Juni

5. Juni

Habe den ganzen Morgen geschuftet und ein köstliches Wildragout gekocht, weil Penny und James und Ned – der Baummann – heute zum Abendessen kommen. Als Vorspeise hatte ich Krabben gekauft, und die leckere Creme zum Nachtisch war gerade fertig, als James anrief.

»Ich wollte dir nur noch sagen, dass Ned Veganer ist«, sagte er.

»Ach, kein Problem«, erwiderte ich zähneknirschend. »Dann kriegt er die Backkartoffel, und ich kann ihm ein Käseomelett machen und gebe ihm mehr Krabben, und es gibt eine wunderbare Fruchtcreme als Des…«

Am anderen Ende herrschte Schweigen. »Oje«, seufzte James dann. »Ich hätte wohl vorher anrufen sollen. Er ist kein Vegetarier, sondern Veganer. Er isst auch keinen Fisch und keine Milchprodukte. Und, ähm, ich versuche, das jetzt mitzumachen. Er meinte, ich soll es mal probieren. Eine Woche hab ich bislang durchgehalten, wobei ich mir einmal zum Lunch ein Steak genehmigt habe, aber das hab ich Ned verschwiegen. Wir essen jedenfalls sehr gern Gemüse und werden schon klarkommen. Es ist immer alles total lecker, was du kochst. Wir wollen dir keine Mühe machen.«

»Also ganz ehrlich, James, dann könnt ihr wohl nichts essen, was ich gekocht habe«, sagte ich einigermaßen erbost. »Sogar in der Fruchtcreme ist Sahne. Die kommt dann auch nicht infrage?«

»Ich fürchte, nein«, antwortete James. »Vielleicht wäre es einfacher, wenn wir was mitbringen?«

Aber die Vorstellung, dass die Gäste ihr eigenes Essen mitbringen mussten, behagte mir gar nicht. »Nein, lass mal, ich krieg das schon hin.«

Kaum hatte ich aufgelegt, brüllte ich erst mal: »SCHEISS VEGANER!« Dann stopfte ich das Wildragout ins Gefrierfach und die Krabben in den Kühlschrank (die konnte ich immer noch sechs Tage lang zum Mittagessen zu mir nehmen) und starrte trübsinnig auf die Fruchtcreme mit Schlagsahne, die ich in vier Schälchen angerichtet hatte. Die würde sich nicht lange halten, und ich konnte nicht alles allein aufessen.

Ich kam mir vor wie Hiob, der meiner Erinnerung nach von Heuschrecken, Schwären, Fröschen und Ratten geplagt war – oder war das ein anderer? Nein, Hiob wurde vom Satan geplagt, der ihm Kinder, Reichtum und Gesundheit raubte … Ganz ehrlich, ich bin schlimmer dran als Hiob, denn ich bin zwar im Wesentlichen noch im Besitz meiner Gesundheit, habe aber meine liebe polnische Nachbarin eingebüßt (sie ist letzte Woche ausgezogen) und muss mich nun mit einem verfluchten Veganer herumschlagen. Oder vielmehr mit zweien.

Bin in den Eckladen gerast und habe Tomaten und Basilikum für einen Salat als Vorspeise gekauft, sowie Gemüse, was ich in Olivenöl anbraten werde (für den Fall, dass Ned was gegen Butter hat, was bestimmt der Fall ist). Dazu gibt es ein interessantes Brot und zum Nachtisch Orangen in karamellisiertem Zucker.

Jetzt lege ich mich schnell noch eine Runde aufs Ohr, um mich auszuruhen, bevor die kommen.

Später

Dachte mir, ich könnte vor dem Dösen ein bisschen in Anna Karenina schmökern, fand es aber nach vier Seiten komplett unlesbar. Sehr seltsam. Als ich das Buch zum ersten Mal las, war ich beeindruckt. Beim zweiten Mal habe ich es geliebt. Und diesmal finde ich es nur völlig verstaubt. Wie merkwürdig.

Danach hatte ich einen grässlichen Traum. Hatte mein Lifting, und als ich danach in den Spiegel schaute, blickte mir mit irrem Blick meine Mutter entgegen. Sie (oder war ich es selbst?) hatte rote Rouge-Kleckse auf den Wangen und grell blondierte Haare, und ihr Lippenstift war verschmiert. Großer Gott, war das scheußlich!

Mittagsschläfchen. Eindeutig überschätzt.

Mitternacht

Nun, sie kamen, und sie gingen. Damit meine ich nicht die Träume, sondern leider James und Ned.

Keine Frage, der gute alte Ned ist ein guter Fang. Und so alt ist er gar nicht. Für einen Veganer hat er eine erstaunlich gesunde Hautfarbe, riecht stark nach Seife (obwohl Seife für Veganer bestimmt verboten ist, also ist es wohl was anderes) und hat ein nettes natürliches Lächeln.

»Ich freue mich sehr, Sie in einem persönlicheren Ambiente wiederzusehen«, sagte er und machte Anstalten, seine Schuhe auszuziehen.

»Schuhe anlassen!«, kreischte ich. »Bei mir lässt man die Schuhe an!«

Er sah etwas konsterniert aus, und dann fiel mir auf, dass er Plastiksandalen trug. Kein Wunder, dass er sie loswerden wollte. Tja, Pech gehabt, würde ich mal sagen.

Wir tranken ein Gläschen zusammen, und ich überließ Ned und James meinen Stammplatz auf dem Sofa, damit sie nebeneinander sitzen konnten. Penny und ich nahmen auf den etwas unbequemen Sesseln Platz, und Pouncer, von seinem Lieblingsplatz vertrieben, hatte sich mit angelegten Ohren und wütend zuckendem Schwanz auf dem Boden eingerollt.

Ned wollte nur ein Glas Leitungswasser, weil der CO2-Ausstoß von Kühlschränken zu hoch sei oder so etwas, aber zum Glück wendete sich das Gespräch rasch Bäumen und Rechtsfragen zu. Ned hat offenbar Spione im Stadtrat und hat mehr über die Pläne herausgefunden; es werden wohl morgen Briefe verschickt, in denen die Meinung der Bürger eingeholt werden soll, und nun müssen wir alle fleißig Widerspruch einlegen.

Erfreut sah ich, wie seine Miene sich verfinsterte, als er über diese Machenschaften sprach. Und er war eindeutig alles andere als begeistert von der Aussicht, dass Bäume gefällt werden sollten.

