Januar
1. Januar
Herr im Himmel. Aufgewacht mit grässlichem Kater, Herzrasen, Schweißausbruch, nach Wasser lechzend … passiert mir sonst nie. So etwas hatte ich nicht mehr seit den Sechzigern. (Da fällt mir ein, dass es mir nach meiner Abschiedsparty an der Schule auch nicht so prima ging, was aber daran lag, dass der Biolehrer das Bier selbst gebraut hatte.)
Hab es geschafft, mich aufzurappeln, eine Tasse Kaffee zu trinken und einen Toast zu essen. Hatte große Lust auf fünf Spiegeleier und habe zwei verputzt, aber irgendwie ist ohnehin alles einerlei. Heute ist Neujahr, und es ist so sonderbar still in London, dass ich mir wie in einem grottenschlechten Film vorkomme, in dem ich einzige Überlebende in einer Welt bin, die von einer verheerenden Schlafkrankheit heimgesucht wurde. Habe keinen einzigen Menschen gesehen, als ich aus dem Fenster schaute. Und nur wenige Autos. Wahrscheinlich sind alle verreist. Beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster – ebenfalls keine Menschenseele. Na schön, da ist auch sonst keiner, und es würde mich doch sehr wundern, wenn am Neujahrstag jemand auf meinem Rasen herumlungern würde, aber man hört gar nichts, nicht mal das entfernte Heulen einer Kettensäge oder ein weinendes Baby oder das Wummern von Bässen aus einem Radio.
Der Garten macht einen ziemlich verwahrlosten Eindruck, muss ich gestehen. Der Winterschneeball wird wohl bald blühen, aber bislang noch keine Spur davon. Mein Garten ist ein langer schmaler Schlauch mit einem Rasenstreifen in der Mitte und Büschen und Bäumen am Rand. Im letzten Sommer war er so üppig wie ein Dschungel, aber an Neujahr wirkt alles öde. Eine Schlammwüste, und in der Mitte hockt eine fette Taube und überlegt, ob sie sich in die Lüfte schwingen soll, um den Krallen und Zähnen meines Katers Pouncer zu entkommen, während Pouncer ebenso träge herumsitzt und darüber nachsinnt, ob er sich aufraffen und auf die Taube hechten möchte.
Ich sollte wieder ins Bett gehen. Mit etwas Glück bin ich später putzmunter und quietschvergnügt. Mit noch mehr Glück schlafe ich bis nächste Woche, wenn das Leben wieder normaler wird.
3. Januar
Allmählich erwacht die Welt wieder und ich mit ihr. Und ich habe beschlossen, etwas zu machen, was ich seit meinem zehnten Lebensjahr nicht mehr getan habe: eine Liste mit guten Vorsätzen fürs neue Jahr zu verfassen. Also los geht’s.
- Nie wieder Alkohol trinken, und schon gar nicht Sekt, Rotwein und Rumpunsch durcheinander. (Hab mich immer noch nicht richtig erholt. Die alten Hirnzellen kommen erst langsam wieder in Fahrt.)
- Ein Facelifting machen lassen.
- Gegen die zunehmende Steifheit in den Gliedern Akupunktur ausprobieren. Ich stakse durch die Gegend wie diese Holzgliederpuppen aus dem neunzehnten Jahrhundert.
- Das Haus aufräumen, jedes Zimmer einzeln entrümpeln. Ich besitze viel zu viel Zeug.
- Tagebuch schreiben. (Damit habe ich schon angefangen.)
- Wieder mit Malen beginnen.
Penny, meine liebe Freundin, die gleich um die Ecke wohnt, hat vorgeschlagen, dass ich »häufiger verreisen« in die Liste aufnehmen sollte, aber ich bin alt genug, um zu wissen, dass man mit Reisen nirgendwohin kommt – auch wenn das albern klingen mag. Ich habe schon oft gedacht, dass eine Reise mir guttun würde, und wenn ich dann beispielsweise in Timbuktu ankam und meinen Koffer öffnete, fand ich dasselbe alte Selbst darin vor, dem ich hatte entkommen wollen.
Deshalb bleibe ich jetzt lieber zuhause.
Ist vielleicht sonderbar, das Facelifting so weit oben auf die Liste zu setzen, aber bei der Silvesterparty sprach mich ein grusliger alter Mann an (ich schreibe »alt«, obwohl der vermutlich in meinem Alter war) und sagte in einem Tonfall, den er wohl für charmant und verführerisch hielt: »Sie erinnern mich an eine burmesische Prinzessin.« Mir war sofort klar, dass er mich nicht erotisch und exotisch und wunderschön fand. Sondern dass der verführerische Schlitzaugen-Eindruck darauf zurückzuführen war, dass meine Lider so tief herunterhängen.
Und wieso schreibe ich wieder Tagebuch? Das habe ich mit sechzig gemacht, aber nach einem Jahr wieder aufgehört, weil ich lächerlich glücklich war. Und weshalb soll man Tagebuch schreiben, wenn es einem blendend geht? Das ist doch furchtbar langweilig.
Montag: Superschöner Tag. Dienstag: Sonne scheint, fühle mich prima. Mittwoch: Mit Penny getroffen, sie war süß. Donnerstag: Große Summe für wohltätige Zwecke gespendet und höchst zufrieden gewesen. Freitag: Was hab ich doch für ein Glück, am Leben zu sein! Äh, ja und?
Außerdem hat man keine Zeit zum Tagebuchschreiben, wenn man glücklich ist, weil man nur schöne Sachen macht, wie Freunde zum Abendessen einladen, für Weihnachten Blumenzwiebeln in Töpfe pflanzen und sie unter die Treppe stellen, alte Folgen von Dick und Doof auf YouTube gucken und sich kringelig lachen, das Gästezimmer frisch streichen, überlegen, ob man Fotos sortieren und in Alben kleben soll (bitte beachten: Ich habe »überlegen« geschrieben) oder einfach mit einem lieben Menschen zusammensitzen und … na ja, eher wenig machen. Wenn man mit jemandem zusammen ist, möchte man eigentlich keine schönen Sachen unternehmen. Sondern eher nichts tun.
Als ich im grandiosen Alter von sechzig Jahren Archie, die große Liebe meines Lebens, wiederentdeckte, haben wir sehr häufig einfach nichts gemacht. Nach Archie war ich schon seit meiner Jugend verrückt, aber wir hatten jeweils andere Partner geheiratet und uns dann aus den Augen verloren. Nach meiner Scheidung von David und dem Tod von Archies Frau wurden wir ein Paar. Unsere Kuschelnächte waren fantastisch, aber wir verbrachten auch viel Zeit einfach nur mit Herumgammeln. Wenn wir bei seinem großen viktorianischen Landhaus in einer entlegenen Ecke von Devon durch den Park und über die Felder zu den Farmhäusern spazierten, sprachen wir häufig kein Wort. Dabei war unser Schweigen nicht von der scheußlichen vorwurfsvollen Sorte, bei der einer irgendwann nervös fragt: »Was ist los?« und der andere laut und pampig mit »Nichts!« antwortet. Diese Zeiten liegen zum Glück hinter mir! Nein, wir konnten auf freundlich entspannte Weise gemeinsam schweigen.
Manchmal plauderten wir ein bisschen und machten Pläne für die Zukunft oder beschäftigten uns mit Erinnerungen – ich erzählte ihm von meiner stressigen Zeit mit David (der heute einer meiner besten Freunde ist) und Davids stressiger Zeit mit mir, und Archie erzählte mir mit so viel Schmerz und Liebe vom Leben mit seiner verstorbenen Frau Philippa, dass ich unmöglich eifersüchtig sein konnte (wie auch, wenn sie ihn so glücklich gemacht hatte!).
Ab und an redeten wir über meinen Sohn Jack, seine Frau Chrissie und meinen hinreißenden und heiß geliebten Enkel Gene – und freuten uns gemeinsam über die Ehe seiner Tochter Sylvie mit ihrer Kinderliebe Harry.
