Mai
2. Mai
Zuerst dachte ich, die Schlagzeile laute: »DAS RECHNET SICH NICHT! 21 von 20 Kindern können bei Schulabschluss nicht rechnen!« Aber dann sagte ich mir, dass nicht mal der »Hetzkurier« derartig übertreiben konnte. Als ich meine Brille zurechtrückte, merkte ich, dass ein Kind von zwanzig keine Ahnung von Mathematik hatte. Mein Blutdruck war aber schon erfolgreich erhöht, so dass ich die Kraft aufbrachte, Sylvie anzurufen und mich nach dem Arzttermin mit Archie zu erkundigen.
»Oh, Marie«, sagte sie in viel einfühlsamerem Tonfall als bei unserem letzten Telefonat. »Ich wollte dich gerade anrufen. Gestern waren wir bei der Ärztin. Es ist ganz schrecklich, aber du hattest wirklich Recht. Ich fürchte, mein Vater hat irgendeine Form von Demenz, und der Arzt will ihn zur Untersuchung in eine Klinik schicken, aber nun hat sich alles so schnell verändert. Es ist so schlimm, weil Archie zum Teil begreift, was vor sich geht, und dann auch wieder nicht. Ich versuche, so oft wie möglich bei ihm zu sein, und Mrs Evans bietet an, dort zu übernachten, wenn ich nicht da sein kann, aber es ist alles furchtbar. Manchmal ist er ganz der Alte und dann plötzlich völlig verändert.«
»Ach, Sylvie.« Mir kamen fast die Tränen vor Erleichterung. »Ich bin so froh, dass du diesen Schritt gemacht hast. Und es tut mir so entsetzlich leid. Es muss schlimm für dich sein.«
»Ich fühle mich vor allem so schlecht, weil ich es nicht früher gemerkt habe«, gestand sie. »Vermutlich habe ich es schon gespürt, aber ich wollte mir einreden, dass er nur ganz normal altersvergesslich wurde. Aber dann dieses schreckliche Ereignis mit dem Elefanten … Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich nicht schneller reagiert habe, obwohl du dich so bemüht hast …«
»Was … willst du jetzt tun? Kann ich dir mit irgendetwas behilflich sein?«, fragte ich. »Braucht er einen Pfleger? Oder willst du nach einer anderen Unterkunft für ihn suchen? Kann ich irgendetwas tun?«
»Nein, ich fürchte nicht. Hätte ich früher auf dich gehört, hätten wir noch andere Lösungen erwägen können, aber jetzt ist es zu spät. Ich werde nach einem Pflegeheim Ausschau halten. Das Schlimme ist, dass Archie noch bei bester Gesundheit ist, stark wie ein Pferd. Nur sein Gehirn gibt auf.«
»Wenn ich irgendwas für dich tun kann, melde dich bitte. Ich kann ganz schnell da sein und dich entlasten, wenn du mal eine Auszeit brauchst.«
»Oh, das wäre toll«, antwortete Sylvie. »Danke.«
Mir war nach dem Telefonat so schwindlig, als wäre jemand gestorben. Und es war auch ein Ende. Wie Sylvie hatte ich wohl insgeheim gehofft, dass der Arzt Archie irgendwelche Wunderpillen verabreichen würde, die ihn heilen oder seinen Zustand wenigstens vorerst verbessern könnten. Doch nein. Es geht bergab. Der arme, arme Archie. Ich kann das einfach nicht fassen.
4. Mai
Heute rief James an und sagte, er fühle sich nicht gut, weil er im Eckladen von einem blöden Mädchen mit einem riesigen Rucksack zu Fall gebracht worden war und sich davon erst erholen müsse.
