Dezember

1. Dezember

Louis hat eine SMS geschickt: »Du bist ein Star! Aber das wusste ich ja! Liebe Grüße.« (Diesmal sind die Grüße wieder rückläufig. Hm.) Tatsächlich war ich auf einer Innenseite des »Hetzkurier« im Baumwipfel zu sehen, mit der Bildunterschrift: »STARK WIE EIN BAUM! RENTNERIN ALS ÖKOKRIEGERIN! Exlehrerin steigt in schwindelnde Höhen auf, um die Kampagne des Kurier gegen Missachtung von Bürgern zu unterstützen!«

Im Rest des Textes wurde betont, dass der Stadtrat die Hotelpläne neu überdenken müsse, und berichtet, dass diverse Umweltorganisationen – die wir noch nicht kontaktiert hatten – jetzt auch auf die Barrikaden gingen. Fazit ist wohl, dass es schlecht aussieht für den Hotelbau und gut für die Bäume.

Da wir nun ein so massives Presseecho bekommen hatten, beschlossen wir, dass wir die Protestaktion nicht mehr fortsetzen mussten, und holten Tim, der jüngst auf den Baum gestiegen war, wieder herunter. Wie ich hatte er sich dort oben sehr wohlgefühlt und war etwas ärgerlich, dass man ihn nicht mehr brauchte. Aber angesichts unseres Medienerfolgs konnte niemand lange griesgrämig sein.

»Wir waren doch spitze, oder?«, bestätigten Penny und ich uns gegenseitig, während wir die Party für den Anwohnerverein an diesem Abend vorbereiteten.

»Ich liebe diesen Song«, sagte Penny, als ich die Ink Spots auflegte, damit wir richtig in Schwung kamen. »Aber ich frage mich immer: Was ist ein Java Jive?«

Ich hatte meine Baum-Porträts im Zimmer aufgestellt – es war wie eine kleine Ausstellung, und ich muss sagen, dass mir die Bilder gut gefielen. Muss aber noch weitermachen, der Zyklus ist noch nicht komplett.

Wir hatten auch sämtliche Leute eingeladen, die uns unterstützt hatten, weshalb die Party in ein Riesengetümmel ausartete, das bis nach Mitternacht ging. Leider hatte ich den Leuten auch gesagt, sie könnten ihre Kinder mitbringen, und als dann die Kinderchen alle erschienen und anboten, die Platten herumzureichen, verschwanden sie – verfolgt von Pouncer – mit den Würstchen, Räucherlachs-Sandwiches und Chips, so dass für die Erwachsenen lediglich Oliven übrig blieben. Nur Alice betrug sich vorbildlich und reichte die Oliven und die wenigen verbliebenen Wachteleier herum. Dennoch war es ein toller Abend, und James klopfte an sein Glas und sagte, man sollte auf mich und Penny anstoßen, was ich sehr nett von ihm fand. Pfarrer Emmanuel verkündete, alle sollten ein Dankgebet sprechen, und wer sonntags zum Gottesdienst kommen wolle, sei herzlich willkommen. (Ich bezweifle zwar stark, dass Gott bei alledem eine Rolle spielte, aber wir senkten heuchlerisch den Kopf, während Pfarrer Emmanuel salbaderte.) Dann dankte Ned allen, die uns mit Briefen an den Stadtrat unterstützt hatten, und sprach Harry und Sylvie für das geliehene Equipment besonderen Dank aus. Danach klopfte der Abgeordnete (der natürlich keine Gelegenheit auslässt) noch lauter an sein Glas, damit ihm alle zuhörten, und ließ durchblicken, dass er eigentlich den Ausschlag gegeben hatte, weil er mit dem Stadtratsvorsitzenden gesprochen habe, und wir hätten nun so viel Öffentlichkeit hinter uns, dass der Hotelbau wohl endgültig vom Tisch wäre.

Es war eine nette Orgie der Selbstbeweihräucherung.

Michelle verdrückte sich mit James und Ned, und während Brad Alice zu Bett brachte – er will mir für den Bilderzyklus viertausend Pfund geben, wenn er fertig ist, ich kann das gar nicht fassen! –, half Sharmie mir beim Aufräumen. Ich habe Alice versprochen, nächste Woche mit ihr in den Zirkus zu gehen. Tragisch – bin völlig versessen darauf, etwas mit Kindern zu unternehmen! Und fühle mich immer noch erbärmlich schlecht, weil ich das Windspiel von Alices lieber Oma vernichtet habe.

Penny begab sich tapfer in den Garten, um die Platten einzusammeln, mit denen die Kinder verschwunden waren, und berichtete dann, sie hätten nicht nur eine meiner Lieblingsplatten zerbrochen, sondern offenbar auch eine Würstchenschlacht veranstaltet, denn in allen Beeten würden Würstchen herumliegen.

Ich fühlte mich jedoch derartig heldenhaft, dass mir das komplett egal war. Sollten die Kakerlaken ruhig ein Gelage abhalten, bis ihnen die kleinen schwarzen Bäuche platzten.

2. Dezember

Sehr sonderbare Skype-Unterhaltung mit Gene gehabt, der behauptete, in New York würde nicht Weihnachten gefeiert. Hier hängt man keine Strümpfe auf, sagte er, und außerdem hätten sie gerade erst Thanksgiving gefeiert. Ich glaube, er hat sich gefragt, weshalb ich ihm kein Geschenk geschickt habe.

»Und es ist auch so unfair, der Weihnachtsmann sieht hier ganz anders aus«, berichtete er. »Ich muss ihn ›Santa Claus‹ nennen. Und Mom sagt, wir dürfen nicht ›Fröhliche Weihnachten‹ sagen, nur ›Frohe Feiertage‹. Und der Truthahn an Thanksgiving war voll eklig, Oma, ganz glitschig.«

Jack erzählte dann später beim selben Gespräch, dass Freunde von ihnen den Truthahn im Garten in Erdnussöl frittiert hatten. Dazu gab es eine üble Mischung aus Dosenpilzsuppe mit grünen Bohnen und Röstzwiebeln obendrauf und Süßkartoffelpüree als Beilage, mit Marshmellows als albtraumhafter Garnitur.

»Vollkommen ungenießbar«, sagte Jack. »Und wie verbringst du Weihnachten, Mom?«

Ich hatte eigentlich gehofft, dass sie mich einladen oder über die Feiertage herkommen würden, aber nach dieser Frage antwortete ich ausweichend.

»Ach, wahrscheinlich mit Penny – oder mit Marion und Tim, die haben mich eingeladen, oder mit Sylvie, die hat netterweise auch gesagt, ich sei herzlich willkommen bei ihnen. Ich habe also reichlich Auswahl«, sagte ich leichthin. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. »Aber ist es denn völlig ausgeschlossen, dass …«

»Ach, wir haben noch keine Ahnung, was wir machen werden«, sagte Jack in gereiztem Tonfall. »Alles noch im Unklaren derzeit. Jede Menge Möglichkeiten.«

Nach dem Gespräch war ich ziemlich niedergeschlagen. Weihnachten ohne meine Familie. Die Vorstellung war unerträglich. Ich zweifelte schlagartig am Sinn meines Daseins. Solche Stimmungen hat sicher jeder mal, aber in meinem Alter kann man nicht mehr so locker sagen: »Wer weiß, was die Zukunft mir bringt, trallala.« Denn man weiß genau, was die Zukunft bringen wird. Vergessen.

Marie! Schluss damit! Du hörst dich wie die Schlagzeile vom »Hetzkurier« an! Wer war das – Don Marquis? –, der schrieb: »Die alte Dame ist noch für ein Tänzchen gut, toujours gai, toujours gai.«?

