Oktober
3. Oktober
In diesem Luxusapartment gibt es keine Badewanne. Ich weiß nicht, wie andere Menschen meines Alters das empfinden, aber ich kann Duschkabinen nicht ausstehen. Erst muss man in eisigem oder kochendem Wasser stehen, bis man die Temperatur eingestellt hat. Dann bekommt man klatschnasse Haare, wenn man nicht eine alberne Duschhaube trägt. Weil der Boden rutschig ist, habe ich immer Angst, dass ich hinfallen könnte, und wenn man nicht mit dem Duschschlauch herumhantiert und sich unter den Armen und zwischen den Beinen absprüht, wird man an diesen Stellen nicht sauber. Scheußlich umständlich. Und überdies brauche ich morgens nicht nur den »Hetzkurier«, um mich in Schwung zu bringen, sondern auch ein heißes Bad, um meine Gelenke zu entrosten. Duschen reicht da nicht.
Ein weiterer Nachteil von Duschkabinen ist, dass Gene nicht darin spielen kann. Bei mir zuhause war Genes abendliches Bad immer ein wahres Fest mit Plastikenten und Fischkämpfen und Tauchabenteuern. Manchmal kroch er unter meine Antirutscheinlage, drehte sie um, so dass die Saugnäpfe außen waren, und spielte Oktopus. Oder ich war die Friseurin, die seine Haare wusch, allerhand Späße mit Waschlappen und Schwämmen machte und am Ende fragte: »Und möchten Sie noch etwas Schaum, mein Herr?« Die ganze Angelegenheit nahm gut eine Stunde in Anspruch. Arme amerikanische Kinder. Ihnen entgeht ein wunderbar lautes Badevergnügen.
Wenigstens hatten Gene und ich noch Spaß mit dem Handtuch. Ich finde es hinreißend, wenn der Kleine blitzsauber ist und sein glänzendes rotes Gesicht aus dem Handtuch späht und er den Flur entlangsaust und ich ihn verfolge (ohne Treppen ist diese Jagd nicht ganz so spannend, aber immerhin) und ihn dann mit dem Handtuch als Römer verkleide oder ihm einen riesigen Turban daraus mache, so dass er wie ein Maharadscha aussieht.
Bevor er heute Abend schlafen ging, probierte ich aus, ob der Teil des Pullovers, den ich neu begonnen hatte, nun besser passte. Scheint diesmal zu klappen, könnte höchstens ein bisschen zu groß sein. Dann kuschelte Gene sich unter die Decke, und wir unterhielten uns.
»Du hättest auch Popeye gucken sollen«, erzählte er. »Popeye wollte nämlich in den Zirkus, und da kam Bluto mit diesem großen Mann, und da war dieser Ofen, und Olive Oyl war da drin, und dann hat es Knall gemacht, und dieser Mann, nicht Bluto, sondern der andere, der wurde von dem Drachen erwischt, und Popeye ist auf dem Fahrrad gefahren …«
Die Handlung eines Films wiederzugeben, beherrscht offenbar niemand, nicht einmal Kinder.
»Ach, wirklich?«, sagte ich. »Klingt aufregend.«
»Es war aber nicht aufregend, Oma«, widersprach Gene ungehalten. »Es war lustig. Du hast nicht richtig zugehört. Jetzt hör richtig zu. Dann kam Bluto zurück, und dann war da der große Knall, und …«
Ich muss zugeben, dass ich in diesem Moment aus unerfindlichen Gründen plötzlich Louis vor mir sah. Seine Karte habe ich inzwischen wirklich weggeworfen. Wäre doch unmöglich, ihn anzurufen. Und dennoch fragte ich mich, ob wir uns tatsächlich wiedersehen würden. Irgendwie hoffte ich das schon, musste ich mir eingestehen.
4. Oktober
Gestern Abend kam ein amerikanisches Paar zum Essen. Der Mann war Psychologe im Ruhestand, betreute aber noch einige Forschungsprojekte, und Jack hoffte, vielleicht für ihn arbeiten zu können. Sie kamen um halb sieben – die Amerikaner haben sonderbare Essenszeiten – und wollten nichts außer Mineralwasser trinken. Zum Glück hatte Jack für mich und Chrissie Weißwein im Haus.
Der Mann, Lennie, war einer dieser traditionellen amerikanischen Männer: graue Haare, Hemd von Brooks Brothers, exzellente Manieren, hochgebildet, interessiert an allem, aber vollkommen unverbindlich. Man konnte sich hervorragend mit ihm unterhalten, und er schien erfreut zu sein über mein Interesse an ihm. Dennoch kam er mir nicht wie ein menschliches Wesen vor. So ungreifbar. Er war achtundsiebzig, und als wir irgendwann das Thema Krankheit und Tod streiften, sagte er lächelnd: »Ach, das ist kein gutes Gesprächsthema für einen schönen Abend wie diesen!« Ich erwiderte: »Weshalb denn nicht? Ist der Tod nicht eines der interessantesten Themen für alte Menschen wie uns?« Doch er lächelte unbeirrt weiter und fragte: »In welchem Viertel von London wohnen Sie denn?« Und mir wurde klar, dass es extrem unhöflich gewesen wäre, auf meinem Thema zu beharren.
Seine Frau Martha hätte man früher als »Blaustrumpf« bezeichnet. Sie hatte einen Abschluss vom Vassar College und war eindeutig überzeugte Feministin. Martha war zierlich und lebhaft, hatte so eine dunkle, kehlige Stimme wie Lauren Bacall und sprach sehr laut. Sie trug Seidenhosen, hatte einen krausen grauen Haarschopf, und ihr runzliges Gesicht war quasi ungeschminkt.
Beim Essen sagte sie unvermittelt: »Als Feministin … und da spreche ich sicher auch für die anderen Frauen hier …« Ist mir schon peinlich, aber ich konnte mich nicht beherrschen und fiel ihr ins Wort: »Ach, für mich nicht, Martha. Ich bin keine Feministin. Ich glaube nur an die Gleichberechtigung.« Das brachte die Unterhaltung etwas ins Stocken, weshalb ich dann, als sie auf Jane Fonda zu sprechen kam und die Meinung vertrat, sie hätte durch ihr Lifting die Werte der Frauenbewegung verraten, schön den Mund hielt.
»Ich würde mich niemals liften lassen«, verkündete Martha. »Das seht ihr sicher auch so. Mein Gesicht ist schließlich ein Palimpsest, in dem meine gesamte Vergangenheit verzeichnet ist – meine seelische Reise –, das Lachen, die Schmerzen. Die Freude! Ich bin doch ein menschliches Wesen! Ich will nicht, dass die Geschichte aus mir getilgt wird! Und man merkt es ja auch immer«, fuhr sie fort und blickte wissend in die Runde. »Ich weiß immer, wenn an einer Frau herumgeschnippelt wurde, Sie nicht auch?« Sie tätschelte mir schwesterlich das Knie. »Diese Gesichter sind immer künstlich und ausdruckslos.«
»Ein schlechtes Lifting bemerkt man tatsächlich«, äußerte ich diplomatisch. »Ist das nicht wie bei einem gut oder schlecht ausgeführten Mord?«
Martha blickte etwas verdattert. »Ich weiß nicht, wie Sie das mit dem Mord meinen«, sagte sie und lachte. »Aber ich beobachte, dass alte Menschen sich entweder liften lassen und krampfhaft versuchen, jung zu bleiben, oder sie geben einfach auf. Manche Menschen in meinem Alter haben die Fähigkeit zum Staunen verloren. Nichts kann sie mehr überraschen. Das finde ich so traurig.«
»Ich staune auch nicht mehr«, erwiderte ich recht patzig. »Und ich finde das großartig. Ich lege mehr Wert auf Lebenserfahrung und Weisheit. Mich erstaunt oder überrascht nicht mehr vieles, und ich empfinde das als ausgesprochen angenehm, kann ich Ihnen sagen! Meine Liebe«, fügte ich dann noch hinzu, um meinen Worten die Spitze zu nehmen.
