August

2. August

Ich stand auf der Straße vor dem Haus und überlegte krampfhaft, weshalb ich nun eigentlich rausgegangen war, als der Mann aus der Moschee, ein sehr sympathisch wirkender Bursche mit buschigem Bart und langem weißen Gewand, zu mir trat. (Wie kann man es bei solcher Hitze in so einer Aufmachung aushalten? Ist mir ein Rätsel.)

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er. »Haben Sie sich vielleicht verlaufen?«

Herrje, das gab mir vielleicht zu denken. Ich betrachte mich selbst als lässige Einheimische, die zum Einkaufen schlendert. Aber er sah offenbar in mir eine konfuse alte Lady, nur einen Schritt entfernt vom Demenzheim.

4. August

Komme gerade vom Klassentreffen zurück, das Marion organisiert hatte. Großer Gott, was für eine Truppe! Das Komischste ist, dass wir uns alle vor fünfzig Jahren zum letzten Mal gesehen haben, uns aber genauso fühlten wie damals mit zehn oder elf. Falten, graue Haare, Schwimmringe – spielte alles keine Rolle.

Waren zu acht bei Marion – ideal für ein Klassentreffen, weil schon ihr Haus die reinste Zeitreise ist. Marion interessiert sich seit Beginn der Siebziger nicht mehr für moderne Inneneinrichtung oder neue Tapetenmuster. Auf ihren Fensterbänken stehen alte Grünlilien und vertrocknete, eingestaubte Blumensträuße. In jedem Zimmer hat sie so eine runde (und teilweise auch schon eingerissene) Japanlampe aus einstmals weißem Papier, und an den Wänden hängen zwischen indianischen Wandteppichen Poster von Che Guevara und Dalí-Gemälde in Cliprahmen. Auf dem Boden liegen grausige Bastteppiche, die damals toll aussahen, aber heute völlig niedergetreten und an den zerfaserten Stellen mit Isoband geklebt sind. Sogar die Seife im Badezimmer ist so vertrocknet und von schmutzigen Rissen durchzogen, als läge sie schon seit zwanzig Jahren dort.

Doch Marion ist ein Schatz, und sie ist zwar als Köchin kein Naturtalent, servierte uns aber dampfende Suppe mit selbst gebackenem Brot und pappigen Nudelsalat. Ich hatte viel Wein mitgebracht, und so hielten wir in der Küche an dem wackligen Kiefernholztisch, einem weiteren Relikt aus den Sechzigern, ein Gelage ab. Marion und Tim sind nicht geizig oder so. Essen ist für sie eben Nebensache; Freunde, Gefühle und Bücher sind viel wichtiger. Was irgendwie charmant ist, aber deshalb hat man immer ein etwas bleiernes Gefühl im Bauch, wenn man bei Marion gegessen hat.

Verblüfft starrten wir alle auf die Fotos von unseren erwachsenen Kindern, die inzwischen viel älter waren als wir selbst bei unserer letzten Begegnung. Und als wir alle auf die Bilder glotzten, die Marion vor dem Essen auf dem Tisch ausgelegt hatte, befand ich mich ganz plötzlich wieder in unserem Klassenzimmer. Fehlten nur die ramponierten Schulbänke.

Obwohl wir nun alle nach Deos und Duftwässerchen rochen, hatte ich den vertrauten Geruch von Bleistiftspänen, saurer Milch und ungewaschenen Haaren in der Nase. Wir kicherten, als wir uns erinnerten, wie uns vor dem alten österreichischen Musiklehrer gegraust hatte, seufzten traurig, als wir darüber sprachen, dass Mrs Leach gestorben war (»Aber wusstet ihr, dass sie Alkoholikerin war?«), und spekulierten darüber, ob Mr Hitchin nun schwul war oder nicht.

Es hat etwas ungeheuer Entspanntes, mit Menschen aus der Kindheit zusammen zu sein, auch wenn man sie seither nicht mehr gesehen hat. Denn obwohl wir natürlich von unseren Lebenserfahrungen geformt und verändert werden, bleiben wir doch im Wesentlichen dieselben. Gilly, unsere Spielleiterin beim Netzball, trug jetzt keine Turnhose mehr, sondern ein Designerkostüm, stürmte jedoch noch genauso schwungvoll ins Haus wie eine leidenschaftliche Sportlerin. Und Emily, unser Superhirn, beschäftigte sich jetzt hauptsächlich mit Marmeladekochen, ist aber immer noch die Einzige, die sich an die Namen aller Mitschülerinnen und auch noch an die Namen von deren Eltern oder Kindermädchen und sogar an unsere Geburtstage erinnern kann.

Ein erfolgreiches Klassentreffen ist wie eine Familienfeier. Es heißt, dass unsere Familien uns vom Schicksal gegeben werden, doch unsere Freunde suchen wir uns selbst aus. Aber Schulfreunde werden uns auch vom Schicksal zugeteilt, denn über unsere Klassen können wir nicht bestimmen. Wir wurden einfach zusammengewürfelt und mussten miteinander auskommen, ob uns das nun passte oder nicht.

Ich kenne niemanden, der seine einstige Schule mag, und das galt auch für uns. Dennoch war unsere Schule im Vergleich mit den Erfahrungen anderer erstaunlich zivilisiert. Das Essen war ungenießbar, und für einhundertvierzig Mädchen standen nur zwei Toiletten zur Verfügung, doch sie war nach den liberalen Ideen von Fröbel ausgerichtet. Es gab keine Strafen außer Antreten bei der Direktorin, und wir durften die Lehrer mit Vornamen ansprechen.

Dennoch waren wir uns damals einig in unserer Ablehnung des Schulsystems als solchem und tolerierten deshalb noch die unerträglichsten Eigenschaften unserer Mitschülerinnen – was man als Erwachsener meist nicht mehr hinbekommt.

Marion schoss schließlich den Vogel ab. Sie konnte es nicht lassen, ihren alten Wasserkrug-Trick mit mir abzuziehen, was damit endete, dass ich klatschnass war. Aber da ich um den Zustand von Marions Stühlen wusste und nicht selten auf Honig- und Marmeladenklecksen gesessen hatte, während meine Ellbogen auf dem Tisch in Joghurtpfützen ausglitschten, hatte ich nicht meine schicksten Sachen angezogen, und es entstand kein größerer Schaden.

