Kapitel 19

Am nächsten Morgen wachte Kaja erstaunlich ausgeruht auf. War wohl eine gute Idee, vor dem Einschlafen ein Alka Seltzer zu schlucken und eine Flasche Wasser zu trinken, dachte sie bei sich. Sie warf einen Blick auf den Wecker, erst halb sechs. Kein Wunder, dass es draußen noch stockdunkel war. Weshalb war sie denn aufgewacht? Ihr Blick fiel auf ihr Handy, das auf dem Nachttisch lag. Es blinkte aufgeregt, was so viel hieß, dass sie eine Textmitteilung bekommen oder einen Anruf verpasst hatte. Um diese Zeit, wunderte sie sich und streckte den Arm aus, um das Telefon zu fassen zu kriegen. Sie versuchte, Lance, der es sich wieder einmal auf ihrem Kopfkissen bequem gemacht hatte, dabei nicht zu stören – und verlor prompt das Gleichgewicht. Sie landete auf dem Drachen, der in seinem Schock, so abrupt geweckt zu werden, gleich blaues Feuer spuckte und wild um sich schlug. Das Ganze artete in ein wildes Gerangel aus, da sich beide miteinander in der Bettdecke verwickelten. Als Kaja sich endlich befreien konnte, hatte sich Lance soweit beruhigt, dass anstelle des Feuers nur noch schwacher Rauch aus seinen Ohren quoll. Dafür funktionierte sein Mundwerk prächtig und er bedachte seinen Schützling mit den farbigsten Ausdrücken.

„…werde Gefahrenzulage verlangen, ist ja nicht zum Aushalten…, Frauen…“ Kaja griff nach dem Glas Wasser, dass sie immer beim Bett stehen hatte und goss es ihm kurzerhand über den Kopf.

„He…!“

„Ruhe jetzt. Es tut mir leid, dass ich dich so unverhofft geweckt habe. Aber das ist noch lange kein Grund, so einen Aufstand zu machen.“

„Und wofür war das Wasser?“, wollte Lance schnaubend wissen.

„Ach, ich habe erst kürzlich herausgefunden, dass etwas Abkühlung ganz nützlich ist im Zusammenhang mit aufgebrachten oder lästigen männlichen Wesen“, meinte sie mit einem schelmischen Seitenblick.

„Wieso bist denn du überhaupt schon wach? Du bist ja normalerweise nicht so der ‚Morgenstund’-hat-Goldmund’-Typ, wenn ich das richtig beobachten konnte in den letzten knapp zwei Wochen.“

„,Morgenstund hat Gold im Mund’“, verbesserte Kaja automatisch. Dann blickte sie auf und meinte: „Das war es ja, was ich eben herausfinden wollte!“ Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf die zerknüllte Decke am Boden. „Das heißt, bevor wir unsere Verwicklungen hatten.“

„Dein Handy wolltest du? Sag das doch gleich, dann kann ich dir behilflich sein, ohne dass du auf mir landest.“ Lance grinste anzüglich und warf ihr das Handy zu.

„Du bist unmöglich, weißt du das?“, fragte sie kopfschüttelnd, musste sich aber ein Grinsen verkneifen. Sie klappte ihr Handy auf, ein verpasster Anruf. Wer, um Himmels willen, wer rief sie so früh am Morgen an? Sie drückte eine Taste, um die Liste der verpassten Anrufe zu sehen. Simon. Das musste ja wichtig sein. Sie drückte eine weitere Taste und hielt das Telefon ans Ohr um seine Nachricht auf dem Anrufbeantworter abzuhören.

