Kapitel 12

Die nächsten Tage verstrichen ereignislos. Der Drache ließ sie weitgehend in Ruhe und unterhielt sie an den Abenden bei einem Glas Wein mit lustigen Geschichten. Kaja wusste nicht so recht, wie viel sie davon für bare Münze nehmen konnte, aber wen kümmerte das schon, wenn der Erzähler ein leibhaftiger Drache war. Das war ja an und für sich schon absurd genug.

Am Donnerstagnachmittag erlebte sie allerdings zum ersten Mal, dass sich auch Lance aus dem Konzept bringen ließ. Kaja hätte sich wohl königlich amüsiert, wenn sie nicht selbst so erstaunt, um nicht zu sagen erschüttert gewesen wäre.

Sie hatte früher aufgehört zu arbeiten, weil sie noch in der Stadt ein Buch kaufen wollte. Es gab da ein kleines Antiquariat, das sie noch nicht kannte und hoffte, dort das eine oder andere vergriffene Buch zu finden, das sie schon seit längerem suchte. Zorro hatte sich wie üblich auf dem Rücksitz zusammengerollt, während Lance ausnahmsweise auf dem Beifahrersitz saß.

Direkt bei der Buchhandlung gab es natürlich keine freien Parkplätze. Auf der Suche nach einer Parklücke fuhr sie einmal um die angrenzenden Häuserblocks. Es schien jedoch so, als hätte sie heute kein Glück. Verdrossen fuhr sie auf die Kreuzung zu, die direkt vor der Buchhandlung lag. Von vorne kam eine blonde Frau auf einem klapprigen Fahrrad. Kaja verlangsamte das Tempo ein wenig, um der Fahrradfahrerin die Möglichkeit zum Ausweichen zu geben. Sie wollte eben etwas zu Lance sagen, als sie merkte, dass die Person auf dem Fahrrad nicht etwa ausgewichen war, sondern im Gegenteil mit weit aufgerissenen Augen direkt auf sie zuhielt. Kaja versuchte im letzten Moment gleichzeitig auszuweichen und zu bremsen und rammte beinahe ein geparktes Auto. Doch es war schon zu spät: Mit einem heftigen Knall prallte das Fahrrad auf Kajas Kotflügel und die Fahrerin stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden. Außer sich vor Angst stürzte Kaja aus dem Auto und kniete neben der Unbekannten nieder. Aus einer Wunde beim Haaransatz strömte eine erschreckend große Menge Blut.

„Hallo, können Sie mich hören?“, fragte Kaja verzweifelt.

Warum kam denn bloß keiner? Sie könnte jetzt wirklich etwas Hilfe gebrauchen. Die blonde Frau hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht. Mit fahrigen Händen versuchte Kaja, den Pulsschlag zu ertasten. Okay, offensichtlich war keine Hilfe von Passanten zu erwarten. Sie atmete tief durch und nahm sich zusammen. Schließlich hatte sie ja vor Urzeiten einen Nothelferkurs besucht. Sie drängte die aufkommende Angst zurück und konzentrierte sich darauf, mit einem ganzen Päckchen Papiertaschentüchern und ihrem Halstuch, die Blutung am Kopf zu stoppen. Eben hatte sie den behelfsmäßigen Druckverband am Kopf der Unbekannten befestigt, als die junge Frau unvermittelt die Augen aufschlug. Ihr Blick war erst etwas unfokussiert und verwirrt, klärte sich jedoch schnell.

„Wo tut es Ihnen überall weh?“, drängte Kaja sie zum Sprechen. Die junge Frau musste etwa im gleichen Alter sein, stellte sie fest. Die Frau richtete sich langsam auf, bewegte versuchsweise alle ihre Glieder und antwortete: „Nur mein Kopf. Ansonsten habe mich wohl vor allem erschrocken. Die Abschürfung hier ist nicht weiter schlimm.“

Eine Woge der Erleichterung überschwemmte Kaja, was jedoch gleich darauf ihrem aufsteigenden Ärger Platz machen musste.

