dachte, er sei total schwul.«

»Hm … ich bin mir nicht ganz sicher. Er war jedenfalls als junger Mann mal verheiratet. Es könnte sein, dass er bisexuell ist, was ziemlich schwierig wäre. Nein, du wirst ihn mir nicht wegschnappen«, fügte er dann, halb im Scherz, hinzu. »Er sieht jedenfalls toll aus, oder?«

»Penny und mich erinnert er immer an eine Birke«, gestand ich.

James lachte. »Und was für ein Baum wäre Penny?«

»Ein Kirschbaum. Nicht in bester Form, aber man kann sich darauf verlassen, dass er immer wieder ganz überraschend eine bezaubernde Blütenfülle hervorbringt. Du bist auf jeden Fall eine Kiefernart.«

»Groß und langweilig, du musst es nicht betonen«, sagte James ergeben.

»Keineswegs«, erwiderte ich. »Beständig, gut duftend, immergrün …« Viel mehr lässt sich über Kiefern tatsächlich nicht sagen.

»Hm, und ich glaube, du wärst eine Platane«, meinte James. »Du spendest schützenden Schatten, bist stark und zuverlässig und eine echte Stütze für die Umwelt – vor allem durch deinen Einsatz gegen die Hotelpläne.«

»Oh, danke!«

Sonderbarerweise freute ich mich wirklich darüber. Platanen habe ich immer schon geliebt. Neulich sah ich auf der Straße, wie eine verrückte Inderin – und ich meine, wirklich verrückt – in einem gelbroten Sari mit ihren langen Fingernägeln die Rinde einer Platane abriss.

»Hören Sie sofort auf damit!«, sagte ich zu ihr. »Sie töten den Baum!«

»Nein, das tut ihm gut«, versetzte sie und sah mich mit ihrem irren Platanenrinde-Zerstör-Blick an. »Er mag das.«

»Nein, er mag das nicht«, erwiderte ich streng. »Wenn Sie nicht sofort aufhören, melde ich Sie bei der Umweltbehörde!«

Darauf schlich sie davon.

Höchst absonderlich.

5. September

Den ganzen Tag mit Packen verbracht. Das ist lächerlich, ich weiß, weil ich ja erst in gut drei Wochen wegfahre. Aber je älter ich werde, desto früher fange ich mit Kofferpacken an. Als ich noch jünger war, warf ich am Vorabend der Reise irgendwas in meinen Koffer, und das war’s dann. Aber jetzt hole ich mein Gepäck schon Ewigkeiten vor dem Reisetermin aus dem Elefantenschrank. War im Spielwarenladen und habe für Gene eine ungeheure Menge an Dinosaurierbastelsets, Origami-Büchern, Metall-Geduldspielen gekauft, alles Mögliche, womit wir uns in der Wohnung oder in ihrem »Apartment«, wie sie es nennen, beschäftigen können. Habe sogar einen Drachen erstanden, in der vagen Hoffnung, dass wir ihn im Central Park steigen lassen können. Und außerdem muss ich inzwischen immer eine halbe Apotheke mitschleppen, wenn ich verreise. Es bleibt kaum mehr Platz für Kleidung.

Habe mein Passfoto betrachtet und muss sagen: Ich sehe nach dem Facelifting wirklich anders aus. Sollte wohl ein neues Passbild machen lassen. Ich hoffe, sie verweigern mir nicht die Einreise, weil ich zu jung aussehe. Wäre das nicht furchtbar? Furchtbar und höchst befriedigend zugleich.

7. September

David hat angerufen und gefragt, ob er einen ferngesteuerten Helikopter vorbeibringen kann, den er für Gene gekauft hat. Als ich ihm öffnete, starrte David mich verblüfft an.

»Liebe Güte, siehst du aber gut aus! Was ist passiert? Du siehst umwerfend aus!«

Ich berichtete vom Lifting, und danach warf er mir immer wieder verstohlene Blicke zu. »Du siehst fast so aus wie damals, als wir uns kennen lernten«, sagte er wehmütig. »Weckt Erinnerungen … wir hatten es auch gut zusammen, nicht wahr? Immer mal wieder?«

»Na klar!«, antwortete ich. Aber dann fragte ich ihn, wie er die Situation von Jack und seiner Familie einschätzte, und er antwortete: »Hm. Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie schon längst wieder hier wären. Kann immer noch passieren. Aber ich muss sagen, Jack scheint sich wohlzufühlen, wenn ich mit ihm spreche, und Gene geht jetzt sehr gern auf seine neue Schule …«

Das war das Allerletzte, was ich hören wollte.

20. September

Habe ein schlechtes Gewissen, weil ich Archie in letzter Zeit nicht besucht habe, aber Sylvie meint, ich solle mir keinen Kopf machen, er würde doch ohnehin niemanden mehr erkennen. Das weiß ich auch; ich habe aber trotzdem das Gefühl, ich sollte ihn besuchen, um meiner selbst willen. Na, ich werde sofort nach meiner Rückkehr hinfahren.