»Ich werde jedenfalls einen Brief schreiben und meine Meinung dazu äußern«, sagte er abschließend. »Aber jetzt – ich habe gehört, dass James Sie porträtieren will!«

Mir wurde mulmig, doch ich reagierte so enthusiastisch wie möglich. »Ist das nicht großartig?«

»Ich habe versucht, James zu überreden, dass er stattdessen eine Installation macht«, meinte Ned.

»Fantastische Idee, oder?«, fragte James und strich Ned durchs Haar. »Nur aus objets trouvés. Wäre das nicht super?«

Dann wandte er sich Ned zu, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und begann dann, dessen Knie zu kneten und sich dabei allmählich zum Oberschenkel hochzuarbeiten. Man muss Ned zugutehalten, dass er etwas peinlich berührt aussah und ein bisschen von James abrückte.

»Zurück zur Installation«, äußerte ich in gestrengem Lehrerinnentonfall, doch die beiden blieben ineinander verschlungen.

»So etwas wäre wesentlich umweltschonender, als Leinwand und Ölfarben zu benutzen, die natürlich aus kostbarem Öl hergestellt werden«, erklärte Ned, pflückte James’ Hand aus seinem Nacken und schüttelte pikiert den Kopf, als ich fragte, ob ich sein Glas auffüllen solle. Er schien zu glauben, dass ich ihn mit Leitungswasser betrunken machen wolle.

Dann begaben wir uns in die Küche. James zeigte sich hocherfreut über das schauerliche Gemüse-Mahl, während es Penny und mir mit Mühe gelang, die gebackene Rote Beete und die gerösteten Zucchinischeiben hinunterzuwürgen; ich riet ihr noch, sie wenigstens mit Butter zu bestreichen. Ned aß die seinen natürlich komplett butterfrei. Keine Ahnung, wie es ihm gelang, sich das einzuverleiben.

»Haben Sie hier eigentlich Solarzellen?«, erkundigte er sich. »Wäre lohnend, das in Erwägung zu ziehen. Und wissen Sie, dass es für eine neue Isolierung Zuschüsse vom Stadtrat gibt?«

Irgendwann fiel mir plötzlich ein, dass ich im Garten den Rasensprenger angelassen hatte, um die verbliebenen Stecklinge – drei an der Zahl – zum Wachsen zu animieren. Ich huschte rasch hinaus, schaltete ihn aus und versteckte ihn, weil diese Art von Gartenbewässerung gewiss nicht Neds Zustimmung finden würde.

Als ich zurückkam – ich hoffte, nicht so durchweicht auszusehen wie nach einer Begegnung mit Genes Scherzblume –, lenkte ich das Gespräch behutsam auf Akupunktur. Damit konnte ich bei Ned echt punkten, denn er hält sämtliche Ärzte für Handlanger des Teufels und glaubt, dass man von Impfungen nicht nur krank wird, sondern dass sie eine Art Zeitzünderdroge enthalten, die uns in Zukunft alle zu willenlosen Sklaven machen wird. Doch wer weiß? Der »Hetzkurier« wird mich sicher zu dem Thema aufklären.

Und irgendwann gingen sie endlich nach Hause.

»Bleib noch ein Weilchen«, bat ich Penny, während ich meinen Kühlschrank nach echtem Essen durchforstete. »Wie wär’s mit einem Bratspeck-Sandwich als Betthupfer?«

»O Gott, ja!« Penny spähte über meine Schulter. »Und was ist das für eine köstlich aussehende Creme in diesen Schälchen?«

»Uuh, ja, genau!« Die hatte ich ganz vergessen. »Zwei pro Nase schaffen wir doch, oder?«

»Er ist irgendwie ein bisschen ein Ökofaschist, oder?«, bemerkte Penny, als sie die Löffel aus der Schublade nahm.

»Kann man wohl sagen«, sagte ich grimmig, während ich diverse Speckstreifen in die Pfanne beförderte. »Und es wäre auch angenehm, wenn sie sich nicht die ganze Zeit befummeln würden, oder? Obwohl Ned nicht ganz so begeistert wirkte, ist dir das auch aufgefallen?«

»Ja«, antwortete Penny. »Aber es ist so oder so widerlich! Was nichts mit Intoleranz zu tun hat. Ich kann dieses öffentliche Rumgeknutsche auch bei Heteros nicht ausstehen.«

»Da fällt einem noch mehr auf, dass die beiden ein Paar sind und wir niemanden haben.«

Der Speck brutzelte und zischte.

»Na, du hast doch Archie«, meinte Penny.

»Ich fürchte, den Archie, den ich gekannt und geliebt habe, gibt es nicht mehr«, gab ich traurig zurück. Das Thema belastete mich so sehr, dass ich zurzeit mit niemandem darüber sprechen konnte, nicht einmal mit Penny. Ich wusste, dass ich mich dann in Tränen auflösen würde. »Aber es ist unübersehbar, dass James total verliebt ist, also müssen wir wohl vorerst mit diesem Geturtel leben. Und Ned ist schon ein netter Kerl. Der uns sicher beim Kampf gegen das Hotel sehr nützlich sein kann.«

»Oder auch nicht«, wandte Penny ein. »Er könnte ein Spitzel sein, der für die andere Seite arbeitet. Ich wette, die Sache zahlt sich für die Stadt irgendwie aus. Das ist doch immer so. Wir müssten eine Petition anleiern. Das wäre ein wichtiger Schritt.«

Dann machten wir beide »Mmh!« und sogen genüsslich den Duft des Bratspecks ein. »Schon besser!«

7. Juni

Heute Morgen habe ich Ewigkeiten darauf gewartet, ins Badezimmer zu kommen, um ein ausgiebiges Bad zu nehmen, mich anzuziehen und zu schminken. Aber weil Michelle heute frei hat, schien sie beschlossen zu haben, einen Schönheitstag zu machen. Als sie endlich auftauchte, in diverse Badetücher gehüllt und mit einem gewaltigen Handtuchturban auf dem Kopf, sah sie mich an und sagte: »Oh la la! Dein ’aare sähn sähr ’übsch aus, Marie!«

Da merkte ich erst, dass ich zwar meinen Morgenmantel trug, aber mich bereits gebadet und mir die Haare gewaschen hatte, weil ich früh aufgestanden war.

Ich sollte wohl Sylvie anrufen und sie bitten, auch für mich einen Platz in Archies Pflegeheim zu buchen.

