Kapitel 17

Den Rest des Nachmittags verbrachte Kaja unmotiviert in ihrem Büro. Das war etwas, was sie noch nie hatte ausstehen können – im Büro anwesend sein zu müssen, ohne etwas zu tun zu haben. Schrecklich. Sie versuchte noch über ein paar Arbeitskollegen herauszufinden, in welcher Weiterbildung Max abgeblieben war. Ihre Anstrengungen erbrachten allerdings, wie sie erwartet hatte, keinen Erfolg, so dass sie es schließlich aufgab. Sie surfte noch eine Weile ziellos im Web umher, bis sie um vier Uhr definitiv genug hatte.

„Das bringt ja hier nichts. Komm Zorro, wir machen noch eine Runde im Wald. Am Abend sind wir beide bei Miri eingeladen. Dann haben wir wenigstens unser Fitnessprogramm schon absolviert.“

„Hab’ mich schon gewundert, wie lange du noch hier rumsitzen wolltest“, ließ sich Lance plötzlich aus dem Nichts vernehmen.

„Du kannst echt froh sein, dass ich mit starken Nerven ausgerüstet bin“, seufzte Kaja, als er sich langsam neben ihr materialisierte. „Sonst müsstest du nämlich immer mit dem Riechsalz rumrennen.“

„Aber, aber, das sind wir Drachen doch gewöhnt, von unseren zartbesaiteten Jungfrauen! Und was dich betrifft, gib‘s doch zu, du hast dich schon an mich gewöhnt – hast du mich etwa vermisst?“ Er klimperte übertrieben mit seinen langen Wimpern.

Kaja verdrehte gespielt genervt die Augen, während sie ihre Sachen packte. „Träum weiter, mein Schöner. Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege, dafür, dass du normalerweise so aufdringlich und mitteilungsbedürftig bist, hast du dir einen denkbar langweiligen Nachmittag ausgesucht, um mit deiner diskreten Abwesenheit zu glänzen. Was hast du denn gemacht?“

„Och, dies und das“, antwortete der Drache ausweichend.

Kaja zuckte mit den Schultern. „Na dann erzählst du es mir eben nicht, auch gut. Zorro und ich machen uns jetzt auf den Heimweg und gehen dann noch eine Runde laufen. Kommst du mit?“

„Was, ich soll joggen?“, fragte Lance entgeistert.

Kaja grinste. „Das muss ich mir merken, frag den großen starken Drachen, ob er sich körperlich betätigen will und sofort bricht ihm der kalte Schweiß aus. Dein Gesichtsausdruck eben war einfach köstlich. Wieso eigentlich? Du könntest ja einfach neben uns her schweben. Ist das anstrengend?“, wollte sie neugierig wissen, während sie Zorro ins Auto springen ließ.

Angewidert verzog Lance das Gesicht. „Das ist einfach unter jeder Drachenwürde.“

„Aha.“ Kaja konnte nicht aufhören zu grinsen. Lance hatte inzwischen auf dem Beifahrersitz Platz genommen und blickte hoheitsvoll aus dem Fenster.

„Du bist einfach eine Memme“, ließ sich Zorro bellenderweise vom Rücksitz vernehmen.

Der Drache beschloss, den Einwurf zu ignorieren und Kaja, die ihn wieder einmal missverstanden hatte, beruhigte ihn: „Keine Sorge, Kleiner. Wir zwei lassen uns von diesem faulen Drachen nicht aufhalten.“

Zwei Stunden später waren Kaja und Zorro zurück vom Joggen. Während Kaja schnell unter die Dusche hüpfte, ließ sich Zorro, erschöpft und glücklich vom Rennen auf seine Decke im Wohnzimmer fallen. Lance schmollte wohl noch immer. Kaja konnte ihn auf jeden Fall nirgends entdecken. Was wohl nicht allzu viel zu bedeuten hatte bei einem Wesen, das es erstens gar nicht geben dürfte und zweitens die halbe Zeit sowieso unsichtbar war, dachte sie bei sich. Was heißt die halbe Zeit. Für alle anderen war er immer unsichtbar. Existierte nicht einmal. Und jetzt war sie doch tatsächlich auf dem Weg zu einer Frau, die ihren Drachen auch sehen konnte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und zog wahllos ein paar durchgesessene Jeans aus dem Schrank. Fertig angezogen stellte sie sich vor den Spiegel und schminkte sich flüchtig, ein wenig Lidschatten, ein bisschen Mascara.