„Sag mal, bist du auf Drogen oder so? Du bist direkt auf mich zu und vor mein Auto gefahren. Falls du Selbstmordgedanken hegst, lass mich bitte aus dem Spiel!“

„Äh nein, tut mir leid, es war keine Absicht. Aber weißt du, dass da ein Drache in deinem Auto sitzt?“

„Wie?“, fragte Kaja mit einem etwas dümmlichen Gesichtsausdruck.

„Ja, ein Drache. Ich konnte einfach den Blick nicht von diesem wundersamen Wesen abwenden und habe gar nicht auf die Straße geachtet.“

„Äh, das musst du dir eingebildet haben“, sagte Kaja hastig, wobei sie einen raschen Blick auf ihr Auto warf, um herauszufinden, ob Lance zu sehen war. Nein, gut, dachte sie, hoffentlich blieb er verschwunden. Sie wandte sich wieder der Frau am Boden zu.

„Hör mal, lass uns ein wenig zur Seite gehen, falls du das schaffst, damit der Verkehr wieder in Gang kommt, okay?“

Stunden später kam sie erschöpft zu Hause an. Sie war noch mit Miri, so hieß die junge Frau, ins Krankenhaus gefahren, war ihr beigestanden, als die Platzwunde am Kopf genäht wurde, hatte mit ihr die restlichen Resultate abgewartet und sie anschließend nach Hause gebracht. Die ganze Aufregung hatte sie Kraft und Nerven gekostet. Vor allem, da Miri an ihrer Behauptung festhielt, sie hätte einen Drachen im Auto neben Kaja sitzen sehen. Kaja war stur geblieben und hatte sich geweigert, auch nur mit einer Silbe auf dieses Thema einzugehen. Was sich als anstrengender erwies als erwartet. In dieser kleinen Person steckte viel Temperament. Sie hatten ihre Adressen ausgetauscht und Kaja hatte ihr versprochen, den Unfall ihrer Haftpflichtversicherung zu melden. Wegen des Fahrrads, das hinüber war und möglichen späteren körperlichen Nachwirkungen. Miri hatte nichts davon hören wollen. Sie behauptete, ja selber schuld gewesen zu sein, aber Kaja bestand darauf. Sie atmete tief ein und wieder aus, während sie ihre Schultern kreisen ließ, um die Anspannung los zu werden. Wenigstens war ihr Auto bis auf einen kleinen Kratzer am Kotflügel heil geblieben.

Lance hatte sich die ganze Zeit über nicht blicken lassen, und das war auch gut so. Kaja kochte nämlich vor Wut. Hatte er nicht versprochen, nur sie könne ihn sehen? Neben dem Schock, den sie heute Nachmittag erlitten hatte, gesellte sich noch ein leises Eifersuchtsgefühl hinzu. Lance war ihr Drache. Den musste niemand sonst sehen!

Jetzt im Haus konnte sie seine Anwesenheit beinahe körperlich spüren. Die Luft summte buchstäblich vor blauer Energie. Wo war er denn bloss? In der Küche und im Wohnzimmer offensichtlich nicht. Sie bewegte sich Richtung Schlafzimmer und kam an der Tür zum Arbeitszimmer vorbei, die einen Spalt offen stand. Sie erblickte Lance, der inmitten eines Berges zerknüllten Papiers saß und auf einem altertümlich anmutenden Federhalter herum kaute. Obwohl der Anblick, den er gerade bot, sie zum Lachen reizte, blitzte sie ihn böse an, als sie eintrat und ihn zur Rede stellte: „Kannst du mir vielleicht erklären, wie das passieren konnte? So was wie heute möchte ich nämlich so bald nicht mehr erleben!“

Lance blickte auf und raufte sich seine inexistenten Haare. „Glaub mir Kaja, ich habe nicht die geringste Ahnung! So etwas ist mir noch nicht passiert, mehr noch, ich wusste gar nicht, dass das möglich ist!“

„Dann hast du also gehört, was sie behauptet hat.“

„Ja, vor Schreck bin ich dann gleich hierher geflüchtet und habe angefangen, Berechnungen zu erstellen.“

Schweigend kniete sich Kaja nieder und strich eines der zerknüllten Blätter glatt. Fremdartige Zeichen bedeckten das Papier, sie starrte es an, ohne einen Sinn darin zu erkennen. „Berechnungen?“

„Ja, zumindest so was ähnliches – ähnlich wie Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Aber es gibt keine passende Formel“, fuhr er fort, unverständliches Zeug vor sich hinmurmelnd. „Hör zu, Kaja, ich muss dringend weg. Ich komme so schnell wie möglich wieder, wenn ich weiß, was hier vor sich geht.“

Kaja nickte nur und verließ das Zimmer.