Das brachte die arme alte Martha etwas aus dem Tritt, weshalb ich ihr später sagte, dass sie wunderbar aussehe. Um meinen Ausrutscher wieder wettzumachen, heuchelte ich dann beim Gespräch über Bücher große Überraschung – quasi Erstaunen – über ihre ziemlich klischeehaften Ansichten. Auweh, eine der schlimmen Tücken des Alters ist, dass man den Mund nicht halten kann. Und dabei sind Amerikaner so versessen darauf, sich das Leben schönzureden. »Was einen nicht umbringt, macht einen härter«, äußerte Martha mehrmals. Dabei dachte ich jedes Mal: Was einen nicht umbringt, verletzt einen und hinterlässt üble Narben. Als sie sagte: »Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere«, hätte ich am liebsten erwidert: »Wenn sich eine Tür schließt, wird einem die nächste vor der Nase zugeschlagen.« Aber ich vermute mal, meine Ansichten zu ihren offenbar aufrichtig empfundenen Plattitüden wären nicht allzu gut angekommen.
»Tut mir furchtbar leid, ich hätte mich bei dem Thema mit dem Staunen und dem Mord viel mehr zurückhalten müssen«, sagte ich zu Chrissie, als wir später gemeinsam den Tisch abräumten.
»Ach, Unsinn. Jemand muss ihnen mal die Meinung sagen. Das ist das Problem mit den Amerikanern. Weißt du, Marie, ich fühle mich hier manchmal so extrem europäisch, ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. In England habe ich mich nie europäisch gefühlt, aber hier komme ich mir wie ein italienischer Olivenbauer oder ein alter österreichischer Philosoph vor. Die Mentalität ist so anders. Man muss immer nur fröhlich sein. Ich fühle mich hier manchmal schon ein bisschen einsam, kann ich dir sagen. Es tut Leuten wie ihnen gut, wenn sie mal andere Ansichten zu hören kriegen. Und war es nicht superkomisch, als sie von dem Lifting anfing? Ich konnte mich kaum beherrschen!«
Ich war Chrissie dankbar, weil ich mir ziemlich unhöflich vorgekommen war. Und natürlich freute ich mich insgeheim, dass meine Familie sich doch nicht so nahtlos in die amerikanische Gesellschaft einfügte, wie sie mir das wohl gerne vermittelt hätte.
Als ich mich ins Bett legte, habe ich wieder die Heizdecke eingeschaltet, die sie mir gegeben haben. Draußen ist es wie in der Sauna, aber in der Wohnung wird es so kalt – obwohl die Arcon inzwischen repariert ist –, dass man eine Heizdecke braucht, um nicht zu erfrieren.
5. Oktober
Heute war Gene in der Schule. Bin durch die Gegend spaziert und habe mich recht verloren gefühlt. Und außerdem völlig zerlegt, wie Archie immer zu sagen pflegte, durch die sonderbare Wärme. Diese extremen Unterschiede zwischen Wärme draußen und Kälte in den Räumen kann nicht gut für mich sein.
Ich wanderte den Broadway Richtung Carnegie Hall entlang, vorbei am Russian Tea Room – noch immer ein prachtvolles Reich voller Spiegel, Kronleuchter und Verrücktheiten. Ich mochte dieses Restaurant zwar lieber, als es schäbig und verkommen und zugleich glamourös war. Doch das Leben muss weitergehen, wie Martha vermutlich gesagt hätte. Wenigstens existiert es noch. Schließlich ging ich ins MOMA, das Museum of Modern Art – eines dieser Museen, in denen die Architektur viel interessanter ist als die Kunst –, und war danach so erledigt, dass ich mich auf den Heimweg machte.
Doch unterwegs konnte ich nicht widerstehen, in ein tolles Deli am Broadway einzukehren, dessen Angebot Martha als »hinreißend köstlich« beschrieben hatte, und es sei auch »so sehr New York« mit seinen Bagels und Käsekuchen, eingelegten Gurken, Räucherlachs und Gefillte Fisch. Ich bestellte mir eine Tasse Kaffee, und nachdem ich eine halbe Stunde die Leute beobachtet hatte, merkte ich, dass ich mich langweilte. Wie konnte es passieren, fragte ich mich, dass ich mich in New York langweilte? Nun ja, ich hatte das Touristenprogramm absolviert. Und ich bin eben in einem Alter, in dem eine weitere Ausstellung nur noch eine weitere Ausstellung ist.
Viel lieber wäre ich mit Gene zusammen gewesen oder hätte mich mit Jack oder Chrissie unterhalten. Oder hätte bei mir zuhause irgendetwas gemacht. Während ich dasaß und auf die hupenden gelben Taxis und die Autos starrte, wünschte ich mir wirklich fast, ich könnte noch staunen wie Martha. Und sagte mir, dass ich vielleicht zu hart mit ihr umgesprungen war. Als mir dann plötzlich eine zierliche Frau mit grauer Mähne von einem anderen Tisch aus zuwinkte, war ich deshalb höchst erfreut, das temperamentvolle Palimpsest daselbst zu erblicken.
»Setzen Sie sich zu mir!«, rief Martha strahlend. »Die einzige Frau in New York, die keine Feministin ist! Sie sehen toll aus!« Es ist immer ziemlich nervig, wenn das Gegenüber diese Bemerkung zuerst loswird. Selbst wenn man mit viel Nachdruck »Und Sie erst!« erwidert, hat das nicht denselben Effekt, finde ich. »Essen Sie ein Sandwich mit mir«, schlug sie vor. »Das Pastrami hier ist hinreißend!«
»Hm«, sagte ich gedehnt, »ich bin ein bisschen zickig, was tierische Fette angeht, aber wenn Sie meinen.« Ich merkte plötzlich, dass ich ziemlichen Hunger hatte, obwohl es erst Mittag war.
»Vergessen Sie tierische Fette! Für solche Bedenken ist das Leben zu kurz!«, erwiderte Martha mit einem deftigen Lachen und bestellte Pastrami-Sandwiches.
»Ich warte auf meinen Patensohn«, erklärte sie dabei. »Ich gehe nachher mit ihm ins MOMA. Im Moment macht er ein Interview mit einem alten Beat-Poeten, der noch im Village lebt.«
Ich wollte ihr gerade von meinem eigenen Ausflug ins MOMA Bericht erstatten, als ich mich ausrufen hörte: »Das kann ich unmöglich alles essen!« Meine Mahlzeit – Sandwich konnte man das nicht mehr nennen – war erstaunlich schnell serviert worden, und vor mir stand ein riesiger Teller, auf dem zwei gigantische Brotstücke lagen, gefüllt mit so viel Grünzeug, als hätte man ein Gewächshaus geplündert, sowie einem halben Rind. Rundherum erhoben sich Berge von Kohlsalat und Cornichons. Der Kellner platzierte noch eine Reihe kleiner Badewannen voller Soßen, Pasten und Salsas vor uns. Er hatte auch genügend Papierservietten für ein großes Bankett mitgebracht.
»Guten Appetit!«, trällerte er und verschwand.
Es stellte sich heraus, dass Martha drei Enkel hatte, so dass wir uns ausführlich über Großmutterfreuden austauschen konnten. Dann berichtete ich von dem Fiasko mit der Security in Heathrow, und Martha johlte vor Lachen und sagte, sie wisse, wo man hier gut Stricknadeln kaufen könne. Ich überlegte gerade, wie man das nun mit der Rechnung lösen sollte, und ob es höflicher war, selbst zu bezahlen oder es ihr zu überlassen, als ein großer, sympathisch aussehender Mann hereinkam und ich verblüfft feststellte, dass es sich um Louis handelte. Und er steuerte auch noch auf unseren Tisch zu.
