November

1. November

Gerade von Sylvie zurückgekehrt. Sie lebt in einem prachtvollen umgebauten Farmhaus, nicht weit von Archies Anwesen entfernt. Jedes Zimmer sieht aus wie vom Innenausstatter gestaltet; es gibt kein Kissen, das nicht aufgeschüttelt wäre, und keinen Vorhang, der nicht von einem bestickten Band gehalten würde. Sogar die Geschirrtücher vom National Trust waren gebügelt, und sämtliche Schränke sind außen wie innen makellos sauber und voll funkelnder Gläser und Tassen. In den Badezimmern gibt es sogar spezielle kleine Händehandtücher, die man dann wie in schicken Hotels in eine Wäschetonne wirft.

Am Samstag haben wir lange zusammen in ihrer gemütlichen Küche gesessen, während Sylvie das Abendessen zubereitete. Sie hat es gern warm und kommt zum Glück in dieser Hinsicht nicht nach ihrem Vater. In einer Ecke der Küche steht der gewaltige Aga-Herd, und sogar die Flure sind geheizt. Wir redeten viel, vor allem natürlich über Archies Situation.

»Du kannst gerne vor dem Essen ein Bad nehmen«, sagte sie – wie ich fand, recht betont –, als sie sich die Hände an Küchenkrepp abtrocknete. »Wir ziehen uns aber nicht um.«

Umziehen? Baden vor dem Abendessen? Mir wurde klar, dass Sylvie im selben sozialen Umfeld lebt wie ihr Vater. Woraufhin ich mich umgehend nach oben begab und mich natürlich auch umzog, weil ich wusste, dass die Übersetzung von »Wir ziehen uns nicht um« lautete: »Wir ziehen uns um, aber nur ein bisschen.«

Ich vergewisserte mich, dass ich diesmal kein Kleidungsstück verkehrt herum oder mit den Innenseiten nach außen trug, und besprühte mich großzügig mit Chanel No. 5, für den Fall, dass der unangenehme antiseptische Geruch des Heims trotz meines Bads noch an mir haftete. Dann schritt ich vorsichtig nach unten (bin immer noch etwas wacklig von diesem Sturz). Im Wohnzimmer stand Harry, Sylvies Mann, mit einem Sherry vor dem offenen Kamin. Hardy hatte es sich auf dem Kaminvorleger gemütlich gemacht und schien sich in seinem neuen Heim sehr wohlzufühlen. Bestimmt genießt er die Wärme, nachdem er sein bisheriges Leben bei frostigen Temperaturen zugebracht hat.

Beim Essen berichtete ich den beiden von unseren Problemen mit dem Stadtrat und den Hotelplänen und erwähnte auch die unerfreuliche Aussicht, dass ich mich womöglich als letzte Maßnahme des Widerstands auf einen Baum setzen musste. Woraufhin Harry sehr lebhaft wurde. Er besitzt einiges an Forstland und verfügt offenbar über allerlei Gerätschaften zum Bäumebesteigen, die er uns gerne bei Bedarf ausleihen würde. Ich sagte, ich hoffe doch, dass es nicht dazu kommen müsste, aber das sei sehr nett von ihm. Dann lehnte ich den Kaffee dankend ab und stolperte ins Bett. Sie waren so lieb und verständnisvoll. Ich glaube, wir sind alle extrem angestrengt und erschöpft von der Situation.

5. November

Guy-Fawkes-Nacht! Seit ein paar Tagen knallt es ständig, und man sieht Raketen am dunklen Abendhimmel. Habe versucht, Pouncer im Haus zu behalten, weil er sich schrecklich vor Explosionen fürchtet. (Wer nicht? Vor ein paar Jahren ist er tatsächlich wegen eines Böllers davongerannt und erst nach drei Wochen zurückgekehrt.)

Wieder in Erinnerungen versunken. Als Jack klein war, hatten wir immer ein Feuerwerk im Garten, kleine Raketen in bunten Pappröhren mit hübschen Namen wie Goldfontäne, Römisches Licht oder Silbervulkan. Und auch Böller und Knallfrösche und Feuerräder, die meist klemmten und alle Funken am Boden versprühten. Wir rösteten Kartoffeln im Lagerfeuer, und es roch so gut nach Kordit, und alle Kinder hatten Wunderkerzen. Plötzlich spürte ich wieder diese wunderbare Stimmung. Und dann am nächsten Morgen die triste Szenerie, wenn ich all die feuchten, rußigen Hüllen und die abgebrannten Wunderkerzen aus dem Gras aufklaubte.

Später

Nichts von Louis gehört. Er müsste doch inzwischen hier sein? Würde ihm am liebsten schreiben, untersage es mir aber. Will mich nicht lächerlich machen. Aber ich checke ständig mein Handy, ob er nicht eine SMS geschickt hat. Er ist mir immer irgendwie präsent. Oje.

Gestern mit James und Ned diniert. James hatte Geburtstag, und Ned und ich haben ihn eingeladen. Ich hatte im Restaurant – einem netten Pub, in dem man auch essen kann – Bescheid gesagt, und ein Kellner brachte einen winzigen, mit Kerzen gespickten Kuchen an den Tisch und sang Happy Birthday. Alle Gäste stimmten ein, und James lief purpurrot an, deutete grinsend mit dem Finger auf mich und formte stumm mit den Lippen die Worte: »Du freches Ding!«

Alle blickten auf den Kuchen bis auf James, der stattdessen den Kellner beäugte, einen jungen Burschen, der so cool aussah, dass es schon albern war. Er trug eine gewagt kurze Hose – der angesagte Oliver-Twist-Look –, kombiniert mit umwerfenden lila Socken, und ein Hemd, das vermutlich von Paul Smith war. Und er hatte einen dieser Stachel-Haarschnitte. Wirkte unglaublich durchgestylt. (Mir fiel auch auf, dass Ned eine der Kellnerinnen musterte. Frage mich, ob bei den beiden alles stimmt. Jedenfalls kauen sie dieser Tage nicht mehr ständig aneinander herum. Zum Glück.)

Als wir aufbrachen, sagte ich zu dem Kellner: »Ich finde Ihr Outfit fantastisch!«

Er sah sehr erfreut aus. »Ich versuche, mich von der Masse abzuheben.«

»Ist gelungen!«, versicherten wir ihm und zogen von dannen. Aber dann kam ich ins Grübeln. Ist es nicht eigentlich furchtbar, wenn man als sehr junger Mensch von alten Leuten zu hören bekommt, wie großartig man aussieht? Ich meine, das ist doch dann eher kein Kompliment, oder? Leider sind junge Leute zu schüchtern, um wildfremden Menschen Komplimente zu machen. Wenn wir Oldies also nicht herumziehen und den anderen Nettigkeiten erzählen würden, bekäme niemand mehr ein Kompliment.

Zuhause dann mit der Familie geskypt. Gene hatte irgendwie das Metall-Geduldspiel gelöst, an dem wir in New York stundenlang herumgerätselt hatten, und er wollte mir unbedingt mehrmals zeigen, wie es funktionierte. Zuerst waren die beiden Ringe verbunden, und dann, durch eine schnelle Bewegung seiner kleinen Hände, waren sie getrennt. Verblüffend. Ich war gerührt und stolz.

Das holländische Mädchen war nun zum Glück abserviert, und Gene wirkte triumphal. »Wenn Mom und Dad nicht da waren, hat sie ganz viel mit ihren Freunden telefoniert, und Dad war echt sauer …«

Da ich seit meiner Rückkehr wie besessen gestrickt habe – es gelang mir, das meiste zu retten, nachdem ich wieder neue Stricknadeln gekauft hatte –, konnte ich Gene nun stolz meine Fortschritte vorweisen und versuchte sogar, die neue Version des Pullis am Bildschirm an ihm abzumessen. Was natürlich nicht richtig funktionierte. Aber ich bin froh, dass ich nochmal von vorne angefangen habe. Mir wurde nämlich klar, dass ich beim ersten Versuch jede Menge Fehler gemacht habe, die ich jetzt vermeide.

Gene war vollkommen empört darüber, dass die Schule einen Brief an seine Eltern geschickt hatte, in dem darum gebeten wurde, dass die Kinder an Halloween keine Monsterkostüme tragen sollten. Als großer Fan von Stephen-King-Filmen, in denen es meiner Erinnerung nach immer eine obligatorische Halloween-Szene gibt, um die Spannung zu steigern, erstaunte mich das sehr. Aber offenbar hat sich vieles geändert.

»Ich wollte mein Zombie-Kostüm anziehen«, sagte Gene traurig. »Es hat so Riesenhände mit Wunden und Haare auf dem Rücken, und dann hab ich noch diese Vampirzähne mit Blut dran, kein echtes, nur Farbe, aber Mom meinte, das würden die Leute hier nicht mögen. Und dann bekäme man keine Süßigkeiten.«

»Als was warst du denn verkleidet?«, fragte ich.