„Hey Kaja, hoffe, ich habe dich nicht geweckt! Hör zu, ich bin da an etwas dran, deshalb meistens unterwegs. Falls du mich erreichen willst, kannst du das unter dieser Nummer.“ Er ratterte eine Nummer herunter, während Kaja wie wild gestikulierte, in der Hoffnung, Lance würde einen Stift und Papier auftreiben. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Es ging schon weiter im Text. „… falls du irgendeinen Vorgesetzten hast, dem du vertraust, wär es toll, wenn ich diesem ein paar Fragen stellen könnte. Also dann, du weißt ja jetzt, wie du mich erreichen kannst.“

Die Mitteilung war zu Ende und Kaja trennte die Verbindung. Seufzend richtete sie sich auf und streckte ihren Rücken durch. Ganz ohne Nachwirkungen war der gestrige Champagnergenuss wohl doch nicht. Sie würde die Nachricht nachher gleich nochmals abhören und die neue Nummer von Simon aufschreiben. Sie war jetzt definitiv wach, also beschloss sie, gleich aufzustehen und sich erst mal Kaffee aufzubrühen. Vielleicht wurde sie dann schlau aus Simons kryptischem Text.

Eine halbe Stunde später saß sie, bereits angekleidet, um ins Büro zu gehen, am Küchentisch, vor sich einen Becher dampfenden Kaffees. Die Nummer hatte sie fein säuberlich auf einen Block geschrieben. Darunter hatte sie eine Liste der dringendsten Fragen aufgelistet:

1. Wer hat die Fusion der beiden Firmen initiiert?

2. Wer könnte die Details der damit zusammenhängenden Verträge kennen?

3. Gibt es noch andere Angestellte, welche in letzter Zeit ähnliches erlebt haben?

4. Zu welcher Firma haben sie ursprünglich gehört?

5. Wo ist Max???

Max war der einzige Vorgesetzte, der Kaja im Zusammenhang mit dem Wort „Vertrauen“ in den Sinn kam. Nur nutzte ihr diese Erkenntnis herzlich wenig, wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie ihn erreichen konnte. Sie stand auf und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Die dampfende Flüssigkeit in der Hand lehnte sie sich an den Herd und blickte zu Lance hinüber, der sich bestens mit seinem Holunderschnaps und einer Partie Patience amüsierte.

„O du großer weiser Drache, hast du vielleicht irgendwelche Ideen, wie ich Max finden könnte?“

„Hä?“ Geistesabwesend blickte Lance auf. „Sprichst du mit mir?“

„Nein, mit all den anderen hundert Drachen die hier sind“, antwortete sie ironisch. „Logisch spreche ich mit dir. Würde ich zumindest. Wenn der Herr nicht schon am Morgen früh zu beschäftigt wäre, um sich um meine trivialen Probleme zu kümmern.“

„He, ich war doch derjenige, der eine Ladung kaltes Wasser abbekommen hat beim Aufwachen. Was ist denn deine Rechtfertigung für deine plötzliche schlechte Laune?“, beschwerte sich Lance.

„Ich mache mir Sorgen um Max! Und außerdem habe ich einen leichten Kater. Nicht schlimm, aber genug spürbar, um eine latent vorhandene schlechte Stimmung auszulösen. Und überhaupt. Ich brauche keine Rechtfertigung. Du hast dir das schließlich selber ausgesucht, mir nicht mehr von der Seite zu weichen. Wie sagt man so schön? Mitgegangen, mitgehangen.“ Jetzt musste sie doch grinsen.

„Jaja, was weißt du schon über Bestimmung“, maulte der Drache.

„Ich werde wohl bald mehr wissen, wenn das alles stimmt, was du mir über meine Schwestern und mich erzählt hast.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Wenigstens das ist ein Lichtblick, Miri kommt heute Abend.“

„Das hast du mir ja gar nicht erzählt?“

„Aber ich erzähl es dir jetzt“, meinte Kaja knapp.

„Heißt das, ich werde heute Abend wieder mal in die Verbannung geschickt?“

„Ja, ich denke heute Abend wirst du wie so oft irgendwo in einem Hauseingang oder unter einer Brücke schlafen müssen“, zog sie ihn auf. Als sie Lance‘ gekränkten Blick sah beeilte sie sich hinzuzufügen: „Von mir aus kannst du gerne hier sein. Ich bin sicher, Miri wird sich freuen, dich kennen zu lernen.“

„Echt?“ Der Drache schien sich ehrlich zu freuen. Aufgeregt fing er an, zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her zu flitzen, während er unverständliche Dinge vor sich hin murmelte.