Immer wieder wurde gekreischt: »Du siehst aus wie früher!« Und ich bekam zu hören: »Aber du, Marie, du siehst wirklich total aus wie früher!« Deshalb beschloss ich, mein Facelifting zu gestehen, worauf alle Stifte und Notizbücher zückten und inständig um die Daten von Mr P baten. Sehr vergnüglich.

Gegen vier verabschiedeten wir uns mit großen Umarmungen und Küsschen, als würden wir uns nie mehr wiedersehen.

Was unter Umständen eben auch der Fall sein wird.

9. August

Weil der Hotelinvestor uns unbedingt treffen wollte, trommelten wir auf die Schnelle alle Mitglieder des Anwohnervereins zusammen. Ich glaube, der gute Mann weiß noch nicht, dass dem Stadtrat eine fünfhundertsechzig Stimmen starke Petition gegen sein Projekt vorliegt.

Ross Shatterton, der Besagte, traf mit einem Gefolge von Designern, Architekten und Assistenten ein und bemühte sich nach Kräften, Charme zu versprühen. Alle lehnten ihn auf den ersten Blick ab. Penny schürzte die Lippen. James und Ned zogen die Augenbrauen hoch. Pfarrer Emmanuel starrte ihn an, als sähe er ihn schon in den Flammen des Höllenfeuers, und die Miene von Sheila der Dealerin hätte noch den säumigsten Drogensüchtigen zum Zahlen veranlasst. Tim wirkte skeptisch, Sharmie und Brad setzten ein Pokerface auf. Lediglich Marion lächelte lieb. Ross (»Ihr könnt mich Ross nennen, Leute!«) war höchstens fünfundzwanzig, hatte einen kahl rasierten Schädel und einen Ohrring, und es war offensichtlich, dass er erwartete, er könne hier mit der Charmeoffensive einen Haufen zänkischer Spinner um den Finger wickeln und dann siegreich von dannen segeln.

Weit gefehlt.

In einer sogenannten »Schnappschuss-Präsentation« zeigte er uns Dias und Fotos und Zeichnungen, auf denen unser kleines grünes Dreieck am Ende der Straße aussah wie das Paradies eines Naturforschers. Vögel tummelten sich vor dem blauen Himmel, der Hotelbau war umgeben von gewaltigen Sträuchern, Hunde sprangen umher – es hätte mich nicht gewundert, wenn auch noch hie und da ein bedrohtes Nashorn aufgetaucht wäre, um die Umweltfreundlichkeit des Projekts unter Beweis zu stellen. Dann betonte Ross, das Hotel würde »das Niveau des Viertels steigern«, woraufhin Sheila der Dealerin der Kragen platzte.

»Schwachsinn!«, brüllte sie aus ihrer Rauchwolke am Ende des Tisches, ohne die Kippe aus dem Mund zu nehmen. »Was soll’n wohl nich’ stimmen mit dem Niveau unseres Viertels, Mr Shitterton oder wie Sie heißen!«

Ross gab etwas von sich, das er für ein charmantes Lachen hielt, und blickte in die Runde, als wollte er sagen: »Ich weiß, diese Frau ist komplett verrückt, und wir wissen es alle, aber wir wollen mal nachsichtig sein.« Sämtliche Anwesenden starrten ihn mit unbewegter Miene an. Sogar Marions Lächeln erstarb jetzt rasch. Der Mann war allein auf weiter Flur.

»Ich meine«, stammelte er, »dass wir das Niveau des Viertels noch mehr steigern könnten. Und wenn sich jemand von Ihnen Sorgen macht wegen der Parkplätze …«

»Allerdings«, sagte Tim laut. »Wir finden ja jetzt schon kaum mehr einen, in unserer eigenen Straße.«

»Nun, wir planen eine Tiefgarage mit Plätzen für fünfzig Autos. Und Ihnen allen als Mitgliedern des Anwohnervereins würden wir natürlich sehr gern freies Parken zusichern, falls das Ihr Leben erleichtert.«

»Woll’n Sie uns etwa bestechen?«, schrie Sheila die Dealerin. »Damit können Sie bei uns nich’ landen, die meisten Leute hier haben nich’ mal ’ne Karre, also vergessen Sie’s!«

»Nein, nein, aber das Gebäude wird Ihnen bestimmt gut gefallen. Es wird in Marmor gehalten sein und nur vierzig Zimmer haben. Es wird eher so eine Art Boutique-Hotel sein …«

»Vierzig Doppelzimmer«, fiel James ihm ins Wort. »In anderen Worten: Achtzig Leute werden dort wohnen. Das sind verdammt viele. Und schwule Paare sind doch sicher dort willkommen, oder?«

»Selbstverständlich«, antwortete Ross. »Das ist ja gesetzlich vorgeschrieben.«

»Schwule Paare?«, murmelte Pfarrer Emmanuel vor sich hin. »Homosexuelle?« Er schüttelte so erschüttert den Kopf, als sollten sämtliche Schwulen im Höllenfeuer schmoren.

Am Ende verkündete Ross ölig, was für eine Freude es gewesen sei, uns kennen zu lernen, und hinterließ seine Handynummer mit den Worten: »Wenn Sie noch etwas mit mir besprechen wollen, können Sie mich sieben Tage die Woche rund um die Uhr erreichen!« Dann zog er mitsamt seiner Schnappschuss-Präsentation, seinen Akten und seinem Gefolge zum »nächsten Termin«.

Und hinterließ einen Anwohnerverein, der nun entschlossener denn je war, diesen Hotelbau zu verhindern.

»Rund um die Uhr! Gefällt mir!«, krächzte Sheila die Dealerin und zündete sich die nächste Zigarette an der noch brennenden an. »Was zur Hölle soll’n das heißen? Dass ich um vier Uhr morgens anrufen und fragen soll, wie lang in der Bar Halligalli ist und ob’s in ihren scheiß Speiseräumen Hackauflauf mit Kartoffelbrei gibt? Hahaha!« Sie stieß ihr raspliges Lachen aus und hustete herzhaft.