»Das ist doch wohl nicht Ihr Patensohn, oder?«, fragte ich Martha, die ihm wild zuwinkte. »Louis?«
»Hallo, mein Lieber«, begrüßte ihn Martha und küsste Louis herzlich auf beide Wangen. »Das hier ist meine neue liebe Freundin aus England – Marie Sharp!«
Ich kam mir plötzlich vor wie in einem Audrey-Hepburn-Film und fragte mich, weshalb ich nicht eine braune Papiertüte mit Einkäufen im Arm hielt, aus der eine Selleriestange herausragte, und weshalb wir nicht alle die Tische beiseiteschoben und zu singen anfingen.
»Na so was!«, sagte Louis breit grinsend, als er sich einen Stuhl herauszog. »Sehen Sie, ich habe immer Recht! Und ich musste nicht mal die Kripo bemühen!«
»Ihr kennt euch?«, fragte Martha.
»Wir waren im selben Flugzeug«, erklärte Louis und setzte sich. »Und ich war mir sicher, dass wir uns wiedersehen würden. Ich habe es gehofft …« Er warf mir ein wissendes Lächeln zu. »Und so ist es nun wahrhaftig. Ist das nicht grandios! Und welche Verbindung gibt es zwischen euch beiden fantastischen Ladys?«
Weil ich so viel an ihn gedacht hatte, verschlug es mir jetzt die Sprache. Mir fiel einfach nichts ein, was ich sagen konnte. Ich war so stumm, dass ich mir überlegte, ob ich einen kleinen Schlaganfall gehabt hatte und überhaupt nie wieder sprechen würde. Ich machte einen Versuch, dem Kellner zu signalisieren, dass ich zahlen wollte, indem ich tonlos mit den Lippen das Wort »Rechnung« bildete. Doch der Mann betrachtete mich lediglich fragend, bis ich das Schreiben der Rechnung pantomimisch darstellte. Das brachte ihn sofort an unseren Tisch. Danach konnte ich dann auch wieder sprechen. Martha schlug vor, dass wir zusammen ins MOMA gehen sollten.
»Hervorragende Idee!«, sagte Louis.
»Aber ich …«, begann ich, doch der Rest des Satzes blieb mir wieder im Hals stecken.
»Na, kommen Sie, keine Widerrede«, sagte Louis und ergriff meine Hand, um mich hochzuziehen. Und als er mich berührte, spürte ich diesen furchtbar vertrauten Funken überspringen, der für jede Frau jeden Alters nichts Gutes verheißt.
Es gelang mir kaum, Martha anzuschauen. Merkte sie etwas?
7. Oktober
Der gemeinsame Ausflug ins MOMA machte großen Spaß; ich hoffte nur die ganze Zeit, dass keiner der Angestellten mich wiedererkennen und mit amerikanischer Freundlichkeit sagen würde: »Ach, schon das zweite Mal heute hier, das Museum scheint Ihnen wirklich gut zu gefallen!« Es gab nur einen Makel, und zwar, als Martha uns auf dem Hinweg in einen Strickladen schleppte, was mir sagenhaft peinlich war. Louis sollte doch bloß nicht erfahren, dass ich strickte – die Alt-Tanten-Beschäftigung schlechthin! Aber er nahm alles gelassen, und als es an der Zeit war, Gene von der Schule abzuholen, hatte ich meine Meinung über Martha komplett revidiert. Ganz ehrlich, ich kann so eine Zicke sein. Marthas übertriebener Optimismus mag zwar vollkommen absurd sein (was sie durchaus selbst so ausdrücken könnte), aber sie ist zweifellos eine herzliche und lebensfrohe Frau. Das ist das Problem mit den Amerikanern. Zuerst fühlt man sich in ihrer Nähe wie ein weiser alter Olivenbauer, aber dann kommt man sich durch ihre Freundlichkeit und Offenheit im Nu so steif und humorlos vor wie die Karikatur des klischeehaften Engländers. »Neue liebe Freundin!« Hat mich umgehauen.
Louis war witzig, geistreich und charmant. Der Altersunterschied wäre natürlich nicht so drastisch, wenn ich zwanzig und er vierzig wäre. Aber so ist es nun mal nicht. Wenn die Frauen in einer Beziehung älter sind, hat das immer was Unheimliches. Daran ist nicht zu rütteln. Ich weiß noch, wie ich mich fühlte, als Penny mit Gavin zusammen war, diesem viel jüngeren Mann, den sie übers Internet kennen gelernt hatte. Es war irgendwie peinlich, sie so verliebt zu erleben. Doch das Furchtbare ist, dass ich gerade merke, wie mir dasselbe widerfährt. Und ich spüre, dass Louis auch auf mich steht, denn in meinem Alter (eine Formulierung, die ich in Louis’ Gegenwart niemals benutzen würde) hat man so viel Erfahrung mit Beziehungen, dass man so etwas auf Anhieb merkt. Er sucht ständig meinen Blick, legt mir den Arm um die Schultern, wenn er mir etwas zeigen will, und sowie von einem Film die Rede ist, murmelt er: »Den müssen wir uns zusammen anschauen.« Es ist sonnenklar. Wenn wir zusammen unter dem Sternenhimmel wären, würde er mir zweifellos den Großen Wagen zeigen – meiner Erfahrung nach immer ein Zeichen dafür, dass jemand verrückt nach einem ist. Er hat es schlau angestellt, an meine Handynummer zu kommen, indem er sagte, wir müssten unsere Nummern austauschen, falls wir uns zwischen den Jackson Pollocks verlieren würden, und ich bin sicher, dass er anrufen wird.
Deshalb spazierte ich danach schwungvoll von dannen, um Gene von der Schule abzuholen. Als ich zwischen puerto-ricanischen Kindermädchen und Müttern, die ihre dicken Jeeps in zweiter Reihe geparkt hatten, auf die Kinder wartete, piepte mein Handy zweimal. Ich hatte zwei SMS bekommen. Die eine war von Louis, und sie lautete: »Wann sehen wir uns wieder?« Die andere war von Sylvie. »Daddy liegt im Sterben. Fragt nach dir.«
Einen schrecklich treulosen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, Sylvie zu erzählen, ich hätte mein Handy zuhause vergessen und die SMS nie bekommen. Aber ich wusste, dass es keinen Ausweg gab.
Ich musste nach Hause fahren.
8. Oktober
»Aber du bist doch gerade erst angekommen!«, rief Jack aus, als ich ihm die Nachricht mitteilte. »Du kannst jetzt nicht wieder heimfahren! Und du sagst doch selbst, dass Archie dich kaum mehr erkennt. Muss das wirklich sein?«
»Und du hast versprochen, dass wir mein Halloween-Kostüm zusammen basteln!« Gene zupfte an mir herum und machte ein trauriges Gesicht.
»Es geht nicht anders«, sagte ich zu Jack. »Ich bin ganz wütend und würde am liebsten schreien, aber ich muss heimfahren. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn er stirbt und ich nicht mehr bei ihm gewesen bin. Vor allem, wenn er nach mir fragt.«
»Ich finde das ziemlich verrückt, Mom«, erwiderte Jack. »Du hast so viel Geld ausgegeben, um herzukommen, und wir haben noch so viel geplant, und jetzt fährst du einfach wieder ab. Du hast ja den Jetlag kaum überwunden.«
Aber ich wusste, dass es unumgänglich war. Nachdem ich meinen Flug auf morgen umgebucht hatte, fing ich zu packen an. Und weinte dabei – vor Enttäuschung. Ich hatte gerade einen netten Mann kennen gelernt, ich genoss die Zeit mit meiner Familie, ich hatte eine neue Freundin gewonnen. Und jetzt das.
Als ich Gene Gute Nacht sagte, sah er ziemlich traurig aus. Er hatte seinen Flugzeugschlafanzug an und umklammerte seinen Teddy, und mir tat das Herz weh bei diesem Anblick. »Wann musst du weg?«, fragte er kläglich.