10. Juni

Muss sagen: Der Garten sieht jetzt fantastisch aus. Die Rosen blühen, und diese Kletterpflanze klettert überall herum. Komisches Gewächs. Habe es vor zehn Jahren bei einem Billighändler gekauft, und erst einmal stand es vor dem Haus herum und tat gar nichts. Ich wollte es schon ausgraben und wegwerfen, dachte dann aber, ich gebe ihm hinter dem Haus noch eine Chance. Und jetzt überwuchert es fast den gesamten Garten. Grandios.

Sogar die Wicken sind raus, und der Rittersporn kommt auch. Keine Spur allerdings von den elenden Calibans. Grrr.

Außerdem ist es extrem heiß, und ich habe jetzt tatsächlich meine Weste abgelegt. Bisschen spät, ich weiß, aber was Kälte angeht, bin ich etwas wunderlich.

Sylvie hat mich gefragt, ob ich Archie dieses Wochenende besuchen könnte, weil sie eine Pause braucht, aber ich kann mich nicht entscheiden. Ein Teil von mir sehnt sich natürlich danach, ihn zu sehen. Aber ich habe auch Angst, dass er plötzlich grundlos wütend wird. Der Ärmste, er kann ja nichts dafür. Doch das nützt mir auch nichts, wenn er mich dann unversehens für einen gefährlichen Eindringling hält und mit dem Schürhaken auf mich losgeht. Habe beschlossen, mein Strickzeug mitzunehmen, damit ich im Notfall zumindest mit einer spitzen Nadel bewaffnet bin.

Es geht übrigens recht gut voran mit dem Pulli. Die Hälfte vom Rücken – inklusive Elefanten – habe ich schon fertig, aber wegen unserer Protestaktion und dem Malen komme ich selten zum Stricken.

Ich fürchtete das Wiedersehen mit Archie auch, weil ich mir wie eine Verräterin vorkam, da ich von Sylvies Suche nach dem Heimplatz wusste. Aber dann stellte sich heraus, dass sie mit Archie bereits darüber gesprochen hatte.

Das gemeinsame Abendessen war sehr schön – ich hatte das eingefrorene Wildragout mitgebracht und im Aga-Herd gewärmt –, und es gelang mir, Archie von der Brosche abzulenken, auf die er zwanghaft zu sprechen kommt, sobald ich bei ihm bin. Wir tranken in der Bibliothek vor dem offenen Kamin Kaffee, während Hardy hechelnd zu unseren Füßen lag, als Archie plötzlich vollkommen klar sagte: »Die Ärztin meint, ich hätte irgendeine Form von Demenz. Das ist ziemlich unheimlich, oder? Ich muss wohl künftig anderswo wohnen. Die meinen, ich käme allein nicht mehr zurecht.«

Wenn man diese Aussage aufschreibt, wirkt sie auf den ersten Blick ganz normal. Doch das Sonderbare war, dass Archie sich gar nicht darüber aufzuregen schien. Er hörte sich an wie ein Automat. Oder als ob er in einer Art Trance wäre.

»Vielleicht ist das wirklich am besten«, erwiderte ich möglichst beiläufig, den Blick auf mein Strickzeug gerichtet. »Weißt du, in letzter Zeit hast du dich manchmal ziemlich eigenartig benommen.«

»Ach ja?« Er lächelte abwesend. »Oje. Das tut mir leid.« Er verstummte kurz. Dann sagte er: »Die arme Mrs Evans. Sie ist im Gefängnis, weißt du.«

»Im Ernst?« Ich hatte erst vor ein paar Stunden mit ihr gesprochen, weil sie mich am nächsten Tag ablösen sollte.

»Ja. Sie wurde verhaftet, weil sie diese Brosche gestohlen hat.«

»Ach je. Na, bestimmt kommt sie bald wieder frei.«

»Das hoffe ich«, erwiderte er. »Sie macht mir morgen das Frühstück. Ich weiß nicht, weshalb sie dann rausdarf, aber da gibt es wohl eine Absprache.«

»Ganz bestimmt, Liebling«, sagte ich und nahm ihn in die Arme. »Ach, Archie, ich liebe dich, weißt du.« Es kam mir vor, als würde ich von ihm Abschied nehmen.

»Ich liebe dich auch, Philippa«, entgegnete er.

Er sieht so aus wie immer – stattlich, und wenn er lächelt, hat er nach wie vor diese Lachfältchen um die schönen blauen Augen. Er riecht wie immer – diese Mischung aus Landluft, Erde, alten Tweed-Sachen und Holzrauch. Und er wirkt so wie immer – stark, zuverlässig, attraktiv.

Aber er ist nicht mehr so wie immer. Ach je. Es ist so schlimm.

16. Juni

Jetzt naht mein Lifting-Termin mit Riesenschritten, und ich kriege allmählich furchtbar kalte Füße. Es kommt mir vor, als trügen zwei Hälften von mir einen Kampf aus. Die eine sagt: »Lass das bleiben. Es tut weh. Du könntest an der Narkose sterben. Wenn du nicht stirbst, bist du für immer verändert und möchtest dein altes Gesicht wiederhaben. Oder vielleicht macht der Arzt einen Kunstfehler und schneidet dir ein großes Stück von der Nase ab, anstatt deine Haut zu straffen.«

Die andere Hälfte verkündet: »Entspann dich! Gönn dir doch mal was! Du wirst besser aussehen, und deshalb wirst du dich besser fühlen. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Du hast dir seit annähernd zehn Jahren nichts Neues gekauft, während die anderen haufenweise Geld für Kleider, Schuhe etc. verpulvern. Es ist doch wohl nur rechtens, wenn du dir was genehmigst, das dir guttun wird.«

Diese beiden Stimmen brüllen sich manchmal so heftig an, dass mir ganz schwindlig wird. Ich wünschte so sehr, ich könnte Jack und Chrissie fragen, weil die immer einen guten Rat wissen. Aber ich will sie nicht damit belästigen, weil sie weit weg sind und selbst genug um die Ohren haben. Außerdem weiß ich schon, was Jack sagen würde. Nämlich: »Warte doch ab, bis du bei uns bist, dann können wir das in Ruhe besprechen.« Doch ich will das Ganze so schnell wie möglich hinter mich bringen.

17. Juni

Ich schrieb in der Küche gerade meinen Einkaufszettel, als Michelle hereinkam. Sie sah trübsinnig aus, und ich dachte zuerst, sie hätte keine Lust, wieder Yakult essen zu müssen. Aber dann sank sie auf einen Stuhl und seufzte tief. Sie sah aus, als hätte sie kein Auge zugetan.