So, das sollte genügen. Ohne einen zweiten Blick in den Spiegel zu werfen, eilte sie zu ihrem Schreibtisch und begann im Durcheinander, das dort herrschte, nach Miris Adresse zu suchen. Sie war schon leicht hektisch, als sie den Zettel schließlich unter der Zeitung von heute fand. Schmiede Wiedikon. Nicht unbedingt die Gegend, die sie sich selbst zum Wohnen ausgesucht hätte. Sie zuckte mit den Schultern. Aber sie hatte ja auch extrem Glück gehabt mit ihrer Wohnung. Und überhaupt. Wie kam sie dazu, Miri nach der Wahl ihres Wohnorts zu beurteilen? Das lag wohl daran, dass sie ein wenig nervös war vor diesem Treffen. Schließlich kannte sie die Frau ja kaum.

„Doch, du kennst sie – schon immer.“ Da war sie wieder, diese Stimme.

„Okay“, sagte Kaja laut zu sich selbst. „Erst siehst du Fabelwesen am helllichten Tag, dann hörst du Stimmen, es wird immer besser!“

„Führst du wieder Selbstgespräche?“, ließ sich Lance vernehmen, der jetzt deutlich sichtbar auf dem Sofa rumhing, in einer seiner blauschimmernden Klauen nachlässig ein Glas haltend.

Mit hochgezogener Augenbraue fragte Kaja: „Ich nehme nicht an, dass das Wasser ist in deinem Glas?“

Ihren Gesichtsausdruck imitierend zog der Drache auch eine Augenbraue hoch und antwortete: „Du liegst richtig. Ich habe mir ein Gläschen Holunderschnaps von meiner Freundin Josephine genehmigt. Die weiß wenigstens, dass man einen Drachen mit dem nötigen Respekt behandelt.“

„Ach komm, jetzt steig doch von deinem hohen Ross herunter. Ich gönn dir doch deinen Holunderschnaps“, meinte sie versöhnlich. Sie konnte es sich aber nicht verkneifen, ein „meistens jedenfalls“ nachzuschieben. „Jag Simon bitte keinen Schrecken ein wenn er vorbei kommt, okay?“

„Moment, was meinst du damit? Ich dachte, ich komme mit zu Miri?“

„Nein, Lance. Das mach ich jetzt mal schön alleine. Du bist immer noch mein Drache und ich will dich nicht unbedingt teilen. Schließlich hab ich auch all den Ärger mit dir alleine“, schloss sie scherzhaft. „Wenn Miri und ich tatsächlich eine tiefergehende oder weiterführende, oder wie auch immer man das nennen soll, Verbindung haben, möchte ich das gerne für mich rausfinden.“

„Hm, na gut. Kann ich verstehen. Dann verbringe ich meinen Abend mit meinem Freund hier“, meinte er und schwenkte das Glas.

„Was ist denn los?“ Kaja drehte sich zu Zorro um, der sich von hinten angeschlichen hatte und ihren Pulli zwischen den Zähnen versuchte, sie sanft in Richtung Futternapf zu ziehen. „He, ich komm ja schon. Ich vergess doch die Raubtierfütterung nicht“, versicherte sie ihm lachend.

Nachdem Zorro seinen Napf leer gefressen hatte, schnappte sie sich die Hundeleine und schlüpfte in ihre Windjacke.

„Haben wir nochmal Glück gehabt, was Zorro? Jetzt regnet es nämlich, da wären wir ganz schön nass geworden, wenn wir jetzt Laufen gegangen wären.“

Die beiden legten den kurzen Weg zum Auto in einem Spurt zurück. Nach zehn Minuten waren sie in der näheren Umgebung von Miris Wohnung. Als sie einen freien Parkplatz erspähte, parkte sie trotz des strömenden Regens ihr Auto gleich an Ort und Stelle.