Ich werde alle Gedanken an Louis und Archie und Weihnachten aus meinem Kopf vertreiben und … und … Penny anrufen und mit ihr ausgehen. Wir werden uns ein leckeres Abendessen und ein paar gute Drinks zu Gemüte führen, und dann geht’s mir wieder prima.

3. Dezember

Und das stimmte wirklich. Dass es mir dann wieder prima ging, meine ich. Wenn man sich im Elend suhlt und dann auch noch wütend wird, gibt es nichts Besseres, als mit einer guten Freundin auszugehen, um wieder einen anderen Blick aufs Dasein zu kriegen. Mir ist auch aufgefallen, dass ich mit dem Stricken furchtbar ins Hintertreffen geraten bin, weshalb ich beschlossen habe, täglich an die zehn Zentimeter weiterzukommen, damit Genes Pulli auch wirklich zu Weihnachten fertig wird. Und vielleicht kann ich ja gleich im neuen Jahr nach New York fliegen. Darauf könnte ich mich dann freuen.

In einem Artikel im »Hetzkurier« mit »Tipps zum Glücklichsein« stand, der Schlüssel zum Glück sei es, immer drei Dinge in Aussicht zu haben. Eines in den nächsten Wochen, eines in den nächsten Monaten und eines im nächsten Jahr. Also, ich habe zuerst den Besuch bei Louis und seiner Mutter und Weihnachten, und was die nächsten Monate angeht – nun, wer weiß. Aber ich bin sicher, dass sich etwas ergeben wird.

4. Dezember

Heute Früh um halb sechs mit einem seltsamen Gefühl ruckartig aufgewacht. Das Gefühl war Grauen. Das ist nun nicht so außergewöhnlich, aber ich fragte mich doch, ob es etwas zu bedeuten hatte. Manchmal schreibe ich mir so etwas auf, denn wenn der »Hetzkurier« dann einen Flugzeugabsturz zu dem Zeitpunkt vermeldet, an dem ich das seltsame Gefühl hatte, würde das bedeuten, dass ich über hellseherische Fähigkeiten verfüge. Doch leider gab es bislang nie eine Bestätigung für diese Zustände.

Heute Morgen aber klingelte das Telefon um halb acht, nachdem ich gerade wieder eingeschlafen war, und Sylvie war dran.

»Daddy ist heute Nacht gestorben«, sagte sie nur.

»O Gott.« Alle möglichen Gefühle durchfluteten mich, und einen Moment lang erschien mir alles vollkommen irreal. Es kam mir vor, als schwebte ich irgendwo unter der Decke.

»Aber es ist ein Segen, dass er diesen schlimmen Zustand nicht länger erleiden musste, Marie«, meinte Sylvie mit kratziger Stimme. »Ach Gott, der Ärmste. Ich weiß, dass wir alle mit seinem Tod gerechnet haben, aber wenn es dann passiert, kommt es dennoch unerwartet, nicht wahr? Ich kann es nicht fassen. Ich denke immer noch, dass er lebt … Ich kann es einfach nicht begreifen.«

Ich frage mich, ob man den Tod jemals »begreifen« kann. Wenn mein Vater oder meine Mutter plötzlich ins Zimmer kämen, wäre ich gar nicht überrascht, weil sie ohnehin täglich bei mir sind. Ich glaube nicht, dass ich jemals begriffen habe, dass sie tot sind. Sie sind einfach an einen anderen Ort gegangen.

Ich versuchte, traurig zu sein, aber es gelang mir nicht. Es war, als hätte ich meine gesamte Traurigkeit in den vergangenen Monaten aufgebraucht. Ich weinte vor Erleichterung.

»Ach, Marie«, sagte Sylvie. »Sei nicht so traurig. Daddy hätte es so gewollt, weißt du.«

»Ich weiß«, schluchzte ich. »Aber es war so eine lange Zeit. Ach, Gott sei Dank hat er jetzt endlich Frieden gefunden.« Dann nahm ich mich zusammen und fügte hinzu: »Kann ich irgendetwas tun? Wie geht es dir? Ich weiß, dass wir es haben kommen sehen und es in gewisser Weise auch für ihn gehofft haben, aber …«

»Nein, keine Sorge«, antwortete Sylvie. »Mrs Evans trifft es am härtesten. Sie verliert nicht nur meinen Vater als Menschen, sondern auch ihre Stellung, ihren Lebensinhalt, alles. Sie war seit vierzig Jahren bei ihm! Aber sie wird für uns arbeiten, und ich weiß, dass Daddy ihr in seinem Testament etwas vermacht hat.«

»Wann ist die Beerdigung?« Ich stand auf, um meinen Morgenmantel anzuziehen, ohne dass Sylvie es mitbekam. Langsam und vorsichtig manövrierte ich mich in die Ärmel, während Sylvie sprach. Ich selbst hasse es nämlich, wenn Leute beim Telefonieren die Katze füttern oder Kartoffeln schälen – oder E-Mails schreiben. Ich möchte, dass man sich auf mich konzentriert, wenn man schon mit mir spricht.

»Die wird vermutlich nächste Woche stattfinden. Wir möchten das so schnell wie möglich regeln, damit es nicht zu nah an Weihnachten ist.«

Am Vormittag rief ich so viele Leute wie möglich an, um ihnen von Archies Tod zu erzählen. Und je öfter ich darüber sprach, desto realer fühlte es sich an. Penny und James boten an vorbeizukommen, aber die meisten Freunde in meinem Alter sagten: »Ach ja. So ist es nun mal.« Sie sind vertraut mit dem Tod. Nur die jüngeren Leute bringt so eine Nachricht aus der Fassung.

Sogar Jack war ganz erschüttert, als ich ihn anrief.

»Ach Gott, Mom, wie traurig!« Ich sah, dass ihm Tränen in den Augen standen, als er den Kopf hob und über meine linke Schulter blickte. »Ach, ich hätte gerne noch Abschied von ihm genommen. Er war so ein lieber Kerl. Du bist jetzt bestimmt völlig am Boden zerstört.«

»Offen gestanden, fühle ich mich im Moment einfach sonderbar«, sagte ich.

»Na ja, es macht dich vielleicht auch ein bisschen freier. Wenn man mal versucht, es positiv zu sehen.«

»Ja. Und apropos freier … Ihr kommt ganz bestimmt nicht an Weihnachten?«, fragte ich wagemutig. »Ich müsste es eben nur wissen, damit ich Pläne machen kann.«

Wieder schien Jack sich über die Erwähnung von Weihnachten ziemlich aufzuregen. »Ich hab dir doch schon gesagt, dass es im Moment schwer zu sagen ist, Mom. Ich weiß wirklich noch nicht, was wir an Weihnachten machen … Nein, wir werden wohl nicht kommen, aber wir sprechen ein andermal darüber.«

Und ich fragte mich: Großer Gott, wollen sie Weihnachten vielleicht in Kalifornien verbringen?

Dann kam Gene und erzählte aufgeregt vom Gokart-Fahren. »Es war soo cool, Oma. Ich bin Zweiter geworden. Und ich hatte so einen Helm und so, es war ganz toll. Und weißt du was?«, er beugte sich so weit vor, dass ich nur noch seine Nase sah, »an Weihnachten …«

Aber hier unterbrach ihn Jack und sagte: »Nicht jetzt, Gene, ein andermal, entschuldige, Mom, aber unsere Pläne sind noch völlig unklar. Aber wir sehen uns so oder so bestimmt ganz bald. Alles Liebe.«

O Gott! An Weihnachten tun sie was? Sie werden US-Bürger? Machen Strandurlaub in Miami? Verbringen die Feiertage in Disneyworld? Treten den Scientologen bei? Ich versuchte, sämtliche Gedanken daran zu verdrängen. Das Wichtigste war jetzt, Archies Beerdigung hinter mich zu bringen. Oje, schon wieder ein Begräbnis. Die gibt es zurzeit einfach zu häufig.