Ich bekundete mein Mitgefühl und sagte dann – ziemlich vorwurfsvoll, fürchte ich: »Was ist denn dran an dieser Geschichte, dass du dich in den Baummann verliebt hast?«
Am anderen Ende trat Schweigen ein. Dann antwortete James: »Ob ich verliebt bin, weiß ich nicht, Marie. Aber Ned ist ein netter Mann. Er arbeitet Teilzeit für eine Biogartenbaufirma und weiß alles über Pflanzen, und ich war zweimal mit ihm aus, aber ganz ehrlich, das Erstaunlichste ist …«, eine lange Pause trat ein, »dass er auch an mir interessiert zu sein scheint.«
»Wie schön«, erwiderte ich, in der Hoffnung, dass das aufrichtiger klang, als es gemeint war. »Ich freue mich so für dich.« In diesen Satz packte ich eine so große Portion Herzlichkeit, dass ich beinahe selbst daran glauben konnte. »Wann können wir ihn denn in der Familie willkommen heißen?«
»Oh, ich fürchte mich total davor, wenn ihr ihn kennen lernt«, sagte James. »Ich meine, näher kennen lernt. Weil ich weiß, wie kritisch du sein kannst, Marie.«
»Was, ich? Kritisch? Niemals! Na, jedenfalls nicht mit dir. Und selbst wenn ich ihn unmöglich finde, werde ich mich deinetwillen zwingen, ihn zu mögen.« Zumindest das entsprach der Wahrheit. »Kommt doch bald mal zum Abendessen. Wirklich. Ich lade auch noch Penny ein, damit ich nicht die Einzige bin, die Ned durch ein überdimensionales Mikroskop anstarrt und Notizen macht.«
»Nein«, erwiderte James düster. »Das macht ihr dann zu zweit. Aber ich garantiere euch, dass er weder Blattschimmel noch Wurzelfäule hat.«
»So weit ist es also schon?«, sagte ich lachend.
4. Mai
Im Garten gewesen, um zu schauen, ob meine Stecklinge nun die üppige Blütenpracht entwickeln, doch nein. Ob man’s glaubt oder nicht: Sie waren tatsächlich spurlos verschwunden.
Kakerlaken. Es müssen Kakerlaken gewesen sein.
23:00 Uhr
Habe heute mit Jack, Chrissie und Gene zu Abend gegessen – eine Art letztes Abendmahl – und ihr Angebot abgelehnt, sie am nächsten Tag zum Flughafen zu begleiten. Gene meinte, er wolle mir vom Flugzeug aus zuwinken. Was süß von ihm ist, aber das brachte ich einfach nicht über mich. Ich wusste, dass ich mich komplett auflösen würde.
Ich verabschiedete mich früh am Abend, versicherte, dass ich in die Staaten fliegen würde und sie herkommen würden und dass ich furchtbar viel zu tun hätte und froh sei, dass sie umziehen würden, damit ich endlich all die wichtigen Dinge erledigen konnte. Dann schlich ich auf Zehenspitzen nach oben, um Gene einen letzten Kuss zu geben (er schlief schon). Ich sah mich in seinem Zimmer um und fand alles so tragisch mit den gepackten Koffern und dem kleinen Rucksack mit Stiften und Spielsachen fürs Flugzeug und seinem Lieblingskuscheltier, das oben herausguckte …
Jack umarmte mich besonders herzlich und sagte: »Ich hab dich lieb, Mom. Gib gut auf dich Acht.« (Diese Formulierung kann ich nicht ausstehen, weil sie immer klingt, als wollten die Leute sagen: »Sonst tut das nämlich keiner.«)
Ich sah zu, dass ich schnell wegkam, bevor ich mich gänzlich zum Narren machte, indem ich zu Boden sinken, den beiden an den Kleidern reißen, ihre Knie umklammern und sie anflehen würde, doch bitte, bitte hierzubleiben.
Jetzt hab ich gerade zwei Schlaftabletten geschluckt und würde am liebsten nie wieder aufwachen. Nicht im Ernst, aber ihr wisst schon, was ich meine.
5. Mai
Also gut, ich bin aufgewacht. Sie müssen jetzt schon in der Luft sein. Ich hatte vor, richtig aufzustehen, aber wie sich herausstellte, reichte meine Kraft nur fürs Tagebuchschreiben, und jetzt gehe ich wieder ins Bett. Sich ins Bett zu legen, wenn es einem schlecht geht, ist an sich ganz praktisch. Man fühlt sich zwar nicht viel, aber meist zumindest ein bisschen besser, wenn man aufwacht – und jedenfalls kann man damit Zeit totschlagen. Penny rennt immer um den Block, wenn sie trübsinnig ist, doch die Vorstellung, tränenüberströmt durch die Straßen zu schlurfen, ist mir sehr unangenehm. Ich ziehe lieber die Vorhänge zu und lege mich ins Bett. Finde ich sehr vernünftig. Und morgen werde ich dann mein Leben neu ordnen.
Später
Als ich gerade dabei war, mich um drei Uhr nachmittags aus dem Bett zu quälen, rief Marion an.