Habe jetzt mit dem Vorderteil von Genes Pulli angefangen. Hoffe, dass die Elefanten da besser aussehen als auf dem Rücken, wo ihre Hinterteile wie Koffer geraten sind.

10. August

Ziemlich trauriges Skype-Gespräch mit Gene gehabt. Er erzählte, dass seine Klassenkameraden sich über seinen Akzent lustig machen.

»Die wollen immer, dass ich ›Harry Potter‹ sag, Oma«, berichtete er. »Ich mag das nicht. Und wenn ich sag, ich will nicht, sagen sie, es hört sich süß an, wenn ich ›ich will nicht‹ sag. Ich will aber nicht süß sein!«

»Du bist ganz und gar nicht süß, mein Schatz«, erwiderte ich empört. »Ich kenne niemanden, der weniger süß ist als du.«

Was natürlich eine fette Lüge war. Gene ist das süßeste, klügste und liebste Kind unter der Sonne. Ganz im Ernst.

Gene lächelte. »Es wird ganz toll, wenn du uns besuchen kommst!«

Davon bin ich überzeugt.

11. August

Nachdem Sylvie Archie in der Residenz Abendlicht angemeldet hatte, mussten wir warten, bis jemand starb. Das klingt furchtbar makaber, obwohl es nun mal einfach eine Tatsache ist. Zum Glück wurde ganz schnell etwas frei (und ich fragte mich unwillkürlich, wer nun gestorben war), und wir können Archie nächste Woche hinbringen. Wir sprechen schon seit Wochen mit ihm darüber, und er scheint es zu verstehen, aber man weiß es eben nie so genau. Im einen Moment scheint er es recht gelassen anzunehmen, im nächsten sagt er, er sei völlig normal und müsste nicht umziehen, und dann wieder fleht er uns kläglich an, ihn nicht wegzubringen, er wolle sich auch besser benehmen … Es ist entsetzlich qualvoll.

15. August

War ein paar Tage mit Penny in ihrem Bungalow in Suffolk. Am Samstag sagte ich zu Penny, dass ich die Läden unsicher machen wolle – an der High Street findet man jede Menge Geschäfte, die es in London nicht gibt, wie zum Beispiel einen Laden für Tierfutter und einen, der nur Scherzartikel wie Juckpulver, schäumende Zuckerstücke und Niespulver verkauft. Dort decke ich mich immer mit Vorräten für Gene ein. Ich bin auch ganz versessen auf den Katzenrettungsverein, in dessen Laden ich mal wunderhübsche viktorianische Speiseteller und sogar einen echten Petticoat ergattert habe. Ganz zu schweigen von der genialen Jacke mit dem Vereinslogo, die für kühle Tage sehr praktisch ist.

Penny meinte, sie wolle was kochen und würde die Tür angelehnt lassen, aber da sich mein Einkaufsbummel so lange hinzog, wunderte es mich nicht, dass sie weg war, als ich zurückkam. Ich rief im Haus nach ihr, bekam aber keine Antwort. Schließlich schleppte ich meine Tüten auf mein Zimmer, packte die riesige Beute aus, legte mich für mein Nachmittagsnickerchen aufs Ohr und schlief ein.

Als ich eine Stunde später aufwachte, wanderte ich durchs Haus und war enorm beunruhigt, als ich Penny nirgendwo entdeckte. Bestimmt war sie unterwegs gestorben. Sie hatte im Gemüseladen einen Herzinfarkt bekommen. Sie war mit Schaum vorm Mund beim Feinkosthändler kollabiert und verschieden. Was um alles in der Welt sollte ich jetzt tun? Ich erinnerte mich dunkel, dass ich mir für Notfälle irgendwo die Telefonnummer ihres Bruders notiert hatte, aber an welchem Punkt sollte ich ihn anrufen? Oder vielleicht sogar die Polizei? Und wie sollte ich ihren Wagen von der Zufahrt kriegen, der meinem im Weg stand?

Zitternd kehrte ich in mein Zimmer zurück und holte mein Adressbuch. Als ich wieder herauskam, hörte ich ein Geräusch. Da war jemand im Wohnzimmer – vermutlich ein fürsorglicher junger Polizist, der mir die schlechte Nachricht überbringen wollte. Man hatte ihn für solche Situationen ausgebildet, aber er hasste sie. Ich wappnete mich für die entsetzliche Begegnung, machte die Tür auf und war einigermaßen verblüfft, im Wohnzimmer keinen Polizisten mit ernster, mitleidiger Miene und Helm in den Händen vorzufinden. Sondern Penny, die käsebleich und bebend auf dem Sofa saß.

Sie starrte mich an, als wäre ich ein Gespenst. »Aber ich dachte, du seist tot!«, rief sie aus und erhob sich zittrig vom Sofa. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, weil du so lange nicht zurückgekommen bist vom Einkaufen! Wo warst du denn?«

Stellte sich heraus, dass sie in der Hängematte neben dem Haus ein Schläfchen gemacht hatte, als ich zurückkam. Als sie aufwachte und mich nirgendwo im Haus hörte, hatte sie von mir genau dasselbe vermutet wie ich von ihr.

»Ich wollte gerade Jack anrufen!«, sagte sie. »Und dann fiel mir ein, dass er ja in New York ist und ich seine Nummer nicht habe, und ich wusste gar nicht, was ich tun sollte. Ich hab ihm in Gedanken schon mitgeteilt, dass ich die Kosten für die Überführung deiner Leiche nach London übernehme und er mir das Geld später wiedergeben kann!«

Wir schütteten uns aus vor Lachen und machten eine Flasche Wein auf.

17. August

Das war einer der anstrengendsten Tage meines ganzen Lebens.