»Leider gleich morgen«, antwortete ich. »Ich muss zurück, mein Schatz. Archie geht es ganz schlecht. Ich kann nicht anders. Glaub mir, ich würde nichts lieber tun, als hierzubleiben.«
Gene starrte eine Weile auf seine Bettdecke. Dann blickte er auf und sagte, ein bisschen heiterer: »Ich weiß ja, dass du heimfahren musst, Oma. Es wär halt nur schöner, wenn du hierbleiben könntest.«
Seine Ernsthaftigkeit und seine Einsicht hatten etwas so Erwachsenes, dass ich mir plötzlich selbst wie ein Kind vorkam. Aber es gab kein Zurück, ich durfte mich nicht umstimmen lassen. Und ich dachte mir, dass es für Genes Leben vielleicht ein wichtiges Erlebnis war, wenn er verstand, dass ich meine Pflicht erfüllen musste. Es gibt eben Dinge, die getan werden müssen, ob man nun will oder nicht.
Die Stimmung beim Abendessen mit Jack und Chrissie war gedrückt – auch sie waren enttäuscht. Aber später legte Jack den Arm um mich und sagte: »Tut mir leid, dass ich vorher so patzig war, Mom. Es hat mich nur getroffen, dass du jetzt wegmusst. Wir wissen sehr wohl, dass es nicht anders geht. Und in ein paar Monaten versuchen wir vielleicht mal rüberzufliegen. Oder wir sehen zu, dass wir genügend Geld zusammenkriegen, damit du wieder herkommen und richtig lange bleiben kannst.«
»Ich hab diese ganzen Bonusmeilen von meinen Geschäftsflügen oder wie auch immer das heißt«, ergänzte Chrissie. »Vielleicht kann ich die umwandeln. Irgendwas wird schon klappen. Natürlich musst du jetzt zurück. Du wirst uns fehlen. Aber mach dir keine Gedanken.«
Unwillkürlich musste ich daran denken, dass all das nicht passiert wäre, wenn sie noch in London leben würden. Dann könnte ich Archie besuchen und trotzdem rechtzeitig wieder zurück sein, um Gene am nächsten Tag von der Schule abzuholen. Aber so ist es nun mal. Dieser Satz ist wohl eine Art geflügeltes Wort bei Oldies. Man bringt damit zum Ausdruck, dass man wohl oder übel die Situation so annimmt, wie sie ist. Nicht zu ändern.
Ich war so verstört, dass ich beinahe vergaß, Louis eine Nachricht zu schicken. Als ich es tat, bekam ich eine sehr nette Antwort. »Dann sehen wir uns in London! Bin nächsten Monat dort wegen meiner Mom. Bis dahin! Herzliche Grüße!« Danach ging es mir besser. So ist es nun mal.
10. Oktober
Absolut ENTSETZLICHEN Rückflug gehabt. Als Erstes waren die Security-Leute wirklich so dreist, WIEDER meine Stricknadeln einzukassieren! Ich meine, ich war auch selbst schuld, nach der ersten Erfahrung hätte ich es besser wissen müssen. Aber das neue Rückenteil war schon zur Hälfte fertig, und ich hatte dann so die Nase voll, dass ich denen am liebsten auch noch die Wolle in die Hand gedrückt und das ganze Projekt aufgegeben hätte. Habe ich aber nicht getan. Ich zog wieder die Nadeln sehr vorsichtig aus dem Strickzeug, damit ich wenigstens einen Teil retten konnte, wenn ich mir in London wieder neue Nadeln gekauft hatte, und überreichte sie mit höhnischem Grinsen dem stämmigen, stur dreinblickenden Uniformierten. Wobei ich hoffte, er würde auf sie stürzen, und sie würden sich in seinen Hintern bohren. Oder ins Auge.
Ich meine, ganz im Ernst – wer könnte wohl mit ein paar fünf Millimeter dicken Stricknadeln ein Flugzeug entführen? Das ist doch völlig absurd. Und als ich mich, Beistand heischend, zu den anderen in meiner Schlange umdrehte, blickten die alle demonstrativ unter sich. Mir schien, die hatten alle Angst, wenn sie bei der Security unangenehm auffielen, würden sie nach Guantanamo Bay geschickt.
Als ich dann in Heathrow eintraf, halb tot vor Jetlag, und mein Gepäck vom Förderband zerrte, verhakte sich einer der Koffer – so ein Rollenkoffer –, und ich fiel hin, was mir furchtbar peinlich war. Zum Glück kamen diverse Leute angerannt, halfen mir auf und fragten, ob alles in Ordnung sei. Obwohl die meisten wohl dachten, ich hätte mir im Flugzeug zu viele Gratisdrinks hinter die Binde gekippt.
Ich bin seit meinem vierzehnten Lebensjahr, als ich auf einer Landstraße in Gloucestershire vom Rad fiel, nicht mehr gestürzt, und wunderte mich, dass mein erster Impuls darin bestand, aufzuspringen und so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, obwohl ich mir vielleicht das Rückgrat gebrochen, den Schädel angeknackst und die Hüfte ausgerenkt hatte. Jedenfalls konnte ich mich auf den Beinen halten, aber weil meine Strumpfhose völlig zerrissen war und meine Knie bluteten, gönnte ich mir ein Taxi, anstatt zum Zug zu humpeln. Außerdem war es ohnehin einer dieser grauen, nieseligen Oktobertage, an denen man möglichst schnell nach Hause will.
Der Taxifahrer erkundigte sich, was mir zugestoßen sei, und ich ächzte kläglich: »Hab mir vielleicht den Rücken ruiniert.«
»Mein Rücken macht zurzeit so oft schlapp wie andre Teile«, erwiderte der Mann darauf. »Ham Sie kapiert?« Von der Sorte war er also. Später klingelte sein Handy, und obwohl das verboten ist, ging er ran und quatschte los. »Echt jetzt? Und biste nur dagestanden oder biste abgehaun? Bist ihm auf den blutenden Kopf gesprungen, oder hast’n Krankenwagen gerufen? Lass mich raten. Du bist abgehaun, oder? Hahaha!«
Ich war also extrafroh, als ich endlich zuhause ankam. Und freute mich riesig, den guten alten Pouncer zu sehen, der seinerseits so begeistert war, dass er mir einen Haufen Haare abgab, die er offenbar eigens für meine Rückkehr aufbewahrt hatte. Doch dann blieb mir fast das Herz stehen, weil ich etwas Grauenhaftes mitten in meinem Wohnzimmer entdeckte.
Ich erschrak entsetzlich. Das Objekt – das wie eine heidnische Ritualstatue aussah – bestand aus einem glotzenden, mit Stacheldraht umwickelten Schafsschädel auf einem Besenstiel, der auf einem Mülltonnendeckel befestigt und von rostigen Konservendosen umgeben war. Das Ganze war mit einer Art Toga aus Luftpolsterfolie drapiert, die segensreicherweise das mit Rohrschellen an dem Gebilde befestigte Gehgestell verdeckte. Eine grellorange Plastikrose ragte aus einer der Augenhöhlen wie eine Antenne. Auf dem Teppich lagen diverse Zangen, ein Hammer und Arbeitshandschuhe, und bei diesem Anblick wurde mir klar, dass es sich offenbar um James’ Installation handelte, die mich darstellen sollte und die er wohl hier vollenden wollte.
Nach dem Schock war ich so erschöpft, dass ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinen sollte, und rief vollkommen durcheinander Penny an, um ihr alles zu erklären.
»Ach du Ärmste!«, sagte sie. »Komm doch vorbei, dann essen wir zusammen zu Abend. Du musst ja völlig fertig sein! Oder soll ich zu dir kommen und Essen mitbringen, und wir gucken uns das grässliche Ding gemeinsam an?«
»Komm morgen«, antwortete ich. »Ich muss sofort ins Bett. Bin total erledigt.«
Habe meinen Koffer unten stehen lassen, weil ich es nicht schaffte, ihn die Treppe hochzuschleifen. Werde ihn morgen unten auspacken und die Sachen einzeln hochtragen.
Typischer Alte-Leute-Trick.