»Ich weiß, dass heute ein furchtbarer Tag für dich ist«, sagte sie mitfühlend. »Deshalb wollte ich dich fragen, ob du nicht Lust hast, zu uns zum Abendessen zu kommen. Damit du spüren kannst, dass du jedenfalls eine Freundesfamilie hier hast, wenn deine andere Familie schon weg ist: uns! Ich weiß, das ist nicht dasselbe, aber wenigstens etwas!«
Ich sagte auf der Stelle zu und fühlte mich auch sofort besser. Es ist gemein von mir, mich darüber lustig zu machen, dass Marion so etwas wie ein Siebzigerjahre-Urgestein ist. Sie ist nämlich auch absolut reizend und liebenswert. Ich weiß schon, da war diese komplett unverzeihliche Ziege. Aber Marion hat das Herz auf dem rechten Fleck und ist wirklich sehr lieb.
Sie hatte jede Menge Bohneneintopf gekocht, ein Gericht, das vermutlich seit 1969 niemand mehr gegessen hat, und servierte dazu sogar diesen sauren Wein, den wir in unserer Jugend immer zu Partys mitzunehmen pflegten. Aber das machte mir nichts aus. Es war so schön für mich, mit alten Freunden zusammen zu sein, dass alles ausgesprochen köstlich schmeckte. Wir kamen auf das Altern zu sprechen und beklagten uns ausgiebig darüber.
»Neulich hab ich mich auf einer Party mit so einem niedlichen jungen Mädchen unterhalten, das gerade mal achtzehn war«, berichtete Marion. »Und weißt du, was sie mich gefragt hat? Ob ich Oscar Wilde noch persönlich kennen gelernt habe! Sind diese jungen Leute nicht erstaunlich? Keinen Funken Ahnung von Geschichte!«
»Sie sind erstaunlich«, sagte ich. »Aber auch sehr nett.«
Wir einigten uns darauf, dass wir die jungen Menschen von heute sehr gerne mochten. Marion erzählte noch, dass sie sogar manchmal, wenn sie junge Leute bewirtet hat, einen Brief schreibt und sich für deren Kommen bedankt. Obwohl es an sich andersherum ablaufen sollte.
»Na, irgendwer muss ja einen Brief schreiben«, bemerkte ich etwas streng. »Und man weiß ja, dass sie es nicht machen.«
Tim war besonders herzlich zu mir, zwinkerte mir manchmal zu und tätschelte mich ein bisschen – nicht unangenehm, sondern als wollte er sagen: »Wir wissen, was du durchmachst, und sind für dich da.«
Marion organisiert gerade ein Klassentreffen und hat mich gefragt, ob ich auch komme. Wie kann ich da ablehnen?
Ein sehr heiterer Abend, und ich fühlte mich viel besser, als ich wieder nach Hause kam. Die Liebe von Freunden ist anders als von der eigenen Familie, aber sie gleicht sich sehr, und Marion ist ein echter Schatz.
»Ruf uns einfach an, wenn’s dir nicht gut geht«, sagte sie. »Wir sind immer da. Und wir freuen uns immer, dich zu sehen.«
Ich habe es wirklich gut. Kann nicht klagen. Aber als ich Pouncer vorsichtig von meinem Bett hob, um für mich selbst Platz zu schaffen, musste ich doch kurz daran denken, was Gene wohl jetzt gerade tat. Vielleicht verdrückte er in diesem Moment ja seinen ersten echt amerikanischen Hamburger? Und seine ersten »Fritten«? Ich bin vollkommen hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung, dass die drei alles an dieser vermaledeiten Stadt abscheulich finden, und der Hoffnung, dass sie dort sehr glücklich werden.
6. Mai
Heute Früh begrüßte mich der »Hetzkurier« mit den Worten: »TV-STAR ANNIE NOONA WIEDER IM ENTZUG!« Da ich noch nie von Annie Noona gehört hatte und keine Ahnung habe, wer sie ist, fehlte der gewünschte Effekt dieser Meldung. Ich war deshalb gezwungen, die Zeitung vom Vortag noch einmal rauszukramen. »KEINE FISCHE MEHR IN DEN OZEANEN!« Das brachte mich angemessen in Fahrt.
Habe die mysteriöse Annie Noona gegoogelt und dabei erfahren, dass sie ein Superstar ist und regelmäßig bewusstlos in ihrem prachtvollen New Yorker Apartment gefunden wird. Sie hat sich also wohl mal wieder zu viele Drogen einverleibt.