Morgens sind wir zu Archie gefahren. Während er in der Dusche war, haben Sylvie, Harry und ich in seinem Schlafzimmer Sachen eingepackt, von denen wir annahmen, dass er sie gerne bei sich hätte. All seine Lieblingssachen wie seinen Sessel (den aus dem Pflegeheim würden wir ausrangieren), die Lexika, die gesammelten Werke von Anthony Trollope und ein paar Fotoalben. Harry hatte vorher schon heimlich die Schubladen durchgesehen und einiges ausgesucht. Wir können natürlich auch jederzeit Dinge holen, die Archie noch bei sich haben möchte.

Als er angezogen war, sagte Sylvie: »Gut, Dad, wir bringen dich jetzt in dieses spezielle Hotel, in dem du eine Weile wohnen wirst.«

Archie sah erfreut aus und half uns beim Packen. Wir hielten es für am besten, ihn in dem Glauben zu lassen, dass er nur zeitweilig dort bleiben würde. Und zu hoffen, dass er sein einstiges Zuhause im Lauf der Zeit vergessen würde. Über den Lodenmantel waren wir uns im Unklaren, aber Sylvie meinte, er würde ihn bestimmt sowieso anziehen wollen, wir hätten also ohnehin keine Chance, das Ding hierzulassen, so verlockend das auch sein mochte.

Alles lief problemlos, bis wir vors Haus traten.

»Ich gehe nicht weg«, sagte Archie entschieden. »Ich habe es mir anders überlegt.«

Wie Sylvie vorhergesehen hatte, bestand er trotz der Wärme darauf, diesen absonderlichen Lodenmantel zu tragen. Und da stand er nun am Eingang seines Hauses, eine Hand auf einer der Löwenstatuen, und sah so aufrecht und würdevoll aus wie der alte Archie. Mir brach fast das Herz. Zu allem Übel winselte Hardy, schaute uns anklagend an und bellte immer wieder ängstlich. Er schien zu spüren, dass etwas Beunruhigendes geschah.

»Unsinn«, sagte Harry fest und nahm Archie am Arm. »Kein Zurück mehr, alter Freund. Alles geplant und gebucht und in trockenen Tüchern, fertig, aus.«

Archie blickte unsicher. Wille stand gegen Wille, und es sah nach einem regelrechten Zweikampf aus. Doch dann schien Archie plötzlich förmlich zu zerfallen. In Sekundenschnelle verwandelte er sich von einem stattlichen Hausherrn zu einem gebrechlichen, fast kindhaften alten Mann. Er schien regelrecht zu schrumpfen. Seine Unterlippe zitterte, und er ließ sich willenlos von Harry die Treppe hinunterführen. »Ich will nicht weg von hier«, murmelte er dabei vor sich hin. »Aber wenn ihr meint, ich müsste … Ich will aber nicht … Bitte bringt mich nicht weg … Wo ist Philippa?«

So ging es weiter, bis wir am Heim ankamen und Archie sich rundweg weigerte auszusteigen.

»Wo sind wir?«, fragte er. »Hier war ich noch nie! Ich will nach Hause!«

Harry gelang es, Archie zum Aussteigen zu überreden, und dann trank ich mit ihm im Speisesaal Tee und plapperte ohne Unterlass, während Sylvie und Harry den Papierkram erledigten und Archies Zimmer so herrichteten, dass es halbwegs behaglich wirkte.

Als sie kurz vor dem Abendessen wieder auftauchten, war es noch hell, und ein freundlicher Pfleger, sichtlich vertraut mit der Situation, geleitete Archie zu seinem Zimmer. Als wir später reingingen, um uns zu verabschieden, saß Archie in Schlafanzug und Morgenmantel im Sessel, einen Becher Tee in Händen, obwohl es erst sechs Uhr war.

Er sah völlig verwirrt aus. »Wann werde ich operiert?«, fragte er. »Wo ist der Arzt?«

»Keine Sorge, du wirst nicht operiert«, antwortete Harry.

»Wir kommen morgen wieder«, sagte Sylvie. »Ich wünsche dir einen schönen Abend.«

»Wo geht ihr hin?«, rief Archie. »Lasst mich hier nicht allein! Ich will mitkommen! Bitte geht nicht!«

Doch der Pfleger geleitete uns hinaus und zwinkerte uns zu – was irgendwie entsetzlich war, obwohl das sicher tröstlich wirken sollte. »Er wird sich beruhigen. Sie werden sehen – wenn Sie in ein paar Stunden anrufen, hat er sich schon eingewöhnt. Andere sind da viel schlimmer dran. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Als wir losfuhren, kamen wir uns wie Mörder vor.

O Gott, ich hoffe nur, dass mir das nicht passiert! Ich möchte nicht, dass Jack das erleben muss, was ich heute durchgemacht habe. Muss unbedingt mal nachsehen, ob ich noch genügend Schlaftabletten habe. Die nehme ich dann sofort, wenn ich das Gefühl habe, dass mit meinem Kopf was nicht stimmt.

Ich empfinde so ein wirres Durcheinander aus Erleichterung und Schuldgefühlen und Zufriedenheit. Es ist furchtbar schwierig, wenn all diese widersprüchlichen Gefühle in einem toben und nach Aufmerksamkeit verlangen. Erst sinkt man erleichtert in einen Sessel mit dem angenehmen Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Dann kommt die Schuld hereingestapft wie ein ungebetener Gast und will wissen, wie man hier gemütlich sitzen und Tee trinken kann, während man sich doch mit Birkenruten auspeitschen sollte, weil man so grausam und unaufrichtig mit einem armen alten Mann umgegangen ist. Unterdessen klopft die Vernunft ans Fenster, verlangt eingelassen zu werden und sagt: »Aber du hättest doch nicht anders handeln können, nicht wahr? Er hätte es mit dir genauso gemacht.« Woraufhin sich ein warmes, wohliges Gefühl hereinschleicht und einem mitteilt, was für ein großartiger Mensch man doch sei, und man ist beruhigt und will sich wieder in seinen Sessel zurücksinken lassen, doch leider hat die Schuld sich bereits häuslich niedergelassen und wartet mit einem Nagelbett, auf das man sich setzen soll.

Wir haben es jedenfalls hinter uns gebracht.