11. Oktober
Um die Mittagszeit aufgestanden, wusste nicht, welchen Tag wir haben und wie ich heiße, und fühlte mich grauenhaft. Da ich früher wieder hier war als geplant, wurde der »Hetzkurier« nicht geliefert, aber Penny hatte netterweise einen in den Briefkasten gesteckt, was wirklich süß von ihr ist.
»ANNIE NOONA VON DROGEN-FREUND ERMORDET!«, teilte man mir mit. Und weiter unten: »Zwanzig Tote bei Massaker in Oberschule!«
Arme Annie. Und arme Schüler. Aber immerhin mal was anderes als der drohende Weltuntergang.
Bevor ich am Vortag ins Bett gesunken war, hatte ich natürlich noch Sylvie angerufen. Aber sie ging nicht an ihr Handy, und als ich in der Residenz Abendlicht anrief, weigerte man sich, mir Auskünfte zu geben, weil ich keine Verwandte war. Doch ich gehe davon aus, dass Archie noch am Leben ist.
Nachdem ich einen kurzen Blick auf den »Hetzkurier« geworfen hatte, rief ich Sylvie nochmals an. Und ich konnte kaum glauben, was sie zu berichten hatte. Archie war immer noch sehr krank, hatte sich jedoch wieder erholt! Keine Notlage mehr! Ich war also im Eiltempo aus den Staaten zurückgekehrt, und nun lag Archie nicht mehr im Sterben, sondern weilte unter uns.
»Ach, Marie«, erzählte Sylvie. »Es war so schlimm. Du weißt ja, dass er eine Patientenverfügung hat und alles. Und ich habe denen gesagt, dass sie ihn nicht reanimieren sollen. Aber den einen Abend hatte ein neuer Arzt Dienst, der auf nichts hören wollte, und der hat ihn mit Antibiotika vollgepumpt, und nun lebt er noch! Oh, ich weiß, es klingt furchtbar, wenn man so etwas über den eigenen Vater sagt, aber ich kann es nicht ertragen, ihn so zu erleben, so verwirrt und unglücklich! Und anstatt ihn wegdämmern zu lassen, haben sie ihn nun zurückgezerrt, für wer weiß wie viele Jahre! Ich war furchtbar wütend und habe die Leiterin angerufen, und dann habe ich eine Kopie von der Patientenverfügung vergrößert und über sein Bett gehängt, damit alle Bescheid wissen – so etwas hätte niemals passieren dürfen! Das war an dem einen Tag, an dem ich mein Handy im Büro vergessen hatte, aber ich hatte denen gesagt, sie sollen mich auf meiner Festnetznummer anrufen, doch das haben sie nicht gemacht, deshalb wusste ich nichts … Das werde ich mir nie verzeihen.«
Das klang alles furchtbar deprimierend, muss ich sagen.
»Wann kann ich ihn besuchen?«, fragte ich.
»Die legen im Moment keinen Wert darauf, dass er Besuch bekommt«, antwortete sie. »Außer von nahen Anverwandten. Eigentlich darf nur ich zu ihm, aber ich sage dir sofort Bescheid, wenn es wieder erlaubt ist. Die haben höllische Angst vor einer Infektion.«
»Ich komme auf der Stelle, wenn du grünes Licht gibst. Ich bin extra aus New York zurückgekommen …«
»O nein!«, jammerte Sylvie. »Oh, das tut mir so leid!«
»Tja nun, nicht zu ändern. Ist nun mal so.«
»Aber dann wohn bitte wenigstens bei uns, ja?«
»Mach ich gerne«, sagte ich. »Danke dir.« Dann würde ich zumindest nicht mehr in dieser grauenhaften Pension übernachten müssen.
Jetzt habe ich jedenfalls Zeit, mich mit den E-Mails und Rechnungen zu befassen, die einen nach einer Reise erwarten. Und natürlich mit meinen Baumporträts. Die Blätter verfärben sich inzwischen und fallen teilweise auch schon ab. Erstaunlich, wie sich die Natur verändert über die Monate – vor allem, wenn man ihr Beachtung schenkt.
15. Oktober
Penny kam heute mit einem köstlichen Salat Niçoise ohne Thunfisch vorbei. Als sie die Installation sah, schrie sie auf und ließ um ein Haar den Salat fallen, was ich aber im letzten Moment verhindern konnte. Nachdem sie wieder Luft bekam, kriegten wir beide einen Lachanfall.
»Wenn er seine besten Freunde so darstellt, möchte ich nicht wissen, was er mit seinen Feinden anstellen würde«, sagte Penny schließlich und wischte sich die Augen trocken. »Soll diese Luftpolsterfolie dein Kleid sein? Und diese Rose dein Augapfel? Warum steht er so vor wie bei einem Alien?«
Dann holten wir uns Wein, und da es ein besonders milder Oktoberabend war, aßen wir im Garten, umgeben von duftenden Tabakpflanzen. Die Calibans sind nun endgültig spurlos verschwunden. Sechs Pfund fünfzig im Eimer.
Ich hatte immer gedacht, ein Salat Niçoise bestünde quasi aus Thunfisch – was eben sein großer Nachteil ist. Penny findet Thunfisch auch eklig, und deshalb hatte sie den Salat mit Bergen von Sardellen, schwarzen Oliven und hart gekochten Eiern gemacht. Er schmeckte unglaublich lecker.
Als wir zu essen anfingen, legte Penny den Kopf schief und horchte. »Erstaunlich still«, bemerkte sie. »Was ist denn aus dem …«
»Pst!«, zischte ich und hoffte, dass Sharmie nicht nebenan lauschte.
Es war eine echte Erleichterung, mir die ganze elende Geschichte von der Seele zu reden, und Penny schüttelte den Kopf, während sie versuchte, ihr Gelächter zu unterdrücken. »Das Oma-Windspiel! Großer Gott! Du musst dich ja furchtbar gefühlt haben!«
»Stell dir mal vor, irgendein böser Nachbar in New York hätte irgendwas zerstört, das ich Gene als Erinnerung an mich geschenkt habe.«
»Denk nicht mal dran«, erwiderte Penny. »Ist aber im Zimmer der Kleinen sowieso besser aufgehoben. Und was willst du jetzt mit James’ Installation machen?«
»Meinst du, ich könnte vorschlagen, dass wir das Ding in den Garten stellen?«, fragte ich. »Schön versteckt? Ich dachte mir, vielleicht dort an der Seite – dann könnte man es nur sehen, wenn man am Ende des Gartens steht und zum Haus schaut.«
»Aber würde es denn Wind und Wetter aushalten?«, wandte Penny ein.
»Ich hoffe nicht. Aber weiß der Himmel, was Sharmie sich denkt, wenn sie aus ihrem Küchenfenster guckt und von diesem grausigen Ding aus einem Stephen-King-Roman angeglotzt wird.«
»Geschieht ihr recht, hätte sie nicht …« Penny hielt ein imaginäres Windspiel hoch, stieß es mit dem Finger an und machte: »Pling!«
»Wenn nur Gene hier wäre. Dann könnte ich sagen, ich hätte es aus Sicherheitsgründen rausstellen müssen, damit er sich nicht an dem Stacheldraht das Auge aussticht.«
»Schaff es einfach in den Garten«, ermunterte mich Penny. »James kann nicht erwarten, dass du das Teil in deinem Wohnzimmer behältst … Also«, sagte sie, als ich den Kaffee in den Garten trug, »jetzt zum Anwohnerverein und den Bauplänen.«
Wir beschlossen, für nächste Woche ein Treffen des Anwohnervereins einzuberufen und die Stadträte und den Abgeordneten dazu einzuladen. Pfarrer Emmanuel wollen wir fragen, ob wir das Treffen in seiner Kirche abhalten können, und vorher wollen wir überall Flyer verteilen, damit möglichst viele Leute kommen. Ich erklärte mich bereit, die Moderation zu übernehmen, und diverse Leute sollten Redezeit von drei Minuten bekommen. Ned zum Beispiel, der auf die Unentbehrlichkeit des Baumes hinweisen sollte, und vielleicht einer der respektableren Drogendealer, der darlegen sollte, wie wichtig es sei, dass sie in der Grünanlage ihre sabbernden Hunde ausführen können. (Auf die Drogendealer wollen wir keinesfalls verzichten, weil sie für Vielfalt und Authentizität stehen.) Brad von nebenan kann die rechtlichen Aspekte erläutern, und Tim scheint sich mit Open-Space-Projekten auszukennen, dann werde ich das Ganze zusammenfassen, und es wird Fragen geben, so dass man ungefähr eine Stunde veranschlagen muss. Ich bin sicher, dass die Sache groß genug für einen Bericht in der Lokalzeitung ist.