Komisch, wie die Leute heutzutage aus schwindelnden Höhen des Ruhms herabstürzen, bevor man überhaupt gemerkt hat, dass sie dort oben gelandet sind.
Später
Heute Abend hat Jack mich mit Skype angerufen. Für ihn in den Staaten war natürlich erst Nachmittag. Das Gespräch war nicht sehr befriedigend. Keine Spur von Nähegefühl. Zuerst war er zu nah an der Kamera, so dass ich wie in einem Albtraum nur seinen riesigen Mund sah, der »Hallo, Mom!« sagte. Beim O in Mom kam es mir vor, als würde er mich gleich verschlingen.
Es gelang uns, das zu ändern, aber dann stellte sich heraus, dass er von mir lediglich die Armlehne des Sessels sehen konnte, auf dem ich saß. Was auch nicht ideal war.
Zuletzt schafften wir es, uns einigermaßen naturgetreu zu erblicken. Aber es war so seltsam! Gar nicht wie bei einem echten Gespräch, sondern als würde man Fernsehen schauen. Ich finde es nicht mal so persönlich wie ein Telefongespräch, bei dem man sich dem anderen Menschen sehr nahe fühlen kann, wenn man sich etwas ins Ohr raunt. Und man wird auch nicht wirklich angeschaut. Das Gegenüber blickt so eifrig auf das Bild auf dem Monitor, dass man sich vorkommt, als unterhielte man sich bei einer Cocktailparty mit jemandem, der ständig an einem vorbeiguckt, um interessantere Leute zu entdecken.
Ab und an funktionierte auch die Übertragung nicht, und dann flackerte das Bild auf dem Monitor, und ich sah eine Masse von Jack-artigen Pixeln, bis der Computer offenbar gehustet hatte, den Frosch im Hals losgeworden war und sich wieder berappelt hatte.
Skype ist nicht so toll, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich kann meine Familie nicht berühren, nicht riechen, kann Chrissie nicht zur Begrüßung umarmen oder Jack mütterlich durch die Haare wuscheln (obwohl er ohnehin immer zusammenzuckt, wenn ich das mache, da muss man als Mutter vorsichtig sein). Und ich werde auch nie Gene auf meinen Knien spüren, wenn wir uns zusammen Tom und Jerry ansehen und uns kaputtlachen, weil Jerry vom Bügeleisen platt gemacht und auf eine Wäscheleine gehängt wurde. Skype ist zwar schon besser als nichts. Aber auch kein Vergleich mit dem echten Leben.
Als Jack und ich dann endlich damit zurechtkamen, erfuhr ich, dass die drei alles ziemlich prima fanden – was mich furchtbar enttäuschte, denn ich hatte wohl gehofft, sie würden nach dem ersten Blick auf die USA entsetzt wieder nach Hause fliegen. Aber ich hörte mich schlimme Lügen äußern wie: »Ich freue mich ja so, dass alles gut ist!« Insgeheim wünschte ich mir, sie würden sagen, es gebe in allen Zimmern Wanzen (was bestimmt in New York so ist), sie würden sich halb kaputtfrieren – oder halb zu Tode schwitzen – und die Amerikaner seien schroff und abweisend. Doch nichts dergleichen wurde erwähnt.
Da Chrissie diesen Superjob bei einer Kosmetik- und Schönheitsfirma hat, bekommen sie nicht nur irgendeine sonderbare Privatschule für Gene bezahlt, sondern wohnen auch in einem hyperedlen »Apartment«, wie Jack sagt, mit Blick auf den Hudson und einer Küche mit Frühstücksbar. (Eine Bar zum Frühstücken? Ich schaffe es ja kaum, morgens bei der Lektüre des »Hetzkurier« Tee und Toast liegend auf der Couch einzunehmen. Auf einem zierlichen Hocker zu balancieren wie eine Nachtclubsängerin käme ganz und gar nicht infrage.) Ferner gab es ein gigantisches weißes Ledersofa, und alles sah ziemlich abscheulich aus (Jack zeigte mir das Zimmer, indem er die Kamera drehte); vermutlich genau die Art von Räumen, in denen Annie Noona wieder mal kollabiert ist. Nicht das Richtige für jede halbwegs vernünftige Oma, aber nun ja. Ich sprach ein paar Worte mit Chrissie, die meinte, es sei alles unfassbar toll hier bis auf die Tatsache, dass die Regulierung der Aircondition in ihrer Wohnung nicht funktioniere und es eisig kalt sei. Dann kam Gene ins Bild.