Habe mir in der Küche ein extragroßes Glas Wein eingeschenkt, es in einem Zug geleert und gleich nochmal nachgegossen. Alkohol. Was täten wir nur ohne ihn?

18. August

Gott sei Dank hat Sylvie gestern Abend angerufen und berichtet, dass es Archie gut ginge. Sie hatte sogar am Telefon mit ihm gesprochen, und er hatte sich ganz normal angehört. Er hatte berichtet, der Service sei hervorragend, und er habe gerade ein köstliches Essen bekommen. Von zuhause hatte er gar nicht mehr gesprochen. Das ist natürlich sehr beruhigend, aber zugleich ist es auch traurig, was man in so kurzer Zeit vergessen kann. Ein paar qualvolle Stunden – und seine Vergangenheit schien schlagartig aus seinem Gedächtnis gelöscht zu sein. Oh, ich hoffe inständig, dass es so bleibt. Ich könnte es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen.

20. August

Habe heute Vormittag das Augustbild von den Bäumen gemalt. War etwas schwierig, weil sich seit Juli kaum etwas verändert hat, deshalb habe ich einen anderen Blickwinkel gewählt. Muss sagen, die Robinie mit ihren gelblichen Blättern ist ein wunderschöner Baum. So einen hätte ich gern in meinem Garten.

Dann später zu Archie gefahren. Er hatte offenbar eine Reihe kleiner Schlaganfälle, und es geht ihm insgesamt schlechter als angenommen, weshalb er ins Haus Abend verlegt wurde. Es ist eine lange Fahrt nach Devon, und es regnete in Strömen, und als ich gerade auf die Autobahn gefahren war, stellte ich zu allem Überfluss auch noch fest, dass mir irgendetwas zwischen den Zähnen steckte, das sich nicht entfernen ließ, sosehr ich auch saugte und sogar mit dem Finger daran herumstocherte. Komische Sache, das mit den Zähnen. Ich kann zum Beispiel einfach keinen Spinat mehr essen. Sonderbares Gefühl, wenn man feststellen muss, dass man zu der Art von Person wird, die man als junger Mensch eklig fand.

Und ich finde es überdies besonders traurig, dass ich mit dem Alter nicht etwa toleranter werde, sondern ebenso intolerant bin wie in meiner Jugend. Und ich muss nun mit dieser zunehmend unappetitlichen Person leben, in ihr leben, sie sein. Deshalb achte ich penibel darauf, makellos sauber zu sein, mich nicht zu bekleckern, niemals ohne Make-up aus dem Haus zu gehen und stets nicht nur gut geschnittene und tadellos gefärbte, sondern auch tadellos frisierte Haare zu haben.

Aber zurück zur Autobahn. Was mir in den Zähnen steckte, machte mich regelrecht verrückt. Und ich bin zwar nicht die vorsichtigste Autofahrerin unter der Sonne, sagte mir jedoch, dass es nicht sehr vernünftig ist, auf der Autobahn mit Zahnseide herumzufummeln. Weshalb ich auf dem Seitenstreifen hielt und es dort machte. Zum Glück kam kein Polizist vorbei, um mich zu fragen, was ich da tat. Denn Zahnreinigung ist wohl kein hinlänglicher Grund für einen Aufenthalt auf der Standspur.

Mein Navi geriet ein bisschen aus dem Tritt, als ich anhielt. Das Display blinkte, und ich war schon darauf vorbereitet, dass mein entzückender Mann fragen würde, was um alles in der Welt ich da machte. Aber er blieb stumm. Ganz ehrlich: Ich hätte nichts dagegen, meinen Navi zu heiraten. Er bringt mich an so wunderbare Orte. Und er ist nie sauer auf mich, wenn ich mich verfahre. Er sagt dann nur mit dieser tiefen, erotischen, beruhigenden Stimme: »Bei der nächsten Gelegenheit wenden.« Stellt euch mal vor, wie es ist, mit seinem Navi zum Altar zu schreiten. »Noch fünfundzwanzig Meter … zehn Meter … fünf Meter«, würde er sagen, bis man vor dem Altar steht. Und dann: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Wenn man dann vermählt ist, würde er sagen: »Bei der nächsten Gelegenheit wenden«, und wir würden nach draußen eilen.

Und Navis geben uns so viel Sicherheit! Was für ein Segen sind sie für ältere Menschen! Ganz ehrlich, wenn ich auf der Autobahn hundert fuhr und meine Lesebrille aufsetzen musste, um eine Straßenkarte zu studieren, grenzte es schon an ein Wunder, dass ich nicht Unfälle verursachte, die der »Hetzkurier« gerne als Schlagzeile gebracht hätte. »RENTNERIN SCHULD AN HORRORUNFALL AUF AUTOBAHN!«

Penny war entsetzt, als sie mitbekam, dass ich mir eine Männerstimme für meinen Navi ausgesucht hatte. Ich bat damals den Mann im Autozubehörladen, meinen Namen und meine Adresse in den Navi einzugeben, woraufhin er mich fragte: »Und Sie wollen doch sicher eine Frauenstimme, Madam?« Und ich hörte mich antworten: »Auf keinen Fall! Frauen haben keinen Orientierungssinn!« Auweh. Zum Glück war Penny nicht dabei. Die hätte mich garantiert zur Schnecke gemacht.

Wo war ich stehen geblieben? Ach so, ja, der Besuch bei Archie. Er hatte es geschafft, Sylvie mitzuteilen, dass er einige Papiere aus seinem Schreibtisch zuhause haben wollte.

»Weiß der Himmel, warum er die haben will«, hatte sie am Telefon zu mir gesagt. »Er kann ja kaum lesen. Aber er redet schon seit Tagen davon, deshalb wäre es wirklich lieb von dir, wenn du sie mitbringen könntest. Sie liegen offenbar in einem grünen Hefter. Aber wenn du sie nicht findest, ist es auch nicht schlimm.«

Also fuhr ich zu Archies Haus. Ohne Archie sah es so trist und verloren aus mit seinen hohen gotisch-viktorianischen Spitzbogenfenstern und der ausladenden Terrasse in dem riesigen Park. Der Tag war grau und bedeckt und so bedrückend düster, als würde es später noch gewittern, und es stimmte mich traurig, dass der Rasen vor dem Haus von Unkraut überwuchert war.