„Jetzt werden wir halt trotzdem noch nass, was Zorro?“

Sie kannte sich hier einfach nicht genug aus und wollte nicht riskieren, dass sie sich noch verfuhr bei der Suche nach einem näheren Parkplatz. Das konnte einem hier nämlich leicht passieren bei diesen vielen Einbahnstraßen. So gut zumindest kannte sie das Quartier. Zwei Straßen weiter und einige Liter Wasser später, so erschien es zumindest Kaja, stand sie vor einem schmutziggrauen hohen Wohnblock. Zorro drückte sich sofort in den Türeingang, um sich so gut es ging vor dem ekligen Regen zu schützen.

„Schönwetterhund“, schnaubte Kaja belustigt und beugte sich dann vor, um Miris Name auf einer der Klingeln zu finden. Sie läutete und wartete nervös. Erst geschah gar nichts, doch dann hörte sie, wie jemand in großen Sprüngen die Treppe herunter kam. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und Miri öffnete die Tür, ein wenig außer Atem.

„Hey, tut mir leid, es dauert immer ein Weilchen, bis ich vom vierten Stock hier unten bin. Und eine Gegensprechanlage gibt’s hier nicht. Aber dafür ist es günstig. Herrje, ich quassle dummes Zeug, nicht? Und das bei diesem Wetter, komm rein!“

„Ja, tut mir leid, ich, wir sind ein wenig nass, Zorro und ich. Ich hoffe, das macht dir nichts aus?“, fragte Kaja hastig.

„Nein nein“, beeilte sich Miri zu versichern, während sie gemeinsam die alte Holztreppe in Angriff nahmen. Zorro eilte voraus, begeistert davon, an einem neuen Ort zu sein, den er erkunden konnte.

„Du hast’s gut mit deinen vier Beinen“, meinte Miri lachend, als sie ihn gerade noch um die nächste Kurve flitzen sah. Oben angekommen bot sich den beiden ein lustiges Bild. Zorro schien aus vollem Lauf gestoppt zu haben. Ihm gegenüber stand eine riesige, rotgetigerte Katze, fast halb so groß wie der nicht gerade zu klein geratene Zorro und fauchte ihn warnend an.

„Äh, und du hast dir Sorgen um deine Katze gemacht?“, wollte Kaja mit einem schiefen Lächeln wissen. „Das ist ja ein Riesenv…“, gerade noch rechtzeitig schluckte sie das Vieh hinunter.

„Sag es ruhig, Riesenvieh“, bestätigte Miri grinsend. „Das ist Chili, ein Maine Coon Kater.“

„Wow, ich bin beeindruckt!“

„Und so wie’s aussieht Zorro auch“, fügte sie lachend hinzu.

Miri bückte sich und hob Chili mit Schwung hoch. „So, lass uns reingehen.“

Kaja folgte ihr in die Wohnung mit einem immer noch etwas zögerlichen Zorro auf den Fersen.

„Du kannst deine Jacke an einen der Haken im Gang hängen“, ertönte Miris Stimme aus einem anderen Zimmer.

Kaja blickte sich suchend um und entdeckte einige farbige Garderobehaken an der Wand. Das waren ja alles verschiedene Tierköpfe. Fabeltiere, wie Kaja feststellte, als sie genauer hinschaute. Da gab es einen Troll, verschiedene Elfen, ein Einhorn... Und natürlich, wie könnte es auch anders sein, auch ein feuerspeiender Drache fehlte nicht. Sie folgte dem Gang bis sie in einem kleinen Zimmer stand, das offensichtlich als Wohn-wie auch als Schlafzimmer diente. Über das Bett war nachlässig eine Tagesdecke geworfen, bestickt mit unzähligen kleinen Blumen. Auf jedem freien Fleck standen Töpfe mit Blumen, Farnen und anderen Pflanzen. In einer Ecke blühte ein Baum. Der billige Novilonboden war geschickt unter verschiedenen Flickenteppichen versteckt. Schräg gegenüber vom Bett, gleich neben dem Fenster, stand ein abgewetztes Sofa davor eine alte hölzerne Transportkiste, die auf dem Kopf stand und offensichtlich als Wohnzimmertisch funktionierte. Im Moment war er völlig mit Bastelsachen vollgestellt, soweit Kaja das beurteilen konnte.