Einen Moment lang stockte mir das Herz. Sein loser Schneidezahn war jetzt ausgefallen, und er sah auch durch die Kamera etwas verquollen aus, gar nicht wie Gene. Vermutlich galt das für mich ebenfalls. Bei mir liegt es allerdings nicht an Skype.
»Hallo, Oma!« Er blickte erstaunt und erfreut, weil er mich wirklich sehen konnte. »Wie geht’s dir?«
»Wie geht es dir?«, antwortete ich. »Wie ist es in Amerika?«
»Schau mal, ich hab meinen Zahn verloren!« Er zog seine Oberlippe nach oben, woraufhin er noch entstellter aussah.
»Na so was!«, sagte ich. »War die Zahnfee denn da?«
»Ja, ich hab einen … einen Dollar gekriegt!«
»Aber wie ist es denn nun in New York?«, hakte ich nach.
»Es ist ganz toll, Oma! Ich finde es prima hier!«
Seine Begeisterung rührte mich. Zu den Freuden des Älterwerdens gehört die Abgeklärtheit. Aber sie ist zugleich auch ein Problem. Na und, ein schickes Apartment mit Flussblick in New York, was soll’s, denkt man sich, weil man so etwas schon oft in Filmen gesehen hat. Einmal habe ich bei meinen USA-Reisen auch selbst in so einer Wohnung gewohnt und weiß, dass man darin nicht glücklicher wird. Das scheint nur anfänglich so. Doch für Gene war das eine Offenbarung. Ich würde um keinen Preis in einer Filmkulisse leben wollen, aber er fand das vermutlich wahnsinnig spannend.
»Wie ist denn das Wetter bei euch?«, erkundigte ich mich. Nicht zu glauben, dass ich diesem kleinen Jungen so eine langweilige Frage stellte. Aber Skype verleitet einen zu solchen Fragen.
»Draußen ist es schön, aber hier eisekalt!«, antwortete er. »Du musst mir einen Pulli stricken, Oma!«
Einen Pulli stricken? Nach diesen komplizierten Babysöckchen, die ich schon für ihn fabriziert hatte? Wie ich schon sagte: Meine Strickphase ist ein für alle Mal vorbei. Ich würde mich niemals an so ein Riesenprojekt wie einen Pulli wagen. Vor allem, weil Gene jetzt schon so groß ist. Bis ich das Ding fertig hätte, wäre er ein Mann.
»Na, ich schau mal«, sagte ich ausweichend, weil mir wieder einfiel, wie schrecklich ich es als Kind fand, wenn meine Mutter einfach Nein zu mir sagte. Furchtbare Aussage. »Ich schau mal.«
Und dann bekam ich plötzlich wahnsinnige Lust zu stricken. Für Gene einen Pulli zu machen wäre eine wunderbare Art, ihm nahe zu sein. Und ich könnte ihm mit Skype meine Fortschritte zeigen.
Leider kann man sich mit einem Fünfjährigen nicht so unterhalten wie mit Erwachsenen. Kinder führen keine richtigen Gespräche. Auch wenn man fragt: »Und was hast du heute so gemacht?«, bekommt man nicht viel zur Antwort. Kinder erkundigen sich auch nicht nach anderen. Wäre Gene bei mir gewesen, hätten wir Grimassen geschnitten oder aus Karton einen Roboter gebaut oder gemeinsam ein Buch gelesen oder das Elefantenspiel gespielt. Konversation macht man auf Cocktailpartys, nicht mit seinem Enkel. Und außerdem habe ich Angst, dass Gene mich nicht mehr erkennen wird, wenn wir uns wiedersehen.
Ach, nun reicht’s aber, Marie. Hör auf, dich in Selbstmitleid zu suhlen, du dämliche Trine. Natürlich wird er dich wiedererkennen!
(Aber nicht, wenn das Lifting erfolgreich ist.)
Oh, nun halt bloß die Klappe, du Spinnerin!