Archie und ich hatten gleich zu Anfang beschlossen, dass wir nicht zusammenleben wollten – wir waren beide klug genug, nicht auf diese unsinnige Idee zu kommen, vor allem, da ich mich seit meiner Scheidung allein sehr wohlfühle. (Das kann man sich seltsamerweise schwer wieder abtrainieren. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, alleinige Herrscherin über die Fernbedienung zu sein, selbst am Steuer des Autos zu sitzen, das Abendessen nach Lust und Laune auszusuchen, die Spülmaschine nach Gusto einzuräumen und zu bestimmen, wann sie laufen muss, die Karotten nach Belieben zu schnippeln und darüber zu entscheiden, wo der Fisch gekauft und wann abends das Licht ausgemacht wird, dann möchte man diese Selbstständigkeit nicht mehr aufgeben. Manchmal denke ich, dass wir als Single wirklich eine andere Gestalt haben. Wenn wir nach einem Partner suchen, haben wir Ein- und Ausbuchtungen wie Puzzleteile und halten ständig nach dem Gegenstück Ausschau. Als Single hingegen sind wir glatt und rund und selbstgenügsam und können uns nicht mehr nahtlos in andere Persönlichkeiten einfügen. Es sei denn, jemand ist wie ein großes rundes Vakuum, was natürlich charakterlich wenig attraktiv ist.)
Aber Archie und ich verbringen oft die Wochenenden zusammen. Entweder er ist bei mir in meinem edwardianischen Haus mit Terrasse im Londoner Stadtteil Shepherd’s Bush, oder ich fahre zu ihm nach Devon – stets gerüstet mit Heizdecke, Daunenweste, Thermo-Unterwäsche, Leggings und Angoraschlüpfer. Archie ist – im Gegensatz zu mir – gut betucht, hasst es jedoch wie viele auf dem Land lebende Aristokraten, Geld für etwas so Dekadentes wie Heizung auszugeben. Die riesige, düstere Küche ist also mit modernsten Gerätschaften und makellosen Schieferarbeitsflächen ausgestattet, und in den Schlafzimmern hängen edle Chintzvorhänge (allerdings buchstäblich am seidenen Faden), aber das Haus selbst kommt allmählich herunter. Wenn ich dort mal koche, dann nur mit Mütze, Schal und Mantel; und ich habe mir aus Wollhandschuhen Fingerwärmer gemacht, die ich auch im Haus trage. Manchmal stelle ich sogar den Backofen an und lasse ihn offen, damit es ein bisschen wärmer wird. Ich bin eine fürchterliche Frostbeule – ich brauche mir bloß bei ein Grad minus die Hände vors Gesicht zu halten, um niemanden anzuniesen, dann kann ich sie hinterher mit Wasserdampf von meiner Nase ablösen. Mein Kreislauf ist in etwa so effektiv wie die Zirkulation eines Binnensees im Winter.
Ich sollte vielleicht stricken, aber nachdem ich für Gene, meinen Enkel, zur Geburt mit vier Nadeln ein Paar winzige Socken gestrickt habe, schaffe ich es in meinem ganzen Leben nicht noch einmal, einen Wollfaden um eine Nadel zu wickeln. Zu kompliziert!
Jedenfalls habe ich also eine ganze Weile nicht mehr Tagebuch geschrieben. Man macht das ja nicht nur als Selbsthilfe, sondern auch, weil man von der absonderlichen Hoffnung beseelt ist, dass in hundert Jahren jemand diese Texte entdeckt und man dann als der neue Mr Pepys gefeiert wird. Obwohl sich die Frage stellt, ob Computerdateien überhaupt bis ins nächste Jahrhundert erhalten bleiben. Vielleicht sollte ich mir einen Federkiel anschaffen und mit der Hand schreiben, anstatt auf meinem Laptop in die Tasten zu hauen. Jack hat mir das Ding zu Weihnachten geschenkt, damit seine arme alte Mama endlich in dem Jahrhundert ankommt, das ich immer das zwanzigste nenne, obwohl es längst das einundzwanzigste ist. Und ich bin wild entschlossen, mit diesem Gerät zurechtzukommen, obwohl die Tasten für Menschen mit winzigen Koboldfingern gemacht zu sein scheinen. Insgeheim bevorzuge ich immer noch den schrulligen alten Computer in meinem Arbeitszimmer.
Zurück zum Tagebuch. Man kann ihm alles anvertrauen, worüber man mit seinen Freundinnen nicht reden kann, man kann hemmungslos übertreiben oder zu seinen Lieben ganz gemein sein, ohne sie zu verletzen – es ist ein guter Kumpel oder Kamerad, wie wir in meiner Jugend zu sagen pflegten, die mir eine Million Jahre zurückzuliegen scheint, obwohl ich 1957 zehn Jahre alt war. Und einen Kumpel oder Kamerad brauche ich jetzt, da alles nicht mehr – hm, wie soll ich das ausdrücken? – so umwerfend und großartig ist wie in meinem sechzigsten Lebensjahr. Und obwohl ich es immer noch besser finde, nicht mehr jung zu sein, und mich für glücklicher denn je halte, hat sich doch nicht alles ganz so ideal entwickelt, wie ich mir das mit sechzig erhofft hatte.
Warum also bin ich nicht so munter und euphorisch wie früher? Zum einen, weil ich inzwischen fast fünfundsechzig bin – in ein paar Wochen, genau genommen –, was spürbar näher bei siebzig ist. Da tritt man unwillkürlich ein bisschen kürzer. (Wenn man älter wird und irgendetwas Größeres wie eine Operation oder auch nur eine ernsthafte Grippe verkraften muss, erreicht man danach nie wieder seine Ausgangsposition. Man geht quasi zehn Schritte zurück und nur neun wieder nach vorne.) Und ich habe mich unlängst auch bei einem Selbstgespräch ertappt. Ich wusste gar nicht, was für eine interessante Person ich bin, bevor ich anfing, mit mir selbst zu reden. Dennoch. Irgendwie hat es auch sein Gutes, diese zunehmende Verschrobenheit. Früher habe ich nie Sport gemacht, aber inzwischen halte ich mein Herz schon deshalb auf Trab, weil ich ständig durchs Haus renne, um meine Brille zu suchen, oder weil ich nicht sicher bin, ob ich das Badewasser abgestellt habe.
Das Hauptproblem ist Archie. Etwa vor zwei Jahren fiel mir auf, dass er sich sonderbar zu benehmen begann. Als Erstes vergaß er meinen Namen. Wir lachten noch gemeinsam über seine Tütteligkeit, aber dann entdeckte ich auf seinem Schreibtisch ein Blatt Papier mit bekannten Namen. Hardy (sein Hund). James (gemeinsamer Freund). Philippa (seine verstorbene Frau). Harry (sein Schwiegersohn). Mrs Evans (seine Haushälterin). Marie (das bin ich). Sylvie (seine Tochter). Gene (mein Enkel). Jack (mein Sohn). David (mein Exmann). Das Ganze machte den Eindruck einer Gedächtnisstütze. Offen gestanden war ich etwas pikiert, dass ich erst so weit unten auftauchte. Und die Handschrift sah so merkwürdig aus. Nicht so schwungvoll wie sonst. Ein bisschen unstet. Oder, um ganz ehrlich zu sein, zittrig. (Man muss im Alter unbedingt eine klare Handschrift behalten. Wenn ich etwas schreibe, hole ich vorher immer tief Luft, damit meine elegante Kursivschrift auch wirklich kraftvoll und entschlossen wirkt. Sie darf auf keinen Fall krakelig aussehen. Damit verrät man sich.)