»Was ist los?«, fragte ich, legte ihr den Arm um die Schultern und küsste sie auf den Kopf.

»Iesch glaube, Maciej, er miesch niescht liebt. Iesch rufe an, er nie antwortet. Iesch schicke ihm Text – nieschts. Vielleischt er gestorben. Vielleischt er find andere Frau …«

»Ach, bestimmt nicht«, sagte ich, war aber selbst nicht ganz überzeugt davon. »Er hat vermutlich einfach viel zu tun. Du weißt doch – Männer! In deinem Alter hab ich mir auch ständig Sorgen gemacht, aber …« Als mir gerade die Plattitüden ausgingen, fügte Michelle hinzu: »Und respirateur iest, wie sagt man, ce ne marche pas«

Ich dachte gerade darüber nach, ob sie wirklich zu ihrem Englischunterricht geht – sie ist immer noch so sehr französisch –, als sie plötzlich saugende Laute von sich gab. Hatte sie neuerdings Asthmaanfälle? Schließlich verstand ich, was sie mir sagen wollte. Der Staubsauger war kaputt.

»Ich kaufe einen neuen«, sagte ich. »Seit ich den alten gekauft habe, gibt er alle drei Monate den Geist auf. Ich kann es nicht ertragen, ihn noch mal reparieren zu lassen.«

Als ich hinausging, starrte Michelle niedergeschlagen in ihren Yakult, und ich bedauerte sie von Herzen. Was habe ich doch für ein grandioses Glück, dass dieser ganze Schwachsinn – »Wird er mich anrufen? Hat er eine andere?« – hinter mir liegt. Die reinste Qual war das!

20. Juni

Die heutige Schlagzeile des »Hetzkurier«: »LEHRER IN GEFAHR! Täglich 25 körperliche Angriffe von unter Fünfjährigen! Minister sagt: ›Wir ziehen eine Generation von Schlägern groß!‹«

23:00 Uhr

Den ganzen Abend panisch vor Angst gewesen wegen der Operation morgen. Meine Tasche ist gepackt und enthält Nachthemd, Ersatzbrille, Hausschuhe, meinen hübschesten Morgenmantel und einen Haufen Schmerztabletten, von denen die Krankenschwestern NICHTS erfahren werden. Komme mir mit meinem Nurofen Plus vor wie jemand, der in Russland Ikonen am Zoll vorbeischmuggeln will. Ich erinnere mich noch daran, wie David und ich vor vielen Jahren in die damalige Sowjetunion einreisten und Spachtelmasse für einen Freund in Moskau mitbrachten, der damit die Mauselöcher in seiner Wohnung zustopfen wollte. Der Zollbeamte konfiszierte das Pulver sofort, weil er es für Kokain hielt. Ich fand immer Gefallen an der Vorstellung, wie er sich das Zeug in die Nase zog und dann nicht mehr atmen konnte, weil es in seinen Nebenhöhlen hart wurde.

Zum Lesen hatte ich mir P. G. Wodehouse eingepackt, weil ich das zuerst für die beste Krankenhauslektüre hielt. Aber dann dachte ich mir, dass es vielleicht doch keine gute Idee sei, ein witziges Buch mitzunehmen. Wenn ich dann so lachen musste, dass sich die Nähte lösten? Und würde ich überhaupt jemals wieder lachen können? Vermutlich nicht. Angstgepeinigt rief ich Penny an, die überhaupt keine Hilfe war. Sie johlte nur vor Lachen.

»Kann das Ergebnis kaum erwarten!«, schnaubte sie. »Wahrscheinlich wirst du aussehen wie nach fünf Runden mit Muhammad Ali. Wenn ich dich besuchen komme, bring ich Block und Stift mit, für den Fall, dass du deinen Mund nicht bewegen kannst!« Sie brach erneut in Gelächter aus. »Gott, du hast vielleicht Mut! So etwas würde ich für eine Million Pfund nicht machen! Viel Glück!«

Wenig ermutigend.

Ein letztes Mal mit der Familie geskypt, weil ich einige Wochen lang die Kamera ausschalten muss. Ich werde wohl behaupten müssen, dass sie kaputt ist und erst wieder repariert werden muss. Oder sie mit Vaseline zuschmieren, damit man mein Gesicht nicht erkennen kann.

Alles scheint bestens zu laufen; allerdings hat Gene sich die unerträgliche Angewohnheit zugelegt, am Ende jeden Satzes die Stimme zu heben. Er sagt also: »In der Schule ist alles gut, Oma?« Und: »Mama und Papa schenken mir einen Goldfisch zum Geburtstag?«

Oje. Aber immerhin sagt er noch nicht ständig »wow«.

21. Juni

Morgengrauen

Großer Gott. Warum tue ich mir das an? Ich warte auf das Taxi, das mich in die Klinik bringen soll. Wenn ich nun danach in die Staaten fahre und Gene erkennt mich nicht mehr? Wenn mich alle am Flughafen abholen wollen und an mir vorbeigehen? Habe gestern Nacht bis drei Uhr wachgelegen und mir Sorgen gemacht. Was allerdings nichts Neues ist. Seit einiger Zeit döse ich oft am Tage und bringe halbe Nächte damit zu, mir Sorgen zu machen. Das Dösen setzt vor allem ein, wenn ich was gegessen habe. Ich muss mich schon nach einem einzigen Papadam und einem Glas Orangensaft aufs Ohr legen. Wenn man älter ist, muss wohl das gesamte Blut erst mal in den Magen fließen, um die Speisen zu verdauen, und kann deshalb nicht dafür sorgen, dass man wach bleibt. Ich wache dann mitten in der Nacht auf (zum Beispiel um 03:15, einer entsetzlichen Uhrzeit), als hätte mir ein Grauen erregendes Sorgenmonster auf die Schulter geklopft, und wenn ich die Augen aufschlage und panisch ins Dunkle starre, brüllt es wie ein Wachmann, der einen Sträfling anschreit: »Aufwachen, Marie! Sorgenzeit!« Worauf ich die nächste Stunde damit zubringe, mir über die nichtigsten Kleinigkeiten Sorgen zu machen.

Bin schließlich aufgestanden und hinuntergegangen und habe ein großes Glas Wein mit einer Pille runtergespült (oder umgekehrt), was keine gute Idee war, weil ich heute Früh mit rasendem Durst aufgewacht bin und man mir gesagt hatte, dass ich vor der OP nichts mehr trinken darf.