„Versteh mich richtig, ich bin mit Miri verabredet – und zwar nicht, damit wir dich gemeinsam anhimmeln können.“

Nicht einmal dieser Kommentar konnte seine Freude trüben. Kaja war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte. Sie seufzte. Sah ganz so aus, als ob sie das Rätsel um Max alleine lösen müsste. Sie packte ihre Sachen zusammen, schob ihre Notizen zu den anderen Papieren in die Tasche und schlüpfte in ihre Jacke. „Zorro, nun komm schon“ rief sie ungeduldig und klimperte mit ihrem Schlüsselbund. Der kontrollierte zum dritten Mal seit er Frühstück gekriegt hatte, ob er vielleicht nicht doch ein paar Kügelchen von seinem Trockenfutter übersehen hatte. Auf ihren Ruf hin und das vertraute Geräusch der Schlüssel sprang er jedoch mit einem Satz zur Tür und die beiden machten sich auf, erst zu Zorros Wiese und dann zu Kajas Auto, welches immer noch vor dem Kongresshaus stand und fuhren mit diesem ins Büro.

Nachdem Kaja sich wieder einen Besucherbadge geholt hatte, sie musste dringend Simon erwischen, noch einmal konnte sie die Ausrede vom vergessenen Badge nicht bringen, begab sie sich erst einmal auf direktem Weg zu Thea.

„Hallo Heldin“, wurde sie begrüsst.

Verwirrt blickte Kaja ihre Freundin an. „Heldin?“

„Na klar. Wenn du meinst, dass dein heldenhafter Abgang unentdeckt geblieben ist, bist du falsch gewickelt. Und du wolltest einen unauffälligen Abend, soweit ich mich erinnere.“

„Ach das“, meinte sie verlegen. „Das war doch nichts.“

„Nein überhaupt nichts“, grinste Thea. „Es wurden nur bereits Wetten abgeschlossen.“

„Wetten abgeschlossen?“ Erst blickte Kaja noch verständnislos, bis ihr aufging, was Thea meinte. Ebenfalls grinsend fragte sie: „Ich hoffe, du hast wenigstens gewonnen.“

„Ja klar, was meinst denn du? Und zwar nicht wenig.“

Kaja schnitt eine Grimasse. „Typisch. Vermutlich haben mehrheitlich die Männer mit gewettet, die, wenn sie nicht sowieso davon überzeugt waren, dass ein Mädchen wie ich wohl kaum gegen einen richtigen Mann ankommt, zumindest aus Männersolidarität auf meinen Gegner gesetzt haben.“

„Exakt“, bestätigte Thea ihr. „Und ich habe mich wohlweislich gehütet, sie vom Gegenteil zu überzeugen, da ich selbst natürlich auf dich gesetzt habe.“ Thea blickte ausgesprochen zufrieden drein.

„Sag mal, wer hat denn die ganze Wetterei so schnell angeleiert.“

„Och, keine Ahnung“, antwortete Thea und lächelte ein unschuldiges Mona-Lisa-Lächeln.

„Ja richtig. Krieg ich einen Anteil an deinen Wetteinnahmen?“, wollte Kaja grinsend wissen.

„Nichts da – aber ich lade dich zum Mittagessen ein, hast du Zeit?“, schlug Thea stattdessen vor.

„Das trifft sich gut, dasselbe wollte ich dir vorschlagen. Ich brauche nämlich dich und deinen unschlagbaren Wissensschatz um ein paar Dinge zu klären, die mir seltsam vorkommen.“

„Was denn zum Beispiel?“, erkundigte sich Thea neugierig.

„Zum Beispiel“, Kaja hielt inne und schaute sich im Postraum um. „Lass uns das später besprechen, ich muss los.“ Demonstrativ blickte sie auf ihre Armbanduhr. „Also dann, bis halb eins am selben Ort wie immer.“ Und schon war sie weg.

Thea blickte ihr verdutzt nach. In der letzten Zeit benahm sich Kaja immer sonderbarer. Sie schüttelte den Kopf. Na ja, sie wird schon ihre Gründe haben, dachte sie bei sich.