Aber ich war so beschäftigt mit Packen, dass ich gar nicht zum Tagebuchschreiben gekommen bin. Bald geht’s los. Musste ein Vermögen für die Reiseversicherung hinblättern. Ab einem bestimmten Alter wollen einen die Versicherungen nicht mal mehr mit der Kneifzange anfassen. Die meinen, ab dem Tag, an dem man fünfundsechzig wird, wird man krank und fällt von Leitern und kostet sie Riesensummen – was natürlich auch stimmt.

Auf dem Weg zum Friseur, wo ich mir vor der Reise noch die Haare machen lassen wollte, ging ich beim Zeitungshändler vorbei, um die Zeitung bis zu meiner Rückkehr abzubestellen. Als ich wieder rauskam, konnte ich einfach den Wagen nicht mehr finden. Es war wie verhext. Ich ging die Straße entlang, wo ich ihn meiner Ansicht nach geparkt hatte, und auf der anderen Seite wieder zurück, und es wurde später und immer später, und ich war sicher, dass mein Termin beim Friseur gerade verfiel. Also drückte ich den Knopf an meinem Schlüssel, in der Hoffnung, dass mich eines der Autos so auffordernd anblicken würde, als begrüßte es einen Freund – aber nichts dergleichen geschah. Alle Autos kehrten mir den Rücken zu, als wollten sie mich schneiden. Dann wollte ich mit meinem Handy bei meiner Friseurin anrufen, um meine Verspätung zu melden, aber der Akku war leer, und ich musste nach Hause laufen, um sie von dort aus anzurufen. Als ich an meinem Gartentor stand, sah ich mein Auto auf der anderen Straßenseite. Ich hatte vollkommen vergessen, dass ich zu Fuß zum Zeitungsladen gegangen war. Also wirklich! Das Sonderbare am Älterwerden ist, dass man sich noch an das winzigste Detail des Ausgehkleids erinnert, das man als Dreijährige getragen hat – ich erinnere mich jedenfalls daran –, aber nicht mehr weiß, wo man vor einer Viertelstunde seinen Wagen geparkt hat.

26. September

Der letzte »Hetzkurier« vor meiner Abreise. »LUXUSLEBEN FÜR SERIENMÖRDER!«, lautete heute die Schlagzeile. »Barry Bastard, 28, zu lebenslänglich verurteilt, weil er im letzten Jahr acht Jugendliche zu Tode gequält hat, lebt wie ein Fürst: in jeder seiner vier ›Zellen‹ Plasmafernseher, Whirlpool, Internetzugang und Kaviar, serviert von Prostituierten, die ihm jederzeit zu Diensten sind. IST DAS GERECHT?«

Meine tägliche Dosis »Hetzkurier« wird mir fehlen.

Später

Sitze im Flughafen und warte auf den Abflug. Das ist das Tolle an einem Laptop. Man kann überall schreiben. Ich habe wieder einen schaurigen Thriller von Penny als Fluglektüre dabei, aber mit etwas Glück werde ich die Zeit zum Stricken nutzen. Habe das Vorderteil von Genes Pulli fast fertig.

Gestern Abend sehr netter Abschiedsumtrunk mit Penny und James. Penny meint, ich solle mich vor religiösen Eiferern in Acht nehmen. Es heißt, dass die speziell auf Überseeflügen missionieren, indem sie ihren Sitznachbarn einreden, wenn das Flugzeug nun abstürzen würde, hätten sie nicht ihren Frieden gemacht mit dem jeweiligen Gott, dem diese Leute anhängen. Nach sechs Stunden sei man dann so entnervt, dass man bereitwillig Mitglied bei den Mormonen, den Scientologen oder sonst irgendeiner durchgedrehten Sekte wird.

Halbe Stunde später

Großer Gott, was für ein Albtraum! Bin gerade durch die Security, und die haben mir meine Stricknadeln weggenommen! Ich bat und bettelte, aber die haben sie einfach mit verächtlicher Miene aus der Wolle gezogen und sie in eine durchsichtige Kiste fallen lassen, in der schon Nagelscheren, kleine Tuben mit Haarfestiger und andere Dinge lagen, mit denen man ein Flugzeug entführen kann. Ich hätte sie am liebsten umgebracht, musste mich jedoch beherrschen, weil sie mich sonst nicht ins Flugzeug gelassen hätten. In New York gibt es doch hoffentlich Stricknadeln? Oder womöglich nicht? Ich stelle mir New York als so extrem modern vor, dass man bei der Erwähnung des Wortes »Stricknadeln« ausgelacht und in eine dieser absurden Städte im Süden geschickt wird, wo die Leute allesamt Kleidung aus dem 18. Jahrhundert tragen müssen.

Später beschloss ich, mich aufzuheitern, indem ich an einem der Internetzugänge meine E-Mails checkte, und fand zu meinem Entsetzen eine Mail von Penny mit der Betreffzeile NOTFALL!!! vor.

Offenbar hatte der Stadtrat die Baupläne für das Hotel abgesegnet. Ich war am Boden zerstört. Genau in dem Moment, in dem wir unsere Kräfte bündeln mussten, war ich im Begriff, für drei Wochen nach New York zu verschwinden! Ich rief Penny sofort an.