Als Nächstes war ich zutiefst beunruhigt, als Archie einen extrem seltenen und teuren Rosenstock für seinen Garten kaufte und sich dann furchtbar aufregte, weil er einging. Zuerst war er der Meinung, Hardy hätte darauf gepinkelt, aber kurz bevor Archie einen aufgebrachten Brief an die Gärtnerei schreiben konnte, die den Rosenstock geliefert hatte, kam ich im Garten daran vorbei und bemerkte ein Stück Plastik an den Wurzeln. Und mir wurde klar, was passiert war. Archie hatte die Plastikfolie am Wurzelballen nicht entfernt! Benimmt man sich so, wenn man noch alle Tassen im Schrank hat? Ich glaube nicht. Und es handelt sich hier um einen Mann, der für seine Rosen Preise gewonnen hat, einen Mann, der so besessen war von seinem Garten, dass er sogar den Boden eigenhändig zwei Spatenblätter tief umgegraben hat. Und wer das mal gemacht hat, weiß, was für eine Schinderei es ist.
Und seit der Geschichte mit dem Rosenstock haben sich noch andere erschütternde Dinge ereignet. Neulich zum Beispiel kehrte Archie nach einem Einkaufsbummel in London mit einem nagelneuen Lodenmantel zurück. Viele Leute würden nichts Besonderes daran finden, dass sich jemand einen Lodenmantel kauft. Warum auch nicht? Das sind warme, grüne, solide Mäntel. Aber ich kenne Archie und weiß, dass er kein Lodenmantel-Typ ist. Nur eine ganz bestimmte Art von Männern mag Lodenmäntel, und Archie ist keiner von denen. Er gehört zu der Sorte, die abgewetzte Anglerjacken aus der teuren Savile Row trägt. Er besitzt nicht eine einzige Jacke ohne Lederflicken auf den Ellbogen. Außerdem sieht es ihm gar nicht ähnlich, sich überhaupt etwas Neues zuzulegen, weil er wie ich einer Generation entstammt, die kein Geld für neue Dinge verschwendet, wenn man noch etwas Altes im Schrank hängen hat, das geflickt werden kann. Ich bin durchaus im Stande, mit einer Haarnadel die klebrigen Restbestände eines Lippenstifts aus der Hülse zu kratzen und sie mir mit den Fingern auf den Mund zu schmieren, anstatt loszuziehen und Ersatz anzuschaffen. Und ich werfe auch niemals die Reste eines Hühnchens weg. Ich koche sogar noch die Knochen aus und mache Bouillon daraus. Einmal habe ich es geschafft, ein Huhn zehn Tage lang zu strecken. Mir hängt aus unserer Kindheit immer noch die Erfahrung von Entbehrung an. Den Gürtel enger schnallen und flicken.
Als mein Sohn neulich kurz vor Weihnachen bei mir übernachtete – sein Wagen gab in Shepherd’s Bush den Geist auf, als Jack völlig übermüdet von einer New-York-Reise zurückkehrte, und so kam er bei seiner guten alten Mom unter –, berichtete er morgens, er habe im Prinzip nicht schlecht geschlafen, sei aber von einem Wulst in der Mitte des Bettlakens geplagt worden. Ich erklärte ihm, dass ich mich in einer bedrohlichen Rezession in den Siebzigern an eine Methode meiner Mutter erinnert hatte: durchgelegene Laken in zwei Teile schneiden, die kaputten Teile nach außen klappen und das Ganze dann in der Mitte wieder zusammennähen. Bewährte Methode aus Kriegszeiten. Jack gab ein Schnauben von sich, das ebenso amüsiert wie genervt klang.
»Mom!«, sagte er. »Du magst ja pleite sein, aber neue Laken kannst du dir doch sicher leisten, um Himmels willen! Kauf dir welche! So was kostet nicht mehr als einen Zehner! Ich hab jetzt wahrscheinlich tagelang einen roten Streifen auf dem Rücken! Was wird Chrissie denken?«
Aber ich schweife ab. Zurück zu Archies Lodenmantel.
»Der ist aber schick!«, sagte ich völlig verlogen, als ich ihn vorgeführt bekam; Archie war übers Wochenende bei mir und hatte den Mantel herabgesetzt in der Regent Street gekauft. Er war so grün wie ein Billardtisch, hatte eine schmale Lederpaspel am Kragen, eine dünne Kette anstelle eines Kragenknopfs und am Rücken eine aufklappende Falte. Die Knöpfe hatten die Form kleiner Fässer, und – das Allerschlimmste – an den Schultern hatte er breite Klappen im Stil des Sherlock-Holmes-Mantels. Komische Teile. Ein Mann mag so groß sein, wie er will, in so einem Ding wirkt er garantiert gut einen Kopf kleiner. Und irgendwie war viel zu viel Stoff an diesem Mantel. Er war etwas zu lang – auch die Ärmel –, und Archie sah darin aus wie eine Kreuzung aus einem kleinwüchsigen Hollywood-Millionär und einem Insekt. Und zwar einem von der riesigen Sorte, wie sie im Regenwald vorkommen. Wenig vorteilhaft.
»Gefällt er dir?«, fragte Archie während einer ziemlich misslungenen Drehung. »Ich fand, er hat alpinen Charme.«
»Auf jeden Fall«, antwortete ich, obwohl ich keine Ahnung habe, was alpiner Charme sein soll. Vermutlich eine Menge dicker Stoffschichten zwecks Wärme und als Polster, wenn man im Schnee ausrutscht und aufs Gesäß fällt. Und wieso legte Archie plötzlich Wert auf alpinen Charme, obwohl er doch sonst Kälte gar nicht spürte? Vielleicht merkte er nun endlich, dass es in seinem Haus immer eiskalt war. Vielleicht wollte er den Mantel zum Kochen anziehen.
Jedenfalls trug er diesen elenden Lodenmantel die ganze Zeit, während er bei mir war. Und bevor er nach Devon zurückfuhr, sagte er zu mir: »Ich liebe diesen Mantel! Ich will mir einen Bart wachsen lassen, das passt dazu!« Und dabei gab er das merkwürdigste Lachen von sich, das ich je gehört habe. Da wusste ich endgültig, dass etwas überhaupt nicht stimmte, und es lief mir kalt den Rücken herunter.
Ich meine, ich weiß, was Archie von Bärten hält. »Die einzigen Männer, die mit Bart gut aussahen, waren George V. und Edward VII.«, hatte er einmal gesagt. »Nur schwache Männer oder Schurken tragen Bärte.«
Deshalb mache ich mir schreckliche Sorgen.
4. Januar
Habe den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer betrachtet und kann Dreikönige kaum erwarten. Der Baum sieht ziemlich trist aus, nachdem er seinen Zweck erfüllt hat und keine Geschenke mehr darunter liegen. Außerdem braucht das kleine Zimmer eine gute Beleuchtung, und die Lichterkette vom Baum reicht nicht aus. Vielleicht packe ich ihn einfach schon vorher weg. Das darf ich ja keinem erzählen, aber letztes Jahr habe ich mir einen falschen Weihnachtsbaum angeschafft. Ich konnte es nicht ertragen, monatelang Nadeln wegzufegen. Und keiner hat es gemerkt! Der Geruch war natürlich anders, aber Christbäume riechen schon seit Jahren nicht mehr wie Christbäume. Oder lässt mein Geruchssinn nach? Unechte Weihnachtsbäume sind jedenfalls sehr befriedigend. Nach Gebrauch klappt man sie zusammen wie einen Regenschirm und stopft sie bis nächstes Jahr ganz hinten in den Schrank.
Heute Morgen habe ich meine liebe alte Freundin Penny angerufen.
Während wir redeten, kam ich auf Archies Mantel zu sprechen.
»Ich mache mir wirklich Sorgen«, sagte ich. »Archie hat meinen Namen vergessen, einen Rosenstock mit Plastiktüte am Wurzelballen eingepflanzt, einen Lodenmantel gekauft, und jetzt will er sich auch noch einen Bart wachsen lassen. Ich glaube, er bekommt Alzheimer.«
Penny zeigte sich verständnislos. »Immer musst du schwarzsehen«, erwiderte sie strafend. »Wir vergessen doch alle mal Namen, um Himmels willen! Und warum darf sich ein Mann keinen neuen Mantel kaufen? Den Bart will er sich vermutlich wachsen lassen, weil er keine Lust mehr aufs Rasieren hat! Viele Männer tragen aus diesem Grund einen Bart. Wollen sich nicht mehr mit Rasierseife und Streichriemen herumplagen.«
»Aber er hat einen Elektrorasierer!«, wandte ich ein.