Dann kam mir ein abscheulich primitiver und materialistischer Gedanke. Ich fragte mich doch wahrhaftig, ob Archie mir in seinem Testament etwas hinterlassen hatte.

Ist das nicht furchtbar, wenn einem solche Gedanken durch den Kopf gehen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen? Ich meine, man kann nichts gegen seine Gedanken tun, aber wenn sie so fies sind, schäme ich mich meiner selbst und fühle mich wie Abschaum.

Und dennoch wurde ich diesen Gedanken nicht los.

7. Dezember

Den ganzen Vormittag lang Weihnachtskarten gebastelt. Auf meiner Liste stehen siebzig Leute, und dieses Jahr hatte ich eine hübsche Idee. Habe aus grünem Papier Christbäume ausgeschnitten und sie in die Mitte von roten Karten gelegt, so dass die Äste rausragen, wenn man die Karte aufklappt. Dann habe ich Kugeln reingezeichnet und das Ganze mit festlichem Glitter verziert. Obendrauf habe ich ein goldenes Sternchen geklebt – von denen besitze ich noch jede Menge, vom Korrigieren der Hausaufgaben in der Schule.

Die Karten sehen ausgesprochen hübsch aus, muss ich sagen. Und endlich fiel mir auch ein, wer Angie, Jim, Bella, Perry und Quietschie sind. Marions Tochter und ihre Familie. Habe beschlossen, ihnen eine besonders herzliche Karte zu schicken und sie nächstes Jahr zu besuchen, um Quietschie kennen zu lernen, wer sie oder er oder es auch sein mag.

Das Telefon klingelte, und der Makler von Jack und Chrissie war dran, der berichtete, die Mieter seien abgehauen, ohne die letzte Monatsmiete zu bezahlen. Damit dürfte die dicke Kaution im Eimer sein. Zauberhaft. Und das kurz vor Weihnachten. Das ist zwar Jacks und Chrissies Problem. Aber trotzdem.

Heute Nachmittag mit Alice im Staatszirkus Moskau gewesen. Alice trug ein rosa Röckchen, ein Glitzertop und knallgelbe Strumpfhosen. Sie sah absolut entzückend aus. Zu Anfang war sie noch sehr schüchtern und zögerte, mit mir allein wegzugehen, aber nachdem ich versprochen hatte, ihr Zuckerwatte zu kaufen und unheimliche Clowns davon abzuhalten, sie in die Arena zu zerren, stieg sie ins Auto. Und als wir dann geparkt hatten, spazierten wir zum Zelt und nahmen unsere Plätze ganz vorne ein.

»Meine Oma geht auch mit mir zu so was«, erzählte Alice hinter einer riesigen rosa Zuckerwattewolke hervor. »Und ich hab ihr von dir erzählt, als ich mit ihr geskypt hab, und sie hat gesagt, du bist bestimmt nett, und ich soll dich lieb grüßen. Von Oma zu Oma, hat sie gesagt.«

In der Pause schaute ich mir das Programmheft an – für das ich zehn Steine berappt hatte! – und sagte, leider sei alles auf Russisch. Worauf Alice mich darauf hinwies, dass ich es verkehrt herum hielt. Hoffe, sie erzählt ihren Eltern nichts davon. Sonst darf ich bestimmt nicht mehr allein mit ihr weggehen. Muss behaupten, ich hätte meine Brille nicht aufgehabt.

8. Dezember

Nach Archies Tod habe ich nun natürlich meine Reisepläne geändert, habe aber Louis gesagt, ich käme trotzdem nach Oxford, um ihn und seine Mom zu besuchen. Bin irgendwie neugierig auf sie. Und natürlich so oder so versessen darauf, ihn wiederzusehen.

Während der Fahrt dachte ich darüber nach, wie Louis’ Mutter wohl sein mochte. Weiß der Himmel, was sie von meiner Beziehung mit ihrem Sohn hielt, wenn sie überhaupt etwas davon wusste. Vermutlich betrachtete sie mich als eine Art nette Tante, die sich mit ihm angefreundet hatte. An ein Liebesverhältnis denkt sie gewiss nicht, obwohl sie von denen einige mitbekommen hat, vermute ich. Gerade als ich anfing, mich vor dem Treffen zu fürchten, verkündete mein Navi: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Ich hielt vor einem allein stehenden Backsteinhaus in North Oxford. Als ich ausstieg, nahm ich mich zusammen und zwang mich zum Lächeln. Es war halb drei.

Ich klopfte und wartete. Nach einer Weile öffnete mir eine Frau, die wohl nicht viel älter war als ich – Anfang siebzig vielleicht. Dennoch machten diese wenigen Jahre viel aus. Es kam mir vor, als gehörte sie einer anderen Generation an. Ihre Haare waren weiß und zerzaust, und sie trug einen fleckigen, alten Jeansrock. Es war so merkwürdig – obwohl ich nur knapp zwanzig Jahre älter war als Louis und vielleicht nur zehn Jahre jünger als dieses liebe Fossil, schienen mich Welten von Louis’ Mutter zu trennen. Das lag an den Sechzigerjahren. Der Generation, die vor 1940 geboren wurde, fehlt die Erfahrung von Sex and Drugs and Rock’n’Roll. Na ja, vielleicht nicht ganz und gar, aber doch zumindest in dem Ausmaß, in dem wir das erlebt haben.

»Oh, wie schön!«, sagte sie und klatschte in die Hände. Der amerikanische Akzent war kaum mehr hörbar, weil sie schon so lange in der »City of Dreaming Spires« lebte. »Sie müssen Marie sein! Ich habe Sie schon erwartet! Tut mir leid, Louis ist noch unterwegs. Er macht gerade ein Interview mit einem Freund seines Vaters über den Iran oder so. Aber kommen Sie doch rein, wir trinken schon mal eine Tasse Tee. Ich habe bereits so viel von Ihnen gehört, wie man sagt!«

Hätte zu gerne gefragt, was sie denn gehört hatte, weil ich mich auf Anhieb fehl am Platz fühlte. Ich war mir völlig unsicher, welche Rolle ich hier einnahm. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mein Lifting ungünstige Auswirkungen hatte, denn Louis’ Mutter hielt mich offenbar für deutlich jünger, als ich war – was dazu führte, dass sie mich als irgendetwas zwischen einem Kind, einer Freundin von Louis und einer Altersgenossin betrachtete. Ich kam mir wie eine Mogelpackung vor – außen jugendlich und attraktiv, innen alt, verbraucht und verwahrlost – und tröstete mich, indem ich mir vornahm, am nächsten Tag gleich wieder abzureisen. Die Situation war einfach zu verfahren.

Die Zeit zog sich endlos in die Länge. Um vier Uhr immer noch keine Spur von Louis. Joan – so hieß sie – und ich saßen im Wohnzimmer und machten höfliche Konversation. Die Regale an den Wänden waren voller alter Bücher, und neue lagen auf Tischen und Stühlen und dem Stutzflügel. Alles war bedeckt von einer feinen Staubschicht, was immer auf Geistesmenschen hinweist, und ich konnte nirgendwo einen Fernseher entdecken. Joan hatte ein kleines Elektrofeuer angemacht, das kaum wärmte. Wir tranken Tee aus angeschlagenen Bechern, aßen selbst gebackene Kekse und plauderten absurderweise über unsere Enkel – von ihrer Tochter hatte Joan drei. Ich wunderte mich, dass Louis seine Neffen nicht erwähnt hatte, was mein Unbehagen verstärkte.