»Was ist los?«, fragte ich. »Können wir nicht klagen? Das ist ja furchtbar! Hast du dich mit der Lokalzeitung in Verbindung gesetzt?«

Penny weinte fast vor Wut. »Gott, es ist zum Verrücktwerden, dass du jetzt gerade wegfährst! Soll ich alle zusammentrommeln? Was können wir tun?«

»Ja, trefft euch, und schreibt einen Brief an den Abgeordneten«, schlug ich vor. »Das ist auf jeden Fall eine Hilfe. Ladet die zuständigen Stadträte ein, und holt Journalisten dazu. Und organisiert eine Demo. Wir müssen präsenter werden.«

»O Gott, das schaffe ich nicht alles allein«, jammerte Penny.

»James soll dir helfen. Marion und Tim sind auch gut in so was und Sharmie und Brad sowieso. In den nächsten drei Wochen werden sie das Hotel nicht bauen, und wenn es zum Schlimmsten kommt, steige ich auf den Baum und bleibe da ein paar Tage. Mit einem Schild, auf dem in roter Leuchtschrift steht: IHR STADTRAT WILL DIESEN BAUM TÖTEN! Das wird sie zum Nachdenken bringen.«

Penny blieb einen Moment still. Dann sagte sie: »Das würdest du im Ernst machen? Tolle Idee.«

Ich hatte das natürlich nicht ernst gemeint, aber da ich sicher war, dass es so weit nicht kommen würde, erwiderte ich: »Na klar! Wenn ich zurückkomme, mache ich es wett, dass ich euch jetzt nicht helfen kann. Ach so, und«, fügte ich hinzu, weil mir einfiel, dass der Termin nahte, »ich wünsche dir schon mal einen schönen Geburtstag!«

Später

Ich hatte einen Gangplatz gebucht, aber es gab irgendein Durcheinander, und zum Glück erklärte sich der schnuckelige junge Amerikaner neben mir bereit, die Plätze zu tauschen. (Ich sage »jung«, aber er war vermutlich Ende vierzig. Komisch, wie für Menschen in meinem Alter auch Leute um die fünfzig jung wirken!) Bei diesen langen Flügen muss ich nämlich ständig aufs Klo und möchte die armen Menschen neben mir nicht andauernd aufscheuchen, vor allem, wenn sie schlafen.

Der junge Mann hatte wie ich sein Laptop vor sich, und wartete darauf, es nach dem Start einschalten zu können, weshalb ich annahm, dass wir uns eher nicht unterhalten würden. Aber dann sagte er beim Start plötzlich: »O Gott!«, als hätte er etwas vergessen. Zehn Minuten später kramte er in einer Tasche zwischen seinen Füßen herum und äußerte »Herr im Himmel«, was bei mir einen Lachanfall auslöste, weil es mich an Pennys Warnung vom Vorabend erinnerte. Es war mir enorm peinlich, dass ich da so vor mich hin lachte, aber schließlich blickte der Knabe mich amüsiert an und fragte: »Guter Witz? Mögen Sie ihn vielleicht erzählen?«

Ich fand ihn so sympathisch, dass ich es ihm so gut wie möglich erklärte, und er lachte auch und sagte: »Wegen meiner Flüche haben Sie also geglaubt, ich wollte Sie verführen, meiner Sekte beizutreten!« Er warf mir einen bewundernden und ziemlich vielsagenden Blick zu. Der Mann flirtete doch wahrhaftig mit mir. Da er mindestens zehn, vermutlich eher zwanzig Jahre jünger war als ich, klingt das albern, ich weiß, aber es gab keinen Zweifel daran.

Ich kann jetzt über ihn schreiben, da wir bald landen und er sich näher zum Ausgang gesetzt hat, weil er wegen eines wichtigen Termins schnell rausmuss, aber oh! Er war wirklich extrem attraktiv mit seinen brauen Haaren, diesem hinreißenden Lächeln und den dunkelblauen Augen. Er erinnert mich an einen Lover von mir aus den Sechzigern, und als mir das wieder einfiel, betrachtete ich ihn mit ganz anderen Augen. Es kam mir vor, als würde ich ihn schon mein Leben lang kennen. Als man jung war, hatte man eine ganz andere Wahrnehmung. Inzwischen ist es oft so, dass Menschen, die ich neu kennen lerne, mich an jemanden aus meiner Vergangenheit erinnern, und dann gehe ich mit ihnen so um wie mit dieser Person von früher.

Nachdem wir uns über die Evangelikalen unterhalten hatten, fragte er: »Und was führt Sie über den großen Teich?«

»Ich besuche meinen Sohn und seine Frau«, antwortete ich. »Und meinen Enkel.« Ich fand, ich solle das gleich dazusagen, bevor er nach meiner Telefonnummer fragte. Na klar, Marie, spinn dich aus.

»Aber Sie können doch keinen Enkel haben!«, rief er erstaunt und betrachtete mich eingehend von der Seite. »Sie müssen aber jung angefangen haben! Und Ihr Sohn auch! Ich heiße übrigens Louis, Louis Bravon. Ich lebe in New York und habe gerade meine Mutter besucht. Sie wohnt immer noch in England. Mein Vater war Professor an der Uni in Oxford – Spezialist für Sprachen des Mittelalters oder so was –, und meine Mom liebt England so sehr und hat so viele Freunde dort, dass sie nach seinem Tod da blieb.«

Er streckte mir die Hand hin, und ich erwiderte den Händedruck.

