Kapitel 24
Die folgenden Tage verbrachte Kaja mit der völligen erfolglosen Suche nach Sierra. Sie fand wohl Unmengen von Daten zu dem Ausdruck, sogar 110 Einträge im Telefonbuch doch sie schaffte es einfach nicht, die Suche mehr einzugrenzen. Dazwischen machte sie lange Spaziergänge und wälzte Ideen im Kopf oder ließ es vorsichtig einige Minuten lang zu, dass sie Tim vermisste. Dann stellte sie es jedoch immer konsequent ab, indem sie sich ihren vielen Ideen zuwandte.
Dienstagabend war sie dermaßen frustriert über ihre erfolglose Suche, dass sie zum Telefonhörer griff und Simon anrief. „Du sag mal“, wollte sie wissen, als sie sich begrüsst hatten. „Ihr macht doch auch Personen ausfindig?“
„Ja, die ganze Zeit. Um was geht es denn? Schuldet dir jemand Geld?“
„Nein“, sie zögerte, „es handelt sich um etwas Privates.“
„Um einen Mann?“, wollte er unumwunden wissen. Schließlich wollte er Kaja nicht dabei helfen, sich auf jemand anderes zu konzentrieren als auf Tim. Kindisch vielleicht, aber seine erste Loyalität gehörte nun mal seinem Freund.
„Nein, es geht um eine Frau, die ich kenne“, sie fand diese Schwindelei gerechtfertigt, schließlich ginge es sozusagen um ihre Schwester. „Ich kenne sie von früher, habe aber keine Ahnung, wo sie wohnt, und wie sie mit Nachnamen heißt.“
„Einen Vornamen hast du aber?“
Simon wollte sich schon Notizen machen, als ihm eine Idee kam. „Du wolltest doch sowieso mal herkommen, und dir hier alles ansehen.“
„Dann komm doch gleich morgen vorbei, dann zeige ich dir kurz wie das geht, dann kannst du deine Suche selber starten, wie klingt das?“
„Das wäre toll. Dann krieg ich gleich noch einen tieferen Einblick in eure Arbeit.“
„Konntest du deinen Chef erreichen?“
Betreten musste Kaja zugeben, dass sie die vergangenen Tage gar nicht versucht hatte, ihn zu erreichen. „Macht nichts. Wir haben ja auch gesagt, es gibt noch keinen Grund, uns Sorgen zu machen. Also dann, bis morgen um 10 Uhr“, meinte Simon und verabschiedete sich.
Kaja hängte auf und bevor sie der Mut verlor, kramte sie ihr Handy hervor und schickte Tim ein SMS. „Lädst du mich morgen zum Abendessen ein? In Bern?“
Kajas Herz hüpfte vor Aufregung. Sie redete sich ein, dass das ausschließlich damit zu tun hatte, dass sie morgen Simons Arbeitsplatz sehen würde und sehr wahrscheinlich dem Geheimnis von Sierra auf die Spur käme. Mit Tim hatte das gar nichts zu tun. Überhaupt nichts.
„Weißt du, wenn Selbstbetrug eine olympische Disziplin wäre, würdest du glatt die Goldmedaille gewinnen“, spottete Lance. Sie war dann doch klug genug, nicht auf seine Bemerkung einzugehen.
Was ziehe ich denn morgen an, überlegte sie hektisch.
„Das ist wirklich eine Frage von ausserordentlicher Wichtigkeit, wenn man bedenkt, dass du morgen eine Securityfirma besuchst und ein bedeutungsloses Abendessen mit Tim hast“, ließ sich Lance vernehmen. Er fläzte sich auf Kajas Bett und beobachtete sie, wie sie ratlos vor ihrem Kleiderschrank stand.
„Ach du, sei doch still. So bist du mir keine große Hilfe.“ Ist ja auch idiotisch, von einem Drachen eine Modeberatung zu erwarten, sonst sehe ich am Ende noch aus, wie ein mittelalterliches Burgfräulein.
„Das habe ich gehört“, ertönte Lance‘ Stimme belustigt.
„Ich rufe jetzt Miri an. Das bringt wahrscheinlich mehr“, beschloss Kaja.