„Sag mal, hast du etwa die Haken deiner Garderobe selbst gemacht?“, rief sie in den angrenzenden Raum. Miri wirbelte ins Wohnzimmer.

„Tja, ich, ja, sie zupfte verlegen an ihrem riesigen pinkfarbenen Sweatshirt. In Kombination mit den schwarzen Leggins und den kurzen weißblonden Locken, die ihr Gesicht umrahmten, sah Miri selber ein wenig aus wie eine Elfe, dachte Kaja. Eine kurvige Elfe allerdings, dachte Kaja zwischen Neid und Bewunderung schwankend.

„Ja? Sind das alles deine Kreationen? Und das da?“ Kaja deutete auf die Wand hinter dem alten Fernseher. Durch eine angedeutete Waldlichtung bekam der Betrachter den Eindruck, in einem Phantasieland gelandet zu sein.

„Ja, die mache ich in meiner Freizeit.“

„Verkaufst du die auch?“ Sie hielt inne, unsicher, ob Miri das überhaupt schätzte, wenn sie sie gleich mit so persönlichen Fragen überfiel. „Tut mir leid, das geht mich überhaupt nichts an“, fügte sie deshalb hinzu. „Deine Sachen und überhaupt dein ganzer Stil gefällt mir einfach sehr gut.“

„Nein, nein, das ist schon okay. Ich freu mich sehr, dass es dir gefällt. Aber meinst du wirklich, dass jemand das auch kaufen würde?“

„Keine Ahnung. Ich bestimmt. Ich würde es auf jeden Fall darauf ankommen lassen.“

„Hm. Lass mich auf jeden Fall erst mal hier die Sachen wegräumen. Sonst kann ich den Tee ja gar nirgends hinstellen.“

„Kann ich dir etwas helfen? Wir können sonst auch in der Küche Tee trinken und uns unterhalten. Dann musst du hier nicht extra alles aufräumen.“

Miri lachte laut. „So spricht jemand, der noch nie meine Küche gesehen hat. Komm mit.“

Sie ging voraus und neugierig folgte Kaja ihr. Beziehungsweise folgte ihr bis zur Tür. Die Küche war nämlich nur mit Miri darin bereits schon mehr als voll. Der kleine Raum war komplett ausgefüllt mit einem großen amerikanischen Kühlschrank und einer kleinen, altmodischen Küchenzeile mit zwei Herdplatten. Über dem Abwaschbecken befand sich ein winziges Fenster, auf dessen Fensterbrett sich Töpfe mit frischen Kräutern befanden. Miri drehte sich um, ein Tablett mit einem Krug dampfenden Tee darauf, sowie zwei schon etwas angeschlagene Tassen. Kaja konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen.

„Ups, das war knapp, nicht schon wieder ein Zusammenstoss“, meinte Miri.

„Ach ja, wie geht es eigentlich deinen Verletzungen. Tut mir leid, dass ich nicht früher gefragt habe. Ich war zu beschäftigt damit, deine Wohnung zu bestaunen.“

„Das ist schon okay. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand so begeistert ist von meiner Wohnung, das übertrifft alle guten Besserungswünsche. Mal abgesehen davon, dass schon fast alles verheilt ist.“ Sie drehte den Kopf ein wenig, um Kaja die Narbe zu zeigen, die tatsächlich schon sehr schön aussah, wenn man von dem großen, inzwischen gelbschillernden Bluterguss rundherum mal absah.