Im Büro angekommen setzte sich Kaja an ihren Schreibtisch, warf Zorro, der es sich schon auf seinem Platz bequem gemacht hatte, einen Hundekuchen zu und wartete darauf, dass ihr Computer startete. Geistesabwesend griff sie nach dem Stapel Post-it Zetteln, die immer an der rechten Ecke ihres Arbeitsplatzes auf ihren Einsatz warteten und griff ins Leere. Irritiert blickte sie auf und starrte auf die leere Tischplatte. Was war denn nun schon wieder los? Sie erblickte das Gesuchte auf der linken Seite zuoberst auf ihrer Ablage. Wie sind denn die dahin gekommen? Vermutlich war es nur die Putzfrau, versuchte sich Kaja zu beruhigen. Aber so ganz glaubte sie ihrer eigenen Erklärung selber nicht mehr. Sie rieb sich das Gesicht.

Lange mach ich das nicht mehr mit, murmelte sie vor sich hin. Da wird man ja definitiv paranoid! Einige Minuten später murmelte sie weiter. Sieht so aus, als müsste ich das auch nicht mehr viel länger mitmachen. Sie hatte inzwischen ihren elektronischen Projektordner geöffnet, in der festen Erwartung, dort drin endlich den nächsten ernst zu nehmenden Auftrag zu finden. Doch im Ordner herrschte noch immer dieselbe gähnende Leere wie gestern und die Tage davor. In ihrem Postfach sah es ähnlich aus. Keine E-Mails mit einem neuen Auftrag. Und auch keine E-Mail von Max. Toll. Hm, freie Zeit war ja schön und gut, nur nützte einem das gar nichts, wenn man die Zeit im Büro verbringen musste. Sie versuchte nochmals, Max zu erreichen, während sie nervös durch ihr kleines Büro tigerte. Vergeblich. Nicht einmal der Anrufbeantworter schaltete sich auf seinem Handy ein. Sie beendete noch die zwei letzten offenen Produktbeschreibungen. Irgendetwas stimmte nicht, wenn sie ohne Probleme sämtlichen Papierkram erledigen konnte und absolut nichts mehr pendent war. Im Normalfall kam man im schnelllebigen Gebiet der Informatik überhaupt nie dazu, vernünftige Produktbeschreibungen fertigzustellen, da man bereits Hals über Kopf im nächsten Projekt steckte.

Sie seufzte, gab ihre Wanderung durchs Zimmer auf und setzte sich wieder vor ihren Rechner. Da sie Max nicht erreichen konnte, musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beissen und sich direkt bei ihrem unsympathischen Abteilungsleiter melden, um ein neues Projekt zugeteilt zu bekommen. Sie drang genau bis ins Vorzimmer ihres „Chefchefs“ durch, bei seiner Assistentin blieb sie hängen. Genervt legte sie den Hörer zwei Minuten später auf. Sie solle sich per E-Mail melden und den neuen Auftrag elektronisch im Auftragsordner in Empfang nehmen.

Danke vielmals, dann kann ich mir jetzt ja auch selber eine Beschäftigung suchen. Ruhelos sprang sie wieder auf, als plötzlich Lance vor ihr stand. Da sie sein unbemerktes Aufkreuzen zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten inzwischen gewohnt war, hielt sie sich gar nicht erst damit auf, erstaunt zu wirken sondern begann gleich, ihre Frustration an ihm auszulassen.

„Schönes Leben, das du da hast. Einfach auf-und abtauchen wann und wo es dir passt, keine Verpflichtungen, freien Zugang zu Spirituosen…“.

Lance bremste ihren Redeschwall, indem er ihr ein Paket Karten unter die Nase hielt. „Lust auf eine Partie Mau-Mau?“, fragte er, ohne auf ihre Anschuldigungen einzugehen.