»Marie«, sagte ich.

»Marie?«

»Marie Sharp.«

»Und was machen Sie beruflich, Marie?«

»Ich wa… bin Lehrerin.«

Komisch. Als ich jünger war, wusste ich auf die Frage nach meinem Beruf nie, was ich antworten sollte. Manchmal sagte ich dann: »Ich unterrichte.« Weil es sich immer falsch anfühlte zu sagen: »Ich bin Lehrerin.« Vermutlich weil ich so mittendrin steckte in meinem Leben, dass ich gar nicht genau wusste, was ich eigentlich war. Erst seit ich pensioniert bin, kann ich das gesamte Bild erkennen. Und wenn ich jetzt zurückschaue, stimmt das Wort plötzlich. Ich war tatsächlich Lehrerin.

»Und Sie?«, fragte ich.

»Raten Sie«, antwortete er.

»Arzt?«, fragte ich versuchsweise.

»Arzt!«, sagte Louis entsetzt. »Großer Gott, nein! Das mag ja bei Ihnen in England anders sein, aber in den Staaten sind Ärzte Verbrecher, die nur darauf aus sind, einen aufzuschneiden, einem das gesamte Geld abzuknöpfen und einen dann wieder zusammenzuflicken. Nein, ich bin freier Journalist. Ein sogenannter Schreiberling.«

»Augenblick mal, ich dachte, Journalisten wären immer die Bösewichte, die Telefone anzapfen und trauernden Eltern Fotos von ihren Kindern stehlen.«

»Nein, ich bin ein guter Journalist.« Seine Augen funkelten schelmisch. »Ich sorge für Gerechtigkeit, decke üble Machenschaften auf und bin der Schrecken von Schurken und Gaunern.«

»Ein bisschen wie Batman.«

»Genau wie Batman«, erwiderte er. »Und noch mit einem Anteil Superman dabei. Sie sitzen in diesem Moment neben einer Kombi aus den beiden mächtigsten Superhelden der Welt.«

Der Mann war witzig, und er gefiel mir.

»Und welche Zeitungen lesen Sie so?«, fragte er mit einem Blick auf den »Hetzkurier«, den ich vor mir verstaut hatte.

»Ist mir echt peinlich«, sagte ich und deutete auf das Blatt, das aus der Sitztasche ragte.

»Die Zeitung, die einen zugleich aufweckt und runterzieht«, kommentierte er. »Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen. Das ist ein gut gemachtes Blatt mit einer fantastischen Auflage. Nicht mein Stil, aber man muss es dennoch bewundern.«

Er ging auf dem Laptop das Filmangebot im Flugzeug durch, und wir redeten nebenbei über Filme, die wir mochten – Das Schicksal in meiner Hand, Alles über Eva – und nicht mochten – The King’s Speech, alles von Almodovar und Mike Leigh – und waren uns in allem so einig, wie es geschieht, wenn verwandte Seelen aufeinandertreffen. Dann klickte er etwas an und sagte: »Hier – was ist damit – was halten Sie von dem? Bittere Quitten, vergiftete Seelen.« Bevor ich antworten konnte, hob er den Zeigefinger. »Das ist der große Test, Marie. Seien Sie vollkommen ehrlich. Oder kennen Sie den Film noch nicht?«

Obwohl bislang nur Penny mir beipflichtete, dass der Film völliger Mist sei, schien mir Ehrlichkeit angeraten. »Na ja, das wird Sie vermutlich erschüttern«, antwortete ich nervös, »aber ich bin nach der ersten halben Stunde rausgegangen. Ich weiß, dass alle den Film für ein Meisterwerk halten, aber ich habe ihn einfach nicht verstanden.«

»Darf ich Ihnen ein Glas Sekt ausgeben?«, rief Louis breit grinsend aus und klatschte in die Hände. »Ich habe den ganzen Erdball abgesucht nach jemandem, der diesen Film auch für Humbug hält, und Sie sind der einzige Mensch, der des Kaisers neue Kleider durchschaut hat! Das müssen wir feiern!« Er winkte einer Stewardess, und kurz darauf führten wir uns das Prickelwasser zu Gemüte.

»Ich kriege diese grauenvolle Eröffnungssequenz immer noch nicht aus dem Kopf«, sagte ich. »Diese arme Frau in dieser Tiefgarage. Und die Finger …«

»Die Szene mit dem Klavier haben Sie dann gar nicht mehr gesehen? O Gott, unerträglich! Ich habe den Streifen rezensiert. Das war der erste Text von mir, der nicht abgedruckt wurde. Die Redaktion sagte: ›So etwas können Sie nicht schreiben über einen ausländischen Film. Da stehen wir da wie die Idioten!‹ Also hat ein anderer ihn besprochen und in den Himmel gelobt. Nicht zu fassen.« Er hielt inne. »Und den kleinen Jungen haben Sie dann auch nicht mitgekriegt, oder?«, fügte er dann hinzu. »O mein Gott, dieser kleine Junge. Der war echt der Gipfel!«

Bevor er sein Gepäck aus dem Fach holte, um sich nach vorne zu setzen, fischte er eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche.