8. Mai
Gerade hat Mr Parsons Sekretärin angerufen und mir mitgeteilt, dass sie meinen Termin auf nächsten Monat vorverlegen können. Vermutlich hat eine andere Anwärterin nun endgültig die Panik bekommen und das Weite gesucht. Ich sagte, ich sei nicht sicher, ob die Auktion meiner Gemälde, mit der ich das Lifting finanzieren wolle, bis dahin schon stattgefunden habe, weshalb ich eventuell die Rechnung nicht auf Anhieb bezahlen könne. Sie meinte, das sei kein Problem, sie hätten Vertrauen zu mir. Wirklich nett. Aber wer würde auch schon einer pensionierten Kunstlehrerin misstrauen? Wir sind nicht gerade als Großgauner bekannt.
Doch dann bekam ich es wieder mit der Angst zu tun, weil der Termin plötzlich so nah war, und rief James an. Der kreischte nur: »Mach es, Schätzchen!« Das war keine echte Hilfe.
»Ich denke, du solltest mit deinem Porträt noch warten«, sagte ich, dankbar, diese Tortur noch eine Weile aufschieben zu können. »Sonst musst du später die ganzen Falten wieder übermalen. Tut mir leid.«
Mit Penny zu reden war auch alles andere als hilfreich. Sie meinte, ich solle das bloß bleiben lassen, so viel Eitelkeit sei überflüssig und ich sähe doch gut aus. Außerdem würde ich ihr damit Stress machen, weil sie sich dann allein mit der Bürgerinitiative herumschlagen müsse, während ich mich von der OP erholte, und da hätte sie nun überhaupt keine Lust drauf. Und wenn ich Geld übrig hätte, sollte ich das nicht ohnehin lieber meinen rumänischen Waisenkindern spenden? Sonst würde ich doch auch dauernd von denen reden.
Als James später noch einmal anrief und ich ihm Pennys Reaktion schilderte, sagte er: »Wieso solltest du so viel Geld den Waisenkindern spenden? Gönn dir doch ausnahmsweise mal selbst was, Schätzchen.«
Aber ich gehöre nun mal nicht zu der Gönn-dir-was-Generation. Uns hat man nicht beigebracht, dass wir gut zu uns selbst sein sollen. Sondern dass wir uns alles versagen und stattdessen den Armen spenden sollen. Meine Großmutter blickte sogar missbilligend, wenn ich ein bisschen Speckfett auf dem Teller zurückließ, und sagte: »Denk an die hungernden Kinder in Indien.« Ich weiß noch, wie ich dann an die dachte und mir wünschte, ich könnte ihnen irgendwie das Speckfett zuschicken. Aber ich half ihnen bestimmt nicht, indem ich es selbst aufaß. Weshalb ich mich dann einfach nur schlecht fühlte.
14. Mai
Musste heute in Jacks Haus nachsehen, ob für potenzielle Mieter alles picobello ist. Ich hatte das versprochen, litt aber schon bei der Vorstellung, dass niemand zuhause sein würde. Brixton, wo sie wohnen, war mir immer lebhaft und fröhlich erschienen, ein bunter Mix aus Menschen aus aller Herren Länder. Jetzt kam es mir düster und bedrohlich vor, und in jedem ausgebrannten Auto am Straßenrand schienen Gefahren zu lauern. Als ich dann die Haustür aufschloss, tat mir das Herz weh, weil mir erst richtig klar wurde, dass Gene jetzt nicht die Treppe heruntergerannt kommen würde, um mich zu begrüßen.
Sie haben das Haus in ziemlich perfektem Zustand hinterlassen, muss ich sagen. Unter der Couch fand ich einen Legostein, was sich anfühlte wie ein Schlag in die Magengrube. Aber ansonsten hatte Chrissie ganze Arbeit geleistet. Ich wünschte fast, ich könnte selbst dort wohnen – aber andererseits wollte ich nicht mit diesen ganzen Erinnerungen leben.
Konnte es wirklich wahr sein, dass sie nicht mehr hier waren? Ich sah nach, ob sie auch die CDs aus der Anlage genommen hatten, und stellte fest, dass Pu der Bär noch drinlag. Dann goss ich die Blumen und überlegte, ob ich auch in Genes Zimmer gehen sollte, doch das brachte ich nicht übers Herz. Schließlich gab ich einfach die Schlüssel bei der Maklerfirma ab und sagte, soweit ich sehen konnte, sei alles in bester Ordnung, und das Haus sei ab sofort vorzeigbar.