»Ich bin völlig fertig«, gestand ich, als wir alles durchgesprochen hatten und Penny aufbrach.
»Na, das wundert mich nicht!«, sagte sie. »Du bist gerade erst aus New York zurückgekommen, wo du eine anstrengende Zeit hattest, die Nachricht von Archie war ein Schock, auch wenn er jetzt noch am Leben ist, und du hast einen langen Flug hinter dir und Jetlag und bist auch noch gestürzt – was erwartest du?«
Die schreckliche Wahrheit ist, dass ich erwarte, so etwas locker wegzustecken. So war es früher immer. Ich war bekannt dafür, dass ich mit allem zurechtkam und weitermarschierte, was mir auch widerfahren war. Aber jetzt spüre ich manchmal mein Alter – ist das nicht grauenvoll? Als ich heute Morgen mit meinen Pantoffeln in die Küche kam, bemerkte ich ein sonderbares raschelndes Geräusch. Dann wurde mir klar, dass ich es erzeugte – ich schlurfte! Schlurfen! Schlurferin Sharp! Ich hätte nie geglaubt, dass ich jemals in meinem Leben schlurfen würde! Habe mir fest vorgenommen, künftig immer die Füße zu heben!
10:30 Uhr
Gerade eine SMS von Louis bekommen – er möchte meine E-Mail-Adresse! Fühle mich sehr geschmeichelt. Warte vielleicht aber ein paar Tage mit der Antwort, um nicht übereifrig zu wirken. Dann meldete sich Jack über Skype, um zu hören, ob ich gut angekommen war. Wirkte genauso fertig wie ich. Sie hatten sich darauf verlassen, dass ich mich um Gene kümmern würde, und sich jede Menge Arbeit vorgenommen, und jetzt müssen sie einen Babysitter organisieren und haben von einer Freundin eine junge Holländerin empfohlen bekommen, die wegen ihrer Doktorarbeit in New York ist und sich was dazuverdienen will. Sie wird auch nur ein paar Wochen dort sein. Meine überstürzte Abreise erzeugt also ziemliche Probleme.
Wie einfach wäre das alles, wenn sie hier wohnen würden! Dann könnte ich im Handumdrehen bei ihnen sein, und alle wären glücklich und zufrieden.
18. Oktober
Michelle ist total wütend aus Polen zurückgekehrt. Maciej will offenbar die Verlobung lösen, und sie hat herausgefunden, dass er tatsächlich eine neue Freundin hat. Also ist sie zu der nach Hause gegangen und hat sie mit Wasser überschüttet. Klingt wenig erbaulich, aber offenbar fühlte Michelle sich danach besser. Und über Maciej hatte sie nur noch Schlechtes zu sagen.
»Er iest dummer kleiner Junge. Geht mier besser ohne ihn. Gut, dass iesch bien ihn loss. Und er schnarscht«, fügte sie hinzu. »Und seine Füße, sie siend niescht gutt.«
»Vielleicht solltest du dir einen älteren Mann suchen«, schlug ich vor. »Einen, der reifer ist.«
Sie durchsuchte den Kühlschrank nach einem Yakult, nahm ihn heraus und stapfte nach oben.
23. Oktober
Kein Wort von Louis, obwohl ich ihm schon vor drei Stunden meine E-Mail-Adresse geschickt habe. O Gott, ich fange schon an, mich wie Michelle aufzuführen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich dieses »Schreibt er? Schreibt er nicht?« noch mal durchleiden müsste. Und jetzt das!
Sylvie rief an und berichtete, dass Archie immer noch keinen Besuch haben darf. Aber man hofft wohl, dass es in einer Woche möglich sein wird. Und nun zu James und seiner schauderhaften Installation.
»Ich finde sie wunderbar!«, log ich, als ich ihn anrief. »Ich wünschte, ich könnte sie mitten im Wohnzimmer stehen lassen, aber …«
»Nein, nein, das geht natürlich nicht«, sagte James. »Ich dachte, ein guter Platz wäre direkt vor der Verandatür, wo jeder sie sehen kann.«
»Wäre eine Idee«, erwiderte ich unverbindlich. »Lass uns mal überlegen. Weißt du, ich hatte gedacht, es gibt doch diesen unbelebten Bereich neben dem Haus, und wenn ich da die Mauer weiß streiche, könnte man die Installation vom hinteren Garten aus hervorragend sehen. Und sie hätte sozusagen ihren eigenen Ausstellungsraum …«
Ich beglückwünschte mich zu dieser Formulierung. Und ich merkte, dass sie James zu denken gab.
»Aber da würde niemand sie sehen«, wandte er zweifelnd ein.
»O doch natürlich, denn ich würde sie jedem zeigen, der in den Garten geht«, sagte ich fest. »Sie braucht wirklich ein individuelles Ambiente.«
Ich traute meinen Ohren kaum. »Individuelles Ambiente!« Offenbar war an mir ein Gebrauchtwagenhändler verloren gegangen. Ich fing schon an, mein eigenes Gesülze zu glauben.
24. Oktober
Heute Früh rief Sharmie an und sagte, mit ihrer Kinderbetreuung am Nachmittag sei was schiefgelaufen und ob ich vielleicht eine Stunde oder so auf Alice aufpassen könnte?
Bin gerührt und geschmeichelt von der Anfrage. Und völlig entzückt. Alice kann natürlich kein Ersatz für Gene sein – kleine Mädchen sind so anders als kleine Jungen –, aber sie ist jedenfalls ein Kind.
Und der Tag heute wurde noch schöner, weil ich endlich eine Mail von Louis bekam. Er berichtete von seiner Arbeit – hatte eine Mafia-Story in der IT-Branche recherchiert – und von einer Party, »aber keine der Frauen dort konnte dir das Wasser reichen«. Dann schrieb er, dass er im nächsten Monat in Oxford sein würde, weil seine Mutter irgendeinen schwerwiegenden Termin im Krankenhaus habe, und dass er es kaum erwarten könne, mich wiederzusehen. Er schloss mit »herzliche Grüße«, aber das reichte mir vollkommen. Den Rest des Tages war ich auf Wölkchen unterwegs.
Alice sah sehr blass aus, als sie vor der Tür stand. In ihren langen Haaren steckte ein strassbesetzter Reif, und sie hatte nicht nur einen riesigen Plüschhasen dabei, sondern auch ein niedliches Glitzertäschchen, in dem sie »ihre Juwelen« aufbewahrte, wie sie erklärte. Sie trug weiße Strumpfhosen, eine hübsches, gelb-grün gemustertes Kleid und rosa Ballerinas, die sie im Flur sofort auszog. Ich sagte natürlich nicht, dass man bei mir die Schuhe anlassen muss. Bin ja kein Ungeheuer.
Zuerst klammerte sie sich an ihre Mutter und wollte sie nicht gehen lassen, aber ich hockte mich hin – wobei meine lädierten Knie scheußlich knackten – und sagte: »Hör mal, wir beide machen was ganz Tolles für Mami, wenn sie weg ist … eine Überraschung … unser kleines Geheimnis.« Und dann flüsterte ich ihr ins Ohr, dass wir sie als Prinzessin verkleiden würden, und ein Lächeln trat auf ihr Gesicht.