»Als Snoopy«, meinte Gene etwas abfällig. »Snoopy ist schon nett, aber nicht unheimlich. Aber«, fügte er etwas fröhlicher hinzu, »wir haben viele Süßigkeiten gekriegt.«

Jack berichtete danach, Halloween sei ein Fiasko gewesen, und sie hätten Süßkram im Wert von fünfzig Dollar an Kinder verteilen müssen, die an der Tür klingelten. Und außerdem seien sie alle drei betroffen gewesen, als sie merkten, dass der Guy-Fawkes-Tag hier nicht gefeiert wurde und es kein Feuerwerk gab.

»Ist natürlich im Grunde klar«, sagte er, »es war blöd von uns anzunehmen, dass man diesen Tag hier feiern würde, aber ich mag die Feuer. Weißt du noch, wie wir früher im Garten Feuerwerk gemacht haben?«

»Natürlich, mein Schatz! Ich hatte gerade selbst daran gedacht. Hörst du die Böller?«, fragte ich, weil es draußen wieder knallte und krachte. Der brenzlige Geruch drang sogar durch die undichten Fenster. Aber über Skype kann man Raketen natürlich ebenso wenig riechen wie Fürze. »Na ja«, fügte ich hinzu, »bald kommt ja Thanksgiving.«

Jack sah sehr übellaunig aus. »Haaaappy Hullidays«, sagte er mit überzogenem amerikanischen Akzent. »Ich glaube nicht, dass Weihnachten hier sehr vergnüglich ist. Weißt du, wir machen ständig alles falsch. Neulich waren wir zu einer Party eingeladen, und auf der Karte stand irgendwas von Kostüm, und wir wollten uns gerade Piratenkostüme ausleihen, als uns jemand sagte, damit sei Abendgarderobe gemeint. Es ist wie eine fremde Sprache.«

»Ist es«, bekräftigte ich.

Wir schickten uns Küsschen und loggten aus.

Ach, ich vermisse sie so sehr! Und ich mache mir solche Sorgen. Ich bin sicher, dass sie dort bleiben, und irgendwann bin ich dann nur noch ein lästiger Gast aus dem Ausland, und Gene wird so ein richtiges amerikanisches Highschool-Kid werden und sich in eines dieser Cheerleader-Mädchen mit den kurzen Röcken verlieben, die auf die Sportplätze marschieren und Stöckchen wirbeln – bei dieser grauenhaften Vorstellung kommen mir die Tränen –, und sie werden mir so fremd sein. Ich wünschte, sie wären nie weggezogen.

6. November

Louis hat angerufen! Aus London! Er ist gerade angekommen und will morgen mit mir essen gehen, aber da ist das verflixte Anwohnertreffen – das große in Pfarrer Emmanuels Kirche –, und das kann ich unmöglich ausfallen lassen. Er meint, wenn ich am Tag darauf Zeit hätte, dann würde er noch einen Tag hierbleiben, bevor er zu seiner Mutter nach Oxford fährt. Hier wohnt er bei einem Freund in Notting Hill, und nun haben wir uns für übermorgen verabredet. Er meint, das passe ihm gut, weil er den Außenminister wegen irgendetwas interviewen muss – Außenpolitik, vermute ich mal.

»Hast du die heutige Schlagzeile vom ›Hetzkurier‹ gesehen?«, fragte er. ›IRRES MATHEGENIE CHEF VON MADRID-MASSAKER!‹ Das hat dich doch bestimmt in Fahrt gebracht.«

Habe ihn gefragt, ob er zu dem Treffen kommen will, aber er hat eine Entschuldigung gemurmelt. »Ich weiß, dass du großartig sein wirst. Auf die Barrikaden!«

Sehne mich nach ihm, bin aber so nervös!

7. November

Penny und ich haben geschuftet wie verrückt, um dieses Treffen auf die Beine zu stellen, und nun liegt es zum Glück hinter uns. Ich hatte mir die halbe Nacht lang vorher Notizen gemacht, wir hatten eine Tagesordnung festgelegt und mit Pfarrer Emmanuel alles abgesprochen.

Und obwohl wir im gesamten Viertel Flyer verteilt und in allen Läden Plakate aufgehängt hatten, fürchteten wir dennoch, dass keiner kommen würde. Man hätte es den Leuten nicht mal übel nehmen können. Die Wände im Gemeindesaal der Kirche waren über und über mit Abbildungen Unseres Herrn bedeckt. Oder, von mir aus gesprochen, eher Deren Herrn.

Um Viertel vor acht – das Treffen sollte um acht beginnen – hatte sich nur eine Handvoll Anwohner eingefunden, und zwar nicht eben die Crème de la Crème. Eher die Kranken, die Blinden und die Lahmen, und ich hatte den Verdacht, dass einige nur erschienen waren, um sich die versprochene Tasse Tee abzuholen. Aber während ich mit den Leuten sprach, die Reden halten wollten, und mich für den Mangel an Zuhörern entschuldigte, entstand Unruhe an der Tür, und ich traute meinen Augen kaum: Scharen von Leuten strömten herein. Der Polizist aus dem Revier, zwei weitere Stadträte – außer denen, die wir herzitiert hatten, um sie auszufragen –, ein Reporter von der Lokalzeitung und jede Menge Anwohner. Die Sitzplätze waren im Nu besetzt, der Rest musste stehen, und der Lärmpegel war wie bei einem Orchester, das sich einstimmt. Schließlich befanden sich bestimmt an die dreihundert Leute im Raum, und Penny stupste mich an, damit wir loslegten.

Ich schilderte detailliert, wogegen wir protestierten, und bekam lebhaften Applaus dafür. Dann stellte ich die Redner vor. Ned hielt einen brillanten Vortrag über die Bäume, nach dem man glauben konnte, unsere kleine Grünanlage sei so ein Kleinod der Natur wie die Galapagosinseln.

Dann sprach Brad sehr wortgewandt über die rechtliche Lage.

»Wie Sie bestimmt an meinem Akzent hören«, begann er, »komme ich aus den Vereinigten Staaten. Dort würde man ein solches Bauprojekt unbesehen genehmigen. Man baut wahllos überall. Aber in diesem wunderbaren Land hier, diesem Land der Demokratie, in dem ich mich glücklich und geehrt schätze, als Ihr Gast leben zu dürfen – und was für ein großzügiger Gastgeber diese Gemeinschaft ist, möchte ich hinzufügen –, in dem großartigen Land, diesem Großbritannien, achten sich die Menschen und tragen Sorge füreinander. Und sie tragen Sorge für ihre Umwelt «

Er hätte noch Ross Shatterton selbst auf unsere Seite ziehen können.

Dann verzapfte Tim irgendetwas (womit er überzeugend den durchschnittlichen Anwohner dieser Wohngegend repräsentierte), die anderen Komiteemitglieder hielten ihre Drei-Minuten-Ansprachen, und sogar Sheila die Dealerin stapfte zum Rednerpult und wetterte lautstark gegen die »verdammte Regierung« (die selbstverständlich von alldem nichts wusste), was beim Publikum bestens ankam.

Zu guter Letzt machte Pfarrer Emmanuel düster dräuende Bemerkungen über das Schicksal jener, die sich dem Wort des Herrn widersetzten – wobei er durchblicken ließ, dass der Herr auf unserer Seite sei –, und rief alle Anwesenden auf, im Gebet Gott um Beistand für unseren Kampf zu bitten.

Niemand schenkte ihm Beachtung, denn inzwischen brodelte die Menge vor Wut. Die armen Stadträte, die sich den Fragen stellen sollten, sahen zunehmend verängstigt aus, flüsterten miteinander und tauschten Notizen aus. Und als sie dann ihre kläglichen Phrasen über Stadterneuerung und zusätzliche Arbeitsstellen und Investitionen für Interessenten (wer immer die auch sein sollten) vortrugen, wurde der Zorn immer spürbarer. Einige Leute standen auf und drohten mit der Faust. Ein langsames Klatschen setzte ein, und die Rufe »Rettet unseren Park! Rettet unseren Park!« schwollen zu solcher Lautstärke an, dass ich mir wünschte, die Robinia pseudoacacia und die Platanus acrifolia, oder wie die Namen dieser Bäume auf Latein lauteten, könnten vor Ort sein, um zu hören, wie leidenschaftlich man sich für sie einsetzte.

Am Ende willigten die Stadträte ein, sich die Hotelpläne noch einmal genau anzusehen (nur durch dieses Zugeständnis konnten sie einen regelrechten Aufstand verhindern). Danach beruhigten sich alle, und ich war von der ganzen Erfahrung so überwältigt, dass ich nur noch im letzten Moment schrie, alle sollten ihre Telefonnummern und E-Mail-Adressen hinterlassen und noch die Petition unterschreiben und bitte beim Rausgehen etwas für Pfarrer Emmanuels Kirche spenden.