Ein wenig später tigerte Kaja ruhelos in ihrer Wohnung umher. Sie wusste nicht so recht, was sie mit sich anfangen sollte. Deutlich konnte sie spüren, dass Lance fort war. Offensichtlich hatte sie sich schon mehr an seine Anwesenheit gewöhnt als sie sich eingestehen wollte. Bei ihren Problemen im Geschäft war sie auch noch nicht wirklich weiter gekommen. Zwar fühlte sie genau, dass die ganze Sache einen bedeutungsvolleren Hintergrund hatte, als es auf den ersten Blick schien, doch sie kam einfach nicht dahinter. Noch viel frustrierender war, dass sie nicht wusste, wie sie weiter vorgehen sollte, um dem Ganzen auf die Spur zu kommen. Zorro blickte ihr unruhig bei ihrer Wanderung durch die Wohnung nach. Frustriert ließ sie sich aufs Sofa sinken. Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang sie auf und ging zu ihrer Jacke, die an der Garderobe bei der Tür hing. Sie durchwühlte die Taschen und suchte nach dem Zettel, den Tim ihr bei seiner überraschenden Abreise hinterlassen hatte. Schließlich fand sie das Gesuchte und kehrte mit dem Stück Papier und dem schnurlosen Telefon bewaffnet zu ihrem Ausgangspunkt auf dem Sofa zurück. Nur kurz zögerte sie, wählte dann aber entschlossen Tims Nummer. Sie würde sonst noch verrückt, wenn sie sich mit niemandem unterhalten konnte. Ihr ging einfach zu viel im Kopf herum. Vorsorglich hatte sie sich schon darauf eingestellt, mit seinem Anrufbeantworter zu sprechen und war umso überraschter, als er bereits beim ersten Klingeln abnahm.

„Ja?“, ertönte seine fragende Stimme durch den Hörer.

„Sag mal, sitzt du ständig neben dem Telefon?“

„Kaja, bist du das wirklich? Du wirst es kaum glauben, aber ich wollte dich eben anrufen – deshalb hatte ich mein Handy schon in der Hand.“

Verdutzt blinzelte sie, bis ihr einfiel, dass er sie ja nicht sehen konnte. „Äh, ja, das ist wirklich ein Zufall.“

„Ja, ja, Zufall oder nicht, das ist hier die Frage“, meinte er mit bedeutungsschwerer Stimme.

„Hör doch auf“, lachte Kaja. „Du hörst dich ja schon an wie Mémé. Weshalb wolltest du mich denn anrufen?“, fragte sie neugierig.

„Um deine schöne Stimme zu hören“, schlug er neckend vor.

„Ja, ja, ich hab mir auch schon überlegt, eine Telefonsexlinie zu betreiben, mit dieser Stimme“, frotzelte sie. „Jetzt mal ernst, was war der Grund?“

„Ich bin heute Abend zufälligerweise bei meinen Eltern zu Hause, sprich in Zürich. Da dachte ich, vielleicht hättest du Lust, mit mir am See spazieren zu gehen und ein Bier zu trinken?“

Weggehen, heute noch? Kaja überlegte kurz. Eigentlich hatte sie schon ihre bequemen Zuhause-rumhängen-Sachen an. Ach was soll’s, beschloss sie spontan. Schließlich hatte sie ja einen Zuhörer gewollt und das konnte sie ihm genauso gut während eines Spaziergangs erzählen.

„Also, was ist jetzt? Oder kommt das ungelegen?“

„Nein, nein, ich musste mich nur schnell überwinden, mich nochmals ausgehfertig zu machen. Aber Zorros Dankbarkeit wird keine Grenzen kennen“, fügte sie noch hinzu.