Solchermaßen entwaffnet musste Kaja lachen und ein Teil der Anspannung wich. „Mau-mau! Das habe ich ja ewig nicht mehr gespielt.“

„Umso besser für mich“, grinste Lance. „Dann merkst du vielleicht nicht, wenn ich schummle.“

„Du schummelst?“

„Alle Drachen schummeln! Das gehört zum Drachendasein, wie für euch Menschen das Atmen.“

„Oh, so schlimm?“

„Lass uns anfangen“, meinte Lance, der diese Diskussion offensichtlich nicht vertiefen wollte.

Knapp nach halb eins traf Kaja ein wenig außer Atem und um einiges besser gelaunt als noch vor zwei Stunden am abgemachten Treffpunkt ein. Thea wartete schon, ein Kebab und ein Falafel in der Hand. „Hier, ich habe euch Raubtieren etwas Gutes mitgebracht“, kommentierte Thea und überreichte ihr den Kebab.

„Danke, das riecht himmlisch!“

„Du kommst spät, hast du so viel Arbeit?“

„Arbeit? Nein im Gegenteil, ich äh, musste mir die Zeit mit...“, fieberhaft dachte Kaja nach, „mit Solitaire vertreiben.“ Uff, man musste schon auf Zack sein, wenn man Zeit erklären wollte, die man mit einem Drachen verbrachte.

Diesmal setzten sie sich auf eine Bank in einem kleinen Park, ganz in der Nähe vom Büro. Thea, die von Natur aus neugierig war, wollte zwischen zwei Bissen Falafel dringend wissen, was Kaja diesmal auf dem Herzen hatte.

„Mm, du erinnerst dich doch noch an unser letztes Gespräch?“, brachte Kaja mit dem Mund voll knapp heraus.

„Ja, genau.“

„Wir hatten doch darüber diskutiert, wem ähnliches passiert ist, wie mir. Hast du da schon was rausgefunden?“

Thea nahm sich diesmal die Zeit, runterzuschlucken und einen Schluck Wasser zu trinken. „Ja, das habe ich tatsächlich und ich war überrascht, wie viele es dann schlussendlich waren, als ich eine Liste zusammengestellt hatte. Wenn man es so tröpfchenweise hört, mal hier mal da etwas, dann kommt schnell das Gefühl auf, es seien Einzelfälle.“

„Auf wie viele bist du denn schlussendlich gekommen?“, wollte Kaja gespannt wissen.

„Auf zwölf.“

„Zwölf?! Aber das sind ja…“

„... über ein Drittel der alten PC-Lux-Solutions-Besatzung.“

„Das wäre meine nächste Frage gewesen. Bei wem waren die, ich nenne sie jetzt mal Opfer, auch wenn ich diese Bezeichnung nicht mag, ehemals angestellt?“

„Opfer ist schon das richtige Wort“, bekräftigte Thea. „Auch wenn ich verstehe, weshalb du den Ausdruck nicht magst. Es ist schließlich nie angenehm, sich selbst als Opfer zu sehen.“

„Egal“, unterbrach sie Kaja ungeduldig. „Psychoanalyse können wir später machen, z.B. wenn ich keinen Job mehr habe“, schob sie mit einem ironischen Unterton in der Stimme dazwischen. „Also?“ Erwartungsvoll schaute sie Thea an.

„Gut. Bis auf zwei waren alles ehemalige Arbeitskollegen von uns. Dazu kommt, dass komplett alle weiblichen Programmiererinnen dabei sind.“

„Jasmine auch? Und Natasha?“

„Alle. Es hatte wohl schon seine Gründe, dass ihr einerseits mit Arbeit eingedeckt wurdet und zusätzlich noch mit neuen von Qubus stammenden Teamkollegen versehen wurdet.“

„Stimmt, so hatten wir praktisch keinen Kontakt mehr miteinander.“

Kaja stöhnte genervt. „Ich dachte immer, mir könnte so was nie passieren.“

„Sag niemals nie…“, ließ sich eine Stimme in ihrem Kopf vernehmen. Kaja verdrehte die Augen. Typisch, dass er genau im passenden Moment ausnahmsweise einmal ein korrektes Sprichwort zum Besten gab. Diskret blickte sie sich um, ob Lance auch tatsächlich anwesend war, oder nur in ihrem Kopf rumspukte. Nein, sie konnte keine Spur von ihm entdecken und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Thea zu.