„Nur so nebenbei, wie geht es eigentlich deinem Drachen? Es wundert mich, dass er nicht mitgekommen ist.“

Kaja zog eine Augenbraue hoch. „Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass da kein Drache war?“

Miri grinste. „Nö, so wie ich das in Erinnerung habe, hast du darauf bestanden, dass da kein Drache war. Und ich habe irgendwann einfach aufgehört, dich mit Fragen über ihn zu löchern. Das heißt nicht, dass ich meine Meinung geändert habe. Ich weiß schließlich was ich gesehen habe.“

„Und das sagt jemand, der sich zu diesem Zeitpunkt gerade erheblich den Kopf gestoßen hatte“, stöhnte Kaja gespielt verzweifelt. „Aber okay, wenn du darauf bestehst, können wir auch über imaginäre Drachen sprechen.“

Miri warf ein Kissen nach ihr, dem sie lachend auswich. Nachdem der Heiterkeitsausbruch vorüber war, nahmen beide etwas verlegen einen Schluck Tee. „Also, ich freu mich so oder so, dass du vorbeigekommen bist. Mir kommt es nämlich so vor, als würden wir uns schon ewig kennen.“

„Mir auch“, erwiderte Kaja spontan und etwas verwundert. „Ist das nicht seltsam?“

„Auch nicht seltsamer als ein Drache im Bekanntenkreis zu haben, oder?“ Miri blickte sie bedeutungsvoll an. „Versteh mich nicht falsch, aber können wir das Theater nicht aufhören? Für so was bin ich einfach zu ungeduldig“, schloss sie temperamentvoll. „Ich will dir deinen Drachen ja nicht wegnehmen.“

Kaja wurde rot. „Ja ich weiß, entschuldige. Es ist nur so, dass dieses Drachenthema für mich extrem persönlich ist. Und ich bin es überhaupt nicht gewohnt, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Ich kann mich ja nicht einmal mit Mémé darüber unterhalten, ohne schnippisch zu werden. Und ich kann ja zu einem gewissen Grad noch akzeptieren, dass er zu mir gehört. Aber wenn jetzt plötzlich andere Leute auch noch anfangen Lance, so heißt er, zu sehen, das macht das Ganze einfach ein kleines bisschen zu real.“

„Wer ist denn Mémé?“, wollte Miri wissen.

„Mémé ist meine Großmutter.“

„Und sie sieht deinen Drachen auch?“

„So wie es scheint habe ich den Drachen von ihr sozusagen geerbt“, antwortete Kaja mürrisch. „Siehst du, kaum spreche ich über Lance, vergesse ich meine guten Manieren und werde völlig unleidig. Ich kann es auch kaum fassen, dass ich dir all diese Dinge erzähle und du völlig ungerührt dasitzt.“

„Tja, ich glaube, wenn ich nicht eine eigene Vorgeschichte hätte und letzte Woche tatsächlich zum ersten Mal einen Drachen gesehen hätte, würde ich wohl auch nicht so locker drauf sein. Aber wie es nun einmal ist, habe ich bereits einige Drachenerfahrung.“

„Du klingst, als würdest du einfach über ein exotisches Haustier sprechen“, stellte Kaja amüsiert fest.

„Auf keinen Fall“, verteidigte sich Miri entrüstet. „Ich nehme an, du konntest selber bereits feststellen, dass die Drachen einen eigenen Kopf haben.“

„Das kannst du wohl laut sagen“, seufzte Kaja übertrieben.

„Siehst du? Deshalb habe ich mich auch gewundert, dass, wie hast du ihn genannt, Lance?“

„Genau.“

„Das Lance nicht mitgekommen ist.“

„Ich hab den einen oder anderen Trick von Mémé gelernt“, gab Kaja zu. „Heute Abend allerdings hat es gereicht, dass ich ihn darum gebeten habe, zu Hause zu bleiben.“

„Okay, ich bin beeindruckt.“

„Aber was ist denn nun mit deiner Drachenerfahrung? Hast du einen eigenen Drachen? Oder hast du ein Wochenendseminar besucht, ‚Wie finde ich einen Drachen‘?“, scherzte Kaja.