Bin dann über Anna K. eingeschlafen. Ich glaube, ich geb’s auf damit. Komme einfach nicht rein, obwohl ich das halbe Buch schon durchhabe. Tolstoi war ein grässlicher Bursche.

Mittags

Bin jetzt in der Klinik. Habe den Laptop mitgenommen, für den Fall, dass mir langweilig wird. Haha. Liege hechelnd auf dem Bett wie so eine Comicfigur, die auf der Suche nach Wasser durch die Wüste kriecht. Schreckliches Zimmer mit blassrosa Wänden, eng wie eine Gefängniszelle, brütend heiß. Abschließbarer Nachttisch, Fenster kann man nicht öffnen, Ausblick auf Parkplatz, ein Stuhl für Besucher. Fernseher mit einer langen Stange an der Wand befestigt. Gegenüber etwas, das ich für den Schrank hielt, aber tatsächlich ist es eine winzige Nasszelle mit Klo. So viel zum Thema spartanisch.

Und aus irgendeinem Grund hat man mich gezwungen, ein Krankenhaushemd anzuziehen, so ein demütigendes blaues Teil, das hinten offen ist. Wenn man damit ohne Morgenmantel herumläuft, kann jeder den Hintern sehen.

Habe mich wohl gleich ganz schlecht benommen. Ich hatte furchtbare Angst, und dann kam Mr P herein, immer noch mit Fliege unter seinem grünen OP-Kittel, und fing an, blaue Linien auf mein Gesicht zu zeichnen. Als wäre er ein Maler, der mein Porträt nicht auf eine Leinwand, sondern auf mein Gesicht malt. Als er sich zum Gehen wandte – vermutlich, um auf den Gesichtern anderer Frauen weiterzumalen –, wurde ich plötzlich wütend und sagte, ich wolle nach Hause und was trinken. Wie ein Kind, das in der Schule einen Aufstand macht! Komplett plemplem! Mir grauste wahrscheinlich. Ist immer noch so. Mr P schaute mich entsetzt an, weil mir Tränen übers Gesicht rannen, die seine blauen Linien verschmierten. Er rannte hinaus und kehrte in Begleitung des Anästhesisten zurück. Ich war inzwischen aufgestanden und packte meine Sachen.

»Na, na, Mrs Sharp«, sagte der Anästhesist, legte mir den Arm um die Schultern und führte mich zum Bett zurück. »Lassen Sie uns in Ruhe darüber sprechen.« Ich schluchzte und jammerte, und er sagte: »Ich glaube, Sie haben einfach große Angst, das geht vielen Menschen so vor einer Operation. Trinken Sie doch einfach ein Glas Wasser« (warum nicht gleich so?), »und dann gebe ich Ihnen eine kleine Spritze. Wenn es Ihnen dann immer noch schlecht geht, rufen wir Ihnen ein Taxi, das Sie nach Hause bringt.«

Weiß der Himmel, was in dieser Spritze war, aber jetzt bin ich so wohlig müde und entspannt und glücklich, dass ich mich liebend gerne tagtäglich liften lassen würde. Frage mich, ob man sich auf Heroin so fühlt.

22. Juni

Liebe Güte! Da sitze ich nun und warte darauf, dass James mich abholt. Es hört sich feige an, ich weiß, aber ich wage es tatsächlich nicht, in den Spiegel zu schauen. Wie bei der Frau im Wartezimmer neulich hängen an beiden Seiten meines Gesichts sonderbare Schläuche mit einer Art kleinen Eimern am Ende, in denen sich Blut befindet. Mr P schaute heute Morgen vorbei und sagte, alles sei gut verlaufen, doch ich müsse die nächsten Wochen im Sitzen schlafen. Na prima! So etwas sagen sie einem nie, bevor man sich unters Messer legt. Dann fügte er hinzu, meine Wangen könnten sich einige Monate lang taub anfühlen, aber dieses Gefühl würde wieder verschwinden – also das Gefühl, nichts zu fühlen. Noch eine verblüffende Information, die man mir vorenthalten hat. Und schließlich sagte er: »Ich habe eine gewaltige Menge Fleisch von Ihren Augenlidern entfernt und bin sehr zufrieden mit meiner Arbeit. Ich denke, Sie werden auch zufrieden sein.«

»Es wird doch hoffentlich nicht zu sehr auffallen, oder?«, fragte ich. Unglaublich. Da zahlt man Tausende von Pfund für ein Facelifting und durchleidet Höllenqualen, nur um sich dann zu wünschen, dass niemand etwas davon merkt.

»Nein, man wird es nicht sehen«, antwortete er. »Die Leute werden denken, dass Sie erholsame Ferien hatten.«

23. Juni

Mir ist immer noch ziemlich flau. Nach einer Nacht in der Klinik – ich wollte keine zwei Nächte bleiben, weil es einen Haufen Geld kostet – holte James mich ab. Er sagte nicht viel, blickte mich nur besorgt an und fragte, ob ich etwas bräuchte. Wir tranken eine Tasse Tee zusammen, aber dann ging er, und ich überwand meine Ängste und schaute in den Spiegel. Ich sah tatsächlich grauenvoll aus – als wäre ich von einem Gorilla vermöbelt worden. Voller Blutergüsse, wie eine Figur von einem Francis-Bacon-Gemälde: violett und rot mit Gelbtupfern. Doch unter den auberginenfarbenen Klumpen, die ich jetzt anstatt Lidern habe, schauen mich vertraute Augen an, und meine Zähne sehen noch so aus wie vorher. Aber davon abgesehen würde ich mich nicht mal selbst erkennen, wenn ich mir auf der Straße begegnete. Sondern würde schreiend zum nächsten Polizeirevier rennen.

Sogar Pouncer warf mir einen seltsamen Blick zu und wagte sich erst in meine Nähe, als ich ihm eine Schale seines Lieblingsfutters hinstellte. Ich rieche wahrscheinlich sogar nach Klinik!