Danach kam Michelle zu mir. »Du warst sähr gut. Iesch bien stols, dass iesch lebe bei dier. Iest wie großes Rock-Konsert! Nächstes Mal O2! Bravo! Ja, und du auch!«, sagte sie zu Ned, der sich der selbstgefälligen Runde hinzugesellt hatte. »Wier nähmen Drienk, hein?« Sie machte eine Trinkgeste und zwinkerte Ned kokett zu.

Alle zogen von dannen, und Penny und ich genehmigten uns zur Feier des Tages ein Essen à deux in dem indischen Restaurant unweit der Kirche. Die würzigen Düfte der indischen Küche sind so ungemein beruhigend.

»Dem Himmel sei Dank, dass ich jetzt nicht auf diese Platane klettern muss«, sagte ich erleichtert, als ich die Speisekarte studierte. »Davor hat mir wirklich gegraut.«

»Kann ich verstehen«, meinte Penny.

Dann bestellten wir uns ein Festmahl. Als wir es zur Hälfte verspeist hatten, teilte sich der rot-blaue Perlenvorhang am Eingang, und wir erblickten James, der nach uns Ausschau hielt. Er sah etwas bedrückt aus.

»Bist du nicht mit Ned zusammen?«, fragten wir. »Was ist los?«

»Er hat beschlossen, dass er doch nicht schwul ist«, berichtete James traurig. »Hat es mir vor dem Treffen gesagt. Er will schon noch mit mir befreundet sein, aber er sagt, er will sich eine Frau suchen und ein ruhigeres Leben führen. Die übliche Geschichte. Schwulsein war offenbar nur ein Experiment für ihn. Aber na ja. Ich glaube, ich hätte auch den Speiseplan, der aus Nüssen und Sojamilch besteht, nicht viel länger ertragen können. So ist es nun mal.«

»Ich dachte, du hättest ihn zu Schellfisch verführt?«, fragte Penny. »Was ist denn daraus geworden?«

»Er hat nur einmal ein kleines Stück gegessen, mir zuliebe. Und da wurde ihm bewusst, dass es nicht klappen wird mit uns. Das war’s dann. Ach, na ja, wir hatten jedenfalls eine gute Zeit.«

Und er bestellte sich ein großes Chicken Masala.

»Ähm«, machte Penny, um die richtigen Worte bemüht. »Er hilft uns aber weiterhin mit den Bäumen, oder?«

»Ja, sicher, keine Sorge«, antwortete James. »Nichts wird ihn vom Kampf für die Bäume abbringen. Was das angeht, ist er viel besessener als ich. Mir waren dieses Recycling-Thema und die ökologische Autarkie und Plastikschuhe und so fort eigentlich immer fremd. Ned konnte sich nie einfach entspannen und Spaß haben. Als ich ihn allerdings vor einer halben Stunde zuletzt gesehen habe, schien er sich mit deiner Untermieterin enorm gut zu verstehen«, sagte er zu mir. »Ich hab die beiden dann in Ruhe gelassen. Sie hat eindeutig ein Auge auf ihn geworfen«, fügte er ziemlich säuerlich hinzu. »Obwohl ich ihn ja etwas alt für sie finde.«

»Ach du liebe Güte!«, riefen Penny und ich wie aus einem Munde.

Bei dem in indischen Restaurants üblichen schauderhaften Kaffee erörterten wir ausgiebig das Treffen, und ich brachte zur Sprache, wie erleichtert ich sei, dass die Baumbesteigung nun für mich entfiele. Doch da hob James die Hand.

»O nein, Marie, du musst auf den Baum steigen! Das ist der nächste Schritt in der Kampagne! Ned meint, es wäre Irrsinn, wenn wir jetzt nicht dranblieben. Wir müssen unseren Vorteil nutzen. Wenn der Stadtrat das Ganze jetzt neu aufrollt, brauchen wir zusätzliche Publicity, um die Sache für uns zu entscheiden. Nein, im Gegenteil, es hängt ganz viel davon ab, dass du auf den Baum steigst. Wir brauchen eine starke Geste.«

Während mir das Gesicht entgleiste, pflichtete Penny James bei. »Gute Idee, James. Daran hatte ich nicht gedacht. Das Eisen schmieden, solange es heiß ist und so. Den Vorteil nutzen. Du hast doch gesagt, dass du es machen würdest, Marie. Und dass Harry dir die Ausrüstung stellen würde, dann wäre es auch sicher.«

In diesem Moment piepte mein Handy. Eine SMS!

»Hoffe, Treffen lief gut. Bis morgen! Sehr liebe Grüße!« Ganz ehrlich, ich kam mir vor wie ein Teenager. Und sehr liebe Grüße! Eine weitere Steigerung! Mein Herz schlug höher, und ich muss rot geworden sein, denn Penny fragte: »Was ist los?«

»Ach, nichts«, gab ich zur Antwort und versuchte, das belämmerte Lächeln von meinem Gesicht zu vertreiben, indem ich mir eine große Portion von diesen bunten Samen nahm, die man nach indischem Essen gereicht bekommt, und hustete.

»Doch wohl nicht ein Kerl, oder?«, hakte Penny nach.

»Nein, nein«, wehrte ich ab. »Nur Jack … Na klar, ich steige dann auf den Baum. Kein Problem.«

In diesem Moment hätte ich mich zu allem bereit erklärt.

8. November

Heute Früh einen Brief von meinem Arzt vorgefunden.

»Liebe Mrs Harp«, stand darin. »Um diese Zeit des Jahres fordern wir alle unsere anfälligen Patienten auf, einen Termin für die Grippeimpfung zu vereinbaren …«

Also, zum Ersten heiße ich nicht Mrs Harp, und zum Zweiten bin ich doch wohl niemand, den man als »anfällig« bezeichnen könnte? Als ich in der Praxis anrief, sagte man mir, dass alle Menschen über fünfundsechzig als anfällig betrachtet würden, und ich dachte, schönen Dank auch. Und weshalb sollte ich mich wohl gegen Grippe impfen lassen? Sollte man sich nicht ab einem bestimmten Alter – etwa ab siebzig vielleicht – erlauben, sich von irgendeiner beliebigen tödlichen Krankheit dahinraffen zu lassen? Sonst läuft man Gefahr, ewig zu leben und seiner Familie zur Last zu fallen und sie furchtbar viel Geld für Pflegeheime zu kosten – wie Archie. Ich werde die Impfung also ablehnen.

Nun zu Louis. Wir treffen uns heute Abend, und ich bin schon völlig aufgelöst. Habe meine gesamte Garderobe auf meinem Bett ausgelegt, und alles wirkt alt und schäbig. Sogar die Vivienne-Westwood-Jacke, die ich vor ein paar Jahren im Ausverkauf erstanden habe und für zeitlos hielt, sieht irgendwie albern aus. Und ist an den Ärmeln fadenscheinig. Schließlich entschied ich mich für einen sehr schönen schwarzen Rock, der meinen flachen Bauch gut zur Geltung bringt, und ein Top, das weit genug ausgeschnitten ist, um zu betonen, dass ich Brüste habe, dabei aber diese etwas runzlige Hautpartie direkt am Ansatz verdeckt, die ältere Frauen nun mal haben.

Heute Morgen eine sonderbare Gesichtspackung aufgetragen, die ich ganz hinten in dem Schränkchen unter dem Waschbecken im Bad entdeckt habe. Das Zeug habe ich seit den Sechzigern nicht benutzt. Es war eine Art grüner Kitt, und natürlich klingelte es genau zu dem Zeitpunkt, als das Zeug zu trocknen begann.

Als ich die Tür aufmachte, stand Ned davor. Ich hatte völlig vergessen, dass er am Abend vorher getextet hatte, weil er heute die elende Baumbesteigung besprechen wollte. Nachdem ich heute weniger beflügelt war als gestern, wünschte ich mir zusehends, mich niemals darauf eingelassen zu haben. Fühlte mich plötzlich doch reichlich anfällig. Vielleicht hat mein Arzt Recht.

Nachdem Ned den Schock verkraftet hatte, von einer Art Marsmensch empfangen zu werden, sagte er, ich könne mich ruhig erst säubern, er würde warten. Während ich im Bad war, hörte ich, wie Michelle die Treppe runterging und in der Küche auf Ned stieß. Als ich mit frisch gestraffter Haut herunterkam – verjüngt auf etwa fünfundvierzig –, sah ich, wie Ned etwas aufschrieb und Michelle kicherte.

Da lief also tatsächlich etwas!

Nachdem Michelle zum Englischunterricht davongeeilt war, sagte Ned mitfühlend: »Falls du nicht auf den Baum klettern möchtest, übernehme ich das gerne. Ich würde es dir nicht übel nehmen.«

»Das ist sehr nett von dir«, erwiderte ich, »aber ich könnte mir vorstellen, dass es für mehr Aufsehen sorgt, wenn das nicht ein sportlicher Bursche wie du macht, sondern eine gebrechliche alte Dame wie ich.«

»Du bist doch nicht gebrechlich!«, wandte Ned ein, was ich sehr herzerwärmend fand. »Du bist so zäh wie ein alter Stiefel.« Mein Herz kühlte sich wieder etwas ab.