„Also dann, ich hole dich in einer Viertelstunde ab.“

„Mach mal zwanzig Minuten daraus, okay? Dann besteht wenigstens der Hauch einer Chance, dass ich dann auch fertig bin.“

Schnell wusch sie sich das Gesicht, schminkte sich neu. Du meine Güte, jetzt mache ich mich schon schön für Tim, dachte sie. Sie schnitt eine Grimasse, kam aber nicht gegen ihr Bedürfnis an, sich möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Vielleicht nahm er sie dann ja ausnahmsweise als Frau war und nicht als den Dreckspatz von früher. Doch plötzlich fiel ihr der Abend in Frankreich ein, als er sich einen Kuss gestohlen hatte. Kaja überlief es siedend heiß. O Gott, das hatte sie ja fast vergessen. Nicht dass es ihr nicht gefallen hätte, aber sie hatte im Moment wirklich keine Energie für solche Spielchen. Zudem hatte sie ganz gerne selber das Wie, Wann und Wo in der Hand. Sie musste über sich selber lachen. Wahrscheinlich Maß sie diesem kleinen Zwischenfall sowieso zu viel Bedeutung zu und er hatte das Ganze schon wieder vergessen.

Mit dieser Annahme lag Kaja allerdings mehr als falsch. Genau genommen hatte es Tim nicht geschafft, auch nur einen Tag nicht an Kaja zu denken. Offensichtlich hatte er sich in den kleinen, nein, verbesserte er sich in Gedanken, als er auf dem Weg zu Kajas Wohnung war, großen Wildfang verliebt. Er war noch nie verliebt gewesen. Er hatte zwar natürlich schon einige Freundinnen gehabt. Doch aufgrund seiner Arbeit hatte sich nie mehr als eine flüchtige Affäre ergeben. Das war ihm auch immer recht gewesen so. Nur keine zu engen Bindungen. Er dachte immer, er hätte das so gewählt. Aber offensichtlich war ihm nur die Richtige noch nicht über den Weg gelaufen. Tja, dann sah er wohl besser zu, dass Kaja auch zu diesem Schluss kam. Er schmunzelte. Irgendwie hatte er so eine dunkle Ahnung, dass sie seine Geduld ziemlich strapazieren könnte. Er schob die hin und her springenden Gedanken in seinem Kopf zur Seite und beschloss, einfach ihre Gegenwart zu genießen und zu schauen, wie sich der Abend entwickeln würde.

Als es an der Tür klingelte, warf Kaja nervös einen letzten Blick in den Spiegel. Zorro veranstaltete schon einen lauten Freudentanz vor der noch geschlossenen Türe und Kaja beeilte sich, sie zu öffnen. Tim wurde regelrecht überrannt von dem eifrigen Fellbündel.

„Uff“, japste Tim und schob den Hund ein wenig zur Seite, ließ aber seine Hand hinter Zorros Ohren und kraulte ich, während er Kaja begrüsste. Erleichtert stellte sie fest, dass er offensichtlich nicht da anknüpfen wollte, wo er das letzte Mal aufgehört hatte und sie entspannte sich ein wenig.

„Lass uns zu Fuß zum See gehen“, bat sie, „es ist ja nicht weit.“

„Ja, das habe ich mir auch schon überlegt.“

Er hakte sich freundschaftlich bei ihr unter und sie machten sich auf, Richtung See. Zorro lief vor ihnen auf dem Gehsteig, seine helle Rute leuchtete durch die städtische Dunkelheit, erhellt durch die Straßenlaternen. Es war ein ausgesprochen lauer Septemberabend, auch wenn sie froh war, ihre dicke Jacke angezogen zu haben.

Eine Weile gingen sie wortlos nebeneinander her und genossen den Spaziergang, bis Kaja das Schweigen brach und fragte: „Weshalb musstest du denn so plötzlich abreisen?“

Sie merkte, wie er kurz zögerte, bevor er antwortete. „Ein Freund von mir ist gestorben.“

Betroffen schweig Kaja. Sie wusste nicht genau, wie sie auf diese Mitteilung reagieren sollte. Vorsichtig fragte sie: „Ist er verunglückt?“

„Nein, Krebs. Ich war also nicht ganz unvorbereitet. Aber man hofft schlussendlich doch immer noch auf ein Wunder“, schloss er leise, mehr zu sich selbst als an Kaja gewandt. Kaja nahm seine Hand und drückte sie leicht.