»Rufen Sie mich doch an, wenn Ihnen in New York mal langweilig ist«, sagte er. »Hat großen Spaß gemacht, sich mit Ihnen zu unterhalten. Ich hoffe sehr, dass wir uns wiedersehen.«

»Eher unwahrscheinlich, ich bleibe nur drei Wochen«, gab ich bedauernd zurück.

»Ach, man weiß nie«, erwiderte er munter. »Vergessen Sie nicht, dass ich Journalist bin. Einem guten Journalisten bleibt keine Tür verschlossen …«

Und damit schlenderte er nach vorne und ließ sein Sakko lässig an einem Finger über den Rücken hängen, was ich bislang nur im Film gesehen hatte. Als ich ihm nachschaute, hatte ich dieses mulmige Gefühl, das ich zuletzt gespürt hatte, als Archie mir vor Jahren sein Interesse an mir offenbarte. So etwas wie aufregende und zugleich verhängnisvolle Unvermeidlichkeit. Im Grunde hoffte ich, dass sich nichts daraus ergeben würde, denn ich bin gefühlte einhundert Jahre älter als er – oder knapp zwanzig, wie ich mir schnell anhand ein paar ins Gespräch eingestreuter Daten errechnet hatte.

Doch dann musste ich plötzlich an Archie denken, und ich fragte mich, wie es ihm wohl ging, und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich mit Louis so wohlgefühlt hatte.

Aber ganz ehrlich, dieses Lifting! Ich hatte es ja nicht machen lassen, weil ich Männer aufreißen wollte, doch das ist schon ein netter Nebeneffekt!

27. September

Endlich angekommen! Schreibe in meinem hübschen Zimmer bei Jack und Chrissie und bin ganz glücklich und aufgeregt.

Nachdem ich durch den Zoll war, schob ich meinen Gepäckwagen zum Ausgang und hielt nach Jack und Gene Ausschau, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Ich sah nur Menschenmassen – Inder, Russen, Chinesen – und weinende Kinder auf Kofferbergen und Scharen von Taxifahrern mit handgeschriebenen Abholschildern in der Hand – keines für mich. Einen furchtbaren Moment lang dachte ich, sie hätten vergessen, mich abzuholen. In meinen Ohren dröhnten Ansagen, Hupen, Geschrei und Gerede, und dann entdeckte ich plötzlich Gene hinter der Sperre. Er wurde von Jack hochgehalten und schwenkte ein großes, mit Sternchen beklebtes Schild, auf dem »WilKOmEN IN nEW YoRk omA!« stand. Er strampelte sich frei, duckte sich unter der Sperre durch, rannte auf mich zu, warf sich in meine Arme und hielt mich ganz fest. Dann erstarrte er kurz, weil er offenbar wegen seines Gefühlsausbruchs verlegen war. Aber als wir zum Ausgang gingen, ergriff er meine Hand und drückte sie kurz an seine Wange.

Dort nahm Jack mich in Empfang, umarmte und küsste mich liebevoll und sagte: »Komm, wir nehmen uns ein Taxi, Mom.« Draußen schlug uns eine Welle warmer Luft entgegen – es hatte offenbar sechsundzwanzig Grad –, und wir stiegen ins Taxi und hielten schließlich vor einem alten Wohnblock in der Upper West Side – wie Jack stolz verkündete. Wir fuhren mit dem Aufzug nach oben – »Fahrstuhl«, sagte Gene entschieden, »wir nennen das Fahrstuhl, Oma« – in ihre fantastische Wohnung.

Muss sagen: Sie ist viel schöner, als ich gedacht hatte. Skype präsentiert einem offenbar nicht nur von Menschen ein unvorteilhaftes Bild, sondern auch von Dingen und Wohnungen. Das Apartment erinnerte mich an die prachtvollen Londoner Altbauwohnungen – Flure, von denen geräumige Zimmer abgingen, und vom Wohnzimmer aus eine umwerfende Aussicht auf den Hudson.

»Grandios! Die müssen ja einiges von Chrissie halten!«, sagte ich.

Jack verzog das Gesicht und nickte. »Ja, das tun sie. Legen sich mächtig ins Zeug, um sie zu behalten. Wir müssen nur andeuten, dass wir wieder nach Hause wollen, dann erhöhen die ihr Gehalt oder bieten ihr einen neuen Firmenwagen an oder mehr Urlaub. Es ist geradezu lächerlich.«

Er zeigte mir mein Zimmer, das sehr behaglich war, und ich stellte gerührt fest, dass sie ein paar Sachen aus Brixton mitgenommen hatten. Die rot-grüne Tagesdecke von ihrem Bett zuhause. Die Nachttischlampe von meiner Mutter.

»Chrissie kommt dann am frühen Abend«, erklärte Jack, nachdem ich ausgepackt hatte. Ich ließ mich im Wohnzimmer in einen Sessel sinken, der sagenhaft bequem war. »Wir haben gedacht, wir könnten doch heute Abend ausgehen. Hättest du Lust? Wir könnten echt amerikanische Hamburger essen.«

»Und Fritten«, sagte Gene, als Jack in die Küche ging.

»Sagst du jetzt nicht mehr ›Pommes‹?«, fragte ich.

»Nur manchmal«, antwortete Gene. »Wo ist mein Pulli?«

»In meinem Zimmer auf dem Stuhl«, sagte ich.