»Ach, sei doch nicht albern, Marie«, sagte Penny ärgerlich. »Archie ist einer der klügsten alten Knaben, die ich kenne. Alzheimer! So ein Blödsinn! Ganz ehrlich, du bist so überempfindlich. Du bekommst bestimmt Alzheimer. Du weißt ja, dass Paranoia zu den ersten Symptomen gehört. Außerdem«, sie holte zum vernichtenden Schlag aus, »konntest du es noch nie ertragen, wenn Leute Sachen tragen, die dir nicht gefallen. Du bist ein richtiger Kontrollfreak.«
Also, wenn man mich als Kontrollfreak bezeichnet, kriege ich Zustände. Vor allem wenn das hoffnungslos wirrköpfige, unordentliche, angeblich »spontane« Menschen wie Penny tun. Nur weil ihr Leben das reinste Chaos ist und meines einer alphabetisch geordneten Sammlung von Aktenordnern gleicht, beschimpft sie mich als Kontrollfreak. Ich selbst sehe mich natürlich nicht so. Sondern als eine Person, die ihr Leben geregelt bekommt, die Geburtstage von Freunden im Kopf hat, alle fünf Jahre die Bäume im Garten beschneiden lässt, Kleider und Röcke im Schrank getrennt aufhängt, in jedem Zimmer einen Rauchmelder hat und an Weihnachten den Müllmännern, dem Zeitungsjungen und dem Milchmann einen Zehn-Pfund-Schein mit einer Karte in einem Briefumschlag überreicht. Und sie dabei mit Namen anspricht, möchte ich noch hinzufügen. Im Gegensatz zu anderen Leuten – wie beispielsweise Penny –, die immer vergisst, den Müllmännern etwas zukommen zu lassen, und sich dann wundert, wenn die den Abfall in ihrem Vorgarten verteilen.
9. Januar
Dreikönige ist nun endlich vorbei, und das Wohnzimmer befindet sich in normalem Zustand. Kein Weihnachtsbaum, keine Girlanden, keine Grußkarten mehr weit und breit. Habe eine Stunde gebraucht, um alle Weihnachtsspuren zu tilgen, und bin fast von der Leiter gefallen, als ich eine Lichterkette abmontiert habe, aber zum Glück ist jetzt alles erledigt. Als ich die Karten vom Kaminsims pflückte, stieß ich auf eine sehr sonderbare mit der Aufschrift: »Die herzlichsten Wünsche von Angie, Jim, Bella, Perry und Quietschie. Weiß nicht, ob Paps Dir schon von unserem Neuzugang berichtet hat. Er ist so süß! Du musst uns bald besuchen kommen und ihn kennen lernen! Ruf uns an! Alles Liebe …«
???
Eine andere war mit »Anne« unterzeichnet, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, um welche Anne es sich handelt. Und ein paar Leute hatten so krakelig unterschrieben, dass ich ihre Namen nicht mal entziffern konnte.
Heute Früh hat Jack angerufen und mich für diesen Sonntag zum Lunch eingeladen. Das finde ich sehr bedrohlich. Die meisten normalen Mütter wären begeistert, von ihrem Sohn zu hören, und normalerweise würde ich entzückt hinrasen und für alle Geschenke mitbringen, aber irgendetwas in seiner Stimme machte mich extrem misstrauisch. Ich glaube, je älter wir werden, desto hellhöriger werden wir für Stimmklänge – eine Art Radar. Was Stimmen angeht, habe ich bestimmt inzwischen unsichtbare Antennen im Stil von Schneckenfühlern. Sogar am Telefon weiß ich auf Anhieb, ob Leute froh oder ärgerlich, krank oder gesund, neidisch, vorwurfsvoll oder gelangweilt sind. Manchmal wäre es mir lieber, ich wäre nicht so empfindsam. Ich irre mich nämlich häufig und bin dann sicher, dass jemand furchtbar wütend auf mich ist, obwohl die betreffende Person lediglich ihre Hausschlüssel verlegt hat.
Diese Einladung zum Mittagessen erregte jedenfalls nicht nur wegen Jacks Tonfall mein Misstrauen, sondern auch weil ich normalerweise bei Jack zu Abend esse, wenn Gene bei mir war und ich ihn heimbringe. Mittagessen ist vollkommen außer der Reihe.
Und ich horchte erst recht auf, als Jack sagte, sie wollten mir etwas erzählen. Es ist etwa dasselbe Gefühl, wie wenn der Direktor der Schule, an der ich unterrichtet habe, verkündete, er wolle »kurz mit mir sprechen«. Ob es mit Jacks mysteriöser New-York-Reise neulich zusammenhängt? Oder mit Chrissie? Sie meinte, die Reise hätte berufliche Gründe gehabt.
Um meine Sorgen zu vertreiben, ging ich in die Küche und fing an zu kochen wie eine Irre – Penny hatte mir ein Rezept für Zitronenteekuchen gegeben, den ich jetzt backen und dann zu Jack mitnehmen wollte. Wenn man allein lebt, hat man solche Sehnsucht, für andere Menschen zu kochen, fürsorglich zu sein, sie zu nähren! Ich denke, deshalb wenden sich ältere Menschen so gerne ihrem Garten zu. Da sie sich nicht mehr um Kinder kümmern können, gehen sie raus zu ihren Blumen und fragen sie, ob sie noch Wasser brauchen und ob sie gut geschlafen haben, und sagen: »Ich halte es nicht für eine gute Idee, wenn du dich dorthin neigst, lehn dich doch mal eine Weile an diesen Stock, damit du schön gerade wirst, ja? Und bist du wieder von diesen Kuckuckslichtnelken belästigt worden? Keine Sorge, ich kümmere mich darum … bitte schön, ausgerissen! Alle weg! Geht’s jetzt besser?«
Als ich gerade den Kuchen aus dem Ofen holte, hörte ich, wie jemand die Haustür aufschloss – Michelle, meine französische Untermieterin, die aus den Weihnachtsferien zurückkam. Vor einigen Jahren hat sie sich in meinen polnischen Putzmann Maciej verliebt, und die beiden zogen zusammen nach Frankreich. Aber jetzt ist er wieder in Polen, und Michelle ist hier, um ihr Englisch aufzufrischen, das in der Tat einige Auffrischung gebrauchen kann. Und sie hat mir schlauerweise den Vorschlag gemacht, Maciejs Stelle zu übernehmen, damit sie für ihr altes Zimmer weniger Miete zahlen muss, was mir sehr recht ist. (Ich habe nämlich überhaupt keine Lust mehr auf Putzen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man den Boden im Wohnzimmer zum hunderttausendsten Mal gesaugt hat und sich plötzlich sagt: »Es reicht! Jetzt ist jemand anderer dran!«)
Michelle umarmte und küsste mich herzlich – sie ist für mich fast wie eine Tochter oder zumindest eine Nichte –, und ich half ihr, die großen Koffer nach oben zu schleppen. Als Willkommensgeste fragte ich sie, ob wir zusammen ein Süppchen essen wollten.
»Oh, Garten sieht aus triste«, sagte sie, als sie zum Fenster rausblickte.
»Stimmt«, erwiderte ich. Muss für den Frühling ein paar Pflanzen bestellen.
13. Januar
Mittagessen bei Jack und Chrissie liegt hinter mir. Wir aßen in der Küche, Chrissie hatte einen riesigen Wolfsbarsch zubereitet, der köstlich schmeckte, und ich überreichte ihr meinen Kuchen. Alles war sehr schön, und danach zeigte mir Gene, der jetzt fünf ist, Bilder, die er von uns allen gemalt hatte. Chrissie sah wie eine wunderschöne Fee aus, Jack etwas verrückt, aber sehr groß und männlich, und ich komplett plemplem und halslos, dafür aber mit zerzausten Haaren, gigantischer schiefer Brille und irrem Blick.