Die Ärmste versuchte, sich zuerst mit mir über einen Artikel in der Literaturbeilage der Times zu unterhalten und danach über das neue Buch von Steven Pinker. Als daraus nichts wurde, stellte sie mir Fragen zu den nahenden Wahlen in Amerika und zur Bankenkrise. Als es keinen Zweifel mehr daran gab, dass ich im Gegensatz zu ihr (und vermutlich ihrem intellektuellen Freundeskreis) erheblich weniger über Literatur und Politik wusste (da ich meine politischen Informationen vor allem einer wenig zuverlässigen Quelle, dem »Hetzkurier« nämlich, entnehme), wandten wir uns Martha zu, Louis’ Patentante. Joan kannte sie seit ihrer gemeinsamen Schulzeit und berichtete über die Freundschaft. Danach geriet das Gespräch ins Stocken.

In meiner Not gab ich meine neuesten Erkenntnisse zum Thema Tolstoi zum Besten und landete zum Glück einen Treffer. Sie war ganz meiner Meinung. Total überschätzt. Gut.

Schließlich erkundigte ich mich mutig nach ihrem Gesundheitszustand, womit wir uns zu meiner Erleichterung eine gute Stunde beschäftigen konnten – und es war auch recht interessant. Zwischendurch fragte sie nach der Baumaktion – offenbar hatte Louis ihr doch das eine oder andere über mich erzählt. Dann, um Viertel nach fünf, hielt sie inne, warf einen Blick auf die Uhr und lehnte sich zurück.

»Ach je, er braucht wirklich lange. Sie müssen ja denken, dass er schrecklich schlechte Manieren hat. Aber wissen Sie, er hat immer so viel Arbeit, der arme Junge. Und dringende Termine. Sie haben auch einen Sohn, oder?« Woraufhin wir über das komplizierte Verhältnis von Müttern und Söhnen plauderten. »Ich mache mir natürlich furchtbar Sorgen, weil Louis noch nicht verheiratet ist«, gestand Joan. »Das Problem ist, dass er sich ständig verliebt, der arme Junge. Er muss offenbar bloß irgendein Mädchen kennen lernen, dann will er sie heiraten, und bevor ich es überhaupt richtig verstanden habe, ist es wieder aus, und er stellt mir die nächste vor. Die Mädchen tun mir wirklich leid. Da gab es diese junge Frau aus Uganda, Masani – mein Mann und ich haben sie kennen gelernt und fanden sie ideal für Louis. Aber sie ging nach Kampala zurück. Louis hat Ihnen wahrscheinlich von ihr erzählt, oder? Er sagt, er muss immer noch an sie denken. Aber im Ernst, er muss jetzt bald heiraten, sonst findet er keine Frau mehr. Ich meine, er ist fast fünfzig … Junge Frauen wollen doch keinen Fünfzigjährigen heiraten. Was meinen Sie? Da übernimmt man zu viel Verantwortung.«

Sie seufzte, beugte sich vor und lächelte mich vertraulich an. »Und deshalb ist es so schön, Sie kennen zu lernen, Marie! Zumindest scheint Louis in Ihnen eine wahre Freundin gefunden zu haben, eine Frau, die er achtet. Und das tut er wahrhaftig, glauben Sie mir. Ich hoffe so sehr, dass Sie ihn dazu überreden können, sich eine nette Frau zu suchen und eine Familie zu gründen und mit dieser ständigen albernen Verliebtheit aufzuhören.«

Mir verschlug es die Sprache. Er achtet mich? Ich hatte ganz andere Gefühle vermutet!

Zu meiner endlosen Erleichterung klingelte es in diesem Moment. Aber Louis gab mir nur einen flüchtigen Kuss, umarmte seine Mutter und sagte: »Tut mir leid, dass ich so spät komme. Bin aufgehalten worden. Aber schön, dass ihr euch schon miteinander bekanntgemacht habt!« Nach zehn Minuten bekam er eine SMS und sagte, er müsse leider noch arbeiten und ob wir ihn bitte entschuldigen könnten, und verschwand nach oben. Ich hätte am liebsten gesagt: »Nein, das tun wir nicht! Komm zurück, und unterhalte dich anständig mit uns. Wir haben lange genug gewartet! Wo bleiben deine Manieren?« Dann fiel mir ein, wie innig wir uns erst letzte Woche nach unserem Spaziergang umarmt hatten. Und dass ich ihn »Liebling« genannt hatte.

Nach einer halben Stunde kam er wieder herunter, in sein Handy starrend, blieb einen Moment in der Tür stehen und ging sofort wieder in den Flur, um zu telefonieren. Als er sich dann endlich zu uns setzte, beschwerte er sich als Erstes darüber, dass der Tee abgestanden sei. Er warf mir zwar ein herzliches Lächeln zu, aber das war auch alles.

»Du hast mich doch wohl nicht in Papas Arbeitszimmer einquartiert, oder, Mom?«, fragte er ziemlich patzig. »Du weißt doch, dass ich da nicht schlafen kann.«

»Oh, tut mir leid, habe ich …«, stammelte ich.

»Nur für ein paar Nächte, mein Schatz«, sagte seine Mutter, als sie aufstand, um frischen Tee zu kochen, und wuschelte ihm beruhigend durch die Haare (wobei er im Gegensatz zu Jack nicht zusammenzuckte, was ich ziemlich merkwürdig fand). Dann rief sie aus der Küche: »Du kannst nicht erwarten, dass Marie …«

»Ach, ich bleibe doch nur eine Nacht«, erwiderte ich hastig. »Ich will gar keine Umstände machen. Ich muss die Tochter meines verstorbenen Freunds besuchen … die Beerdigung …« Und während Joan und ich uns über den Tod und Bestattungen und den Verlust geliebter Menschen unterhielten, griff Louis nach einer Zeitung und fing zu lesen an. Der faule und verhätschelte Sohn. Kein erbaulicher Anblick.

Nach dem Abendessen (»Ich hab dein Lieblingsessen gekocht, Schatz«, sagte Joan, als sie ihrem Sohn eine Riesenportion Frankfurter Würstchen, Bohnen und Kohlsalat auf den Teller häufte, die er ohne ein Wort des Dankes verschlang) überließ er das Aufräumen seiner Mutter und mir, und wir brauchten ewig dafür, weil Joan zu der Sorte von Menschen gehört, die das Geschirr abspülen, bevor sie es in die Maschine stellen. (Wozu? Und sie gehört auch zu den Menschen, die alle Töpfe von Hand abspülen, anstatt sie der Maschine zu überlassen.) Dann versammelten wir uns im Wohnzimmer, wo Louis an seinem Laptop saß, und ich ging kurz aufs Klo. Als ich zurückkam, suchte Louis gerade seine Sachen zusammen, um ins Bett zu gehen. Er drehte sich noch einmal um, umarmte mich herzlich und begab sich nach oben. Als wir ihn oben herumlaufen hörten, legte Joan plötzlich den Finger an die Lippen und flüsterte mir glücklich zu: »Er hat mir gerade erzählt, dass Masani wieder aufgetaucht ist! Lassen Sie uns die Daumen halten, dass sie die Richtige ist! Schlafen Sie gut, meine Liebe!«