„Kannst du vorbei kommen? Es ist sozusagen ein Notfall“, bat Kaja am Telefon.
„Ja klar, mache ich. Ich muss später einfach nochmal weg.“
„Nochmal weg?“ Verwirrt blickte Kaja auf ihre Armbanduhr. Fast acht Uhr. „Du bist wohl wirklich eine Nachteule.“
„Mm“, gab Miri unbestimmt zur Antwort. „Soll ich jetzt kommen oder nicht?“
„Ja gerne, du bist ein Schatz!“, meinte Kaja erleichtert.
Schon eine Viertelstunde später stand Miri vor der Tür. „Das war ja schnell“, begrüßte Kaja sie erfreut.
„So, wo brennt’s denn?“, wollte Miri wissen und folgte Kaja in die Wohnung.
„Ach, am besten kommst du gleich mit in mein Schlafzimmer. Ich hoffe, dass ich morgen von Tim zum Essen eingeladen werde.“
„Na ja, ich habe mich quasi selber eingeladen, per SMS – aber bis jetzt habe ich noch keine Antwort bekommen.“
„Dabei hat sie ihn vor Urzeiten angefragt. Es ist mindestens schon eine halbe Stunde her…“, stichelte Lance, der immer noch auf ihrem Bett lag. Kaja streckte ihm die Zunge raus und Miri musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
„Was machst du denn morgen in Bern?“
„Ach, das habe ich dir vor lauter Aufregung noch gar nicht erzählt“
„Ach was, du bist aufgeregt?“, mischte sich Lance wieder ein.
„Okay, okay, ich bin aufgeregt. Und das ist alles nur deine Schuld“, behauptete sie und tippte Lance vorwurfsvoll an die Brust.
„Meine? Weshalb denn?“, entrüstete sich dieser.
„Du hast mir doch den Tipp gegeben, das Ganze einfach zu genießen.“
„Das vielleicht schon. Aber da hattest du dich ja schon verguckt in diesen Tim. So was nennt man Schadensbegrenzung“, verteidigte er sich.
„Könnt ihr zwei Streithähne jetzt vielleicht mal aufhören“, ging Miri dazwischen. „Dann könnten wir uns nämlich endlich unserer Kleiderfrage hier widmen.“ Sie zog eine dunkelblaue Jeans aus dem Schrank und ein silbergraues langärmliges Oberteil, das einen weiten Halsausschnitt besaß. „Versuchs mal damit“, meinte sie und hielt Kaja die beiden Kleidungsstücke hin.
Zweifelnd sah sie auf die beiden Kleidungsstücke in ihrer Hand. „Ich weiß gar nicht, ob ich dieses T-Shirt überhaupt schon einmal getragen habe.“
„Na, dann wird’s ja wohl Zeit“, meinte Miri resolut und schob sie ins Badezimmer.
„Und? Wie findest du es?“ Kaja drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Der Halsausschnitt reichte beinahe von Schulter zu Schulter und ließ einen schönen Ausblick auf Kajas Hals und ihre Schlüsselbeinpartie frei. Der weiche Stoff fiel locker bis zur Taille und schmiegt sich schimmernd an die sanften Kurven von ihrem Körper. Die Jeans saß tief auf der Hüfte und betonte ihr gut trainiertes Hinterteil, ohne es platt zu drücken.
„Also ich würde dich auf jeden Fall auf der Stelle ins Bett zerren wollen, wenn ich ein Mann wäre. Hast du noch hochhackige Schuhe dazu?“
„Ich dachte an meine hohen Stiefel. Mit denen kann ich notfalls auch eine längere Strecke gehen, wenn‘s denn sein muss.“
„Ich dachte, du wolltest Abendessen gehen und nicht schon wieder Wanderferien machen?“
„Ich bin gerne auf alle Eventualitäten vorbereitet“, antwortete Kaja verlegen. Miri hatte inzwischen aus den Tiefen von Kajas Schrank noch einen ellenlangen und dünnen, blaugrünen Schal gefischt, den sie ihr jetzt um den Hals wickelte. „So, und jetzt hol noch deine Stiefel, damit wir uns einen Eindruck vom kompletten Bild machen können.