Als Gene mir die Bilder zeigte, legte er mir seine kleine Hand auf den Arm. »Ich hab dir viele Falten gemalt, Oma«, sagte er und zeigte auf Striche unter jedem Auge.
»Danke, mein Schatz!« Ich gab ihm einen liebevollen Kuss. »Wenn du groß bist, wirst du bestimmt alle Mädchen bezaubern! Aber warum hast du das gemacht?«
»Daran sieht man, dass du eine Oma bist«, erklärte Gene. »Hab ich in Comics gesehen.«
»Das ist aber wenig schmeichelhaft«, warf Chrissie lachend ein. »Oma hat gar nicht so viele Falten unter den Augen!«
»Hm.« Gene starrte mich prüfend an. Dann murmelte er verdrossen: »Jetzt muss ich noch ein Bild von dir malen« und tappte zu der Schublade mit seinen Malsachen.
Beim Nachtisch – meinem köstlichen Zitronenkuchen mit Sahne – erkundigte ich mich nach der New-York-Reise, und da geriet das Gespräch etwas ins Stocken, und Chrissie stand auf, um den Abwasch zu machen. In einem Film hätte an dieser Stelle Unheil verkündende Musik mit düsteren Geigen und bedrohlichem Getrommel eingesetzt.
Jack blickte auf den Tisch, schob dann seinen Stuhl zurück und sagte: »Ja, wir wollten dir etwas erzählen, Mom.«
In diesem Moment wusste ich natürlich, was kommen würde, und mir wurde ganz anders. Jack brauchte kein weiteres Wort mehr zu sagen. Plötzlich ergab alles Sinn, als hätte ich es die ganze Zeit schon gewusst, mir aber selbst nicht eingestanden. Man hatte Chrissie eine Stelle in New York angeboten, und die drei würden nach Amerika ziehen.
»Für wie lange?«, fragte ich so leichthin wie möglich.
»Nun zieh bloß keine voreiligen Schlüsse!«, erwiderte Jack gereizt. »Wir haben doch noch gar nichts Konkretes gesagt!«
»Man hat Chrissie eine Stelle in New York angeboten«, sagte ich.
»Woher weißt du das?«, fragte Chrissie von der Spüle und drehte sich zu mir um.
»Manchmal weiß man so etwas einfach«, antwortete ich. Obwohl ich eigentlich nicht wusste, woher ich es wusste. Es war mir einfach klar.
»Na ja, das stimmt schon. Aber du musst dir deshalb keine Sorgen machen.«
»Keine Sorgen machen?«, wiederholte ich. »Ich werde euch nie mehr wiedersehen!«
In meinem Wahn sah ich die drei schon für alle Zeiten in New York und dann womöglich noch weiter weg in Kalifornien, und Gene würde mit amerikanischem Akzent sprechen, einen Bürstenschnitt haben und andauernd eine Basecap mit dem Schirm nach hinten oder seitwärts tragen und Kaugummi kauen. Und falls wir uns doch einmal treffen konnten – mit etwas Glück alle zehn Jahre –, würden wir uns alle nicht mehr erkennen.
»Ganz ehrlich, du tust ja so, als würden wir bis in alle Ewigkeit dort bleiben! Und das, bevor wir selbst uns dafür entschieden haben!«, meinte Jack vorwurfsvoll.
Mir wurde schlagartig die ganze Tragweite dieses Plans bewusst, und ich brach in Tränen aus.
»Aber ihr werdet alle dauernd ›wow‹ sagen!«, hörte ich mich jammern.
»Was war das, Mom?«, fragte Jack, beugte sich vor und nahm meine Hand. »Was werden wir dauernd?«
»Wow«, brachte ich schniefend und schluchzend hervor. »Ihr werdet ständig ›wow‹ sagen.« Aus irgendeinem Grund fand ich das besonders entsetzlich.
Jack brach in Gelächter aus, und Chrissie tat es ihm gleich. »Ganz bestimmt nicht«, versicherte Jack mir beruhigend, und ich merkte, wie albern diese Vorstellung war, und fing selbst an zu lachen. Chrissie und Jack waren besonders lieb zu mir und reichten mir Taschentücher, und Gene kam angelaufen und verkündete, er könne jetzt das Alphabet. Jack fragte ihn: »Was fängt denn mit Gee an? Oder vielmehr mit G?«
»Gott«, antwortete Gene ernsthaft.
»Und mit A?«, fragte Jack.
»Apfel.«
»Und mit W?«, fragte Jack und raunte mir zu: »Jetzt pass auf.«
»Waupe«, sagte Gene.
»Du musst dir wirklich keine Sorgen machen«, sagte Jack dann zu mir. »Wir fahren erst im Mai … und bleiben höchstens ein Jahr weg …«
»Aber vielleicht auch länger«, murmelte ich kläglich und versuchte krampfhaft, mich zusammenzureißen. »Vielleicht bleibt ihr eben doch für immer da, und ich seh euch nie mehr wieder …« Es ging schon wieder los mit den Tränen.
»Na gut, ich will dir nichts vormachen – es besteht eine geringe Chance, dass wir länger bleiben. Aber das hängt davon ab, ob es uns dort gefällt oder nicht. Und die Vorstellung, dass wir ständig ›wow‹ sagen, ist so abscheulich, dass wir bestimmt bald wiederkommen.«
Gene trat zu mir und legte mir seine kleine Hand auf den Arm.
»Warum weint Oma?«, fragte er seinen Vater.
»Sie ist traurig, weil wir weggehen«, antwortete Jack und sagte zu mir: »Aber wirklich, Mom, wir werden uns ganz oft sprechen.«
»Ganz oft sprechen«, wiederholte Gene. »Mach dir keine Sorgen, Oma.«
»Ist schon gut«, sagte ich, um Fassung bemüht. »Du wirst es bestimmt dort toll finden.«
»Und es muss ja auch gut laufen«, fügte Chrissie hinzu. »Vielleicht schmeißen die mich nach ein paar Monaten wieder raus.«
»Und ich geh auf eine amerikanische Schule!«, sagte Gene und zupfte mich am Ärmel. »Schau mal, Oma, schau mal, der Dino, den ich gemalt hab! Guck mal, siehst du seine Zähne? Und das bist du – du reitest auf ihm! Und du hast gar keine Striche mehr unter den Augen!«
»Ach, wie hübsch, mein Schatz«, sagte ich, wild entschlossen, mich jetzt nicht heulend und jammernd auf dem Boden zu wälzen. Ich musste mich unbedingt bemühen, dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen. »Das ist doch eine großartige Chance für euch!«
»Ich weiß, dass wir dir fehlen werden, Mom, und du wirst uns fehlen, aber du kannst uns besuchen, und wir kommen auch mal her, so weit ist es ja nicht. Außerdem gibt es Skype.«
Chrissie vermarktet Kosmetika, und offenbar hatte man ihr eine enorm gute Stelle angeboten. Da ich mein Leben lang nur Wasser und Seife benutzt habe, kann ich diese Besessenheit mit Schönheitspflege nicht nachvollziehen, aber Chrissie sieht immer so umwerfend aus, vielleicht hat das Zeug ja auch sein Gutes. Ich persönlich denke, dass für eine gute Haut die Gene verantwortlich sind, aber das sage ich Chrissie natürlich nicht. Sie ist so reizend und schenkt mir zum Geburtstag immer unfassbar teure Cremes, aber offen gestanden, reiche ich die umgehend an Michelle weiter, die ihr Glück dann immer kaum fassen kann.
Jedenfalls gab ich mir wirklich Mühe, mir einzureden, dass dieses Angebot eine tolle Chance für die Familie war. Jack würde auch dort Arbeit finden, und Gene würde aufregende Sachen erleben, und ein bisschen freute ich mich für die drei. Aber andererseits hatte ich solche Angst und war furchtbar traurig und musste deshalb unbedingt kurz nach der ganzen Szene aufbrechen.