In dieser Nacht ergab ich mich hemmungslos der Wut und dem Elend. Ich hätte niemals herkommen dürfen. Louis war ein vollkommen unbrauchbarer, selbstsüchtiger und schrecklicher Mensch. Mir einzubilden, dass zwischen uns etwas entstehen könnte, war total idiotisch von mir gewesen. Da ich mein Schlafmittel zuhause vergessen hatte, brachte ich die gesamte Nacht damit zu, mich der Naivität und Louis der seelischen Grausamkeit zu zeihen. Als ich irgendwann endlich einschlief, träumte ich, dass ich mit Jack und seiner Familie im Urlaub sei, und ein furchtbarer Tsunami breche über uns herein. Jack und Chrissie wurden weggeschwemmt. Dann sah ich Gene und hielt ihn an der Hand fest, aber auch er wurde mir von den Wellen entrissen, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich wachte im Morgengrauen zitternd und weinend auf, schrieb eine kurze Nachricht, in der ich mich ausgiebig bei Joan bedankte und erklärte, ich hätte einen wichtigen Anruf aus London bekommen, stieg ins Auto und fuhr auf direktem Weg nach Hause.

Ich wollte Louis nie mehr wiedersehen. Es war alles viel zu kompliziert, und ich kam mir vor, als wäre ich ausgenutzt worden. Ich vermisste Archie entsetzlich. Vielleicht hatte Louis trotz all seiner Schwächen in dieser Hinsicht Recht gehabt. Vielleicht versuchte ich tatsächlich, an meinen Liebesgefühlen festzuhalten, indem ich sie – wie nun schien, recht beliebig – auf einen anderen Menschen übertragen hatte. Auf den erstbesten Mann, der neben mir im Flugzeug saß. Doch jetzt, nach Archies Tod und diesem schauderhaften Erlebnis in Oxford, hatten meine Gefühle sich dramatisch gewandelt.

Sobald ich mein Haus betrat, ging es mir schlagartig besser.

Ich badete ausgiebig, um jegliche Spuren von diesem widerwärtigen Schleimer und seiner verkopften, biestigen Mutter zu tilgen (ich weiß wohl, dass sie eigentlich sehr nett zu mir war, aber in diesem Moment verabscheute ich die gesamte Familie), kochte mir einen Tee und setzte mich, in einen warmen Mantel gehüllt, in den Garten. Es war einer dieser wunderbaren klaren Dezembertage, und Pouncer sprang im kalten Sonnenlicht durchs Gras. Mein Leben war doch gar nicht so übel. Und es fühlte sich gut an, die Situation mit Louis nun geklärt zu haben. Jetzt konnte ich mich wieder meinen eigenen Dingen zuwenden und musste nicht ständig sehnsüchtig darauf warten, ob und wann Louis sich melden würde.

Der Traum kam mir wieder in den Sinn, und ich merkte, wie sehr ich mich nach meiner Familie sehnte. Vielleicht sollte ich in die Staaten ziehen? Vielleicht – doch dann dachte ich: Erst mal Weihnachten hinter mich bringen, dann neue Pläne machen.

12. Dezember

»Hetzkurier«: »SCHWULER STARKOCH KOKAINSÜCHTIG!« Ganz ehrlich, wenn man dem »Hetzkurier« glauben würde, gäbe es im ganzen Land keinen einzigen angenehmen, fleißigen oder halbwegs intelligenten Menschen. Und dennoch wimmelt es von solchen Menschen hier, soweit ich das beurteilen kann.

Habe angenehm erzürnt mein Bad genommen.

Morgen findet Archies Beerdigung statt. Ich fahre früh los, damit ich Sylvie noch helfen kann – danach gibt es bei ihnen zuhause ein Treffen für die Trauergäste. Sylvie hat mich gebeten, in der Kirche Fahranweisungen für den Weg zu ihrem Haus zu verteilen, weil ihr Drucker kaputtgegangen ist, und ich habe zweihundert ausgedruckt. Es freut mich, dass man mich braucht, auch wenn es nur für etwas Kleines ist. Die Kletterausrüstung von Harry nehme ich mit, um sie zurückzugeben.

Sylvie hat mich darum gebeten, das Gedicht von Archie vorzulesen, das ich gefunden hatte. Ich bin mir nicht sicher, wie das bei der Trauergemeinde ankommen wird, aber ich finde es sehr mutig und anständig und lieb von ihr, mich darum zu bitten. In dem Gedicht kommt zum Ausdruck, wie sehr Archie sich als alter und kranker Mann wünschte, sterben zu können, anstatt halb lebendig vor sich hin zu dämmern. Ich denke mir, dass einige Leute das auf jeden Fall tröstlich finden werden.

Wieder den Inhalt des Kleiderschranks auf dem Bett ausgebreitet. Ein kläglicher Anblick! Einer von meinen guten Vorsätzen fürs neue Jahr wird darin bestehen, meine Garderobe aufzubessern! Habe Berge von verwaschenen Pullis mit diesen kleinen Knötchen, ausgeleierten Röcken und ausgeblichenen Kleidern. Ich hatte vor, in Schwarz zu gehen – das macht heutzutage keiner mehr bei einer Bestattung, weshalb also nicht? Und das erleichterte mir auch die Entscheidung, weil ich dieses echt hübsche schwarze Designer-Cocktailkleid besitze, das ich günstig in einem Secondhand-Laden gekauft habe, und einen fantastischen Filzhut – erstanden auf einem Kunsthandwerksmarkt –, der sich so plattdrücken lässt, dass er in jeden Koffer passt. Nachdem ich mich fein gemacht hatte, stellte ich erstaunt fest, dass ich wesentlich besser als nur passabel aussah. Ein Hauch Make-up und voilà: Ich gefiel mir selbst! Dieses Lifting war wirklich die beste Entscheidung meines Lebens!

Ich probierte gerade eine Kette an, als sie mir plötzlich aus der Hand rutschte. Als ich mich bückte, um sie aufzuheben, fiel mir ein Spruch von Archie ein: »Wenn man alt ist und sich bückt, um etwas aufzuheben, kann man mit dem Aufrichten ruhig eine Weile warten, für den Fall, dass man dort unten noch etwas erledigen kann.«

Ich lachte vor mich hin. Wie schön, wenn man sich selbst zum Lachen bringen kann, dachte ich. Im Alleingang.

SMS von Louis: »Schade, dass wir nicht mehr Zeit hatten. Was ist passiert? Vermisse dich! Volltreffer bei Mom! Bald treffen? Superliebe Grüße«

Aber es ist mir vollkommen einerlei, wie die Grüße sich nun noch steigern lassen. Ich habe keinerlei Gefühle mehr für ihn.

13. Dezember

Es war eine wunderschöne ländliche Beerdigung. Und die Kirche war voller Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. So ist das auf dem Land – Leute aus ganz Devon, die Archie noch als Kind gekannt hatten, waren erschienen. In London wäre das niemals ein so großer gesellschaftlicher Anlass geworden. Sylvie hatte einen Berg weißer Lilien für den Sarg bestellt, und als wir die Kirche betraten, hörte man leise das Adagio von Bach. O Gott, wieder ein Sarg. Es erinnerte mich alles so sehr an Hughies Begräbnis. Und an das meiner Mutter und meines Vaters – wenn man älter wird, weckt jede Bestattung die Erinnerung an die schon verlorenen Menschen, und die Trauer reißt nicht ab.