24. Juni

Habe letzte Nacht versucht, aufrecht zu schlafen, aber es ist sehr schwierig. Offenbar wandern die Blutergüsse durch die Schwerkraft im Lauf der Zeit nach unten. Wenn man also viel herumläuft, landen sie irgendwann an den Knöcheln und verschwinden dann im Boden unter den Füßen. Ist das nicht eine irre Vorstellung? Aber ich habe keinerlei Bedürfnis danach, nach draußen zu gehen. Bin lediglich zum Eckladen gestolpert, um Milch zu kaufen. Dabei trug ich eine dunkle Sonnenbrille, einen dicken Rollkragenpulli und eine Jacke mit Kapuze, um die Fläschchen zu verbergen. Der indische Ladenbesitzer (der mich nach dem Vorfall mit dem zurückgezahlten Penny ohnehin für völlig verrückt hält) sah mich so mitleidig an, als wäre ich letzte Nacht von meinem eifersüchtigen Freund zusammengeschlagen worden. Aber es tat immerhin gut zu merken, dass ich rauskann, wenn mir der Sinn danach steht. Als ich zurückkam, war ich natürlich vollkommen erledigt und musste mich den ganzen Nachmittag ausruhen. Im Sitzen, versteht sich.

Dachte, ich lese als Trost mal wieder ein paar Klassiker, aber wie bei Anna K. kam ich weder mit Lust und Laster noch mit Mansfield Park zurecht. Beide Romane habe ich früher sehr geliebt. Ich frage mich ernsthaft, was das Alter mit einem macht. Verändert sich der Blick aufs Leben? Als junges Mädchen waren für mich beide Bücher neu und frisch, jetzt dagegen erscheinen sie mir verstaubt und langweilig. Frage mich, ob mir Bücher, die ich heute gut finde, in fünfzig Jahren auch hoffnungslos veraltet vorkommen werden. Vermutlich ja. Als ich das gedacht hatte, las ich danach in einer Zeitschrift ein Zitat von Muhammad Ali – ausgerechnet –, der einmal gesagt hat: »Ein Mann, der die Welt mit fünfzig genauso sieht wie mit zwanzig, hat dreißig Jahre seines Lebens verschwendet.«

Muss schon sagen: der gute alte Cassius Clay.

25. Juni

Ich beklagte mich so sehr über Bücher, dass Penny mir einen enorm dicken Thriller auslieh, von dem sie behauptete, er sei »schwachsinnig«. Aber ich finde solche Bücher nicht schwachsinnig, solange sie spannend sind. Und dieses war definitiv sehr spannend. Um zwei Uhr nachts las ich immer noch und konnte kaum mehr die Augen offen halten, aber jedes Mal, wenn ich vernünftig sein und aufhören wollte, passierte etwas so Schlimmes, dass ich weiterlesen musste.

Irgendwann wurde die Heldin an eine Wand gekettet und von einem ganz besonders gemeinen Schurken vergewaltigt, während unser Held gegenüber an die Wand gekettet war und nur hilflos zusehen konnte. Aber dann, in letzter Minute, strengte er sich furchtbar an, riss die Kette aus der Wand und schlug den Schurken bewusstlos. Ich dachte gerade, da nun alles in Ordnung sei und die Heldin gerettet wurde, könne ich das Buch getrost beiseitelegen. Aber dann machte ich den Fehler, noch einmal umzublättern.

»Nicht so hastig, mein Freund«, sagte eine finstere Stimme aus der Dunkelheit.

Oder so ähnlich. Jedenfalls konnte ich danach natürlich nicht schlafen und las immer weiter. Da jedes Kapitel mit einem Cliffhanger endete, war ich um vier nach wie vor wie besessen am Lesen, weil sich alle Guten jetzt gefesselt in einem mit Dynamit gespickten Haus befanden, während der Schurke mit einem Streichholz draußen stand – und dann wurde mir schlagartig klar, dass ich endgültig schlafen musste. Ich warf das Buch quer durchs Zimmer, damit ich nicht mehr so leicht herankam, und nickte endlich ein.

26. Juni

»Es wierd sein magnifique«, bemerkte Michelle, als sie mir am nächsten Morgen auf dem Treppenabsatz begegnete. Sie brach gerade zum Englischunterricht auf. »Du wierst aussehen ravissante! Meine Muttair, sie ’at ge’abt Lieftieng und ’at ausgesehn viel schlimm als du. In paar Wochen wierd sein superbe!«

»Ich glaube, du meinst ›schlimmer‹«, sagte ich – typisch Lehrerin –, als ich im Morgenmantel mit meinem Buch nach unten tappte. Der »Hetzkurier« musste heute warten. Ich musste unter allen Umständen erfahren, wie die Geschichte ausging.

28. Juni

Den Rasen gemäht – zum gefühlten vierundfünfzigsten Mal dieses Jahr. Danach war ich bei Mr P, der mir die Plastikeimer abnahm – was eine enorme Erleichterung war – und mich an eine Schwester weiterreichte, die mich ordentlich säuberte und sagte, ich solle in zwei Wochen zum Klammernziehen wiederkommen.

»Klammern!«, rief ich. »Ich werde doch wohl nicht von Metallklammern zusammengehalten, oder etwa doch?«

»Keine Sorge. Wenn alles abgeheilt ist, verrutscht nichts mehr.«

Als ich an diesem Abend mit Jack skypte, behauptete ich, die Kamera hätte den Geist aufgegeben. Aber es tat jedenfalls gut, ihn zu hören. Ich verlor kein Wort über das Lifting, weil ich mir sicher war, dass er sich nur Sorgen gemacht oder mich für geisteskrank gehalten hätte.

29. Juni

War beunruhigt, dass ich das Baumbild vom Juni versäumen könnte, weshalb ich mich mit dunkler Sonnenbrille und Tüchern maskiert und im Zwielicht rasch ein paar Skizzen gemacht habe. Könnte sogar ein besonders gutes Bild werden, die anderen sind vielleicht etwas zu hell geraten.

Aber eine Sache kann ich jedenfalls gut machen, auch wenn ich nicht ausgehen kann: stricken. Doch leider bin ich jetzt an einer Achsel angelangt und kapiere die Anleitung überhaupt nicht, weshalb ich Marion herbitten musste.

Von der ich mir natürlich die ganze Arie (»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb du das hast machen lassen. Du brauchst das nicht! Du hast toll ausgesehen! Geldverschwendung!«) anhören musste, aber irgendwann kamen wir dann aufs Stricken. »Es steht alles im Internet«, sagte Marion, und ich schimpfte mich, weil ich daran nie denke. Aber ich freute mich, sie zu sehen, auch wenn sie mir wieder damit in den Ohren lag, dass ich unbedingt Bittere Quitten, vergiftete Seelen sehen und bis zum Ende bleiben müsste.