Als ich sechzig wurde, bezeichnete ich mich gern als alte Dame – vermutlich, um mich ein bisschen jünger zu machen. Ich ging davon aus, dass meine Mitmenschen mich ohnehin als alte Dame empfanden, und wenn ich das selbst zur Sprache brachte, konnte ich denen den Wind aus den Segeln nehmen. Aber inzwischen merke ich, dass das etwas peinlich ist. Es wirkt, als wollte ich mich bei jüngeren Leuten anbiedern. Weshalb ich die Gewohnheit eigentlich eingestellt hatte. Es war ein Fehler, sie bei Ned wieder anzuwenden.

Ich gab ihm Harrys Nummer, damit die beiden das Kletterzeug organisieren konnten, und Ned versicherte mir, mithilfe von James und einigen Drogendealern könnten sie den Aufstieg absichern.

»Wir müssen es natürlich nachts machen und dich auch im Schutz der Dunkelheit da hochschaffen«, erklärte er. »James und ich bringen zuerst oben das Spruchband an – EUER STADTRAT WILL DIESEN BAUM TÖTEN! –, und dann steigst du rauf. Und wir sorgen dafür, dass Presseleute da sind. Wird eine tolle Story werden … ›Rentnerin leistet mutig Widerstand, um Baum zu retten‹ … ›Pensionierte Lehrerin Marie Sharp setzt ihr Leben aufs Spiel, um jahrhundertealten Stadtpark vor Zerstörung durch Stadtrat zu bewahren‹.«

»Was meinst du mit ›Leben aufs Spiel setzen‹?«, fragte ich, schlagartig beunruhigt. »Ich riskiere doch wohl nicht mein Leben, oder?«

»Nun ja, technisch betrachtet schon, falls du herunterfällst und nicht von genügend Drogendealern aufgefangen wirst«, antwortete Ned. »Aber auch nicht mehr, als wenn du über die Straße gehst.«

»Hm«, seufzte ich. »Lieber Gott.«

Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Später

In entsetzlichem Zustand darauf gewartet, von Louis zum Essen abgeholt zu werden. Hatte die Ink Spots aufgelegt, um mir Mut zu machen, und arbeitete gerade in üblicher Maori-Weise in der Küche an meinem Selbstvertrauen, als es klingelte. Und als Louis die Musik hörte, tänzelte er grinsend in die Küche, legte seine Sachen ab, schnappte mich und tanzte mit mir, bis das Stück zu Ende war.

»Geht doch nichts über die guten alten Ink Spots!«, sagte er und sang: »I love coffee, I love tea, I love the Java Jive and it loves me … Aber was ist eigentlich der Java Jive, Marie? Wenn wir das wissen, kennen wir wahrscheinlich den Sinn des Lebens.«

»Ich frage mich selbst schon seit jeher, was der Java Jive ist«, sagte ich lachend. »Ich hatte jetzt damit gerechnet, dass du als Amerikaner mir endlich die Antwort geben kannst. Wenn du das nicht schaffst, tja, let’s call the whole thing off …«

Es versprach, ein wunderbarer Abend zu werden.

Er hatte einen Tisch in einem italienischen Nobelrestaurant in Knightsbridge reserviert, in dem es Stofftischdecken und Stoffservietten und für jeden mehrere Gläser gab, um Aperitif, Rotwein, Weißwein, Dessertwein und Wasser nacheinander zu trinken. Und man sah dort nur glamouröse junge Paare in Jacks und Chrissies Alter, die sich über dem Tisch an Händen hielten und sich gedämpft unterhielten. Weshalb ich dann anfing, mich wie eine alte Oma zu fühlen. Und zugleich total sonderbar – wie bei meinem allerersten Rendezvous mit siebzehn. Man gerät zwischen zwei Alterszustände. Ich weiß jetzt, wie Schumann, oder wer immer das war, sich gefühlt hat, als er seine armen Hände so gedehnt hat, dass er zwei Noten mehr als eine Oktave spielen konnte. Aber bei köstlichen Scallopine alla marsala und einem Glas Champagner fing ich an, mich wirklich zu entspannen.

Da saß ich doch wahrhaftig mit diesem jungen Burschen (na ja, aus meiner Perspektive ist er nun mal jung) mit Augenfältchen, die vom Lachen und nicht vom Alter herrührten, hübschem sonnenbraunen Hals und Händen gänzlich ohne Altersflecken. Sexuelles Verlangen machte sich bemerkbar, und ich wurde ein bisschen verlegen bei dem Versuch, es niederzuringen.

Wir sprachen über seine Mutter – Verdacht auf Krebs, natürlich. (»Tut mir sehr leid, das ist natürlich Besorgnis erregend«, sagte ich. »Aber, ganz ehrlich, gibt es heutzutage irgendjemanden über sechzig, der nicht Krebs hat?« Und Louis brach in Gelächter aus und meinte: »Das liebe ich so an dir, Marie. So eine Bemerkung würde man von keiner amerikanischen Frau zu hören kriegen!«) Dann kamen wir auf Malerei zu sprechen und ließen uns darüber aus, wie sehr wir es verabscheuten, dass man inzwischen für moderne Kunst jede Deutung gleich mitgeliefert bekam, als er sich plötzlich vorbeugte und meine Hand nahm.

»Weißt du, wir haben uns in eine ziemlich schwierige Lage gebracht.«

»Ich weiß«, erwiderte ich, obwohl ich mir eigentlich über die Lage nicht im Klaren war.

»Ein Teil von mir meint, sich total in dich verliebt zu haben«, fuhr er fort. »Und ein anderer Teil weiß, dass das vollkommener Unsinn ist. Ich meine, wir kennen uns ja kaum …«

»Ich weiß«, sagte ich wieder.

»Aber aus irgendeinem Grund, als wir uns im Flugzeug begegnet sind …«

Ich unterbrach ihn. »Hör mal, ich bin uralt. Denk nicht mal dran. Das wäre vollkommen albern. Ich bin viel älter, als du glaubst. Ich sage dir jetzt …«

»Hu! Reicht!«, erwiderte Louis entschieden. »Das Alter spielt nicht die geringste Rolle. Lass das aus dem Spiel.«

»Aber ich bin …«

»Lass es«, sagte er fest. »Ich weiß einfach, dass ich mich in deiner Anwesenheit absolut wohlfühle. Wär mir auch egal, wenn du hundert wärst.«

»Ich fühle mich auch so wohl mit dir«, sagte ich. »Ganz seltsames Gefühl. Hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr.«

»Seit wann genau?«, fragte er.

Ich vermute, seit damals, als es Archie noch gut ging.

Als ich von David und Jack und Archie erzählte, lehnte Louis sich abrupt zurück und sagte: »Ich hoffe, du empfindest nicht nur so für mich, weil dieser alte Knabe stirbt und du einen neuen Mann brauchst.«

»Wohl kaum«, erwiderte ich, ziemlich erschüttert über diese Einschätzung.

»Als mein Vater starb, hat meine Mutter sich mehr oder minder am Tag nach der Bestattung in einen anderen alten Professor verliebt, und wir konnten sie gerade noch davon abhalten, auf der Stelle mit ihm davonzulaufen. So ist das aber nicht zwischen uns, oder? Bist du dir sicher?« Er betrachtete mich fast misstrauisch.

Ich versicherte ihm, es sei nicht so, und seine sensible und kluge Einschätzung machte ihn mir noch sympathischer. Dann berichtete ich von der Baumaktion.

»Du behältst das aber für dich, ja? Es ist noch ein Geheimnis.«

Er sah ein bisschen verärgert aus. »Hör mal, Marie, dass ich Journalist bin, heißt nicht, dass ich automatisch ein Dreckskerl bin. Natürlich verrate ich es keinem. Und wem auch? Die Times interessiert das wohl eher nicht. Es sei denn vielleicht«, fügte er grinsend hinzu, »du fällst runter. Aber ich fürchte, auch dann würden sie sich nicht darum scheren. Ich allerdings schon«, sagte er und nahm wieder meine Hand. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist, Marie? Ist das nicht zu gefährlich? Ich mache mir Sorgen um dich.«

Seine Fürsorglichkeit rührte mich fast zu Tränen.

Als wir nach dem Essen zum Auto zurückgingen, stellte ich schockiert fest, dass er viel schneller ging als ich, weil er so viel jünger war. Er nahm meine Hand, und ich dackelte neben ihm her und bemühte mich, nicht ins Hecheln zu geraten.

Er fuhr mich nach Hause. Den Wagen hatte er von seinem Gastgeber geliehen, und er geriet an den Ampeln immer wieder ins Stottern. Als wir vor meinem Haus hielten und ich aussteigen wollte, zog Louis mich an sich und küsste mich innig.