Sylvie las einen Text aus der Bibel, und ein alter Cousin spielte ein Cellostück. Danach las ich das Gedicht (mit großer Mühe, wäre fast kollabiert), und dabei gab es niemanden mehr in der Kirche, der nicht weinte. Sogar Hardy saß traurig neben dem Sarg und jaulte gelegentlich.

Der einzige Störfaktor war die Pfarrerin. Bin ich die einzige Frau unter der Sonne, die weibliche Geistliche etwas gruselig findet? Sie sehen immer wie die schrecklich alten Tanten aus, denen man als Kind Küsschen geben musste. Sie haben nie eine anständige Frisur und tragen auch keinen Lippenstift, weil sie meinen, so pur und schlicht würden sie frommer wirken. Männliche Geistliche sind immer von einer geheimnisvollen Aura umgeben, vor allem in diesen langen wehenden Gewändern, die für eine Frau ja nichts Ungewöhnliches sind. Männer wirken ohnehin immer geheimnisvoller, weil sie so seltsam und so ganz anders als sind als wir. Aber Frauen – ich kann eine Frau einfach nicht als heilig betrachten, weil sie mir zu vertraut ist, eine Frau, die ihre Tage bekommt und Kinder geboren hat und Plätzchen backt. Diese Heiligen von früher, oder wie man die nannte, hatten zumindest keine Kinder, waren Jungfrauen und fuhren nicht mit Autos durch die Gegend. Ziemlich sonderbare weibliche Wesen. Nun habe ich natürlich sowieso keine Ahnung von Heiligkeit. Ich erinnere mich jedenfalls, dass Archie – der auch etwas gegen weibliche Geistliche hatte – meinte, wir würden uns in ihrer Nähe unwohlfühlen, weil sie uns an heidnische Zeiten und damit an Hexen erinnerten.

Da mag was dran sein.

Danach gab es in der Kälte vor der Kirche dieses übliche Herumdrucksen, bei dem alle mit gesenktem Kopf dastehen und kondolieren. Dann fuhr man zu Sylvie, und nach einem Drink wurde die Stimmung etwas gelöster.

14. Dezember

Sylvie machte beim Frühstück einen sehr erschöpften Eindruck, muss ich sagen. Sie sagte, es fühle sich so seltsam an, Vollwaise zu sein und jetzt selbst dem Tod gegenüber in vorderster Reihe zu stehen. Und sie meinte, sie könne Archie immer noch riechen und hören, und ob ich das nicht eigenartig fände. Für mich war das ein merkwürdiges Erlebnis, denn es hörte sich so an, als hätte sie diese Gefühle als Erste entdeckt – obwohl ich all das beim Tod meiner Eltern genauso empfunden hatte. Manchmal lese ich im »Hetzkurier« diese persönlichen Berichte von Promis, die wirklich ergreifend über den Tod ihrer Eltern schreiben, und ich finde es jedes Mal rührend, wenn sie offenbar glauben, das alles als erster Mensch unter der Sonne zu empfinden, während diese Gefühle so alt sind wie die Menschheit selbst.

Nachdem wir unsere Rühreier verspeist hatten, ergriff Sylvie plötzlich meine Hand. »Marie! Mir ist gerade etwas eingefallen. Das Testament. Daddy hat alles mir vermacht, aber noch eine Wunschliste hinterlassen. Er wollte natürlich Mrs Evans etwas zukommen lassen und auch dir. Er schlug eine bestimmte Geldsumme und vielleicht ein Erinnerungsstück vor. Ich weiß, das ist ziemlich peinlich, aber er hatte an zehntausend Pfund gedacht. Wie hört sich das für dich an? Ich weiß, dass er das gerne gewollt hätte. Wenn man sich das gesamte Anwesen anschaut, ist das natürlich keine riesige Summe, aber ein großer Teil geht für Erbschaftssteuern drauf … und … und wenn du irgendetwas aus dem Haus möchtest, weißt du, irgendeine Kleinigkeit, als Andenken …«

Ich war völlig verblüfft. Trotz meiner schäbigen Gedanken hatte ich keine Ahnung gehabt, dass Archie mir tatsächlich etwas hinterlassen wollte! Ich stammelte, das sei absolut großartig, und bedankte mich überschwänglich. Und sagte, ich würde auf dem Rückweg mal bei Mrs Evans im Haus vorbeischauen – sie machte dort Ordnung, bevor die Makler das Anwesen begutachten würden.

Wie lieb von Archie, mich zu bedenken! Ich war erfüllt von Wärme und Liebe, als ich losfuhr, was den Verlust umso schmerzlicher machte.

Ich fürchtete mich davor, in das Haus zurückzukehren. Doch da war die treue Mrs Evans – und ich merkte, dass sie zwar traurig, aber zugleich auch erleichtert war, weil man nun alles geregelt hatte und sie künftig bei Sylvie arbeiten würde.

»Mrs Sylvie war so nett zu mir«, sagte sie. »Beide sind großartige Menschen. Und das Begräbnis – war es nicht wunderbar? Und das Gedicht – war es nicht furchtbar traurig? Ach, Sie kennen es natürlich, Sie haben es ja selbst vorgelesen, wie dumm von mir, Miss Marie. Aber ich werde dieses Haus vermissen. Mrs Sylvie hat mir gesagt, dass Sie sich was aussuchen sollen, also lasse ich Sie jetzt in Ruhe, und danach wartet eine schöne Tasse Kaffee auf Sie.«

Als ich durch die Räume wanderte und mir überlegte, welches Möbelstück, Gemälde oder andere Ding mich am ehesten an Archie erinnern würde, kam ich mir vor wie ein Geier. Ich spürte förmlich die Krallen an meinen Füßen und musste mich beinahe an die Nase fassen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht ein gebogener Schnabel war. Es war sehr sonderbar: Jedes Zimmer, das ich betrat, erschien zuerst verheißungsvoll und erwies sich dann als leer, denn ich wollte nichts von alldem haben, was ich darin vorfand.

Was ich haben wollte, war das Licht, das durch die Vorhänge fiel. Den Duft der brennenden Apfelbaumscheite im Kamin. Das Vogelgezwitscher im Garten. Das Gefühl der abgenutzten Handtücher auf meinem Rücken, wenn ich aus der Wanne stieg. Das entfernte Brummen eines Rasenmähers. Den Geruch von Archies Zigaretten in der Bibliothek. Seine Stimme, wenn er aus dem Gemüsegarten nach mir rief. Sein Lachen und die Berührung seiner Hände. Den feuchten Geruch des Flurs und das Knarren der Dielen im Esszimmer, sogar die Kälte in der Küche. Vor allem die Kälte in der Küche. Einfach einen Gegenstand mitzunehmen war nicht befriedigend. Die wichtigen Dinge im Leben sind keine Dinge.

Am Ende entschied ich mich für Leinenbettwäsche.

»Ich weiß, das ist eigenartig«, sagte ich zu Mrs Evans, als ich nach unten kam. »Aber diese Bettwäsche erinnert mich an meine Aufenthalte hier. Ich besitze keine Leinenbettwäsche. Und um ehrlich zu sein – ich habe schon zu viele Dinge zuhause: Gemälde, Dekosachen und so weiter. Aber an dieser Wäsche werde ich Freude haben.«

»Und sie wird Sie lange begleiten«, erwiderte Mrs Evans. Diesen seltsam tröstlichen Satz bekommt man nie zu hören, wenn man unter sechzig ist.

»Ja«, pflichtete ich ihr bei.