Sharmie spielte mit. »Was heckt ihr beiden denn da aus?«, fragte sie und tat so, als würde sie lauschen. Alice sagte strahlend: »Geh weg, Mami, es ist ein Geheimnis!«
Ich hatte das nicht vorbereitet, aber wir spazierten in mein Schlafzimmer, durchforsteten Schränke und Schubladen und förderten eine indische Stola zu Tage, die wir in einen Rock verwandelten, sowie ein paillettenbesetztes Tuch, aus dem wir ein Oberteil machten, und ein leuchtend rotes Halstuch, das als Gürtel diente. Dann behängten wir Alice noch mit sämtlichen Broschen, Armbändern, Halsketten und Ohrringen, die meine Schmuckschatullen hergaben, und steckten ihr die Haare hoch. Sie war die hübscheste kleine Prinzessin unter der Sonne. So etwas hätte ich mit Gene niemals machen können.
Alice betrachtete sich verzückt im Spiegel. Dann nahm sie meine Hand und fragte ernsthaft: »Hast du auch Make-up?«
»Natürlich!«, sagte ich und ließ ihr freie Hand mit Lippenstift, Rouge und Eyeliner. Die Krönung war ein roter indischer Punkt zwischen ihren Augenbrauen. Dann besprühten wir sie mit einem Hauch teuren Parfums, und die Prinzessin war vollendet.
Als es klingelte, hatte ich gerade (auf Alices Drängen hin) Fotos von ihr gemacht, während sie sich im Spiegel bewunderte. Ich ging nach unten und machte Sharmie auf.
»Tu so, als erkennst du sie nicht«, flüsterte ich und rief: »Alice! Deine Mama ist hier!«
Alice schritt majestätisch die Treppe herunter, und Sharmie spielte ihre Rolle.
»Ach du liebe Güte!«, rief sie aus und warf die Hände in die Luft. »Was für eine wunderhübsche kleine Prinzessin! Aber wo«, sie wandte sich mit besorgter Miene zu mir, »ist denn meine Alice? Du hast sie doch wohl nicht verloren, oder? Ich hatte doch gesagt, dass du gut auf sie aufpassen musst.«
»Ich bin’s doch, Mama«, schrie die Alice-Prinzessin kichernd und rannte die Treppe hinunter. »Ich bin’s!«
»Nein«, sagte Sharmie verblüfft. »Das kann nicht sein. Du bist die kleine Prinzessin?«
»Kann ich es Papa zeigen?«, bat Alice. »Kann ich? Ja? Bitte, bitte …«
Die beiden versprachen, alles zurückzubringen, wenn Papa das bezaubernde Wesen gesehen hatte, und zogen von dannen. Und ich hatte dieses zufriedene und wohlige Gefühl, das ich von meinem Zusammensein mit Gene kannte – Erfüllung. Manchmal denke ich, dass man als Großmutter die Chance bekommt, selbst wieder Kind zu sein, ohne dabei das unangenehme Gefühl von Machtlosigkeit erdulden zu müssen. Mit einem Kind etwas zu erschaffen, die Fantasie schweifen zu lassen, ob man nun mit einem Fünfjährigen ein Gefängnis baut oder ein kleines Mädchen in eine Prinzessin verwandelt – das ist das großartigste und inspirierendste Gefühl der Welt.
Glaube ich jedenfalls.
25. Oktober
Habe jetzt grünes Licht für meinen Besuch bei Archie bekommen und muss sagen, dass mir irgendwie davor graut, ihn wiederzusehen. Es ist sonderbar, aber ich war so auf seinen Tod eingestellt, dass ich es jetzt – was ich niemandem außer meinem Tagebuch anvertrauen würde, nicht einmal Penny – gar nicht gut finde, dass er noch am Leben ist. Ich frage mich, ob andere Menschen so etwas auch empfinden. Ich meine, ich hatte mich innerlich auf Trauer, Bestattung, Erinnerungen vorbereitet, und nun steckte ich in demselben alten Muster wie vorher fest. Wie Sylvie schmerzte es auch mich, dass man ihn zum Weiterleben gezwungen hatte. Vermutlich wünschte ich mir – egoistisch –, um das trauern zu können, was ich verloren hatte. Und unter diesen Umständen war das nicht möglich.
Als ich um die Mittagszeit in der Residenz Abendlicht eintraf, musste ich im Flur warten, weil eine Schwester in Archies Zimmer war und irgendwelchen Wirbel veranstaltete: ihm den Puls fühlte, den Blutdruck maß und jede Hoffnung auf einen friedlichen Tod zunichtemachte. Ich starrte trübsinnig vor mich hin. In Archies Tür war ein kleines Fenster eingelassen, was vermutlich dazu diente, ihn nachts zu beobachten, damit er nicht irgendetwas Ungezogenes tat, wie in Frieden zu sterben. An der Wand mir gegenüber hing ein Poster von Monets Wasserlilien, und ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, obwohl andauernd alte Menschen in Rollstühlen an mir vorbeigekarrt wurden, zweifellos zu irgendeinem Vortrag oder einer anderen Zerstreuung, die vom Geschäft des Todes ablenken sollte.
»Kommen Sie mit, meine Liebe?«, sagte eine Schwester zu mir, als sie vorbeimarschierte. »Wird Ihnen Spaß machen. Aerobics im Sitzen. Jeder kann mitmachen.«
Der entsetzte Blick, als mir klar wurde, dass sie mich für eine Insassin oder vielmehr einen »Gast« – wie sie vermutlich sagen sollte – gehalten hatte, entging ihr wohl nicht, denn sie entschuldigte sich sofort. »Oh, tut mir leid, meine Dame. Aber Sie können trotzdem mitmachen, wenn Sie Lust haben.«
Aerobics im Sitzen? Das konnte nur als Witz gemeint sein. Sah ich wirklich aus, als wäre ich hier untergebracht? Ich stand auf, um mich in einem Spiegel zu begutachten, fand aber keinen. Sicher sollen Oldies keine Spiegel in der Nähe haben, damit sie nicht beim Anblick der gespenstisch schrumpligen Gestalten, in die sie sich verwandelt haben, vor Schreck tot umfallen. Beim Aufstehen fiel mir jedenfalls etwas Merkwürdiges auf. Der Saum meines Kleids. Ich runzelte die Stirn. Das Kleid hatte doch keine Borte? Ich schaute genauer hin. Und stellte entsetzt und beschämt fest, dass ich das Kleid verkehrt herum angezogen hatte. Kein Wunder, dass die Schwester gedacht hatte, ich würde hier wohnen. Ich betastete den Kragen und spürte das Schild außen. Panisch eilte ich ins nächste Klo, wo ich dann auch endlich einen Spiegel fand. Ich fürchtete plötzlich, dass die Arbeit meines Schönheitschirurgen wie im Märchen mit einem Glockenschlag um Mitternacht endete und mein Gesicht wieder so wie vorher aussah. Doch nein. Mein neues Gesicht war noch intakt. Ich legte kräftig Make-up nach und brachte meine Haare in Bestform, damit ich als Besucherin unverkennbar war, bevor ich mich wieder in den Flur wagte. Puh! Um ein Haar hätten die mich mit einem Beruhigungsmittel vollgepumpt, und ich hätte mich im Haus Abenddämmerung wiedergefunden, auf einem Toilettenstuhl vor dem Fernseher.
Ich nahm wieder meinen Platz vor Archies Zimmer ein, und schließlich kam die Schwester mit einem Klemmbrett heraus.
»Sie können jetzt zu ihm, Mrs Ship«, sagte sie. Dem Himmel sei Dank. Alles war wieder normal.