„Jetzt sei doch mal nicht so hart mit dir selber“, meinte diese gerade fürsorglich, da sie das Augenrollen logischerweise auf Kaja selbst bezogen hatte. „Gegen ein solches Komplott sind sozusagen alle machtlos.“ Sie dachte einen Moment nach und musste dann grinsen. „Ich vermute sogar schwer, dass die Männer noch schneller auf den ganzen Trick reingefallen sind, als die Frauen. Die haben sie, wenn ich das richtig mitgekriegt habe, nämlich mit weiblichen Gegenspielern zusammengetan. Jede einzelne davon jung, langhaarig und langbeinig, verstehst du was ich meine?“

Jetzt musste Kaja doch Grinsen. „Tja, wenn man das Ganze mit ein bisschen Abstand betrachtet, was zugegebenermaßen nicht ganz einfach ist, wenn man selbst betroffen ist, ist es schon fast komisch.“

„Genau. Und da wir jetzt über den Jammerpart hinweg sind“, Thea brachte sich vor Kajas spielerischem Boxhieb ans andere Ende der Sitzbank in Sicherheit „ist doch wahr, dann können wir uns jetzt darum kümmern, was wir dagegen unternehmen wollen.“

„Hm, ich habe schon was unternommen“, antwortete Kaja.

„Ach, ja? Was denn?“

Kaja erzählte ihr kurz von Simon, ließ Tim absichtlich so gut es ging weg, schließlich hatte sie ihn während der letzten Tage recht erfolgreich aus ihren Gedanken verbannt und wollte das auch so beibehalten. Als sie mit ihren Ausführungen zu Ende war, wollte Thea wissen, was er denn bis jetzt herausgefunden hat.

„Soviel ich weiß, noch nicht viel. Es ist auch erst ein paar Tage her, dass ich ihn um Hilfe gebeten habe. Er hat mich allerdings heute Morgen kurz angerufen, er schien ziemlich in Eile“, fügte sie hinzu und fuhr fort, „er wollte wissen, ob ich einen vertrauenswürdigen Vorgesetzten habe, um mit diesem ein paar dringende Fragen zu klären. Was mich auf das Thema Max zurückbringt. Verständlicherweise war er der einzige, der mir auf Anhieb in den Sinn kam, allerdings ist Max nach wie vor wie vom Erdboden verschluckt.“

„Das stimmt“, schaltete sich Thea ein. „Es ist mir nämlich trotz meiner Verbindung zu unserer privaten Cyber-Unterwelt von PC-Lux-Solutions“, sie musste selbst grinsen, als sie das sagte, „nicht gelungen, heraus zu finden, wo er sich gerade weiterbilden soll“, schloss sie in einem bedauernden Tonfall.

„Findest du das nicht seltsam? Ich meine, im Allgemeinen werden Weiterbildungen inklusive Kontaktmöglichkeiten im Intranet festgehalten. Na ja, zumindest die der Chefetagen.“

„Genau. Also, wenn du mich fragst, gibt es keine Weiterbildung.“

„Aber…“, Kaja stockte. „Meinst du, er ist freigestellt worden?“

„Möglich“, meinte Thea zweifelnd. „Er ist allerdings auf der besagten Kündigungsliste von der ich dir erzählt habe, nicht aufgetaucht.“

„Hm“, Kaja überlegte angestrengt. „Wenn ich doch bloß seine Handynummer hätte. Oder zumindest wüsste, wo er wohnt.“ Es war schon seltsam. Jetzt arbeitete sie doch schon seit einigen Jahren mit Max zusammen und wusste eigentlich überhaupt nichts über ihn.

„Was das angeht, kann ich dir weiterhelfen“, unterbrach ihre Freundin ihren Gedankengang. Kaja fuhr herum und sah sie mit großen Augen an. Mit einem stolzen Grinsen im Gesicht überreichte ihr Thea einen Zettel. „Ich wollte es dir lieber in Papierform geben und nicht durchs Netz schicken. Wer weiß, wer das wieder mitgekriegt hätte.“

„Aber wie…?“

„Jetzt schau nicht so erstaunt. Ich habe schließlich meine Quellen. Und einen guten Draht zur HR-Abteilung“, fügte sie hinzu.