Mrs Evans, die schlagartig gealtert wirkte, kam heraus und umarmte mich, was mich erstaunte und rührte. »Miss Marie! Wir haben Sie so vermisst. Und Mr Archie natürlich. Ich habe versucht, alles für seine Rückkehr schön zu machen. Aber er kommt wohl nicht mehr wieder, oder?«

»Ich fürchte nicht«, antwortete ich. »Es sei denn, bis nächstes Jahr erfinden sie irgendein Wundermittel.«

»Ist das nicht schrecklich?«, meinte Mrs Evans. »Ich will nicht so lange da sein, Sie? Ich will im Schlaf sterben. Oder beim Kartoffelschälen tot umfallen. Oder es dann selbst erledigen, wenn es so weit ist. Oder einen Arzt überreden, dass er mir eine Spritze gibt. Das hat doch mit Eutha…, weiß nicht, wie man das ausspricht, nix zu tun. Weiß nicht, weshalb sich die Leute so aufregen und sagen, das sei erst der Anfang. Wieso sollen wir denn nicht entscheiden können, wann wir sterben wollen? Das find ich so scheußlich. Ich will meinen Kindern nicht zur Last fallen, und ich will nicht, dass sie mein ganzes Geld ausgeben müssen, um mich mit einer Maschine am Leben zu erhalten, und dann haben sie kein Erbe mehr. Nein, ich will, dass sie gute Erinnerungen an mich haben. Es geht doch um Lebensqualität, oder nicht, Miss Marie? Nicht um Quantität. Es heißt, wenn man zu rauchen aufhört, lebt man ein Jahr länger – aber es wird sich anfühlen wie zehn!«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte ich.

»Das Problem ist«, fuhr sie fort, »dass diese Gesetze von jungen Leuten gemacht werden. Die wollen nicht sterben. Aber wenn man dann in meinem Alter ist, findet man die Vorstellung gar nicht so schlecht. Es ist halt einfach so. Wenn diese ganzen jungen Leute erst einmal in meinem Alter sind und merken, dass wir Recht hatten, ist es zu spät. Dann entscheiden schon die nächsten jungen Leute darüber, was gut für alte Menschen ist und was nicht. Dabei sollten die sich lieber raushalten.«

Als ich in Archies Schreibtisch nach besagtem Hefter suchte, entdeckte ich ein paar Gedichte von ihm. Ich setzte mich hin und las sie. Sie handelten alle vom Tod. Und eines erschütterte mich ganz besonders.

Einst war er jung und stark,

Er lebte, und er liebte,

Geachtet von den Zeitgenossen.

Doch während die Jahre verflossen,

Kamen andere angekrochen

Und packten ihn, gleich vorm Tor des Todes.

Hielten ihn fest ohne Wiederkehr,

Zerrten ihn weg, obwohl er schrie und bat,

In ein Vorzimmer, wo er dann lag

Und wünschte, er sei schon im Sarg

Seit dem Abend zuvor.

Sie waren weder Freund noch Feind,

Wachten bei Nacht, pflegten am Tag,

Nahmen das Leben mit kalter Hand,

Hielten den Tod auf weitem Abstand

Für immerdar.

Das Gedicht berührte mich so sehr, dass ich es Mrs Evans zeigte, die gerade einen Gang wischte, den kein Mensch mehr betreten hatte. Ich musste mit jemandem sprechen. Mrs Evans las das Gedicht langsam und brach dann in Tränen aus.

»Oh, das ist alles so wahr«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Ich hoffe, sie päppeln ihn nicht immer wieder auf wie altes Gemüse. Verzeihen Sie, aber Sie wissen, was ich meine. Es ist so traurig. Als hätte er sein eigenes Schicksal vorausgeahnt …«

»Ich weiß, dass Sie alles verstehen, Mrs Evans«, erwiderte ich. »Es ist so gut, dass Sie hier sind. Sie waren wunderbar. Apropos«, fuhr ich fort, als Hardy angelaufen kam, meinen Rock beschnüffelte und in Erwartung von Streicheleinheiten zu mir aufblickte, »was wird denn nun aus Hardy?«

»Er ist jetzt erst mal bei mir. Bald kommt er zu Mrs Sylvie, die hat nur zurzeit so viel um die Ohren. Mein Mann geht jetzt immer mit dem Hund raus. Man spürt, dass Hardy Mr Archie vermisst, aber ich glaube, er wird sich bald erholen.«

Sie blickte zum Fenster hinaus. »Sie haben sicher bemerkt, dass der Rasen in schlechtem Zustand ist. Mein Mann will sich darum kümmern, sobald seine Hüfte wieder besser ist.«

Als ich auf dem Gelände der Residenz Abendlicht ankam, war die Luft extrem drückend, was die Atmosphäre dort irgendwie noch bedrohlicher machte. Ich fand es unheimlich, dass es so ruhig war. Man hörte keine Schreie – nicht einmal unterdrückte –, keine Gespräche, kein Maschinensurren. Leblos. Es gibt dicke Teppichböden und Anzeigen für Veranstaltungen am Schwarzen Brett – Mitsingabend mit Roger und seiner Geige am Donnerstag im Grünen Saal, Postkartenbasteln mit Gina am Freitag im Freizeitraum und eine Wanderung durch die Zeit mit Bernard am Freitag im Esszimmer. Mit Gina gab es auch einen Spaziergang am Samstag für diejenigen, die noch gehen konnten, und Frisuren mit Roger am Sonntag für die Damen, die noch genug Haare für eine Frisur besaßen.

An sich war es ein angenehmer Ort. Das Problem bestand nur darin, dass man bereits in prekärem Zustand sein musste, um sich hier aufzuhalten. Und dass es trotz des Messingschilds »Das Zeitalter der Würde« im Empfangsbereich nun mal nicht würdevoll ist, mit dem Löffel gefüttert zu werden oder sich den Hintern abwischen zu lassen.