»Das wollte ich schon den ganzen Abend tun«, sagte er und streichelte mir die Wange. »Du bist eine wunderschöne Frau, Marie. Und so bezaubernd. Und ich würde liebend gerne mit reinkommen und dir die Kleider vom Leib reißen, aber ich glaube, das ist keine gute Idee. Es ist zu früh. Ich finde, wir sollten nicht so sein wie alle anderen …«

Wir kuschelten noch ein Weilchen, und als er sich von mir löste, sagte er: »Meine Güte, das erinnert mich an meine Abschlussfeier. Sie hieß auch Marie, ein zierliches Mädchen mit braunen Haaren. Ich habe sie heimgefahren und im Auto geküsst – und als ich aufschaute, war da ihr Vater auf der Veranda und sah alles! Du glaubst gar nicht, wie schnell ich weg war!«

Das brachte mich auf die Idee, nervös aus dem Fenster zu blicken, ob wir nicht vielleicht von Passanten beobachtet wurden. Doch zum Glück weit und breit keine Menschenseele.

»Ich möchte dich unbedingt wiedersehen, Marie. Ganz oft. Aber morgen fahre ich nach Oxford wegen dieser Untersuchungen meiner Mutter. Ich versuche, in den nächsten Tagen wiederzukommen. Ich rufe dich an.«

Ich tippelte zu meiner Haustür, total durcheinander vor Verlangen und Verwirrung.

13. November

Nach vier Tagen immer noch kein Wort von Louis. Kein gutes Zeichen. Er ist doch wohl nicht in die Staaten zurück, ohne sich zu melden? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass etwas an ihm sonderbar ist. Dieses unberechenbare Verhalten. Und was sollte »nicht so sein wie alle anderen« bedeuten? So oder so hänge ich jetzt in der Luft. Und das Furchtbare ist, dass ich mit niemandem darüber sprechen kann, weil ich weiß, dass sich das alles so albern anhört. Ich meine, wie habe ich mich denn benommen, als Penny sich in Gavin verliebte, der so viel jünger war als sie? Verständnisloser als ich damals kann man gar nicht sein. Und nun ist mir dasselbe passiert, und ich verhalte mich genauso dämlich wie sie.

Später

Heute Nachmittag sehr unerfreuliches Erlebnis gehabt. Habe alte Fotoalben angeguckt (um ehrlich zu sein: weil ich wissen wollte, wie ich in Louis’ Alter aussah) und dabei ein Foto von mir, David und dem zehnjährigen Jack entdeckt, wie wir um einen sehr schönen kleinen Tisch mit Perlmuttintarsien saßen, der meiner Mutter gehört hatte. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich den jahrelang nicht gesehen hatte – vermutlich hatte David ihn bei der Scheidung mitgenommen. Das machte mich richtig wütend, und ich konnte nur noch daran denken, wie ich den Tisch wiederbekommen könnte. Wir sind schließlich seit damals gute Freunde, und es wäre ziemlich unhöflich von mir, ihn nach so langer Zeit zurückzuverlangen.

Ich muss mich einfach in Geduld fassen. Manchmal ergibt es sich im Gespräch, dass man so etwas beiläufig erwähnen kann. Aber irgendwie regt mich das total auf, ich weiß gar nicht richtig, warum. Es ist doch bloß ein Tisch, um Himmels willen. Aber etwas daran lässt mir keine Ruhe.

James und Ned haben vorgeschlagen, dass ich schon mal Klettern üben soll. Da gibt es in der Tat viel zu üben, da ich seit Monaten nicht mal mehr auf eine Leiter gestiegen bin, nachdem ich Jack dieses Versprechen gegeben hatte. Und seit dem Vorfall mit dem Windspiel habe ich kein gutes Verhältnis mehr zur Höhe. Deshalb werde ich nun tatsächlich ab morgen Nachmittag an dem alten Apfelbaum in Neds Garten mit dem Training beginnen.

Später habe ich mich komplett eingemummelt und draußen Skizzen für das November-Baumporträt gemacht. Es war so kalt wie in Archies Küche.

14. November

Neds Wohnung ist ebenso extrem ordentlich und puristisch wie sein Garten. Ist mir alles etwas zu japanisch, aber mit seiner asketischen Figur und seinen Silberhaaren sieht er sehr gut darin aus. Er servierte uns Tee und hatte sogar eigens für James und mich Milch besorgt, der Gute, was wirklich reizend von ihm war, da er das offenbar für ein Gebräu des Teufels hält. Wir bekamen auch erstaunlich schmackhafte vegane Kekse vorgesetzt, die nur aus Maismehl, Zucker und Pflanzenöl bestanden. Weiß der Himmel, wie der Teig ohne Eier überhaupt zusammenhielt. Vermutlich mittels vegetarischen Klebstoffs.

Als waschechter Mann der Bäume besaß Ned natürlich eine althergebrachte Gerätschaft zum Besteigen des Apfelbaums – die professionelle Ausstattung wird nächste Woche von Harry geliefert –, die er um die Äste schlang. Dann meinte er in aller Gelassenheit, ich solle mich daran hochhangeln wie ein Affe. Als er es vormachte, sah es kinderleicht aus. Aber als ich es dann versuchte, musste ich feststellen, dass meine Arme zu schwächlich waren. Und nachdem Ned und James mich per Druck aufs Gesäß nach oben befördert hatten, packte mich das nackte Grauen, als ich nach unten guckte.

Aber die beiden waren wirklich süß, johlten und klatschten, und Ned machte ein Foto, und dann sagten sie »also tschüss dann, bis morgen« und taten, als wollten sie verschwinden und mich dort oben sitzen lassen. Wir hatten es lustig zusammen, aber als ich schließlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, merkte ich, dass mir die Knie zitterten.

»Das hast du wirklich toll gemacht, mein Engel«, sagte James. »Ich bin stolz auf dich!«

»Ja, super«, bekräftigte Ned. »Wir machen noch eine echte Ökokriegerin aus dir.«

»Ich kann nur hoffen, dass ich nicht so aussehe«, erwiderte ich, weil die meisten Ökokrieger für verfilzte Haare, schlechte Gerüche und ein generell verlottertes Äußeres bekannt sind.

»Nach ein paar Tagen auf dem Baum«, erklärte James, »wird man dich nicht wiedererkennen. In deinen Haaren werden Vögel nisten, deine Kleider werden mit Blättern bedeckt sein, Eichhörnchen werden sich in deinem Dekolletee niederlassen, und unter deinen Nägeln werden Ameisen und Asseln hausen. Du wirst mit den Tieren sprechen können, wie Dr. Dolittle. Und man wird dir huldigen wie einer Göttin.«

15. November

Früher warf ich Passanten auf der Straße immer finstere Blicke zu – vermutlich, weil ich mich vor ihnen fürchtete. Ich schaute böse, blickte zu Boden und stapfte so wütend an ihnen vorbei, als hätten sie mich tags zuvor beleidigt und ich würde ihnen niemals vergeben wollen.

Heutzutage lächle ich fremde Menschen immer an. Manchmal spreche ich sogar mit ihnen. »Hallo!«, trällere ich dann munter. »Zauberhaftes Wetter für diese Jahreszeit, finden Sie nicht auch?«

Nun ist es auch so, dass fremde Menschen mich auf der Straße anlächeln, und mir ist klar geworden, dass es nicht mit meiner fröhlichen Ausstrahlung oder meiner Menschenfreundlichkeit zu tun hat, sondern dass die Leute mich vom Anwohnertreffen kennen. Sonderbares Gefühl, von allen so nett behandelt zu werden. Macht durchaus Spaß, eine Zeit lang berühmt zu sein – denn insgeheim möchte wohl jeder ein bisschen Ruhm, und zwar nicht nur die viel zitierten fünfzehn Minuten.

Gestern war ich jedenfalls so damit beschäftigt, jedermann auf der Straße anzulächeln, dass ich nochmal hingefallen bin und mir meine armen alten Knie übel zugerichtet habe. Habe es geschafft, nach Hause zu humpeln, bin aber jetzt ziemlich beunruhigt. Ich sollte wohl zum Arzt gehen, denn wenn etwas mit meinem Gleichgewichtssinn nicht stimmt, dann stimmt vielleicht was mit meinen Ohren nicht, in denen der Gleichgewichtssinn untergebracht ist. Im Grunde könnte ich allmählich selbst eine Arztpraxis aufmachen, weil ich mich inzwischen mit sämtlichen möglichen Zipperlein auskenne, die im Angebot sind.

Ich beschloss, mich eine Stunde hinzulegen, um mich von dem Schreck zu erholen. Und als ich nach meinem Wasserglas griff, fiel mir auf, dass es auf dem Tischchen mit den Perlmuttintarsien stand, dessen Verschwinden ich David unterstellt hatte. Es fungiert seit Jahren als mein Nachttisch, war aber so mit Büchern vollgestapelt, dass ich es nicht mehr richtig erkennen konnte.