Miri gluckste. „Ich hatte einen, als ich klein war.“

Miris Blick wanderte in die Ferne, in ihre Kindheit zurück. Kaja holte sie zurück mit der Frage: „Und wo ist er dann hin?“

„Oh, ich weiß nicht mehr genau. Irgendwann war sie, es war ein weiblicher Drache oder besser gesagt ein Drachenmädchen, einfach weg. Aber ich könnte dir gar nicht mehr genau sagen, wann das war. Oder weshalb sie verschwand. Sie war meine beste Freundin.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich denke das war so in der Zeit, als ich zwischen vier und zehn Jahren alt war.“ Sie sprang auf, ein Bündel Energie, unfähig, länger stillzusitzen. Während sie in dem kleinen Raum hin und her lief, erzählte sie einige lustige Episoden aus ihrer Kindheit. „Einerseits war dieses Drachenmädchen furchtbar altklug und auch entsetzlich weise, was ich oft fürchterlich fand.“

„Wieso denn das?“

„Na ja, weil sie mich halt oft davon überzeugte, dass meine Mama schon recht hatte, wenn ich wieder einmal Unsinn getrieben hatte. Und meistens hat sie das noch so hingekriegt, dass ich sogar selber zu dem Schluss gekommen bin.“

„Kommt mir doch bekannt vor. Und stell dir vor, wenn dir das als Kind schon gegen den Strich gegangen ist, wie’s mir jetzt geht mit Lance“, brummte Kaja.

Miri setzte sich kurz zu Kaja auf das Sofa und tätschelte ihr mitfühlend den Arm.

„Du Arme. Aber wenn der Rest zwischen dir und deinem Drachen auch ähnlich ist wie bei mir, habt ihr bestimmt jede Menge Spaß miteinander, oder? Maxi hat mir nämlich bei vielen Gelegenheiten auch geholfen, Streiche auszuhecken und zu perfektionieren.“

„Das stimmt“, gab Kaja lachend zu und dachte sogleich an die Nacht als sie zusammen in der Firma eingebrochen waren.

Ihr Gedankengang wurde von Miri unterbrochen, die inzwischen wieder aufgesprungen war und einen Stapel Karten flink zwischen ihren Fingern umher wirbelte. „Nur, was mir immer noch nicht klar ist, wieso kann ich Lance sehen? Der ist ja schließlich dein Drache, oder? Oder gibt’s sowas wie Gemeinschaftsdrachen?“

„Sicher nicht. Also, keine Ahnung. Aber Lance ist definitiv mein Drache!“ Kaja wurde ein wenig rot, als sie merkte, wie vehement sie gesprochen hatte. „Sorry, tut mir leid. Ich weiß ja, du willst ihn mir nicht wegnehmen. Aber offensichtlich habe ich trotz meiner widersprüchlichen Gefühle Lance gegenüber, einen gewissen Besitzanspruch entwickelt“, schloss sie ein wenig lahm.

Miri lächelte sie verständnisvoll an, legte die großen Karten wieder an ihren Platz auf dem Fensterbrett und schenkte Tee nach. „Also, ich wär fuchsteufelswild geworden, hätte ich auch nur vermutet, dass noch jemand anders meinen Drachen sehen kann. Nachdem wir das jetzt geklärt haben, können wir uns aber doch nochmal dieser Frage zuwenden. Nur, wie sollen wir das herausfinden?“

„Wie wäre es mit einem Wochenendseminar zum Thema ‚1001 Fragen und Antworten zu Drachen‘?“ Die beiden prusteten los.

Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, hakte Miri nach: „Kann das sein, dass du eine leichte Abneigung gegen Wochenendkurse hast?“

„Na ja, nicht grundsätzlich. Nur wenn du darauf achtest, welche Ausbildungen oder Seminare in gewissen Zeitungen angeboten werden: ‚Werde Schamane über Nacht‘ oder ‚Weißes Hexenwissen in einem Tag‘ und so weiter, das kann ich einfach nicht ernst nehmen.“

„Du glaubst nicht an solche Dinge?“, wollte Miri interessiert wissen.

„Nein. Doch. Ach, es ist kompliziert zu erklären.“

Miri ließ sich wieder gegenüber von Kaja in ihren Sessel fallen.

„Na los, erzähl schon. Ich habe Zeit – und du?“

„Okay, okay, überredet. Es ist ein wenig abgefahren. Aber nachdem wir uns ja schon als wäre es das normalste der Welt, über Drachen unterhalten, passt das ganz gut hier hin, denke ich zumindest.“

„Da hast du vermutlich recht“, stimmte ihr Miri ungeduldig zu.