16. Mai
Die Makler haben angerufen und gesagt, heute würden sich drei Interessenten das Haus anschauen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass nun andere Menschen dort wohnen sollen. In der Küche habe ich mit Gene gesessen, als er ein Baby war, und ihm Brei gefüttert, den Chrissie für ihn gekocht hatte. Wenn er nicht essen wollte, habe ich gespielt, der Löffel wäre ein Flugzeug, das in seinen Mund fliegen wollte. Und wenn er dann lachte, habe ich ihm schnell ein bisschen Karottenmus in den Mund gestopft.
An diesem Ort würde nun künftig ein gruseliger Jung-Banker für sich und seine langbeinige Sekretärin ein »Dinner für zwei« in der Mikrowelle wärmen, und danach würden sich die beiden unter einem neu installierten Plasmabildschirm in Genes Zimmer die Seele aus dem Leib vögeln.
Igittigitt.
18. Mai
Heute vermeldet der »Hetzkurier«: »GESELLSCHAFT KAPUTT! Sozialarbeiter sagen komplette Auflösung des Familienlebens voraus. Nur einer von 5 kann mit Messer und Gabel essen und nur einer von 20 Wasser kochen. 90 % aller Kinder kennen ihren Vater nicht.«
Großer Gott. Kann das wahr sein? Da möchte man sich ja die Kugel geben. Kein Wunder, dass sich der Regisseur von Bittere Quitten, vergiftete Seelen in meinen Träumen austobt. Er hat diesen ganzen brutalen Stoff als Arbeitsmaterial.
Deshalb nahm ich mir vor, heute ein bisschen Freude ins Leben der Menschen zu tragen – warum auch nicht? Als ich rausging, um die Mai-Skizzen von den Bäumen zu machen (das April-Bild ist sehr gut gelungen, auch wenn das Eigenlob ist), und so einem Burschen mit Hoodie begegnete, der gebückt dahinschlich und auf den Boden starrte – vermutlich einer dieser armen Obdachlosen, die ihren Vater nicht kennen –, lächelte ich ihn munter an und sagte: »Schöner Tag, nicht wahr!«
Statt ein Messer zu zücken, es mir in die Rippen zu bohren und mit meiner Handtasche abzuhauen, sah der Typ auf, warf mir ein strahlendes Lächeln zu und erwiderte: »Echt schön, find ich auch! Ach, und wann ist übrigens das nächste Treffen?« Es stellte sich heraus, dass er einer der Dealer war, mit denen Penny und ich über die Hotelpläne gesprochen hatten. Ich schrieb mir seine Adresse auf – er war keineswegs obdachlos – und meinte, ich würde ihn dann rechtzeitig über den nächsten Termin informieren und ob er bitte seinen Kumpels Bescheid geben könnte.
»Na klar! Mach’s gut!«, sagte er zum Abschied.
20. Mai
Habe heute mit Jack geskypt und in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür gesucht, wann sie wiederkommen. Konnte aber nichts entdecken. Chrissie war wohl mit ihrer Stelle total zufrieden, und sie wollten in jedem Fall ein Jahr bleiben. Jack hatte einen Webdesigner kennen gelernt, der ihm Aufträge verschaffte, dennoch blieb ihm immer noch genug Zeit, sich um Gene zu kümmern. Der, wie Jack berichtete, sich in der Schule »eingewöhnte«.
»Ein paar Probleme kann es schon geben, doch er wird schon klarkommen«, sagte Jack. »Ist ja nicht so einfach, in einem fremden Land neu in einer Klasse zu sein.«
Gene wollte sich zu dem Thema nicht äußern, aber ich sah ihm an, dass er sich in seiner Schule alles andere als wohlfühlte.
»Du hättest mal deinen Dad an seinem ersten Schultag erleben sollen!«, erzählte ich, um Gene aufzumuntern. »Als ich ihn von der Schule abgeholt habe, hat er gesagt, es hätte ihm gar nicht gefallen und er sei froh, dass er jetzt nach Hause dürfte. Und als ich meinte, der nächste Tag würde bestimmt schon besser, fing er an zu weinen und sagte: ›Aber ich war doch schon in der Schule, Mom! Ich muss doch nicht nochmal hingehen, oder?‹«
Gene bog sich vor Lachen.
»Und ich mochte meinen ersten Schultag auch nicht«, berichtete ich wahrheitsgetreu – ohne zu erwähnen, dass das auch für alle weiteren Schultage bis zum Abschluss galt. Das sollte ich wohl besser für mich behalten.