Jack reichte mir ein großes Glas Wein. Ich meinte zwar, immer noch etwas beschwipst von dem Sekt mit Louis zu sein, aber Alkohol soll man nie ablehnen, finde ich. »Und du kannst auch deine Mitbringsel holen. Sie sind verpackt und liegen auf dem Bett. Aber Vorsicht mit dem Pulli, Schatz!«, rief ich Gene nach, als er losflitzte. »Er ist noch nicht fertig, und die haben mir am Flughafen die Stricknadeln geklaut!«

Als Gene mit den Sachen zurückkam, packte er alles aus und war begeistert vom Origami-Buch und den Geduldspielen und den Bastelsets. Nur den Drachen fand er irgendwie enttäuschend, aber irgendein Geschenk passt immer nicht richtig. Jack hatte ich ein Vintage-Hemd aus den Siebzigern mitgebracht, von dem ich wusste, dass es ihm gefallen würde. Dann nahmen wir uns den Pullover vor. Das war der Moment, auf den ich ewig gewartet hatte.

Doch unfassbarerweise erwartete uns ein echter Schock, als ich das Vorderteil an Genes Brust hielt. Es war viel, viel zu klein, und mir wurde ganz anders.

»Du kannst doch nicht so sehr gewachsen sein, mein Schatz!«, rief ich verzweifelt aus und zerrte an der Wolle.

Gene sah furchtbar enttäuscht aus. »Kann man ihn nicht auseinanderziehen?«, fragte er und zupfte selbst daran herum.

Doch es war nicht zu ändern.

»Ich fange nochmal von vorne an«, verkündete ich tapfer. »Ich war auch noch nicht ganz fertig. Die Ärmel fehlen noch. Und ich bin wirklich dumm. Ich hab einfach nicht gemerkt, wie groß du schon bist! Wir können ihn zusammen wieder aufziehen.«

Gene hielt die fertigen Teile fest, und ich rollte die Wolle auf. So viel Arbeit. Aber sie hatte jedenfalls Spaß gemacht. Und diesmal würde ich die Rippen am Saum gleich richtig hinkriegen – ich hatte nämlich einen Fehler gemacht, den ich dann nicht mehr korrigieren konnte. Und beim Muster war mir auch erst der letzte Elefant wirklich gelungen. Die anderen hatten mich an Zigarre rauchende Grauwölfe erinnert.

»Du siehst blendend aus, Mom«, meinte Jack lächelnd, als er mir Wein nachschenkte. »Ich hatte befürchtet, dass du vielleicht verhärmt wirken würdest, weil du uns so sehr vermisst.«

»Tja, also, ich muss dir etwas gestehen«, äußerte ich nervös. Und erstattete Bericht über das Facelifting.

Jack beugte sich verblüfft vor und betrachtete mich.

»Ein Facelifting!« Er wirkte etwas bestürzt. »Aber ganz ehrlich, Mom, warum hast du uns nichts davon erzählt, dass du eine größere Operation machen lässt?«

»Weil ihr euch Sorgen gemacht hättet«, antwortete ich. »Und weil du gesagt hättest, ich soll die Entscheidung aufschieben, bis ihr wieder bei mir seid, und weil Chrissie mir dann die ganzen Produkte gegeben hätte, die ich jahrelang hätte ausprobieren müssen, und weil ich mir einfach dachte, ich gönn mir mal was. Ich hoffe, dass du mich jetzt nicht für ein furchtbar eitles altes Ding hältst.«

»Gar nicht!«, sagte Jack. »Freut mich für dich! Du siehst großartig aus! Aber versprich mir, dass du so was nicht noch mal machst, ohne uns vorher Bescheid zu sagen. Wir hätten uns doch nicht eingemischt. Es ist schließlich dein Gesicht und dein Leben. Aber du siehst echt toll aus! Nicht direkt jung, aber einfach – na, so gut und gesund! Findest du nicht auch, Gene?«

»Was?«, fragte Gene, der am Boden in seine Spiele versunken war.

»Sieht Oma nicht toll aus?«

»Sie sieht aus wie Oma. Weiß nicht, was du meinst.« Er war damit beschäftigt, etwas mit Lego zu bauen. »Hilfst du mir, Dad? Bitte hilf mir.«

»Gleich. Also, ich kann’s ja gar nicht fassen! Meine alte Mom lässt sich liften! Chrissie wird völlig verblüfft sein!«

Das war sie auch. Aber nicht so verblüfft wie ich bei ihrem Anblick. Sie war immer schon wunderschön gewesen, doch nun sah sie wie ein Filmstar aus. Sie streifte ihre hochhackigen Pumps von den Füßen und umarmte mich herzlich.

»Wie kannst du mit diesen Schuhen arbeiten?«, fragte ich sie.