»Ganz ehrlich, der Film ist ein Meisterwerk«, schwärmte sie.

»Ich hab gehört, es kommt ein kleiner Junge darin vor. Wir sind rausgegangen, bevor er auftauchte.«

»Der kleine Junge!« Marion blickte gen Himmel und seufzte, ihre Miene reinster Ausdruck von Mitgefühl und Qual. »Dieser kleine Junge!«

Später

Wollte gegen Mitternacht gerade einschlafen, als Michelle bei mir klopfte und sich dann tränenüberströmt am Fußende des Bettes niederließ. Pouncer beäugte sie so verärgert, als wollte er sagen: »Mann, ich hatte gerade einen wunderschönen Traum von Mäusen, und jetzt hast du mich aufgeweckt!«

»Was ist los?«, fragte ich und setzte mich auf. Ich bin jetzt ins Liegestadium übergegangen. Man kann nur eine Zeit lang im Sitzen schlafen. Es ist einfach nicht dasselbe.

»Es iest Maciej«, antwortete sie schluchzend. »Er ’at neue Freundien, c’est certain, absolument! Er sagt niescht, aber gestern Abend isch ’abe angerufen, und er iest niescht da. Sein ’andy iest aus, und sein Simmärgenosse sagt, ’at ihn paar Tage niescht gesehn. Er muss sein tot oder miet Freundien.«

»Es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung dafür«, sagte ich beruhigend, obwohl ich genau wusste, dass es die nicht gab. »Sein Handy könnte kaputt sein. Vielleicht … ähm … hatte er einen Unfall. Oder musste schnell irgendwohin reisen. Nur die Ruhe. Wahrscheinlich, ähm, besucht er seine Eltern und hat vergessen, es dir zu sagen …«, fügte ich hinzu, weil mir nichts mehr einfiel, das sich nicht wie eine dreiste Lüge anhörte. »Nimm eine Schlaftablette.«

Ich reichte ihr ein Temazepam und achtete darauf, dass sie es vor meinen Augen schluckte. »Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus, das verspreche ich dir.«

30. Juni

Nachdem ich am Morgen schon ein paar Stunden unten zugebracht hatte und noch immer nichts von Michelle zu hören war, begann ich mir Sorgen zu machen. O Gott – womöglich hat sie sich umgebracht, dachte ich und bekam sofort Herzklopfen. Der Abwesenheit von Krümelhaufen am Toaster nach zu schließen hatte sie noch nicht gefrühstückt, und ihr Mantel hing in der Diele. Aber sie hatte an diesem Tag in jedem Fall früh Unterricht.

Ich rief sie von unten, doch nichts geschah. Darauf ging ich nach oben und klopfte an ihre Tür. Als sich noch immer nichts rührte, betrat ich ihr Zimmer. Kleiderhaufen, offene Schubladen, aufgeklappte Koffer, Bücherstapel, der Fernseher eingeschaltet, herumliegende Strumpfhosen. Wie können Menschen nur in einem derartigen Chaos leben? In der Ecke sichtete ich dann ihr Bett. In dem Michelle todesbleich und komplett reglos unter ihrer gelben Daunendecke lag.

Großer Gott, dachte ich, als ich mir einen Weg zwischen den Wäschehaufen hindurch bahnte, um sie zu inspizieren. Sie ist tot. Die Tablette war zu stark für sie. Michelle ist im Schlaf gestorben. Ich hätte um ein Haar zu dem Gott gebetet, an den ich nicht glaube. Was hatte ich nur getan? Ich würde des Mordes angeklagt und ins Gefängnis gesteckt werden. Jack, Chrissie und Gene würde ich nie mehr wiedersehen. Niemals hätte ich Michelle diese Tablette geben dürfen. Es steht immer auf der Packung, dass nur die Person das Mittel einnehmen darf, der es verschrieben wurde. Warum hatte ich so etwas Dummes getan?

Mein Herz raste, und mir war ganz übel vor Angst, als ich mich auf den Bettrand setzte und leise Michelles Namen rief. Nichts. Ich rüttelte sie an der Schulter. Nichts. Aber dann merkte ich, dass sie auf jeden Fall noch atmete. Gott sei Dank. Das hieß, dass man mich nur des versuchten Mordes anklagen würde, falls es so etwas überhaupt gibt. Ich rüttelte sie weiter, und schließlich rührte sie sich.

Ich war so erleichtert, dass ich sie umarmte und festhielt und zu meinem eigenen Erstaunen in Tränen ausbrach.

»Marie, alles iest okay!«, sagte sie erschrocken. »Iesch schlafe aus. Kein Unterrischt ’eute. Keine Sorge! Niescht weinen. Tränen siend niescht gut für Lieftieng …«

Herrje, was bin ich im Moment überempfindlich. Vermutlich immer noch eine Folge der Narkose. Bin dann nach unten gegangen und habe einen starken Tee gekocht und Michelle – die sich sehr über die plötzliche Fürsorge wunderte – auch eine Tasse nach oben gebracht.

Später

Ach du meine Güte. Die neuen Nachbarn sind eingezogen. Sie fahren offenbar einen Range Rover, und wenn ich ans Ende des Gartens gehe und zurückschaue, kann ich sehen, dass sie in der Küche einen riesigen Monitor installieren, vermutlich damit sie DVDs oder Baseball gucken können, während sie ihre sogenannten Mahlzeiten zu sich nehmen – die aus Cheeseburgern, Waffeln, Maiskolben, Hot Dogs, Donuts und noch mehr Donuts bestehen. Heruntergespült mit Cola. Oder habe ich einfach Vorurteile?

Als ich zum Haus zurückging – der Garten sieht im Moment hinreißend aus, auch ohne die versprochene üppige Blütenpracht der Calibans –, tauchte hinter der Mauer ein Kopf auf, der »Hallöchen!« sagte.