»Wenigstens nicht Australien«, sagte ich mir auf der Heimfahrt. Ich musste mehrmals anhalten, weil meine Brillengläser vom Weinen beschlugen. »New York ist ein Katzensprung. Da kann man fast für einen Tag hinfliegen.« Und dann: »Außerdem gibt es Skype.«
Aber was ist Skype überhaupt? Ich weiß, dass man sich damit irgendwie sehen kann, aber das ist auch alles. Muss James fragen.
Als ich um fünf zuhause war, verstieß ich als Erstes gegen einen meiner guten Neujahrsvorsätze und goss mir ein riesiges Glas Wein ein; dazu musste ich eine neue Flasche aus dem Elefantenschrank holen, in dem ich meine Alkoholvorräte aufbewahre. Ich fühlte mich so elend, dass ich laut singen musste, als ich mich dem Schrank näherte. Elefantenschrank? Da spielen Gene und ich immer unser Elefantenspiel. Für Kinder sind ihre Eltern einfach ihre Eltern – Mama und Papa. Aber ich glaube, ihre Großeltern halten sie für große Kinder, mit denen man spielen kann.
Jedenfalls – das Elefantenspiel. Dabei versteckt Gene sich in diesem großen Schrank unter der Treppe, während ich überall herumlaufe und laut sage: »Ich glaube, hier ist irgendwo ein Elefant! Ach herrje, da ist Elefantenkacka auf dem Boden, das ist ja eklig … hier muss irgendwo ein Elefant stecken … ein echt stinkiger Elefant.« An dieser Stelle ist aus dem Schrank immer lautes Gekicher zu vernehmen. »Aber ich höre gar keinen Elefanten, also ist vielleicht doch keiner da …«
In dem Moment gibt Gene jedes Mal eine Art Trompetenlaut von sich, und ich sage: »Lieber Himmel, war das vielleicht ein Elefant?« Ich schaue hinters Sofa und sage: »Hier ist kein Elefant!« Ich sehe hinter dem Sessel nach und sage: »Hier ist auch kein Elefant!« Gene trompetet während der ganzen Zeit und flüstert schließlich ungeduldig: »Schau in den Schrank, Oma!« Woraufhin ich sage: »Komisch, ich habe noch nie erlebt, dass ein Elefant mich Oma nennt, da werd ich doch mal nachsehen.« Schließlich mache ich die Schranktür auf, Gene springt raus, wir lachen beide, und er sagt: »Nochmal! Diesmal bist du der Elefant!« Dann verstecke ich mich hinter der Schranktür und gebe selbst Elefantengetröte von mir …
Oje, jetzt heule ich schon wieder. Auf meine Tastatur.
Später:
OGottdieTränenhabenmeineTastaturruiniertdieLeertastefunk
tioniertnichtmehr.IchmussversuchensiemitmeinemFöhnzu
trocknen.
15. Januar
MEIN GEBURTSTAG!
Nun bin ich schon fünfundsechzig, aber an meinem Geburtstag nach wie vor so kindisch aufgeregt wie mit drei Jahren. Ich höre förmlich noch mein kokettes Kinderstimmchen und sollte also vielleicht lieber sagen: »Is’ mein Burzeltag!«
Penny schaudert es, wenn ihr Geburtstag naht, und sie sagt, sie kann das Älterwerden nicht ertragen. Aber ich finde den Tag immer noch wunderbar. Ich weiß noch, wie ich mit meinem lieben Freund Hughie über den Tod sprach und wie er sagte: »Inzwischen sind so viele gute Freunde über den Jordan gegangen, ich habe nichts dagegen, ihnen zu folgen.« So geht es mir auch. Junge Menschen werden panisch beim Gedanken an den Tod, was auch sinnvoll ist, denn sie haben keine Vorstellung davon und fürchten sich. Aber ihnen ist nicht bewusst, dass der Tod mit zunehmendem Alter immer weniger beängstigend wird, bis man – wie ich es bei sehr alten Leuten oft erlebe – heiter und gelassen sagt: »Ich hatte ein gutes Leben. Wenn ich morgen nicht mehr aufwache, geht davon die Welt nicht unter.«
Der Biolehrer von meiner ehemaligen Schule hat mir gerade eine E-Mail geschickt, was ich sehr anständig von ihm finde (entschädigt mich für das widerwärtige Gebräu, das er uns bei der Abschiedsfeier vorgesetzt hat), eine alte Schulfreundin aus Kindertagen hat sich auch an meinen Geburtstag erinnert, und ich bekam wieder eine Karte von Angie, Bella, Perry, Tim und Quietschie, auf der steht: »Wünschen Dir einen tollen Geburtstag! Komm uns bald besuchen! Alles Liebe!«
Habe den Umschlag aus dem Mülleimer rausgefischt, aber der Absender war verwischt. Also nochmal: ???
Nachdem der Briefträger da war, zählte ich zwölf Karten. Auf der von Penny war eine mit Kerzen gespickte Torte abgebildet, unter der stand: »Je mehr Kerzen auf der Torte, desto schärfer bin ich!« Aber am liebsten mochte ich die Karte mit dem Hasen, der auf dem Rücken liegt, während lauter kleine Hasen auf ihm herumklettern. »Zu alt zum Rumhopsen, zu jung zum Aufhören«, lautete die Bildunterschrift. Auch von Gene habe ich eine Karte bekommen; er hat mir eine Rakete gemalt, die in den Weltraum fliegt, und in einem kleinen Kreis mit einem Pfeil nach unten steht »Weld«. Als er mich anrief, sagte er: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Oma, ich hab dich lieb! Hast du meine Karte gekriegt? Wir haben Pfefferminzpralinen für dich gemacht, und ich hab dir eine aufgehoben.«
Dann übernahm Jack und fragte, ob alles in Ordnung sei, und ich log nach Strich und Faden und behauptete, es ginge mir prima. (Man glaubt ja, der Mutterjob sei zu Ende, wenn die Kinder das Haus verlassen, aber mir ist inzwischen klar geworden, dass man für den Rest seines Lebens die Pflicht hat, den erwachsenen Kindern zu versichern, es ginge einem bestens und man hätte furchtbar viel zu tun und jedes Telefonat mit den Worten »muss jetzt los!« zu beenden. Dann sind sie erleichtert. Ist natürlich schauderhaft anstrengend, diese lächerliche Show zu veranstalten, aber unabdingbar.)
Penny hatte James und mich abends zum Geburtstagsessen eingeladen, und James kam vorher noch auf einen Tee zu mir, um ein bisschen zu plaudern. James – oje, so kompliziert. James ist schwul und mein Exschwager, und er war viele Jahre mit Hughie, einem guten alten Freund von mir und Kumpel von Archie, zusammen. Hughie starb vor fünf Jahren, und James hat bislang keinen neuen Partner gefunden, und das ist alles furchtbar traurig. Aber ich freue mich immer, ihn zu sehen. James ist groß und dunkelhaarig und erst vierundfünfzig und hat sich gut gehalten. Man käme nie auf die Idee, dass er schwul ist, bis er den Mund aufmacht und »Schätzchen« und »mein Engel« und dergleichen kreischt. Absolut reizend. Ich wünschte, Heteromänner wären auch öfter so.
»Du siehst umwerfend aus, meine Herzenskönigin!«, sagte James strahlend, als er mich mit einem großen Blumenstrauß begrüßte. »Wie schaffst du das bloß? Hast du was machen lassen? Hast du bestimmt, du freches Ding, und du hast es vor mir geheim gehalten.« Er strich Haare an meinem Ohr beiseite und betrachtete die Haut dahinter. »Ich suche nach verräterischen Narben«, erklärte er dabei.