Dann fiel mir noch etwas ein. »Und meinen Sie, ich dürfte vielleicht seinen alten Anglerhut haben?«, fragte ich. »Oder wäre das zu gierig, was meinen Sie?«

»Nehmen Sie ihn!«, sagte Mrs Evans und ging in den Flur hinaus, um ihn zu holen. »Mrs Sylvie hat ganz bestimmt nichts dagegen. Sie hat schon seinen Gärtnerhut als Andenken. Aber diesen schrecklichen Alpenmantel haben wir mit den anderen Sachen als Spende weggegeben. Keine guten Erinnerungen.« Sie hielt inne. Dann: »Und nehmen Sie doch auch die Kopfkissenbezüge. Die gehören zu den Bettbezügen. Es gibt so viele hier. Das wird dann am Ende alles nur versteigert. Kein Mensch wird sie vermissen.«

Später

Habe die Bettwäsche zuhause sofort aufgezogen. Sie fühlt sich himmlisch an, so kühl und glatt, und versetzt mich sofort in Archies Haus und zu unseren wunderschönen Kuschelnächten zurück. Den Hut habe ich bei mir in den Flur gehängt, wie ängstliche alte Jungfern es früher gemacht haben, damit Einbrecher glaubten, es wäre ein Mann im Haus.

15. Dezember

Ich hatte eigentlich nicht erwartet, noch einmal von Louis zu hören, und legte auch keinerlei Wert darauf. Aber er hat angerufen und gefragt, ob er vorbeikommen könne. Er sei gerade auf dem Weg nach Heathrow, um in die Staaten zurückzufliegen, und müsse mit mir sprechen. Dringend.

Diesmal gab ich mir keine Mühe, mein Haus so wirken zu lassen, als sei ich ein besonders interessanter Mensch. Ich klatschte mir ein bisschen Make-up ins Gesicht und fuhr mir einmal mit dem Kamm durch die Haare. Das war’s dann auch. Ich telefonierte gerade mit Penny, als es klingelte, und anstatt wie ein aufgeregter Teenager die Treppe runterzusprinten, sprach ich weiter, machte mit einer Hand die Tür auf und bedeutete Louis, dass er hereinkommen könne. Nachdem ich mich von Penny verabschiedet hatte, setzte ich Kaffeewasser auf, ohne mich weiter um ihn zu kümmern, während er betreten neben dem Küchentisch stand. Ich war wild entschlossen, mich weder aufzuregen noch zu weinen oder überhaupt Gefühle zu zeigen. Ich wollte distanziert und würdevoll bleiben. Was mir leichtfiel.

»Ich muss dir das alles erklären«, sagte Louis, legte mir den Arm um die Schultern und drehte mich zu sich. »Es tut mir leid. Du musst mich für sehr unhöflich gehalten haben neulich, weil du doch eigens zu Besuch gekommen bist.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte diesen Auftrag, und ich hatte mir wegen Mom solche Sorgen gemacht, und dann warst du da … Es war wunderschön alles, aber um ehrlich zu sein, es hat mir das Herz gebrochen, dieser …«

»Dieser Altersunterschied?«, unterbrach ich ihn in eisigem Tonfall. »Und gewiss doch auch die Rückkehr von Masani.«

»Woher weißt du das?«, fragte Louis verblüfft und sank auf einen Stuhl. »Du solltest beim ›Kurier‹ arbeiten, Marie. Du würdest eine gute Journalistin abgeben.«

»Deine Mutter hat es mir erzählt«, antwortete ich trocken, als ich mich ihm gegenüber niederließ. »Und sie hat mir auch erzählt, dass du das ständig machst – dich in Frauen verlieben und dann wieder entlieben. Und da wurde mir klar, dass ich nur eine von vielen bin.«

»Marie, mit dir ist es etwas ganz anderes, das schwöre ich dir.« Louis ergriff meine Hände. Einen Moment lang flackerte das sexuelle Verlangen wieder auf, aber ich rang es nieder. »Und das weißt du auch! Wenn wir beide etwa im selben Alter wären und uns schon früher kennen gelernt hätten, wären wir jetzt verheiratet und hätten Kinder. Ich liebe dich! So, jetzt habe ich es gesagt! Und ich will, dass wir uns nie aus den Augen verlieren! Und ich möchte, dass du Masani kennen lernst und sie auch lieben lernst …«

Er redete so wild drauflos, dass er mir irgendwann nur noch leidtat. Das Furchtbare war, dass er jedes Wort wirklich ernst meinte. In diesem Moment jedenfalls. Er gehörte zu jenen Männern, die mit dem Fluch gestraft sind, Frauen bezaubern zu können. Und er tat es nicht, weil er ein schleimiger Widerling war, sondern weil er die Frauen jeweils wirklich liebte. Und es ihnen mitteilen musste.

»Du verfügst über jede Menge Charme, Louis.« Ich sah ihm tief und eindringlich in die Augen und hoffte, dass ich dabei wie eine verrückte alte Hexe wirkte. »Aber du solltest darauf achten, ihn mit Bedacht einzusetzen. Wenn du dich nicht vorsiehst, verletzt du Menschen. Was du sicherlich schon getan hast, und nicht nur einmal. Du hättest beinahe auch mich schlimm verletzt. Und nun mach dir nicht zu viele Hoffnungen wegen dieser Masani. Ich wünsche dir, dass du mit ihr glücklich wirst, aber versuch diesmal nachzudenken, bevor du deine Gefühle offenbarst. Um ihretwillen«, fügte ich hinzu und bedauerte dabei von Herzen dieses arme afrikanische Mädchen, das sich im Spinnennetz von Louis’ Charme verfangen würde.

Aber ich glaube nicht, dass er sich ändern wird. Als er aufbrach, schwor er mir ewige Liebe und Freundschaft, und dennoch hatte ich das Gefühl, dass ich nie wieder von ihm hören werde.

Doch wer weiß.

Und ich muss wohl auch sagen: Wen kümmert’s?

16. Dezember

»Ja, na klar«, sagte Penny, als ich sie anrief. »Natürlich kannst du zu uns kommen …« Sie würde Weihnachten mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn verbringen. Aber ich spürte, dass sie eigentlich mit ihrer Familie allein sein wollte, und konnte das nur zu gut verstehen. Mir ging es ja auch nicht anders. Schon seltsam, wie man an kleinsten Sprechpausen wahre Gefühle erkennen kann. »Es wäre schön, dich bei uns zu haben … möchte mir nicht vorstellen, dass du ganz allein zuhause sitzt.«

»Das ist lieb von dir. Aber mir fällt bestimmt noch was anderes ein …«

Ich dachte an Sylvie oder James oder sogar Marion, die mich alle eingeladen hatten. Doch wäre Weihnachten allein wirklich so schlimm? Vielleicht wäre es sogar ungeheuer entspannend? Niemand wäre hier, und ich könnte machen, wozu ich Lust hätte. Ich habe einige Freunde, die Weihnachten nicht ausstehen können und es sich deshalb an den Feiertagen allein gemütlich machen und sich alte Filme anschauen.

Ich hatte mich gerade hingesetzt, um zu überlegen, was ich tun wollte, und fühlte mich ein bisschen leer, weil nun die Baumaktion hinter mir lag, Archie aus meinem Leben verschwunden war und Louis auch keine Rolle mehr spielte, als das Telefon klingelte. Es war Jack, der fragte, ob wir skypen könnten.

Ich loggte mich ein und sah Gene neben Jack auf und ab hopsen.

»Hör mal mit dem Gehopse auf, Schatz!«, sagte ich. »Ich kann dein Gesicht gar nicht sehen! Und dein Pulli ist übrigens fast fertig!«

»Wir wollen dir was erzählen, Mom«, verkündete Jack mit breitem Grinsen.