»Wie nett, Sie kennen zu lernen!«, erwiderte ich so charmant wie möglich. »Ich habe gerade heimlich zu Ihnen rübergespäht, aber es ist natürlich viel schöner, Sie persönlich zu erleben! Ich bin Marie Sharp, in mehr als nur einer Hinsicht die älteste Anwohnerin dieser Straße.«

»Hi, Marie! Ich bin Sharmie, und mein Mann heißt Brad! Super, Sie kennen zu lernen. Und Sie müssen nicht heimlich gucken! Kommen Sie doch einfach rüber, und schauen Sie, was wir aus dem Haus machen.« Diese sympathische Frau Mitte vierzig hatte einen starken Ostküsten-Akzent, rote Haare und ein lebhaftes, selbstbewusstes Gesicht. »Wir können nicht fassen, wie malerisch das hier alles ist! Es gibt sogar so etwas, was man hier zu Lande einen offenen Kamin nennt! Und es hat keine Zentralheizung! Können Sie sich das vorstellen, Marie? Es ist wie eine Zeitreise!«

»Zuerst müssen Sie zu mir kommen«, sagte ich, um auf alle Fälle höflicher zu sein. »Ich wollte schon eine Karte bei Ihnen einwerfen und Sie auf ein Gläschen einladen, um Sie in der Straße willkommen zu heißen.«

Es stellte sich heraus, dass sie eine kleine Tochter haben, Alice, ein bisschen jünger als Gene, und dass sie nur für ein Jahr hierbleiben, das Haus aber als Investition gekauft haben und es renovieren und für einen höheren Preis wieder verkaufen wollen. Ich erzählte ihnen natürlich sofort, dass mein Sohn und seine Familie in New York waren.

»Und haben Sie auch eine traurige Großmutter zurückgelassen?«, fragte ich.

»Und ob!«, antwortete Sharmie. Ich wusste nicht, ob sie wirklich so hieß, aber so hörte sich ihr Name an. »Meine Mama sitzt in Florida und heult sich die Augen aus dem Kopf. Ist völlig durch den Wind. Aber sie wird uns besuchen kommen, Marie. Und Sie beide werden sich gut verstehen, das weiß ich jetzt schon. Und außerdem gibt’s ja Skype.«

Nachdem wir einen Termin für unser Treffen ausgemacht hatten, fragte Sharmie etwas zögerlich: »Alles okay mit Ihnen, Marie? Hatten Sie vielleicht einen Autounfall?«

»Nein, ein Facelifting«, antwortete ich beherzt. Ich meine, es war ja offensichtlich, wieso sollte ich ihr etwas vormachen.

»Sie sind aber mutig, Marie!« Sharmie schob einen Ast beiseite, um mich noch genauer zu beäugen. »Wenn meine Haut schlaff wird, mach ich das auch. Tut es weh? Kann’s kaum erwarten, Sie zu sehen, wenn es abgeheilt ist! Find ich toll, Marie! Sie trauen sich was!«

Ich fand ihre Begeisterung rührend. Dann kam Brad heraus, weil er uns reden hörte, und auch er schien ein freundlicher Zeitgenosse zu sein. Habe ihn sofort gefragt, ob er Ahnung hat von Planungsgesetzen, und das scheint der Fall zu sein. Vermutlich ist er hier, um irgendeinen grässlichen amerikanischen Millionär dabei zu beraten, wie er die englische Landschaft mit Casinoketten oder Windparks oder dergleichen ruinieren kann. Und Sharmie ist offenbar Designerin für Küchen.

Nächste Woche kommen sie zu mir, mit der kleinen Alice.

Später

Penny kam mit ein paar Petunien vorbei, für die sie keine Verwendung hatte. Offenbar war es noch nicht zu spät, sie einzupflanzen. Ich verzichtete darauf, ihr mein Scheitern mit den Calibans zu erläutern. Sie hatte auch für mich eingekauft – sogar eine Suppe, mit Klarsichtfolie abgedeckt. Wie süß von ihr.

Wir saßen im Garten und plauderten, als Penny plötzlich sagte: »Wunderbar, dieses Klingeln! So friedlich!«

Offen gestanden war mir das Geräusch gar nicht aufgefallen, bis sie darauf zu sprechen kam. Aber dann hörte ich es natürlich sofort – ohrenbetäubendes Geklirr und Geklingel. Ich hatte mich schon gefragt, weshalb Pouncer so entnervt wirkte; vermutlich verstörten ihn die Laute. Ich stand auf, spähte über die Wand und entdeckte den Quell des Übels. Sharmie und Brad hatten in ihrem Garten ein Windspiel aufgehängt.

Ist das nicht merkwürdig mit diesen Teilen? Die Besitzer hängen die verfluchten Dinger nie in die Nähe ihres Hauses, wo sie selbst sie hören können. Sondern immer ans Ende ihres Gartens, so weit wie möglich entfernt von ihren Schlafzimmern. Damit sie von dem Radau verschont bleiben, aber die gesamte Nachbarschaft Zustände von dem elenden Klingeln bekommt.

»Friedlich!«, schnaubte ich, als ich zurückkam. »Das ist doch wie Tinnitus.«

»Nein, das ist so ein besonderes Friedenswindspiel«, erklärte Penny. »Das hört man doch … mit kleinen Glöckchen … vermutlich aus Glastonbury oder so. Sie sollen einen beruhigen und in Einklang mit der Natur bringen.«

»Ich bin vollkommen im Einklang mit der Natur, ohne von verdammten Glöckchen belästigt zu werden«, fauchte ich. »Das ist übler Krach, genauso schlimm, wie wenn jemand sein Radio dauernd zu laut aufdreht.«

»Keine Sorge, du wirst dich dran gewöhnen«, erwiderte Penny. »Du bist jetzt nur so gereizt wegen der Nachwirkungen deiner Narkose. Nach einer Weile wirst du das gar nicht mehr hören.«

Sonderbar, dass manche Menschen meinen, man müsste etwas nur lange genug ertragen, dann könnte man es ausblenden. Und wie frech von Penny, meine Reaktion auf die Narkose zu schieben. Genauso unverschämt wie die Männer, die einem immer unterstellten, man hätte schlechte Laune, weil man seine Tage bekam.

Ich muss mir was überlegen, um dieses Teil verschwinden zu lassen. Sonst kann ich gleich umziehen.

»Ich könnte es mit Sekundenkleber bearbeiten«, sagte ich erfreut.

»Es wäre höflicher, wenn du die Nachbarn bitten würdest, es abzunehmen«, entgegnete Penny.

»Nee. Wenn sie es nämlich ablehnen und merken, dass dem Teil was zugestoßen ist, wissen sie, dass ich dahinterstecke. Nein, ich muss mir etwas anderes einfallen lassen.«

Und plötzlich musste ich an Archie denken. Er hätte auf jeden Fall eine gute Idee gehabt. Und so charmant, wie er immer war, hätten Sharmie und Brad ihm förmlich aus der Hand gefressen. Ich schüttelte traurig den Kopf.

Nun musste ich das allein hinkriegen.