»Wie kannst du es wagen!«, erwiderte ich geschmeichelt. Ist es nicht komisch, dass man sich auch dann furchtbar über so ein Kompliment freut, wenn man weiß, dass jemand wie gedruckt lügt? Ich bin völlig verrückt nach Komplimenten. Die Verkäuferin beim Bäcker an der Ecke braucht bloß »meine Liebe« zu mir zu sagen, und ich denke: »Ach, was bist du reizend und großartig, darf ich bitte zu dir nach Hause kommen und es mir da gemütlich machen?« Und das Gefühl habe ich sogar dann noch, wenn sie zur nächsten Kundin »meine Liebe« sagt. Wirklich seltsam.
»Ich zieh mal meine Schuhe aus«, sagte James. »Die sind sehr schmutzig.« Er bückte sich, und ich rief hastig: »Nicht ausziehen!«, was vermutlich sehr unhöflich war. »Ich sage doch immer wieder, dass man bei mir die Schuhe anlassen darf. Es macht mir nichts aus.«
Ich fordere die Leute aus zweierlei Gründen auf, bei mir die Schuhe anzulassen. Zum einen hasse ich es wie die Pest, wenn ich bei anderen Leuten aufgefordert werde, meine Schuhe auszuziehen. Ich meine, was hat es für einen Sinn, ein elegantes Outfit mit schrecklich unbequemen, aber hinreißenden Pumps zu vervollständigen, wenn man sie dann an der Haustür stehen lassen und den Rest des Abends plattfüßig herumtappen muss? Da komme ich mir immer wie die Gefängnisinsassen in den USA vor, denen man die Gürtel abnimmt, um sie zu demütigen. Es ist erniedrigend, keine Schuhe tragen zu dürfen. Deshalb fühlt man sich auch so schlimm, wenn man sie auf Flughäfen ausziehen muss. Wie ein kleines Kind.
Zum anderen möchte ich nicht, dass Menschen ohne Schuhe in meinem Haus mit schwitzigen, müffelnden Füßen feuchte, übel riechende Abdrücke auf meinen Teppichen hinterlassen. Aber das sage ich natürlich nicht.
James folgte mir beschuht in die Küche, und ich kochte Tee.
»Komisch, dass du gerade nach Narben Ausschau gehalten hast«, sagte ich, als ich nach dem Tee griff. James beugte sich über mich und zog einen Beutel grünen Tee heraus anstelle des indischen, den ich ihm geben wollte. (»Der hat mehr Antioxidantien, Schätzchen«, sagte er dabei.) »Ich denke tatsächlich darüber nach, mir selbst zum Geburtstag ein Facelifting zu schenken«, fuhr ich fort. »Was meinst du? Du machst mir wirklich liebe Komplimente, aber hast du dir mal meine Lider angeschaut? Ich seh doch aus wie ein Basset. Und diese Eidechsenhaut unter meinem Kinn – die dient keinem Zweck, oder? Ich meine, ich kann nicht mein Essen darin herumtragen wie ein Pelikan oder so.«
James trat einen Schritt zurück, verengte die Augen und betrachtete mich prüfend. »Das Problem, mein Engel«, stellte er schließlich fest, »ist, dass du zwar hinreißend aussiehst, ein bisschen Straffung hie und da aber jeden schöner macht. Wenn du das Geld dafür hast und die Schmerzen aushalten kannst, mach es doch. Aber such dir jemand Guten, ja? Du willst ja nicht aussehen wie diese kalifornischen Monster. Als ich zum letzten Mal in L. A. war, hab ich eine alte Diva getroffen, deren Haut so gedehnt wurde, dass sie an der Nase aufgeplatzt war.«
Er zog seine Gesichtshaut so weit nach hinten, dass er wie ein Astronaut beim Start aussah, und gab ein grusliges Gelächter von sich.
»Ich käme nie auf die Idee, das in Kalifornien machen zu lassen!«, erwiderte ich schockiert. »Ich will doch nicht aussehen wie Joan Rivers. Nein, ich möchte ein englisches Facelifting, ganz dezent, so dass die Leute nur sagen, dass ich so entspannt aussehe.«
»Aber willst du nicht, dass alle dich für jünger halten?«, fragte James. »Dass junge Männer nach dir lechzen?«
»Auf lechzende junge Männer lege ich wahrlich überhaupt keinen Wert«, antwortete ich schaudernd. Dann besann ich mich eines Besseren. »Na ja, gegen Lechzen wäre nichts einzuwenden, sofern es dabei bleibt. Nein, ich will das einfach, damit mich aus dem Spiegel nicht mehr etwas anschaut, das mich an eine suizidgefährdete Irre erinnert. Ich möchte da etwas Frisches und Munteres sehen.«
»Jemanden, der das Leben bejaht!«, ergänzte James.
»Man muss ja nicht gleich übertreiben«, erwiderte ich und spitzte die Lippen, während ich die Milch eingoss. »Wir wollen nicht komplett herumspinnen. Es würde schon reichen, sich morgens zu sagen: ›Geben wir dem Tag doch eine Chance, bevor wir das Handtuch schmeißen.‹ Jedenfalls – wenn ich mich wirklich liften lasse, würdest du mich danach abholen, mir eine Tüte über den Kopf ziehen und mich heimfahren?«
James meinte, ich wolle meine verlorene Jugend nachholen. Ich entgegnete, das sei Quatsch. Woraufhin er sagte, er hätte gar nichts dagegen, seine verlorene Jugend nachzuholen – je wilder, desto besser.
»Aber Applaus, Applaus für das Lifting«, fügte er dann hinzu. »Ich denke, du wirst fröhlicher aussehen. Das macht andere fröhlicher, wenn sie dich anschauen, und dann wirst du auch fröhlicher. Das ist wie ein Perpetuum mobile. Oder meine ich einen Teufelskreis?«
»Will ich nicht hoffen«, sagte ich. »Aber du verstehst jedenfalls, worum es geht.«
Trotz meines Gejammers und Gestöhnes und meiner Traurigkeit wegen des Umzugs der Familie bin ich dieser Tage eigentlich ziemlich fröhlich. Aber wenn ich in den Spiegel schaue, hängt alles an meinem Gesicht schlaff herunter. Die Haut hat ihre Elastizität eingebüßt. Das ist mir neulich aufgefallen, als ich beim Schminken die übliche Grimasse schnitt, die das Auftragen von Lidstrich unterm Auge erleichtert. Ich konnte so wild grimassieren, wie ich wollte – die Haut an den Augen ließ sich kein bisschen davon beeindrucken.
Bevor wir zu Penny aufbrachen, überreichte James mir einen Umschlag. »Das ist von Marion«, sagte er. »Ich habe sie gestern bei einer Spendenveranstaltung für diese neueste Katastrophe getroffen – irgendein Erdbeben. Sie ist die Schirmherrin oder so. Ganz ehrlich, sie ist so eine gütige Person. Das da ist jedenfalls dein Geschenk! Aber noch nicht aufmachen!«, fügte er hastig hinzu. »Ich möchte, dass Penny dein Gesicht sieht, wenn du ihn öffnest!«
Und mit verschwörerischem Grinsen nahm er den Umschlag wieder an sich.
Penny hatte ein köstliches Essen gekocht, und ich hatte Sekt mitgebracht, aber als Penny sich nach Jack erkundigte und ich Bericht erstattete, brach ich wieder in Tränen aus. Die beiden waren sehr lieb und meinten, ich solle mich doch nicht so aufregen, und James sagte: »Keine Sorge, ich komm jedes Wochenende mit Knet vorbei, und dann machen wir Männchen, und du kannst so tun, als sei ich Gene.« Penny meinte: »Mich kannst du in den Park ausführen und mir Gutenachtgeschichten vorlesen.« Und James fügte noch hinzu: »Und dann fliegen wir alle nach New York, und Penny und ich suchen uns tolle Männer, während du Lebkuchenmänner bäckst und mit Gene das Elefantenspiel spielst, und wir haben eine richtig schöne Zeit.«
»Ich könnte den Mann meiner Träume kennen lernen!«, kicherte Penny.