»Eine furchtbare Qual«, antwortete sie. »Das Einzige, was ich an meiner Arbeit nicht ausstehen kann, ist, dass ich die ganze Zeit so aussehen muss. Das ist so unnatürlich. Aber sie sagen mir halt, weil ich die Firma repräsentiere, muss ich immer perfekt aussehen. Ich hab ja nichts dagegen, mich für besondere Anlässe aufzustylen, aber jeden Tag …«

»Sie muss jeden Tag eine Stunde früher aufstehen als wir, um sich aufzubrezeln«, bemerkte Jack kopfschüttelnd. »Es ist der reinste Irrsinn.«

»Und ich bin so selten zuhause, das ist ein Jammer«, fügte Chrissie mit dumpfer Stimme hinzu. Gene hechtete sich auf sie, um sie abzuküssen. »Und wie findest du Gene?«

»Prima.«

»Und er hat bestimmt noch kein einziges Mal ›wow‹ gesagt, oder?« Sie wuschelte ihm durch die Haare.

»Wow«, sagte Gene. »Wow, wow, wow.«

»O mein Gott, was hab ich getan?«, rief Chrissie aus. »Tut mir furchtbar leid!«

28. September

Heute Früh musste Chrissie loslaufen und einen Kuchen kaufen, den Gene am Montag in die Schule mitnehmen sollte, weil jemand Geburtstag hatte und alle etwas mitbringen mussten.

»Ach, lass das doch«, sagte ich. »Gene und ich können gemeinsam Kuchen backen und sie dann glasieren. Das wäre doch viel lustiger, nicht, Schatz?«

Chrissie seufzte. »Ja, das wäre schöner, aber das haben wir einmal gemacht, und alle waren ganz entsetzt. Das liegt daran, dass Gene auf dieser Privatschule ist. Alle Eltern da sind stinkreich. Wir wurden regelrecht geächtet wegen dieses selbst gebackenen Kuchens. Man muss ihn kaufen, und weißt du, wie viel wir für ein Geburtstagsgeschenk für die Kinder aus Genes Klasse ausgeben müssen? Zwanzig Dollar! Zuhause haben wir irgendeine Kleinigkeit auf dem Markt geholt. Aber für so etwas wird man hier total schief angesehen. Sozialer Status ist furchtbar wichtig.«

Sie sauste los, und Jack fragte, ob er auch gehen könne, er hätte noch einiges an Arbeit zu erledigen, und so blieb ich mit Gene allein.

Ich komme nicht recht dahinter, ob Jack und Chrissie sich hier nun wirklich wohlfühlen oder nicht. Jacks Erwähnung, dass die Firma immer sofort mit Gehaltserhöhungen und so reagiert, wenn sie vom Weggehen sprechen, war mir nicht entgangen. Offenbar haben sie also ernsthaft darüber nachgedacht zurückzukommen. Und es ist auch ziemlich deutlich, dass sie keine echten Freunde gefunden haben und dass die Arbeit total anstrengend ist. Hier scheint das Leben sehr teuer zu sein, und ich weiß durchaus nicht, ob sie tatsächlich glücklich sind. Aber darüber kann ich nicht mit ihnen sprechen, weil es sonst aussieht, als würde ich sie zur Rückkehr überreden wollen – was ich natürlich auch will.

29. September

Gestern Nachmittag (bin immer noch müde vom Jetlag) Sightseeingtour mit Gene gemacht, der mir unbedingt das Empire State Building zeigen und mit der Fähre nach Staten Island fahren wollte. Beide Ausflüge sehr vergnüglich. Heute, am Sonntag, war ich wieder mit Gene allein, weil Jack und Chrissie arbeiten wollten. Zum Frühstück gab es wabbligen Toast. (»Anständiges Brot kriegt man hier nur im Deli«, erklärte Chrissie. Und der Tee – nun ja, er nannte sich so, befand sich aber in einem merkwürdigen Säckchen, das nach Staub schmeckte.) Doch das ließ sich verschmerzen, wenn ich dafür mit Gene in dieser super – und das Wort ist hier angebracht – Stadt sein kann.

Ich freue mich sehr, dass sie mich offenbar als Babysitter einsetzen wollen, während ich hier bin, denn für sie ist es nützlich, und mir macht es großen Spaß. Und ich hoffe, Gene auch. Da es heute regnete, blieben wir zuhause.

Gene bastelte als Erstes eine Halskette aus Büroklammern, die ich trug, bis sie mir zu sehr die Haut zerkratzte. Als ich die Büroklammern zurücklegen wollte, passierte etwas sehr Beunruhigendes. Mir fiel das Wort dafür nicht mehr ein. Verdammt, ich werde noch wie Archie enden. Ich starrte darauf und musste schließlich Gene fragen. »Weißt du das Wort für diese Dinger?«

»Büroklammern«, antwortete Gene.

»Gut gemacht«, sagte ich, um meinen Blackout zu kaschieren.

»Hattest du es vergessen?«, fragte Gene mit amüsiertem Lächeln.

»Nein, nein«, antwortete ich verlegen.

Wir probierten das Origami-Buch aus und falteten einen Pelikan und einen Schmetterling – nach dem einen wollte Gene dann noch weitere machen, und wir verteilten sie in der ganzen Wohnung. Anschließend probierten wir die Metall-Geduldspiele aus und konnten auch alle lösen bis auf eines: zwei ineinandergefügte Ringe. Wie man die trennen sollte, blieb uns ein Rätsel.

Plötzlich fragte Gene nach Archie, und ich sagte, es ginge ihm nicht so gut, er sei in ein Haus gezogen, wo man sich um ihn kümmern konnte, und dann schlug Gene rührenderweise vor, dass wir eine Gute-Besserung-Karte für Archie basteln sollten.