Kaja legte den Kopf schief und schaute sie prüfend an, während sie mit einer Hand Zorro hinterm Ohr kraulte. Da hatte sich doch ein Unterton in Theas Stimme eingeschlichen, beim letzten Satz. „Wer ist denn dein Kontakt?“, wollte sie neugierig wissen.

„Ach, du weißt schon... Thomas“, antwortete sie ausweichend und machte eine vage Handbewegung. Allerdings hatte sich eine verräterische Röte über ihren Hals ausgebreitet.

„Und?“, bohrte Kaja nach.

„Nichts. Nein, wirklich! Okay, wir waren ein paarmal aus, na und?“

„Aber das ist doch toll“, begeisterte sich Kaja. „Lädst du mich auch zur Hochzeit ein?“ Seit Kaja Thea kannte träumte diese von ihrer eigenen, möglichst baldigen Hochzeit. In Weiß. Diesen Teil konnte sich Kaja kaum vorstellen. Das mit der eigenen Familie hingegen schon. Sie wünschte sich wirklich, Thea würde endlich den Mann ihrer Träume finden.

„Jetzt mal langsam mit den jungen Pferden“, lachte Thea. „So weit sind wir noch lange nicht.“ Sie warf demonstrativ einen Blick auf ihre Uhr und meinte: „Was, schon so spät? Ich muss dringend los.“

Kaja musste über diesen schlecht kaschierten Versuch, das Thema zu wechseln, lachen. „Schon gut, ich lass dich ja in Ruhe. Aber beim nächsten Mal kommst du mir nicht so leicht davon!“ Zorro sprang auf, als er die Aufbruchsstimmung der beiden spürte und sprang aufgeregt um die zwei Frauen herum. „Lass das, du Schlitzohr!“, rügte ihn Kaja liebevoll.

„Du meldest dich, wenn du Max erreichst, ja?“

„Ja klar“, versicherte ihr Kaja.

Auf dem Rückweg zum Büro ging Kaja im Kopf nochmals alle Informationen durch, die sie bis jetzt gesammelt hatte. Mit halbem Auge beobachtete sie Zorro, der die kleine Parkanlage nach Essensreste durchkämmte, als plötzlich aus heiterem Himmel Lance auftauchte und ihr eine Pranke um die Schulter legte.

„Hey du“, lächelte Kaja ihn an. „Ich muss mich wohl schon ziemlich an dich gewöhnt haben. Du schaffst es nur noch selten, mich zu erschrecken.“

Entrüstet blickte Lance sie an. „Du willst mich wohl in meiner Drachenehre kränken?!“

„Nichts liegt mir ferner“, versicherte sie im eilig, obwohl sie dabei ein wenig grinsen musste. „Im Ernst, das war ausnahmsweise nicht meine Absicht.“ Sie wurde kurz abgelenkt von ihrem Hund, der schon bis zum Hals in einem Abfalleimer steckte. „Hey, komm da weg!“, rief sie Zorro zu. Keine Reaktion. Typisch. Sie rannte auf ihn zu, um ihn wegzuscheuchen. „Vorwärts jetzt. Du kriegst ja wohl genug zu fressen.“ Zorro blickte sich noch einmal wehmütig zu seinem Schlaraffenland um und sah gar nicht überzeugt aus, während er ihr missmutig hinter her trottete. „Hilfst du mir, ein wenig Ordnung in das Chaos in meinem Kopf zu schaffen?“, fragte sie Lance.

„Ich glaub, ich muss mir diesen Tag rot im Kalender anstreichen“, meinte Lance, „mein Schützling bittet mich tatsächlich um Hilfe.“

„Jetzt sei schon ruhig“, brummte Kaja, „sonst ziehe ich die Frage wieder zurück!“ Was den Drachen jedoch unbeeindruckt ließ und ihn nicht daran hinderte ein Siegestänzchen aufzuführen, bis Kaja in sein Lachen einfiel.