»Der einzige Mann unserer Träume, den wir noch kennen lernen werden, ist der Sensenmann«, äußerte ich, trocknete mir die Augen und setzte meine Brille wieder auf. Immerhin fühlte ich mich ein bisschen besser.
Dann machte Penny das Licht aus und stellte einen fantastischen Kuchen auf den Tisch, in dem so viele Kerzen steckten, dass man damit Archies Küche hätte beheizen können. James verkündete: »Marie will sich selbst zum Geburtstag ein Facelifting schenken!« Und Penny rief aus: »Unmöglich! Das kannst du dir doch gar nicht leisten!« Ich sagte, ich könnte meine beiden Vivien-Pitchforth-Gemälde verkaufen, und James fragte, wer denn das wohl sei, und ich antwortete, er sei ein Maler, der mich an der Kunstakademie unterrichtet hatte, und er hätte mir die Gemälde geschenkt, und sie seien vermutlich zweitausend Pfund pro Stück wert, und außerdem könnte ich die Brosche versilbern, die ich von Archie bekommen hatte …
»Du kannst doch die Brosche von Archie nicht verhökern!«, sagte Penny schockiert mit erstickter Stimme, weil sie sich gerade ein Stück Kuchen in den Mund gestopft hatte.
»Doch, kann ich wohl«, erwiderte ich. »Sie ist um die dreitausend Pfund wert, und außerdem ist sie abscheulich. Und in Shepherd’s Bush damit herumzulaufen ist ohnehin gefährlich.«
»Aber was wird Archie dazu sagen?«, fragte James.
»Ich denke, es wird ihm nichts ausmachen«, antwortete ich. »Unter anderem, weil er sich zurzeit kaum noch an etwas erinnert.«
»Marie glaubt, dass Archie Alzheimer hat«, erklärte Penny meine scheinbare Herzlosigkeit.
»Also irgendwas stimmt jedenfalls nicht«, sagte ich. »Heute Früh hat er mich angerufen, um mir zu gratulieren, und hat mich Philippa genannt! Der Name seiner verstorbenen Frau! Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich die Brosche verkaufen will. Sondern weil ich sie vor ein paar Jahren verlegt hatte, und Archie meinte, das sei nicht schlimm, es sei ein unsinniges Geschenk gewesen, weil sie viel zu wertvoll sei, um sie tragen, und falls sie wieder auftauchen würde, solle ich sie verkaufen und das Geld für etwas benutzen, was ich mir wirklich wünsche. Und sie ist wieder aufgetaucht. Deshalb denke ich, dass er nichts dagegen haben würde.«
»Wo hast du sie gefunden?«, fragte Penny.
»In meinem Schmuckkasten«, antwortete ich einigermaßen verlegen. »Du weißt doch, man sucht irgendwas wie verrückt und findet es nicht, und ein Jahr später ist es dann plötzlich da, wo man gesucht hat. Sehr sonderbar.«
»Ach, das hab ich ja ganz vergessen – jetzt musst du Marions Geschenk aufmachen.« James zog den Umschlag aus der Tasche und reichte ihn mir.
Ich betrachtete ihn. »James möchte, dass du mein Gesicht siehst, wenn ich ihn aufmache«, sagte ich zu Penny. Dann blickte ich James fragend an. »Es ist doch wohl kein Springteufel oder so etwas?«
»Nein, nein, nun mach schon auf«, sagte James, beugte sich gespannt vor und goss uns allen Sekt nach.
Ich öffnete den Umschlag. Er enthielt eine Karte. Darin lag ein Stück Papier. Ich las vor.
»Zertifikat für den Kauf einer Ziege durch Marion Parker für Marie Sharp als Geschenk an die afrikanische Gemeinde Ngawa in Swasiland. Danke, Marie, und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«
»Eine Ziege!«, sagte ich fassungslos.
»Das ist ja lieb!«, rief Penny entzückt und sah mich mit drolligem Ziegenblick an. »Ein tolles Geschenk!«
James wirkte eher vorsichtig.
»Das ist kein tolles, sondern ein scheußliches Geschenk!«, sagte ich aufgebracht. »Ich will nicht nur keine Ziegen nach Afrika schicken, ich bin sogar dagegen! Marion will so was machen! Ich habe ganz viel darüber gelesen. Entweder fressen diese Ziegen den Menschen dort das Grünzeug weg, oder aber die Leute essen das arme Vieh auf. Und derjenige, der die blöde Ziege bekommt, wird von allen anderen gehasst, weil sie selbst keine haben. Das Ganze ist absolut grauenhaft! Warum hat sie die Ziege nicht mir direkt geschenkt? Dann hätte ich wenigstens entscheiden können, an wen ich sie verschenken will!«
»Aber das ist doch Entwicklungshilfe«, wandte Penny ein. »Wie kannst du so undankbar sein? Und ganz ehrlich, Marie, du brauchst keine Ziege.« Sie stand auf, um etwas zu holen.
»Bald wird es in Afrika von Ziegen wimmeln, die Gutmenschen wie Marion dorthin schicken«, sagte ich. »Aber die Menschen in Afrika wollen keine Ziegen, sondern schnelle Autos, Computer, iPods oder Pads oder was auch immer, Fußballtrikots und Plasmabildschirme! Ziegen! Das ist doch, als würden uns die Afrikaner Röhrenradios, Kassettenrecorder oder mechanische Schreibmaschinen schenken! Schönen Dank auch! Und außerdem«, ich redete mich allmählich in Rage, »habe ich ja meine eigenen Spendenprojekte, wie zum Beispiel die rumänischen Waisenkinder. Und das Ganze ist auch so bevormundend. Als reißt man einem Kind einen Geldschein weg, den man ihm gerade geschenkt hat, und sagt, es müsse ihn den Armen spenden. Gott, Marion. Sie hat sich kein bisschen verändert, oder? Ich liebe sie wirklich von Herzen, aber ich weiß auch noch, was sie während unserer Schulzeit immer gesagt hat, wenn wir uns über Lehrer beklagt haben: Wir sollten froh sein, dass wir überhaupt zur Schule gehen durften, im Gegensatz zu all den armen Kindern auf der Welt. Und was soll ich ihr jetzt sagen? Danke, liebe Marion, dass du mich ungefragt zum Instrument für deine wohltätige Spende gemacht hast? Ich bin froh, dass du zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konntest? Ich werde im Gegenzug an deinem Geburtstag einen großzügigen Betrag an … an … was würde Marion rasend machen?«
»Die Konservative Partei?«, schlug James vor.
»Gute Idee, und dann wollen wir doch mal sehen, wie sie das findet! Ihr beiden dürft dann ihre Reaktion beobachten und mir berichten. Blöde Ziege!«
Das Ganze frustrierte mich zutiefst. Ich hätte mir das arme Vieh wenigstens gerne mal angeschaut, bevor es nach Afrika verschifft wurde, um dort in einer kleinen Gemeinde Hader und Zwietracht auszulösen. Vielleicht hätte ich es retten und bei mir im Garten halten können. Obwohl Pouncer davon wohl nicht begeistert gewesen wäre.
Dann bekam ich schlagartig ein schlechtes Gewissen. »Sag ihr aber um Himmels willen nicht, dass ich ihr Geschenk schrecklich finde, ja?«, bat ich James. »Ich weiß ja, dass sie es gut meint.«
»Keine Sorge. Das bleibt unser kleines Geheimnis«, beruhigte mich James.
»Das ist das Gute am Älterwerden«, sagte Penny, als sie mit einer Flasche Rioja an den Tisch zurückkehrte. »Man kann den Leuten alle Geheimnisse erzählen, und sie behalten sie für sich. Weil sie sich nämlich nicht mehr daran erinnern.«
»Haha«, sagte James trocken.
Später sangen wir ein paar Beatles-Songs, und dann torkelten James und ich glücklich und zufrieden nach Hause.
Auweh. Sekt und Rotwein. Daumenhalten für morgen.