»Wir können Elefanten draufmalen«, sagte er. »Dann muss er lachen! Weißt du noch, Oma, das Elefantenspiel … das war so lustig!«

Als es zu regnen aufhörte, schlug ich vor, wir könnten uns doch aus allen möglichen Läden Kartons besorgen und einen verrückten Roboter daraus bauen und ihn anmalen. Gene meinte, er würde lieber ein Gefängnis bauen – was mich etwas verstörte.

»Möchtest du nicht lieber ein Haus machen?«, fragte ich. »Wir könnten euer Haus in Brixton bauen oder ein Schloss oder eine Sporthalle oder, ähm, eine Kunstgalerie. Oder ein Krankenhaus.«

»Nein, ich will ein Gefängnis bauen«, erwiderte Gene entschieden.

Also tappten wir hinaus – es war inzwischen richtig warm –, und nachdem wir die Karte an Archie eingeworfen hatten, fragten wir in den Geschäften nach leeren Kartons. Dabei kam ich mir vor wie meine ehemalige polnische Nachbarin. Aber die Leute waren solche Anfragen offenbar gewöhnt. Als wir zurückkamen, malte Gene stundenlang die Zellen an die Seiten der Kartons und klebte Zahnstocher als Gitter darauf, und dann entwarfen wir noch einen kleinen Garten für die Gefangenen, in dem sie Sport machen konnten (was natürlich meine Idee war), und einen großen Pappzaun außen herum, damit sie nicht fliehen konnten. Wir formten Sträflinge aus Play-Doh, und ich war inzwischen richtig entflammt für das Projekt.

»Lass uns noch einen Gefängnisdirektor machen«, schlug ich vor.

»Nein, gibt keinen«, erwiderte Gene.

»Aber es muss einen geben«, sagte ich aufgebracht. »Sonst kämpfen die Sträflinge, und Chaos bricht aus.«

»In diesem Gefängnis gibt es keinen Direktor«, entgegnete Gene störrisch. Daraufhin schob er alle Gefangenen zusammen, und während er murmelte: »Düsch! Düsch! Nimm das! Autsch!«, quetschte er sie zu einem bunten Ball zusammen. »Und dann stürzt diese riesige Rakete aufs Gefängnis«, erklärte er, »voll Säure, und peng! Alles kaputt!« Und er trampelte auf unserem Werk herum, zerstörte die Wände und die kleinen Blumen, die ich geformt hatte, bis das Ganze am Ende nur noch ein platte Fläche aus Pappe und Play-Doh war.

»Ach, Schatz!«, sagte ich ziemlich enttäuscht. Ich hatte das Gefängnis Jack und Chrissie zeigen wollen. Doch Gene fand das Ganze – Erbauen und dann Zerstören – sichtlich sehr befriedigend.

Nach dem Mittagessen sah es draußen so verlockend sonnig aus, dass wir die Wohnung gerne verließen, in der es wegen der Klimaanlage ständig sehr kühl war, und in den Central Park gingen. Gene nahm sein Fahrrad mit. Ich rechnete natürlich mit Scharen von Räubern und Kriminellen im Park, aber es wimmelte eher von wohlhabend wirkenden Leuten mit korrekt angeleinten Hunden, und die Stimmung war sehr friedlich. Manche Hunde sahen so seltsam aus, dass ich ihre Besitzer nach der Rasse fragte und erfuhr, dass man vorsätzlich Mischlinge wie Cockerpudel, Labraterrier etc. züchtete. Es waren auch jede Menge Hundeausführer unterwegs, die mit bis zu sechs Tieren an Leinen durch den Park spazierten.

Seltsam – und sehr erfreulich –, wie gesprächig die Leute hier sind. Ganz anders als in Londoner Parks.

Hatte ein äußerst klägliches Fußballspiel mit Gene – nichts, worin Omas zu Höchstleistungen auflaufen können, finde ich –, und als es wieder zu regnen anfing, nahmen wir uns ein Taxi. Ich stellte erstaunt fest, dass es hinten im Wagen einen Monitor gab, auf dem Werbespots liefen. Und noch erstaunter war ich, als ich merkte, dass Gene sie Wort für Wort auswendig kannte.

»Smith und Wollensky«, intonierte er mit breitem New Yorker Akzent. »Wenn Steaks Religion wären, dann wären wir der Tempel.«

Als wir im Fahrstuhl nach oben fuhren, sagte Gene: »Du hattest Recht wegen Arcon, Oma. Es heißt nicht Arcon, sondern Aircondition. Aber ich«, fügte er entschlossen hinzu, »sag trotzdem weiter Arcon.«

Ich bereitete das Abendessen für ihn zu, und während er sich alte Popeye-Folgen anschaute, schrieb ich Sylvie eine E-Mail, um mich nach Archie zu erkundigen.

Musste immer wieder an Louis denken. Ist mir sehr peinlich, aber ich habe seine Visitenkarte noch nicht weggeworfen. Warum eigentlich, wenn ich nicht die geringste Absicht habe, ihn anzurufen? Ich hoffe doch sehr, dass ich mich nicht in einen jüngeren Mann verguckt habe, wie es Penny vor einiger Zeit passiert ist. Das endet immer mit Tränen.