„Mémé, meine Großmutter, die ich vorhin erwähnt habe, sie ist das, was Leute vor allem früher gemein hin als Hexe bezeichnet haben.“

„Das ist ja cool.“

„Ja, echt cool, vor allem als 12jährige, wenn dich deine Schulkameraden alle als Hexenbalg verspotten“, antwortete Kaja sarkastisch.

„Oh“, meinte Miri ein wenig kleinlaut.

„Ist schon okay. Heute könnte ich mich damit bei Cocktailpartys interessant machen, da jeder zumindest ein bisschen auf der esoterischen Welle reitet. Jeder hat mindestens einen indianischen Traumfänger zuhause, oder, je nach Geldbeutel, eine Visionssuche gemacht oder ist mit den ach so spirituellen Delphinen geschwommen.“

Gespielt verstohlen warf Miri einen Blick auf ihren eigenen Traumfänger, der gut sichtbar über dem Bett hing. Kaja, die ihrem Blick gefolgt war, ließ ihrerseits ein betroffenes „Oh“ hören.

„Hör zu, tut mir Leid, ich bin manchmal ein Trampel, Diplomatie gehörte noch nie zu meinen Stärken. Und dass obwohl meine Eltern beide im diplomatischen Dienst stehen.“

Miri musste lachen. „Ehrlich gesagt, ich musste einfach da hin schauen. Ich fühle mich allerdings von deiner Beschreibung nicht persönlich angesprochen. Ich denke, ich weiß schon was du meinst, diese Feierabend-Erleuchteten.“

„Eben, und obwohl ich keinerlei Autorität besitze, über dieses Thema eine Meinung abzugeben, erlaubt dir die Tatsache, dass du Lance siehst und einen eigenen Drachen hattest, sicherlich den Besitz eines Traumfängers“, blödelte Kaja. Miri streckte ihr die Zunge heraus.

„Erzähl jetzt endlich weiter.“

„Also, Mémé praktiziert den alten Glauben, kennt sich hervorragend mit Heilkräutern aus, spricht mit Pflanzengeistern, und wenn jemand im Dorf ein Problem hat, bei dem er nicht weiter weiß, landet er irgendwann bei Mémé und schüttet ihr sein Herz aus. Und verlässt sie wenig später wieder mit einem besseren Gefühl. Zumindest das, wenn nicht sogar mit einem Lösungsansatz zu seinen Problemen. Von ihr habe ich meine ganze Kindheit über gelernt und gesehen, dass es so etwas wie Feierabendhexen, wenn wir bei diesem Begriff bleiben wollen, nicht gibt. Es ist eine Haltung im Leben, die kannst du nicht einfach an-und ablegen, wie du gerade Lust hast.“

„Und du? Hast du auch so einen engen Bezug zur Natur und zur Göttin?“, wollte Miri wissen.

„Hm, nein. Ich bin so was wie Mémés lebenslanges Projekt. Nicht, dass sie versuchen würde mich zu bekehren oder so“, beeilte sie sich hastig zu sagen. „Es ist mehr so, als würde sie versuchen, mir einen Zugang dazu zu verschaffen. Und natürlich war und bin ich immer damit konfrontiert, wenn ich bei ihr bin. Aber eben, bisher habe ich mich als ziemlich resistent erwiesen. Ich denke, dass ich mich durch die Pöbeleien in der Kindheit ziemlich abgeschottet habe von all diesem intuitiven Zeug.“

„Aha.“

„Was aha?“

„Nun, vermutlich ist das momentan ziemlich im Umbruch, seit du dich mit dem Drachen herumschlagen musst, oder?“

„Tja, da könntest du Recht haben“, stimmte Kaja ihr widerwillig zu.