»Aber morgen malen wir die amerikanische Flagge mit den Sternen«, sagte Gene. »Wusstest du, dass da Sterne drauf sind, Oma?«
»Nein!«, antwortete ich, als hörte ich das zum ersten Mal. »Das ist ja erstaunlich.«
»Die sind für die Staaten«, ergänzte Gene mit ominösem Unterton.
»Ach ja?«, erwiderte ich nur. Mit einem kleinen Jungen zu reden, ist manchmal wie eine Unterhaltung mit einem einfältigen Mann bei einer Party. Die ganze Zeit muss man Erstaunen und Faszination über dämliche Bemerkungen heucheln. Wobei Gene natürlich weder einfältig noch dämlich ist.
»Hör mal, mein Schatz«, sagte ich dann, um das Thema zu wechseln, »ich hab mir überlegt, dir einen Pulli zu stricken. Weißt du noch, dass wir letztes Mal darüber gesprochen haben? Und ich könnte ein Elefantenmuster machen, das erinnert uns ans Elefantenspiel!«
»Au ja, Oma!« Er lächelte breit. »Weißt du noch, mit Archie? Das war sooo lustig!«
»Ja, mein Schatz.« Mehr konnte ich dazu nicht sagen. »Und während ich daran arbeite, kann ich den Pulli über Skype an dir abmessen und nachsehen, ob er auch passt!«
»Du würdest es hier toll finden!«, sagte Gene unvermittelt.
»Ich will euch auf jeden Fall besuchen«, antwortete ich. »Muss mir nur mal mit deinem Paps die Termine anschauen.«
»Super!« Gene starrte begeistert auf die Stelle über meinem Kopf. »Oh, ich hab gerade gepupst. Hast du’s gehört, Oma?«
»Nee, hab ich nicht, Schatz«, erwiderte ich grinsend.
»Ach je. Ich kann nicht noch einen machen, weil jetzt keine mehr da sind«, sagte er entschuldigend, als wäre ich womöglich bitterlich enttäuscht und könnte den nächsten Furz kaum erwarten. »Beim nächsten Mal klappt’s vielleicht wieder.« Er hielt inne. »Mit Skype kannst du die nicht riechen, oder?«
»Nein, Schatz, kann ich nicht.«
Und zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, ich könnte es.
Ulkig, nicht wahr, wie besessen kleine Jungs von ihren Fürzen sind? Eine Zeit lang zog Gene sich ständig die Hose herunter, streckte mir den nackten Hintern entgegen und schrie: »Fetter Popo!« Was mich nicht weiter beunruhigte, weil Jack in diesem Alter genau dasselbe getan hatte. Das Leben schien nur aus Rülpsen und Furzen zu bestehen, und der Satz »Hab Kacka gemacht« nach einem Besuch der Toilette war unfassbar komisch. Manchmal konnte Gene kaum mehr stehen vor Lachen, weil er sich so über seine eigenen Gerüche und Geräusche amüsierte. Ich versuchte, mich darauf einzustellen, konnte das aber alles nicht so umwerfend witzig finden. Nicht weil ich mich daran störe, sondern weil es mich einfach kaltlässt. Vielleicht liegt es daran, dass ich eine Frau bin. Männer scheinen das allgemein viel komischer zu finden als wir Frauen.
29. Mai
Bin heute ins Kaufhaus gefahren – John Lewis im West End – und schnurstracks in die Kurzwarenabteilung marschiert. Fantastisch, dass es all diese alten Sachen noch gibt: Wolle, Stricknadeln, Stickrahmen und viele bunte Stoffe. Habe wahrhaftig ein Strickmuster mit einer Elefantenborte gefunden. Ich konnte mein Glück kaum fassen! Habe es sofort mitsamt Nadeln und Wolle gekauft und denke mir, wenn ich nicht zurechtkomme, kann ich immer noch Marion fragen, die kann sehr gut stricken und mir alles erklären.
Es ist so schön, etwas zu tun, was mich mit Gene verbindet.
Sylvie hat angerufen. Der Arzt hat Archie Beruhigungsmittel verschrieben, damit er nicht dauernd so ängstlich ist. Vielleicht geht er jetzt deshalb nicht ans Telefon, obwohl ich es schon mehrmals versucht habe. Offenbar schläft er ständig.
Ach, ich hoffe so sehr, dass er etwas Schönes träumt und friedlich ist. Das ist das Wichtigste. Mein lieber guter Archie.