Zum Glück habe ich das Ding David gegenüber nicht erwähnt! Und das, obwohl sich der Tisch buchstäblich die ganze Zeit vor meiner Nase befunden hatte. Hatte plötzlich mehr Verständnis für den armen alten Archie und seine Einbildungen wegen der Brosche.

16. November

Endlich E-Mail von Louis! Er schreibt, seine Mutter habe erste Ergebnisse, aber er müsse länger bleiben, weil weitere Untersuchungen anstünden. »Fand unseren gemeinsamen Abend wunderbar. Denke ganz oft an dich«, schrieb er.

Es hat wirklich etwas Irreales. Es ist vielleicht auch irreal. Ich meine, wenn jemand mir diese Geschichte von mir und Louis erzählen würde, dann würde ich sofort sagen, der Mann sei ein Seriencharmeur und man solle ihm kein Wort glauben. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich glaube ihm.

17. November

Habe immer noch komische Schuldgefühle, wenn ich zum Arzt gehe. Ich weiß, dass ich sein Honorar mit meinen Steuern bezahle, habe aber trotzdem das Gefühl (stammt vermutlich aus der Zeit vor dem Sozialstaat, ererbt von meinen Eltern), dass ich ihn nicht bemühen sollte, sofern ich nicht einen Gehirntumor oder ein kürbisgroßes Geschwür auf der Nase habe.

Der Arzt meinte, es sei alles in Ordnung, schlug mir aber vor, mein Gleichgewicht zu trainieren, indem ich beim Zähneputzen auf einem Bein stehe. Ich willigte ein, fiel aber beim ersten Versuch fast hin. Das Zähneputzen macht es so schwierig. Wenn ich ganz stillstehe, kann ich mich etwa dreißig Sekunden auf einem Bein halten, aber wenn ich gleichzeitig mit der Zahnbürste herumfuhrwerke – unmöglich. Ist wie dieser Trick, sich im Uhrzeigersinn den Bauch zu reiben und dabei den Kopf in die Gegenrichtung kreisen zu lassen. Eine Übung, die ich nicht nur Jack, sondern auch Gene beigebracht habe. Und die ich wiederum von meiner lieben Großmutter gelernt habe.

Da ich nun andauernd herumpurzele, bin ich froh, dass ich mein Testament auf den neuesten Stand gebracht habe. Wenn ich kein Testament hätte und vom Baum fallen würde, wäre Jack mein Erbe, aber wenn er nun auch gerade sterben würde, dann bekäme der Staat mein ganzes Geld. (Das hört sich an, als hätte ich viel Geld, dabei habe ich kaum was, aber ich denke, das Haus ist einiges wert.)

18. November

Schöne Mail von Louis bekommen. Er schrieb: »Denke an dich «, und endete mit den Worten, »große Umarmung. Louis«

Aber ich habe wirklich keine Ahnung, was da eigentlich passiert. Ich meine, was empfindet er überhaupt für mich? Komme mir ein bisschen vor, als wäre ich Teil einer Fantasie von ihm. Er fragt sich, ob ich ein Auge auf ihn geworfen habe, weil Archie aus meinem Leben scheidet. Aber ich frage mich, ob Louis nicht ein Auge auf mich geworfen hat, weil ich zu alt bin und deshalb als Partnerin gar nicht infrage komme. Ich kenne dieses Syndrom. Früher verliebten sich immer irgendwelche Typen in mich, wenn ich gerade glücklich liiert war, und sobald ich dann verfügbar war, suchten sie das Weite.

Muss sagen, dass ich mir allmählich wünsche, Louis hätte das Ganze nicht vorangetrieben. Es ist so anstrengend, dauernd all diese Wünsche und Sehnsüchte nach Archie unterdrücken zu müssen, und dann kommt jemand an und beschwört genau diese Gefühle wieder herauf.

Doch sosehr ich auch herumrationalisiere – es ändert gar nichts. Ich denke zu oft an Louis.

Ich bin nun in einem Alter, in dem ich imstande sein müsste, mit so etwas umzugehen. Aber ich kann es nicht. Seit Tagen fühle ich mich komisch und bin völlig durcheinander und weiß nicht mehr, ob es mit Louis oder Archie zu tun hat oder weil ich auf einen Baum klettern soll oder weil Jack und Chrissie und Gene mir so sehr fehlen. Ich habe mir selbst schon so oft »reiß dich zusammen« zugeschrien, dass es rein gar nichts mehr nützt.

20. November

Wegen Donner aufgewacht, und nun schüttet es wie aus Eimern. Die aufmunternde Schlagzeile des heutigen »Hetzkurier« lautet: »MENSCHHEIT ZUM UNTERGANG VERURTEILT DURCH REAKTORUNFALL! Kein Zurück zur Normalität, sagen Wissenschaftler.«

Bin trotz Regen raus zum Zeitungsladen, um mir einen Kalender fürs nächste Jahr zu kaufen. Stand in der Schlange an und regte mich so über die Frau vor mir auf, die umständlich ihr Kleingeld abzählte, dass ich meinen Geldbeutel nicht zur Hand hatte, als ich selbst mit Bezahlen dran war. Dann fand ich ihn nicht in der Hast, klopfte meine Taschen ab, leerte meine Handtasche auf dem Tresen aus und brachte so die Leute hinter mir auf die Palme. Die waren natürlich nun genauso sauer auf mich wie ich zuvor auf die andere Frau. Ich entschuldigte mich wortreich, aber das nützte auch nichts mehr.

Komplett kopflos hastete ich nach draußen und war so erpicht darauf, möglichst schnell wegzukommen, dass ich die Kapuze meiner Jacke nicht aufsetzte, obwohl es in Strömen goss. Schließlich fand ich Schutz unter einer Markise, unter die sich auch schon andere Leute geflüchtet hatten, und versuchte, mich zu sortieren. Ich stellte meine Tasche ab, knöpfte meine Jacke zu und zog mir die Kapuze über den Kopf. Die natürlich inzwischen voller Wasser war, was ich nicht bedacht hatte, so dass ich klatschnass wurde. Ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, den bärtigen Männern, die sich vor der Moschee anstellten, Verwünschungen ins Gesicht zu schreien. Da das aber wohl nicht allzu gut angekommen wäre, konzentrierte ich mich stattdessen darauf, so fest wie möglich die Zehen zusammenzukneifen. Was in meinem Alter ziemlich wehtut, das kann ich euch sagen.

Und da ich ja nun mal in England war, blickten alle starr geradeaus und taten so, als hätten sie nichts bemerkt.

24. November

Bin völlig aus dem Häuschen, weil Louis unerwartet anrief und sagte, er käme heute Nachmittag aus Oxford, eigens, um mich zu treffen. Ich werde ihm also bei mir einen Happen zu essen machen, und dann wollen wir in Burnham Beeches spazieren gehen, der nächstgelegenen ländlichen Umgebung. Habe das Wohnzimmer aufgeräumt, wobei ich noch ein paar Bücher herumliegen ließ, um nicht wie eine zwanghafte Ordnungsfanatikerin zu erscheinen. Sichtbar sind jetzt noch der Auktionskatalog von Christie’s mit meinen Bildern, weil ich mir dachte, das würde uns Gesprächsstoff geben; ein Bilderbuch von Beatrix Potter, damit er sich daran erinnerte, dass ich schon einen Enkel hatte und auch keinen Hehl daraus machte; und meine aktuelle Lektüre: die Erzählungen von Tschechow und die Autobiografie von Bob Monkhouse, Crying With Laughter. Ich weiß, ich weiß, das mag ein bisschen flach erscheinen. Aber das Buch ist erstaunlich gut geschrieben, und der Mann hatte ein spannendes Leben. Und ich dachte mir, diese Mischung könnte Louis verwirren.

Dann stellte ich entsetzt fest, dass Michelle beim Putzen des Badezimmers meine Antirutschmatte aus der Wanne auf den Heizkörper im Flur gehängt hatte – die sei unten schimmlig geworden, behauptete sie, und sie habe sie bleichen müssen, um die Flecken zu entfernen –, und schaffte es gerade noch rechtzeitig, dieses Merkmal von Gebrechlichkeit verschwinden zu lassen, indem ich es unter mein Handtuch hängte, bevor Louis an der Tür klingelte.

Natürlich beachtete er die Bücher gar nicht, sondern ging durchs Wohnzimmer direkt in den Garten. Der zwar allmählich so aussieht, wie ich mich dieser Tage fühle – etwas heruntergekommen und trist –, aber Louis war dennoch begeistert.

»Der ist ja schön! Das ist das Problem mit New York – keine Gärten und nicht genug Grün. Großer Gott, was ist das denn?« Er hatte James’ Installation entdeckt, die ich in ihr »individuelles Ambiente« befördert hatte.