Ich ging den überheizten Flur entlang zu Archies Zimmer. Mit seinen persönlichen Dingen sah es sehr wohnlich aus. Auf einer Kommode standen ein Foto von Sylvie und eines von Philippa. Dass von mir keines vorhanden war, entging mir nicht, aber da wir auch erst seit ein paar Jahren zusammen waren, konnte ich mich eigentlich nicht darüber beklagen. Die Wände des Zimmers sind hellgelb, und Sylvie hatte bunte Indianerdecken über die Sessel drapiert, was die Stimmung anheimelnder machte. Doch einiges ließ sich nicht beschönigen. Der Plastiknachttisch neben seinem Bett. Die Billigkommode. Das grell beleuchtete Badezimmer mit der Sitzerhöhung auf der Toilette. Und die deprimierenden Notrufknöpfe an Kabeln, die in allen Räumen von der Decke hingen.

Da hier wohl sehr viele Frauen wohnen – wir leben länger –, kann Archie sich offenbar vor Besucherinnen kaum retten, die alle glauben, in ihn verliebt zu sein, und versuchen, mit ihm zu plaudern und zu flirten. Er wohnt erst seit ein paar Tagen dort, aber es ist verblüffend zu erleben, dass es für sexuelles Verlangen offenbar keine Altersgrenze gibt. Und Archie benimmt sich immer noch rührend formvollendet. Obwohl er jetzt sehr schwach ist, steht er jedes Mal auf, wenn jemand hereinkommt, und sagt mit strahlendem Lächeln: »Meine Liebe! Wie schön, dich zu sehen! Du siehst bezaubernder aus denn je!« Das macht er bei Putzfrauen, Ärztinnen und bei mir gleichermaßen und inzwischen auch bei dem Mann, der jeden Tag die Zeitung bringt. Archie liest die Zeitung natürlich nicht mehr, aber er schaut sie durch und starrt auf die Fotos.

Heute Nachmittag saß er mit einer Decke über den Knien in seinem alten Sessel. Er sah extrem hager und knochig aus und schaute die ganze Zeit nervös aus dem Fenster. Es war erschreckend, wie schnell sein Zustand sich nach den Schlaganfällen verschlechterte. Vielleicht passiert das, wenn man in ein Heim geht. Würde man mich an so einem Ort unterbringen, säße ich vermutlich binnen einer halben Stunde mit runzligem Gesicht und einer Decke über den Knien herum, würde an meinen Zähnen saugen und mich nicht einmal mehr an meinen eigenen Namen, geschweige denn an den des Premierministers, erinnern. Als ich ins Zimmer trat, sagte Archie wie üblich: »Meine Liebe! Wie schön, dich zu sehen! Du siehst bezaubernder aus denn je!« Aber es war klar, dass er keine Ahnung hatte, wen er vor sich hatte.

»Weißt du denn, wer ich bin?«, fragte ich, was etwas gemein von mir war.

»Philippa?«, fragte er beunruhigt. Dann: »Nein, Marie. Wo ist Marie?«

»Ich bin Marie«, sagte ich, nahm seine faltige Hand und küsste sie leicht. Er war so mager, dass meine Lippen fast die Knochen zu berühren schienen.

Dann zog er mich verschwörerisch an sich. »Marie hat meine … meine …« Er suchte nach dem Wort und zupfte an seinem Morgenmantel, »meine … Nadel … meine …«

»Brosche«, warf ich ein, weil ich ahnte, was er sagen wollte.

»Ja, Brosche. Sie hat sie gestohlen. Sie sagte, die Putzfrau sei’s gewesen, aber sie hat sie gestohlen, weißt du.«

Wir redeten ein bisschen. Oder zumindest ich redete. Mit einem Blick auf die Uhr, muss ich gestehen. Ich holte mein Strickzeug heraus, um mich ein bisschen abzulenken. Eine mürrisch blickende Schwester steckte den Kopf durch die Tür, und Archie sagte: »Meine Liebe, wie schön dich zu sehen! Du siehst bezaubernder aus denn je!«

»Tee für Sie, Mr Archie!«, rief die Schwester, die jetzt geschmeichelt lächelte. »Sie mögen doch eine schöne Tasse Tee, nicht wahr? Und auch ein paar schöne Kekse?«

Das schien Archie aufzuregen. »Keine Kekse.« Er schüttelte nervös den Kopf. »Nein, nein …«

Die Schwester kam herein. »Keine Kekse«, wiederholte sie und zwinkerte mir zu. »Aber vielleicht möchte Ihr Gast welche?«

»Nein, nein …«

»Wir machen es so, wie du willst, Liebling«, sagte ich. Dann sah ich, dass er das Kreuzworträtsel in der Zeitung aufgeschlagen hatte. »Wenn du Lust hast, können wir das ja zusammen lösen, wie früher.« Ich trug ein paar Wörter ein und sagte dann: »Also, das weißt du ganz bestimmt. Küchengerät zum Garen, fängt mit D an, zehn Buchstaben.«

»Dampfgarer«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Das ist so traurig. Man redet stundenlang mit Archie und bekommt nur wirren Unfug und endlose Wiederholungen zu hören. Und dann, ganz plötzlich, haben die Synapsen Kontakt, und für einen Moment taucht der Mensch wieder auf, den man gekannt hat. Aber lohnt sich das? Am Leben zu bleiben für diesen seltenen Moment, in dem man wieder man selbst sein kann? Mein Herz tat einen Sprung, als Archie mir sein vertrautes Lächeln von früher zuwarf. Dann verschwand er wieder in seiner unverständlichen und unzugänglichen inneren Welt, in der es keinen Platz für mich gibt.

Zum Glück kam Sylvie um fünf vorbei, und ich freute mich ebenso darüber, dass sie mich bei ihrem Vater vorfand, wie sie sich freute, mich zu sehen.

Als ich ging, sagte sie: »Vielen Dank, Marie. Aber wo übernachtest du denn jetzt?«

Ich erklärte, dass ich ein Zimmer in einer kleinen Pension gebucht hatte.