„Tut mir leid, dass ich das wieder aufgewühlt habe, ich wusste ja nicht ...“, sie brach ab und schaute ihn an. Er lächelte sie an und erwiderte den Druck ihrer Hand.

„Schon gut. Ich bin froh, dass ich es dir erzählt habe. Aber lass uns jetzt nicht diesen schönen Abend verderben. Das bringt ihn auch nicht wieder zurück. Ich bin sicher, Sandro, so hieß mein Freund, ist jetzt an einem friedlichen Ort. Vor allem an einem Ort ohne Schmerzen.“

Seine Augen schimmerten dunkel im Licht der Straßenbeleuchtung, als sie ihn prüfend musterte. Eins musste man ihm ja lassen: Unter seinem ansprechenden Äusseren verbarg sich mehr als man auf den ersten Blick vermutete. Plötzlich wurde Kaja bewusst, dass sie über den Mann an ihrer Seite so gut wie nichts wusste. Sie spürte zwar die Vertrautheit zwischen ihnen, die wohl zum größten Teil aus der gemeinsam verbrachten Kindheit her rührte, aber sie kannte nur den Jungen aus ihrer Erinnerung. Den Schritt ins Erwachsenenleben hatten sie beide unabhängig voneinander gemacht. Sie spürte, wie sie auf einmal neugierig wurde zu entdecken, was für ein Mann aus dem Jungen von damals geworden war.

Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

„Wie ist es dir so ergangen bei der Arbeit?“, fragte er ehrlich interessiert.

Auf diese Frage hatte Kaja gewartet. Ruhig erzählte sie ihm alles, was sich in der Zwischenzeit ereignet und was sie herausgefunden hatte. Schließlich schilderte sie ihm ihre Vermutung, dass in der ganzen Firma etwas schieflief, nicht nur bei ihr.

„Wie kommst du denn darauf?“, hakte er nach.

„Erstens sehe ich sonst keinen Sinn dahinter. Wenn sie wollten, hätten sie mich ja schon feuern können, Gründe dafür hätten sie ja genug.“

„Nur wegen dieses Wettbewerbs?“ Ungläubig runzelte er die Stirn.

Etwas verspätet fiel Kaja ein, dass sie ihm ja verschwiegen hatte, weswegen Frédéric sie bei ihren Vorgesetzten verleumdet hatte und auch, dass sie mit diesem Arschloch zusammen gewesen war. Ein Verhältnis gehabt hatte, korrigierte sie sich. Sie wurde rot und war heilfroh, dass es so dunkel war.

„Also ... wie soll ich sagen ... da war noch etwas.“

„Was denn“, ermunterte Tim sie.

Also erzählte sie ihm auch noch den Rest der Geschichte.

„Ich bin sprachlos vor so viel Niederträchtigkeit.“ sagte Tim fassungslos. „Kein Wunder, dass unsere Gattung so einen schlechten Ruf hat“, grummelte er erbost.

„Unsere Gattung?“ Kaja schaute ihn fragend an.

„Na, die Männer.“

„Ach so“, kicherte Kaja und merkte, dass sie sich ein wenig entspannte.

„Dieses Schwein“, brach es aus ihm hervor.

„Ja, das weiß ich jetzt auch“, antwortete Kaja ein wenig bissig. „Zum Glück war es nur eine Affäre“, sagte sie und merkte verwundert, als sie es aussprach, dass das stimmte.

Offenbar war sie gar nicht verliebt gewesen in ihn. Sonst würde das Ganze viel mehr schmerzen. Sie fühlte sich zwar gedemütigt und, mehr noch, wütend. Wütend darüber, dass er aus irgendeinem Grund ihren Namen in den Dreck gezogen hatte und sie schlecht machte bei Fremden wie bei Freunden. Sie schaute zu Tim hinüber und versuchte herauszufinden, wie er über ihre weiteren Eröffnungen dachte.