Nochmals stellte sie sich vor ihren beiden Freunden auf. „Perfekt“, meinte Miri. „Bequem und praktisch und gleichzeitig cool und sexy.“
„Und was meint mein Drachenberater dazu?“
„Hm, solange du die Jacke anbehältst, ist alles wunderbar“, meinte dieser unwirsch.
Kaja musste schmunzeln. „Gut, wenn du es zu gefährlich findest, ist es definitiv super! Danke vielmals, ohne dich hätte ich eine Ewigkeit gesucht.“
„Kein Problem, dafür sind doch Schwestern da“, meinte Miri und umarmte Kaja.
„Jetzt waren wir richtig schnell. Möchtest du noch einen Tee, bevor du gehst?“
„Ja gerne. Dann kannst du mir auch gleich erzählen, was du bei Simon machst.“
Mit einem bedeutungsvollen Blick auf Lance, meinte sie: „Stimmt, wir wurden ja unterbrochen.“
„Schon seltsam, wie schnell ich mich wieder daran gewöhnt habe, einen Drachen um mich herum zu haben“, meinte Miri, die wie Lance Kaja ihre Tasse hinhielt, um sie ihnen einschenkte.
„Mal schauen, wie schnell sich unsere Schwester daran gewöhnt.“
„Heißt das, du hast rausgefunden, wer sie ist und wo sie wohnt?“
Kaja verzog das Gesicht. „Nein, eben nicht. Deshalb habe ich vorhin verzweifelt Simon angerufen. Ich weiß, dass seine Firma auch Personen ausfindig macht. Das ist eigentlich der Grund, weshalb ich morgen in unsere schöne Hauptstadt reise. Tim ist dann sozusagen meine Belohnung.“ Kaja kicherte. „Was machen wir eigentlich, wenn wir rausgefunden haben, wo sie wohnt? Ich meine, wir können ja schlecht anrufen und sagen: Hallo, wir sind drei Drachenschwestern und du bist die Dritte im Bunde. Die lässt uns ja auf der Stelle in die Psychiatrische Klinik verfrachten! Ich hätte mich ja bald selbst eingeliefert“, gab Kaja zu bedenken.
„Nein, ich dachte auch eher, dass wir dann auf gut Glück zusammen mit Lance zu ihr raus fahren und sie daran festnageln, dass sie Lance sieht. Zum Glück ist er ja nicht zu übersehen. Für uns meine ich.“
„Das war bei dir ja richtig einfach. Da musste ja eher noch ich überredet werden“, erinnerte Kaja sich.
„Halte mich auf jeden Fall auf dem laufenden“, bat Miri. Sie stand auf und stellte ihre leere Tasse in das Spülbecken. „Ich muss jetzt leider los“, meinte sie mit einem bedauernden Blick auf ihre Uhr.
Kaja sprang auf. „Ja, klar. Danke für deinen Notfalleinsatz!“ Die beiden umarmten sich, wobei Zorro auch noch seine Streicheleinheiten abbekam. Kaja blickte ihr durchs Fenster hinterher. Wo wollte Miri um diese Zeit an einem Dienstagabend wohl hin? Fragend schaute sie zu Lance hinüber. Der hatte aber eine gänzlich unbeteiligte Miene aufgesetzt und schaute scheinbar fasziniert auf den Grund seiner Teetasse. Sie kannte ihren Drachen inzwischen gut genug um zu wissen, dass er offenbar nicht vorhatte, ihr diese Frage zu beantworten. Sie zuckte mit den Schultern. Bei einem nächsten Treffen würde Kaja sie einfach fragen. Schließlich hatte sie Miri jetzt ständig mit ihren eigenen Problemen in den Ohren gelegen. Das musste sich sowieso ändern, nahm sie sich fest vor.
Miri war unterdessen unterwegs zu ihrer Stammkneipe und fragte sich bestimmt schon zum zehnten Mal, warum sie schon wieder einen gemütlichen Abend bei Kaja unterbrochen hatte, nur für die Möglichkeit, sich einen Typen zu angeln. Ein Psychologe hätte ein tolles Forschungsobjekt in mir, dachte sie genervt. Egal, jetzt war sie ja sowieso schon da.