»O nein, komm doch zu uns … Ach Gott, heute Abend geht es ja gar nicht, Harrys Schwester kommt zu Besuch. Aber beim nächsten Mal, versprichst du’s mir?«

Ich fand das Angebot sehr lieb und verabschiedete mich von ihr und Archie mit Küsschen. Als ich Archie berührte, spürte ich wieder die Knochen unter seiner Haut. »Wiedersehen, Philippa«, sagte er. Das war alles.

Als ich rauskam, brach das Gewitter los, und ich hastete mit dem »Hetzkurier« über dem Kopf zum Auto.

21. August

Schlimme Nacht in dieser Pension gehabt, bin deshalb wirklich froh, dass ich nächstes Mal bei Sylvie schlafen kann. Das Zimmer hier war so mit Nippes zugestellt, dass man sich kaum bewegen konnte. In jedem Sessel saß eine Pierrotpuppe mit aufgemalten Tränen, und die Kleenex-Schachtel steckte in einer Hülle aus demselben gesteppten Chintzstoff, mit dem auch das Klopapier kaschiert war. In einer Schale lagen schmuddlige Holzspäne, getränkt mit einem Öl, dessen süßlicher Duft den gesamten Raum erfüllte, und alle Schubladengriffe waren mit roten Troddeln versehen.

Das Kopfkissen bestand aus diesem entsetzlichen harten Schaumstoff, der nicht nachgibt, und die Bettwäsche war aus Synthetik, so dass ich binnen Minuten in Schweiß gebadet war. Auf dem Nachttisch stand ein Wecker mit einem roten Blinklicht, den ich mit einem Schlüpfer bedeckte, damit er mich nicht vom Schlafen abhielt, und frühmorgens verwandelte sich die kleine Straße vor meinem Fenster in eine Rennstrecke für dröhnende Landwirtschaftsfahrzeuge.

Die Besitzerin der Unterkunft war, wie immer, eine wirklich reizende Frau mit einem behinderten Mann, die sehr stolz auf ihr kleines Reich war. Weshalb ich mir vorkam wie eine undankbare alte Zicke, wenn ich daran dachte, wie grauenvoll meine Nacht gewesen war.

Um meine niederträchtigen Gedanken wettzumachen, lobte ich überschwänglich das Frühstück, das aus Dosenpilzen, Bratspeck in einer weißen wässrigen Substanz und Rührei bestand, das offenbar schon vor einer Woche gebraten worden war.

Vor der Rückfahrt schaute ich noch einmal bei Archie rein. Er starrte mit leerem Blick auf die Zeitung und deutete plötzlich auf ein Foto von einem Baum. »Ich!«, sagte er aufgeregt. »Ich!«

Ich warf einen Blick auf das Bild. Eine Eiche.

»Ich glaube, du meinst ›Eiche‹«, erwiderte ich und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Eiche!«, rief er. »Eiche!«

Es ist für uns alle sehr schmerzhaft. Oje, ich fange an zu weinen. Es fällt schwer, es nicht zu tun. Wird man mit dem Alter gefühlsbetonter? Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich mittlerweile regelrecht abgebrüht. Doch dann breche ich wieder beim geringsten Anlass in Tränen aus. Reiß dich zusammen, Marie.

Das hört sich vielleicht etwas herzlos an, aber man begreift den langsam voranschreitenden Effekt von Alzheimer wirklich erst, wenn man ihn bei jemandem miterlebt hat. Ein paar Jahre lang ist der vertraute Mensch noch vorhanden, und die Vergesslichkeit, die sonderbaren Gespräche und Verworrenheiten sind einfach etwas lästig. Es ist, als würde eine gute alte Freundin zunehmend merkwürdigere Kleidung tragen, bis man sie irgendwann kaum mehr erkennen kann. Und dennoch erhascht man immer wieder zwischen Hüten und Schleiern einen Blick auf die vertraute Person und erkennt sie noch an ihrem Gang und der Haltung beim Hinsetzen und Aufstehen.

Bis man dann eines Tages merkt, dass sie ganz verschwunden ist. Nicht mehr da ist. Diese Momente des Wiedererkennens sind jedenfalls so selten geworden, dass die Person auch ganz weg sein könnte. Und man findet bei diesem Prozess keine wirkliche Gelegenheit zum Abschied, weil er so unaufhaltsam und beständig voranschreitet. Was furchtbar traurig ist.

Es ist eine Art von Tod oder ein langsames Sterben. Ich meine, hätte Archie sich von einem Tag auf den anderen so drastisch verändert, hätte ich wohl einen Nervenzusammenbruch bekommen. Doch da er sich über mehrere Jahre veränderte, gab es keinen konkreten Moment, in dem ich den Verlust schlagartig bemerkte. Er ist so schwer zu greifen.

24. August

Hab mich jetzt aufgerafft und das Ticket für New York gebucht.

Später

Die Glühbirne im Flur hat den Geist aufgegeben. Da die Decke sehr hoch ist, bat ich Michelle, mir die Leiter zu halten.

»Mein Vatär, er iest gefallän von Lättähr«, sagte sie.

Es dauerte mehrere Momente, bis ich verstanden hatte, was sie mir sagen wollte. Aus irgendeinem Grund scheint sich Michelles Englisch zusehends zu verschlechtern. Vielleicht geht sie gar nicht in ihren Unterricht, sondern arbeitet im West End als Callgirl, um ihre Kaufsucht zu finanzieren. Letztes Jahr noch hätte ich mir deshalb entsetzliche Sorgen gemacht. Aber jetzt denke ich, offen gestanden, dass Michelle alt genug ist, auf sich selbst aufzupassen.

Doch beim Gedanken daran, dass Chrissie und Gene jetzt da waren und dass ich auch von einer »Lättähr« fallen oder bei einem Flugzeugabsturz umkommen könnte, beschloss ich, vor meiner Abreise mein Testament zu aktualisieren.

Und statt auf Archies Rasen zu starren, sollte ich mich lieber um meinen eigenen kümmern. Er sieht aus wie ein Dschungel. Pouncer kann kaum mehr über das Gras gucken.