»Ähm … das hat ein Freund von mir gemacht«, antwortete ich entschuldigend. »Es ist eine Installation … Ähm, ich habe sie so weit wie möglich aus dem Blickfeld geräumt. Sie soll mich darstellen.«

»Dich?« Louis runzelte die Stirn. »Mit diesem ganzen Stacheldraht? So kenne ich dich aber nicht. Was ist denn das für ein Typ?«

»Ach, er ist sehr nett und lieb, ich kenne ihn schon Ewigkeiten … musste das Ding behalten … finde es abscheulich«, murmelte ich, treulose Seele, die ich bin.

Aber das Objekt machte Louis zu schaffen. »Marie, du kannst dieses … dieses … dieses … Ding hier nicht herumstehen lassen, so gern du den Mann vielleicht auch magst! Es sieht aus wie … wie …«

»Etwas aus Bittere Quitten, vergiftete Seelen?«, schlug ich vor, und er lachte.

In der Küche beäugte er einen alten Gehstock in der Ecke, den ich nach meinem zweiten Sturz benutzt hatte.

»Wem gehört der?«, fragte er beunruhigt. »Doch wohl nicht dir?«

»Äh, nein, der … ist für Gäste, wenn sie mit der Treppe … ähm …«

Schlagartig sah ich das gesamte Haus mit denselben Augen, mit denen ich Marions Haus betrachtete. Puristisch ist es nicht gerade.

Schließlich sagte Louis etwas mürrisch: »Du hast ein hübsches Haus. Erinnert mich an das meiner Mutter. Sehr englisch.«

Mir wurde ganz anders. Denn »sehr englisch« war gleichbedeutend mit »sehr altmodisch«. Oder, schlimmer noch: »sieht nach alten Leuten aus«.

Ich war froh, als wir nach Burnham Beeches fuhren. Ich liebe diese Gegend schon seit meiner Kindheit. Wir parkten den Wagen und spazierten auf einem öffentlichen Weg durch den Wald. Unter unseren Füßen raschelten die Buchenblätter. Zu Anfang sprachen wir kaum. Aber Louis legte immer wieder den Arm um mich und zog mich an sich.

Es war einer dieser seltsamen Spaziergänge, in denen man sich komplett im Einklang mit seinem Weggefährten befindet. Zumindest fühlte ich mich so. Ob das für Louis auch galt, weiß ich nicht. Er könnte auch über die Kreditkrise oder den Außenminister nachgedacht haben. Manchmal warf ich ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Oh, seine Haut ist so weich und straff – und beim Anblick seines Nackens werde ich ganz schwach. Die Wahrheit ist einfach, dass die Haut alter Männer dünn und trocken und eben nicht so attraktiv ist. Sogar die von Archie. Das ist nun mal nicht zu ändern.

Nach einer Weile setzten wir uns auf einen Baumstumpf, und Louis sah mich an.

»Hör mal, ich weiß, ich habe gesagt, dass ich es nicht wissen will, aber nun will ich es doch. Ich habe nachgedacht, und es ist mir ernst. Wenn wir uns weiter aufeinander einlassen wollen, müssen wir aufrichtig sein. Wie alt bist du?«

»Ich habe doch versucht, es dir zu sagen, aber du wolltest es nicht hören!«, erwiderte ich pikiert. Dann holte ich tief Luft. »Ich bin fünfundsechzig!«

Er sah völlig überrascht aus.

»Und ich hatte ein Facelifting«, fügte ich hinzu. Wobei ich mir vorkam, als würde ich beichten, dass ich bei der Mathearbeit abgeschaut hatte.

»Ich kann nur hoffen, dass du das Martha nicht erzählt hast!«, sagte er lachend. »Die würde einen Anfall kriegen!«

»Ich weiß. Nein. Ich erzähle es den meisten Leuten, aber bei Martha schien es mir angeraten, den Mund zu halten. Aber nun merkst du ja, wie drastisch unser Altersunterschied ist. Ich habe versucht, es dir klarzumachen …«

»O Mann!«, sagte er und stützte den Kopf in die Hände. »Was für ein Chaos! Warum konnte ich denn nicht zehn Jahre früher auf die Welt kommen? Oder du zehn Jahre später?«

»Bin ich nun mal nicht«, sagte ich entschieden. »Du musst dir eine nette Frau deines Alters suchen und eine Familie gründen.«

»Könntest du nicht nach Italien fliegen? Gibt es da nicht eine Klinik, wo man in jedem Alter noch schwanger werden kann?«

Das Furchtbare war, dass ich nicht genau wusste, ob er das ernst meinte oder nicht. Sein Tonfall war charmant und locker, aber zugleich spürte ich echte Traurigkeit und Sehnsucht.

Und einen absolut entsetzlichen Moment lang wünschte ich mir tatsächlich, ich könnte jünger sein und noch ein Kind bekommen. Das Gefühl eines großen Verlusts durchströmte mich, und ich hätte in Tränen ausbrechen können. Louis merkte, wie aufgewühlt ich war, und ergriff meine Hand.

»Oh, tut mir leid. Das ist nicht fair. Nein, du hast Recht.«

»Aber wieso bist du nicht längst verheiratet?«, fragte ich. »Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, wenn ich das mal so sagen darf. Und solltest dich jetzt lieber mal ranhalten.«

Es war merkwürdig, wie schnell ich aus der Rolle der Geliebten – oder zumindest der potenziellen Geliebten – in die Rolle der Mutter geriet. Plötzlich kam es mir vor, als redete ich mit Jack.

»Es gab eine junge Afrikanerin, die ich heiraten wollte, als ich meine Doktorarbeit schrieb«, antwortete Louis und starrte in die Ferne. »Aber sie ist immer wieder nach Kampala gefahren, und eines Tages kam sie nicht mehr zurück. Inzwischen ist sie bestimmt längst verheiratet. Sie war meine große Liebe, offen gestanden. Ich war völlig verrückt nach ihr.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, und wir standen auf und gingen weiter. Als Louis mich vor meinem Haus absetzte, umarmte er mich und fragte dann unvermittelt: »Wann ist deine Baumaktion?«

»Übernächste Woche.« Er wollte mir ja wohl nicht anbieten, mit auf den Baum zu klettern.

»Aber du bleibst bestimmt nicht die gesamte Woche auf dem Baum, oder? In dieser Woche wolltest du doch wieder den alten Typen besuchen, von dem du mir erzählt hast … Archie … Ich werde immer noch bei meiner Mutter in Oxford sein, du könntest auf dem Weg vorbeischauen und sie kennen lernen. Ihr beide würdet euch sicher gut verstehen. Und ich hätte ein bisschen Abwechslung. Es ist mörderisch langweilig, jeden Abend Canasta zu spielen. Und du solltest wissen«, fügte er hinzu, »so alt du auch sein magst – das ändert nichts an meinen Gefühlen. Das ist dir doch bewusst, oder?«

»Natürlich, Liebling«, sagte ich. Das »Liebling« war ziemlich gewagt. Aber ich wollte mir selbst nicht eingestehen, dass ich log wie gedruckt. »Und ich würde sehr gerne nach Oxford kommen«, fügte ich hinzu. »Sofern ich nicht auf dem Baum geblieben bin und mit den Vögeln spreche und mich in Doktor Dolittle verwandelt habe.«

Er lachte. »Und das finde ich auch so toll an dir. Du bist so witzig!«

Hatte ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich den Dolittle-Scherz als meinen ausgab, aber beschloss dann, mir deshalb keinen Kopf zu machen.

Seine Mutter kennen lernen! Hörte sich allerdings nicht nach einem Treffen von der Sorte »möchte meiner Mutter meine neue Freundin vorstellen« an. Sondern eher, als glaubte er, dass wir zwei alte Maiden Gefallen aneinander finden würden.

War ziemlich trübsinnig nach diesem Gespräch. Doch es war unausweichlich, wir mussten darüber sprechen. Wo wir jetzt allerdings stehen, weiß ich nicht recht.

Später

Irgendetwas ist mir jetzt ein bisschen unheimlich. Hat mir gar nicht gefallen, wie Louis Archie als »diesen alten Typen« bezeichnet hat. Na ja. Ich werde versuchen, nicht mehr daran zu denken.

29. November

Morgen Abend soll die Baumaktion laufen, und ich mache mir deshalb jetzt furchtbare Sorgen. Ich meine, ist es vielleicht gesetzwidrig? Das glaube ich zwar nicht, aber ich fände es entsetzlich, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt zu werden. Schlimme Vorstellung.

Die Ausrüstung von Harry ist eingetroffen, Ned und James haben offenbar so eine Plattform, die sie auf den Baum schaffen und dort festnageln wollen, und sie werden auch einen Schlafsack, eine Flasche Wasser und Schokolade da oben deponieren. Aber sie sagen, ich dürfte nicht zu viel trinken, damit ich nicht pinkeln muss. Sie meinen, ich könnte vierundzwanzig Stunden durchstehen, ohne aufs Klo zu gehen, und wenn ich es nicht mehr aushalten würde, müsste ich eben kurz herunterklettern, hinter einem Busch verschwinden und wieder hochsteigen. (Da ich inzwischen nachts alle zehn Minuten aufs Klo muss, halte ich diese Einschätzung für gewagt, aber ich muss eben Daumen drücken, dass es klappt. Oder vielmehr die Beine zusammendrücken.) Essen darf ich aus demselben Grund auch nichts, aber ich bin sicher, dass ich problemlos vierundzwanzig Stunden ohne Essen auskommen werde.