„Bist du jetzt schockiert?“, fragte sie ein wenig distanziert, weil sie merkte, dass sie enttäuscht sein würde, wenn dem so wäre.

„Schockiert? Wieso sollte ich schockiert sein?“, fragte er verwundert. „Nein, ich bin nur wütend, dass jemand dein Vertrauen auf eine so miese Art und Weise missbraucht!“

Kaja atmete erleichtert auf. „Also“, fuhr sie fort. Wenn es nur gegen mich gerichtet wäre, hätten sie genug in der Hand, um mir problemlos zu kündigen. Das macht also keinen Sinn, denn das haben sie nicht getan. Und zweitens habe ich so ein Gefühl.“

Sie warf ihm einen Blick zu, um zu sehen, wie er auf ihre letzte Aussage reagieren würde. Doch Tim war nicht umsonst in der Nähe von Mémé groß geworden, so dass er nicht mit der Wimper zuckte, sondern lediglich fragte: „Und was hast du jetzt vor?“

Frustriert fuhr sich Kaja mit den Händen durch die Haare und kickte einen Stein ins Wasser. Zorro hechtete hinterher. „Ich wünschte mir, jemand würde mir sagen, was ich als nächstes tun soll.“

„Ja richtig“, neckte Tim sie, „Du bist ja so gut im Anweisungen befolgen.“

„Hm, na ja, das stimmt schon, normalerweise tu ich mich da schwer“, gab sie zu, ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. „Nur momentan weiß ich einfach nicht weiter.“

Er überlegte kurz und meinte dann: „Ich habe einen Freund, Simon, den könnte ich dir mal vorstellen. Er besitzt eine private Ermittlungsfirma. Vielleicht kann der dir weiterhelfen.“

„So was wie ein Detektiv?“

„Ja, das könnte man wohl so nennen. Ich habe allerdings keine Ahnung, ob er sich mit firmeninternem Mobbing auskennt.“

„Observiert der nicht viel mehr untreue Ehepartner und so?“, wunderte sich Kaja.

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht so genau, was sein Gebiet ist. Ich habe ihn auch schon lange nicht mehr gesehen.“ Er zuckte etwas hilflos mit den Achseln. „Meine vielen Auslandreisen sind zwar toll, fördern allerdings das Sozialleben in der Schweiz nicht sonderlich. Aber wenn du denkst, es könnte etwas bringen, ruf ich ihn an, dann könnt ihr euch treffen.“

„Hm, einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert“, stimmte Kaja ihm zu. „Ja, rufe ihn doch bitte an, schildere im kurz die Lage und wenn er meint, er könnte uns bzw. mir“, verbesserte sich Kaja schnell, „helfen, würde ich gerne einmal mit ihm reden. Ich wäre allerdings froh, wenn du es dir auch einrichten könntest zu kommen.“ Unsicher schaute sie ihn an.

„Ja klar, er ist ja schließlich mein Freund“, versicherte er ihr. „Ich habe dir ja gesagt, die nächsten zwei Monate bin ich in der Schweiz und“, er deutete augenzwinkernd eine Verbeugung an, „stehe zu ihren Diensten.“

„Ach du“, sie gab ihm einen kleinen Schubs, um die plötzlich wieder aufkommende Spannung zwischen ihnen etwas aufzulockern. Nimm dich zusammen, ermahnte sie sich streng. Du hast keine Zeit für Spielchen. Schon gar nicht mit einem deiner wenigen besten Freunde.

Tim beobachtete, wie sich ihr Gesichtsausdruck verschloss. Schade, er hätte sie zu gerne wieder geküsst. Das letzte Mal war ihm noch deutlich in Erinnerung. Aber irgendetwas sagte ihm, es diesmal dabei zu belassen, ihre Gesellschaft zu genießen und sich in Geduld zu üben.

„Durst?“, neckte er sie, als sie vor einem der Restaurants mit Seeblick angekommen waren.

„Immer“, antwortete sie und hakte sich bei ihm unter.