Gene drängelte sich vor ihn. »Ja, Oma! Wir kommen zurück!«

»An Weihnachten? Wie schön!«, erwiderte ich. Das war wirklich eine wunderbare Nachricht.

»Nein«, sagte Gene. »Wir kommen richtig zurück. Und wir bleiben dann da.«

»Für wie lange?«, fragte ich nervös. Ich konnte es immer noch nicht richtig glauben.

»Nein, nein, wir bleiben … wir ziehen wieder zurück!«, erklärte Jack strahlend. »Ich erzähle dir dann alles ausführlich, wenn wir da sind, aber wir denken schon seit ein paar Monaten darüber nach. Deswegen war das mit Weihnachten so schwierig. Tut mir furchtbar leid. Ich wusste ja, wie sehr du dir gewünscht hast, dass wir zurückkommen, und ich wollte dir unter keinen Umständen Hoffnungen machen und dich dann enttäuschen. Es ist einfach so, dass wir uns hier nicht wohlfühlen. Chrissie arbeitet zu viel. Und obwohl alle sehr nett sind, haben wir keine echten Freunde finden können. Und wir wollen ja auch nicht, dass Gene so amerikanisch wird. Die üblichen Gründe. Du hattest Recht, Mom. Es hat wirklich was mit ›wow‹ zu tun. Und Chrissie kann ihre alte Stelle in London wiederhaben und sogar Teilzeit arbeiten, und ich habe dort viel bessere Stellenangebote … und außerdem bist du da, und außerdem ist London unser Zuhause …«

Tja, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wurde einfach von einer Glückswoge erfasst, und mir kamen die Tränen. Es fühlte sich an, als würde ein gewaltiger Felsklotz von meinen Schultern rollen, und ich fühlte mich plötzlich – auch wenn sich das ziemlich übertrieben anhört – wie neugeboren. Jedenfalls fehlten mir die Worte.

»Mom? Mom? Alles in Ordnung?«, fragte Jack und beugte sich vor.

»Ich bin so froh«, schluchzte ich und berührte sein Gesicht auf dem Bildschirm. »Ach, Liebling, wie … wie wunderbar. Wann kommt ihr denn? Ich hole euch am Flughafen ab. Ach mein Schatz, es ist so schön!«

»Wir buchen den Flug so schnell wie möglich. Er wird albtraumhaft teuer sein, aber Weihnachten sind wir bei dir, komme, was wolle«, sagte Jack.

20. Dezember

Viel zu lang nicht Tagebuch geschrieben, weil ich so viel zu tun habe. Plätzchen backen, Truthahn bestellen, Christbaum schmücken (ich bin ganz vorsichtig auf die Leiter gestiegen und hatte Penny einbestellt, um sie zu halten), Genes Pulli fertig stricken, ihr Haus vorbereiten. Die Mieter haben es in schrecklichem Zustand hinterlassen, hie und da musste gestrichen werden, und es war ein Riesenaufwand, die Teppichböden reinigen zu lassen, damit sie alles so makellos vorfinden, wie sie es verlassen haben.

Morgen kommen sie an. Bin völlig aus dem Häuschen vor Freude und kann kaum schreiben. Fühle mich zehn Jahre jünger vor Glück (hätte gar kein Lifting gebraucht) und bin wie ein Derwisch in der Küche herumgetanzt. Merkte dann plötzlich, dass Brad und Sharmie aus den oberen Zimmern durch mein Glasdach gucken können und womöglich ihre alte Nachbarin wie eine Irre herumhopsen sehen. Dachte mir nur: »Na und, sollen sie doch«, und tobte weiter zu Gladys Knight und ihren hinreißenden Pips durch die Gegend.

Chrissie bekommt einen Jugendstil-Lampenschirm, der ihr sicher gefallen wird, Jack ein Buch über Surrealismus und Gene ein gigantisches Lego-Set. Es ist alles so wunderbar. Als sei der ganze Stress des letzten Jahres mit einem Schlag von mir abgefallen.

Und dann habe ich mir noch eine besondere Freude gegönnt: Ich habe den »Hetzkurier« abbestellt! Ein für alle Mal!

21. Dezember

Sie sind wieder da!

Bin nach Heathrow gefahren, habe den Wagen geparkt und bin ganz zittrig vor Aufregung zum Gate getappt. Es wimmelte von Indern und Arabern und Chinesen, die genauso wie ich gebannt auf die Menschen starrten, die mit ihren Gepäckkarren hinter der Absperrung auftauchten. Stimmen dröhnten aus den Lautsprechern, im Hintergrund piepten irgendwelche Computerspiele, und es herrschte der übliche Flughafentumult. Ich war so aufgeregt, dass ich mich übers Geländer beugte und von einem Fuß auf den anderen trat. Ich versuchte sogar, die Flugnummern auf den Gepäckschildern der Ankommenden zu entziffern – was natürlich unmöglich ist. Warum kommen die Leute, auf die man wartet, grundsätzlich zuletzt?

Aber dann waren sie da! Gene schob den Gepäckwagen – der natürlich viel zu groß für ihn war – und blickte dabei wie wild um sich. Als er mich sah, ließ er den Wagen los, sauste unter der Absperrung hindurch und rannte auf mich zu. Und ich hielt ihn so fest, als hätte ich ihn aus dem Tsunami in meinem Traum gerettet. Dann kamen Jack und Chrissie, und wir waren alle etwas tränenselig. Ich konnte kaum sprechen.

»Es ist so wunderschön, dass ihr hier seid!«, krächzte ich schließlich. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!«

»Wo ist mein Pulli?«, fragte Gene. »Ich will ihn sehen!«

Ich förderte ihn mit großer Geste zu Tage, und Gene riss seine Jacke herunter und zog ihn an. »Er ist toll!«, sagte er, während er sich im Kreis drehte. »Und ich mag die Elefanten. Wie hast du die gemacht, Oma?« Er gab ein Elefantentröten von sich, gefolgt von Elefantenfürzen.

»Das reicht jetzt«, sagte Jack grinsend, als alle sich nach uns umdrehten. »Komm, Gene, wir wollen nach Hause. Ich kann’s kaum erwarten.«

»Ich auch nicht«, sagte Chrissie. »Oh, es tut so gut, wieder hier zu sein!«

»Geh du vor, Mom«, sagte Jack, als er den Wagen anschob. »Wir kommen nach.«

Gene und ich drängten uns durch die Menschenmenge. Er hielt meine Hand fest und hopste beim Gehen auf und ab. »Ich will zu dir kommen und das Haus angucken, Oma«, sagte er. »Und können wir das Elefantenspiel spielen? Und kann ich dir sagen, was ich mir zu Weihnachten wünsche?«

»Natürlich, mein Schatz. Was denn?«

»Also, ich wünsche mir Legosachen«, antwortete er. »Und ein Meerschweinchen. Und …«, er blickte etwas verlegen unter sich, »weißt du, Oma, da gibt es diese armen Leute in Afrika, die sind so arm, dass sie nichts zu essen haben. Und Dad sagt, man kann eine Ziege kaufen und sie denen zu Weihnachten schenken, und dann haben die Leute leckere Milch mit Vitaminen und sind gesund und fröhlich. Und ich schreib dann ›Liebe Grüße von Gene‹ auf die Karte. Können wir das machen, Oma? Können wir? Oder ist das zu teuer?«

Er sah mit großen vertrauensvollen Augen zu mir auf, und mir wurde ganz warm ums Herz.

»Natürlich, mein Schatz.« Ich drückte seine kleine Hand. »Wir schicken so viele Ziegen dahin, wie du möchtest.«

Und das taten wir.