Inzwischen haben wir eine wechselnde Besetzung für den Baum ausgearbeitet, denn niemand kann länger als einen ganzen Tag oben bleiben. Nach mir ist Penny dran und danach Marion und ein paar andere beherzte alte Mädels aus der Straße. Sheila die Dealerin meint, sie sei weder für Liebe noch für Geld da raufzukriegen, und Pfarrer Emmanuel sagte, er hätte in der Kirche alle Hände voll zu tun. So ein Hasenfuß.

Ich müsste eigentlich heute Nacht ausreichend Schlaf haben, schreibe dies aber um drei Uhr morgens, weil ich vor Panik kein Auge zutun kann. Doch jetzt gibt es kein Entkommen mehr. Hauptsache, die Presse kriegt ihre Fotos, das ist das Wichtigste.

Nur Mut, altes Mädchen!

30. November

Was für eine Nacht! Alles hat bestens geklappt, aber ich bin immer noch ein nervöses Wrack!

Um elf Uhr abends haben wir uns in den Park geschlichen. War nur ein Drogendealer vor Ort (bisschen früh für seine Branche), der sich von unserem Vorhaben äußerst begeistert zeigte. Und er dankte uns für die Info, weil er dann seine Kollegen warnen konnte, bevor die Presseleute anrückten.

James und Ned hatten alles gut vorbereitet. Ned war im Zwielicht unbemerkt auf den Baum gestiegen und hatte dort oben eine Plattform in der Größe meiner Haustür angebracht. Dann hatte er für mich eine Strickleiter heruntergelassen. James musste mich von hinten stützen, während ich hochkletterte. Das Spruchband hatten sie auch schon aufgehängt, sodass ich nichts zu tun hatte – außer einfach anwesend zu sein. Dann stiegen sie beide wieder hinunter, und ich zog die Strickleiter hoch. War furchtbar schwer. Es war sehr kalt, aber ich hatte zum Glück mehrere Pullis, dicke Socken und einen warmen Wollhut mit Ohrenklappen mitgebracht.

Ich hatte nicht erwartet, dass Bäume sich so viel bewegen. Sie sehen so fest aus, aber wenn man hoch oben ist, schwankt das ganze Ding beim kleinsten Luftzug. Und wie laut es ist, wenn die Äste sich bewegen! Muss ein extremer Krach sein, wenn so ein Baum auch noch Blätter hat. Es war natürlich sehr unheimlich, hier oben zu sein, aber auch spannend, und James und Ned waren so lieb, unten in einem Zelt zu schlafen, damit ich nach ihnen schreien konnte, falls ich mich fürchtete, aber das war dann gar nicht nötig. Ich hatte ein bisschen Angst, im Schlaf herunterzurollen, doch da Ned die Plattform rundherum mit Brettern abgesichert hatte, konnte das eigentlich gar nicht passieren.

Ich hatte mir gedacht, dass ich ein bisschen stricken könnte – mir fehlen nur noch die Arme am Pulli –, hatte aber mein Strickzeug blöderweise zuhause vergessen, so dass ich mich nur damit beschäftigen konnte, die Welt unter mir zu betrachten.

Die Aussicht war hinreißend. Als es richtig dunkel wurde, begannen die Straßen im orangefarbenen Licht der Natriumlampen zu leuchten. Autos dröhnten, Sirenen schrillten, und in der Ferne konnte ich sogar das Riesenrad und die Lichter von Canary Wharf erkennen. Es war ein überwältigender Anblick, und ich spürte plötzlich eine große Liebe und Verbundenheit mit London, und zum ersten Mal seit ewigen Zeiten (Martha wäre hocherfreut) war ich so ergriffen, dass ich wirklich staunte wie ein Kind. Schlaf war ausgeschlossen, weil ständig etwas Neues geschah. Neue Laute, Lichter gingen an und aus, neue Sterne blinkten, der Mond bewegte sich langsam über den Himmel. Ab und an regte sich ein Vogel, und Flugzeuge dröhnten über die Dächer. Wäre nicht die Sache mit dem Klo gewesen, wäre ich gerne freiwillig eine ganze Woche dort oben geblieben.

Es fühlte sich aber auch seltsam an, sich nun in einem Baum zu befinden, den ich gemalt hatte. Ich kam mir irgendwie aufdringlich vor, so als würde ich einem Aktmodell den Hof machen.

Plötzlich wünschte ich mir sehnsüchtig, Archie könnte bei mir sein. Er hätte das alles großartig gefunden und wäre von diesem Blick auf die Stadt ebenso gerührt gewesen wie ich. Und, so sentimental es sich auch anhören mag: Ich hatte das Gefühl, dass Archie tatsächlich bei mir war, und mir kamen die Tränen. Ich weinte nicht, weil ich traurig oder froh war, sondern aus Ergriffenheit über einfach alles. Ich kann dieses Gefühl nicht in Worte fassen.

Aber irgendwann schlief ich doch ein, und als ich wieder aufwachte, wurde der Himmel langsam hell. Etwa eine Stunde später krochen James und Ned aus dem Zelt und pfiffen.

»Alles okay?«, schrien sie.

»Alles gut«, rief ich den beiden winzigen Gestalten zu. »Ist wunderbar hier oben.«

»Um die Mittagszeit holen wir dich runter! Verkneif es dir noch ein paar Stunden!«

Zum Glück hatte ich schon Stunden vor dem Aufstieg nichts mehr getrunken und außerdem ein Antidiuretikum geschluckt, das man mir vor fünf Jahren mal verschrieben hatte und das ich vernünftigerweise aufbewahrt hatte.

Um elf Uhr kamen die Leute von der Lokalzeitung und fotografierten, und erstaunlicherweise erschien sogar jemand vom »Hetzkurier«. Es gab wohl nicht genügend Katastrophen an diesem Tag, denn normalerweise hätte sich ein überregionales Blatt nicht um so eine Bagatelle gekümmert. Aber offenbar arbeiteten sie an einer größeren Reportage darüber, wie sich Stadtregierungen über die Wünsche von Anwohnern hinwegsetzen, und unser Thema passte natürlich prima in diesen Zusammenhang.

Andere Nachbarn fanden sich zur Unterstützung ein – Mütter mit Kindern, die eigene Spruchbänder mitbrachten, Drogendealer, sogar der reizende Inder vom Eckladen, der mir von unten zuwinkte. Ned und James versorgten Journalisten und Fotografen mit Tee und selbst gebackenem Kuchen. Sogar der Abgeordnete unseres Viertels war da – der gehört natürlich einer anderen Partei an als der Stadtrat –, und ich musste aus erhabener Höhe ein paar gebrüllte Interviews geben. Dann verzogen sich die Presseleute wieder.

Ich harrte in meinem Horst aus und kam mir wie eine Baumnymphe vor – eine Baumnymphe mit furchtbarem Druck auf der Blase, muss ich hinzufügen –, und gegen eins kam Penny, um mich abzulösen.

Als ich herunterkletterte, gab es riesigen Applaus, und alle wollten mir gratulieren, aber ich musste so dringend pinkeln, dass ich erst einmal zum nächsten Haus rasen und um Toilettenzugang bitten musste. Danach kehrte ich an den Ort des Geschehens zurück und fühlte mich – nun, wahrscheinlich wie die arme Annie Noona auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs.

Mehrere Anwohner wollten mich zur Feier des Tages zum Abendessen einladen. Ich hatte keine Ahnung, wie viele nette Leute hier wohnen. Leute, die ich noch nie gesehen hatte, kamen aus ihren Häusern und klopften mir anerkennend auf den Rücken, und sogar die Drogendealer klatschten mit mir ab. »Echt der Hammer, Schwester!« Sheila die Dealerin hielt beide Daumen hoch – ihr höchstes Lob –, und Pfarrer Emmanuel bestand darauf, hinzuknien und dem Herrn dafür zu danken, dass ich unversehrt wieder vom Baum heruntergekommen war. Muss gestehen, dass mir fast danach zu Mute war, es ihm gleichzutun.

Alice hatte mir eine Glitzerkarte gebastelt und ein Bild gemalt, auf dem ich oben auf dem Baum zu sehen war – so süß! –, und Brad und Sharmie luden alle Leute auf ein Glas Sekt zu sich ein, obwohl es erst Mittag war.

Weil ich auf dem Baum kaum etwas gegessen hatte, war ich natürlich nach ein paar Gläschen ordentlich angeschickert.

»Muss mich ausruhen«, sagte ich, als ich aufbrach. »Aber vielen lieben Dank! Hoffen wir, dass die Zeitungen uns beistehen!«

»Schlaf schön, Baumfee«, rief James mir nach.

Und das tat ich.