Ich schlich ins Zimmer. Archie lag im Bett, nur noch Haut und Knochen, bleich und hager und mit eingesunkenen Augen. An seinen dünnen Armen waren Infusionen befestigt. Er starrte an die Decke. Es war erstickend heiß im Zimmer, und es roch nach Desinfektionsmittel. Ich versuchte, ein Fenster zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen, doch es war verriegelt. Schließlich machte ich die Tür zum Garten auf, und die kühle Luft, die hereindrang, brachte einen Hauch von Leben ins Zimmer. Ich ließ die Tür angelehnt und wandte mich um.
»Hallo Liebling«, begrüßte ich ihn leise.
Archie drehte den Kopf in meine Richtung und gab eine Art ersticktes Keuchen von sich. Er bewegte sich leicht, als wolle er sich aufsetzen.
»Hallo«, sagte er mühsam. Sein Mund schien ganz ausgetrocknet zu sein. »Meine Schöne.«
Ich gab ihm ein bisschen Wasser zu trinken und schüttelte sein Kissen auf. Dann setzte ich mich zu ihm und streichelte seine Hand. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Manchmal stöhnte er und bewegte sich ein bisschen oder versuchte zu sprechen. Schließlich redete ich einfach irgendetwas. Ich erzählte von New York, der Familie, dem Flug, dem Herbst, James’ verschrobener Installation, ohne zu wissen, ob er irgendetwas davon verstand.
Dann dachte ich: Das ist doch absurd. Ich benehme mich wie diese blöden Schwestern, die ihn zwanghaft am Leben erhalten und andauernd so tun, als wäre alles in Ordnung. Ich nahm meinen Mut zusammen. Auch weil ich mich an meinen letzten Besuch bei Hughie erinnerte und wusste, dass es der falsche Zeitpunkt war, um höflich oder heiter zu sein. Draußen setzte allmählich die Dämmerung ein.
»Liebling«, sagte ich, »du sollst wissen, dass diesmal alles gut sein wird. Sylvie und ich werden dafür sorgen, dass du bald einschlafen und Frieden finden kannst. Wir wissen, was du willst, mein Liebling. Das ist alles zu viel für dich, ich weiß. Es ist schmerzhaft und mühsam, und bald wirst du Frieden finden, endlosen Frieden. Ich verspreche es dir …«
Als ich meine Hand auf seine kalte trockene Stirn legte, spürte ich, wie die Anspannung aus seinem Körper wich. Sein Gesicht, das so verkrampft gewirkt hatte, als ich hereinkam, wurde weich, und er führte langsam meine Hand zu seinen Lippen, um sie zu küssen. Dann sagte ich: »Weißt du, mein Schatz, ich liebe dich. Wir waren so glücklich zusammen. Ich glaube, ich war mit niemandem so glücklich wie mit dir. Nein, ich weiß, dass es so war. Ich hoffe, dass du das weißt.«
Einen Moment lang sahen wir uns an, und ich spürte eine seltsame Nähe. Obwohl Archie kaum sprechen konnte, verstand er, was ich ihm sagte, und er drückte meine Hand.
»Marie. Bist du Marie?«
»Ja, ich bin es, Marie. Und ich liebe dich.«
Er lächelte ein wenig, schloss die Augen und schien einzuschlafen. Ich wartete eine Weile und schlich dann auf Zehenspitzen hinaus.
Draußen im Flur sank ich auf den Stuhl. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein heftiges Bedürfnis nach einer Zigarette. Ich rauche schon seit vielen Jahren nicht mehr, aber ich fühlte mich so erschöpft und leer. Ich stützte den Kopf in die Hände, wurde aber kurz darauf gestört.
»Haben Sie Mr Archie besucht?«, fragte eine Schwester, die geschäftig herbeigeeilt war. »Das ist schön für ihn! Und auch für Sie! Sie wissen, dass er neulich sehr krank war, nicht wahr? Aber er ist durchgekommen, o ja! Wir lassen unsere Leute nicht im Stich! Er ist ein Kämpfer, unser Mr Archie, da gibt’s keinen Zweifel daran!«
Ich sah sie an und merkte, wie mich die kalte Wut packte. Mein Herz trommelte wütend. »Offen gestanden«, sagte ich, mühsam beherrscht, »hätte ich es für menschenfreundlicher gehalten, wenn Sie den armen Mann hätten sterben lassen. Was Sie hier im letzten Monat mit ihm gemacht haben, ist nahezu kriminell. Und hier spricht jemand, der ihn sehr liebt.«
Die Schwester sah schockiert aus und eilte davon. Ich stand auf und verließ das überheizte Gebäude. Ging noch eine Weile in der Dämmerung auf dem Gelände spazieren, um meine Gedanken zu ordnen. Ich spürte die kalte Luft, hörte das Brummen von Autos in der Ferne, nahm die Gerüche aus der Heimküche wahr. Doch vor meinem inneren Auge sah ich nur Archies ausgezehrtes Gesicht auf dem Kissen. Ich konnte nicht weinen, war viel zu aufgewühlt. Ich sehnte mich so … nach was? Danach, dass Archie innerlich ruhig sein konnte. Seinen Frieden finden konnte. Sehnte mich so sehr danach, dass er sterben konnte, befreit sein konnte von diesem Leiden. Mein Herz war voller Sehnsucht und Liebe.
Als ich zum Parkplatz zurückwanderte, stieß ich auf Mrs Evans, die eine lange Busfahrt auf sich genommen hatte, um Archie zu besuchen.
»O Miss Marie, oje, ist es nicht schrecklich traurig?«, sagte sie. »Ich muss immer wieder an das Gedicht denken, das Mr Archie geschrieben hat.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Sie übernachten heute bei Mrs Sylvie, nicht wahr? Da werden Sie es gut haben. Ich bin jetzt immer dienstags bei ihr und helfe aus. Bleibe gern in der Familie.« Und sie eilte den Weg zum Gebäude entlang.
Was für eine starke Person. Obwohl Archie sie immer wieder als Diebin bezeichnet hatte, hielt sie ihm die Treue. (Das sagte nicht nur etwas über sie aus, sondern auch über die große Liebe, die Archie in Menschen erweckte und noch immer erweckt.)
Ich musste für einen kurzen Moment an Louis denken. Doch nein. Was ich auch für ihn empfinde: Es wird sich niemals mit meinen Gefühlen für den lieben alten Archie vergleichen lassen.
30. Oktober
E-Mail von Louis bekommen: »Nur noch eine Woche, dann bin ich in London. Freue mich sehr aufs Wiedersehen. Liebe Grüße«
Hm. Die Grüße steigern sich.
Heute Abend mit der Familie geskypt. Gene wirkte sehr verdrossen. Offenbar findet das holländische Mädchen ihn doof, weil er noch ein Kuscheltier hat, und sagt, er sei ein Baby.
»Du bist doch kein Baby!«, rief ich aufgebracht. »Du bist ein großer Junge! Fast schon ein Mann, wie dein Dad. Und«, fügte ich hinzu, »der hatte übrigens ein Kuscheltier, einen Plüschhund namens Arno, bis er zehn war. Und ich hab Daumen gelutscht, bis ich zwölf war, und dein Großvater David kaut heute noch manchmal Nägel. Also hör auf niemanden, der dir erzählen will, du seist ein Baby, nur weil du ein Kuscheltier hast.«
»Hatte Dad echt mit zehn noch ein Kuscheltier?«, fragte Gene, sichtlich bemüht, sich ein etwas verächtliches Lächeln zu verkneifen. »Das ist ganz doll alt für ein Kuscheltier!«
Ich hatte nicht die Absicht, die Hilfsmittel aufzuzählen, mit denen Erwachsene später ihre harmlosen Kuscheltiere ersetzen – Zigaretten, Alkohol, Drogen –, doch ich war furchtbar wütend, weil dieses abscheuliche Mädchen sich über Genes alten Teddy lustig machte.
»Aber sie kommt nur noch morgen«, berichtete Gene dann und sah dabei ziemlich durchtrieben aus. »Mom hat sie weggeschickt.«
Na, wenigstens etwas.
Oh, ich wünschte so sehr, dass ich bei ihnen sein könnte – oder sie bei mir!