„Spannend. Aber eigentlich sind wir ziemlich von unserer dringenderen Frage weggekommen. Wieso sehe ich deinen Drachen?“

„Ich hab da eine Idee. Besser gesagt, ich habe Lance gefragt, beziehungsweise zur Rede gestellt.“ Sie grinste. „Ich wollte schließlich auf der Stelle wissen, wieso eine wildfremde Person plötzlich mein ganz privates Monster sieht.“

„Und? Was hat er gemeint?“

Erwartungsvoll setzte sich Miri im Sessel auf und verschränkte die Beine zum Schneidersitz.

„Erst wusste er es auch nicht. Dann ist er losgezogen, um den Drachenrat zu befragen.“

„Drachenrat?“ Miri schaute etwas verwirrt drein.

„Vergiss es“, meinte Kaja lachend. „Das ist eine andere lange Geschichte und wir wollten doch auf den Punkt kommen.“

„Stimmt.“

Kaja gab Miri einen kurzen Abriss von dem, was Lance in Erfahrung gebracht hatte. Als sie geendet hatte, wiederholte Miri ungläubig: „Drachenschwestern?“

„Ja, ich weiß, es klingt ziemlich fantastisch. Andererseits“, begann sie nach einer kleinen Pause, „sind Drachen als Haustiere ja sowieso nicht normal zu nennen.“

Miri grinste. „Stimmt. Und sei bloß froh, dass Lance nicht hier ist. Ich bin nicht sicher, wie erfreut er wäre, wenn er das eben gehört hätte.“

„Was?“

„Na, das mit dem Haustier.“

„Ach, das würde ihm bloß gut tun“, kicherte Kaja. „Ab und zu ein Tritt an das königliche Drachenschienbein hält sein überschäumendes Ego im Zaum.“

„Und wie sollen wir jetzt unsere dritte Schicksalsschwester finden?“

„Hm, da wusste Lance auch keine Antwort. Ich kann nur hoffen, ich fahr nicht gleich noch jemanden über den Haufen.“

„Solche Situationen machen mich wahnsinnig“, entfuhr es Miri, die ihre Wanderung in dem kleinen Zimmer wieder aufgenommen hatte. „Wo du nichts anderes machen kannst als darauf warten, dass etwas passiert, während man keine Ahnung hat, was genau, wie, wo oder wann.“

„Das kannst du laut sagen“, pflichtete Kaja ihr bei. „Das Verrückte ist, dass sich das im Moment auf alle Teile meines Lebens sagen lässt.“

„Wie meinst du denn das?“

„Ich habe da eine ziemlich seltsame Phase bei der Arbeit.“

„Was arbeitest du denn überhaupt?“

„Ich erzähle es dir gleich. Ich hab nur erst eine freche Frage.“

„Okay, ich liebe freche Fragen, los“, forderte Miri sie auf.

„Hast du schon was gegessen?“

„Nein, ich wusste ja auch nicht genau, wie lange unser Treffen gehen würde, deshalb habe ich leider auch nichts vorbereitet“, meinte sie bedauernd. „Eigentlich blöd von mir, nachdem ich ja schon die ganze Zeit das Gefühl hatte, meine älteste und beste Freundin würde zu Besuch kommen.“

„Du auch?“ Kaja blickte sie erstaunt an.

„Ja, dabei kann ich gar nicht behaupten, ich würde das Gefühl kennen. Ich habe eigentlich keine beste Freundin, nie gehabt.“

„Tja, das kenn ich. Aber mir ging’s genau so.“

„Na ja, nachdem wir jetzt wissen, dass wir so was wie Drachenschwestern sein sollen, macht das ja auch Sinn. Ich bin gespannt, wie Schwester Nummer drei sein wird. Ob wir uns mit ihr auch gleich auf Anhieb so gut verstehen“, sinnierte Miri. „Aber jetzt wollen wir uns erst mal um unsere dringlicheren Probleme kümmern. Pizzaservice?“

„Gute Idee. Für mich einmal Pizza Hawaii.“

„Brr.“ Miri schüttelte sich. „Früchte auf der Pizza, das ist ja grauenhaft.“

„Ist es nicht und du kriegst auch nichts ab davon“, drohte Kaja.

Zorro, der bei dem Wort Pizza aufgehorcht hatte und schon befürchtete, diese Androhung gelte ihm, drehte sich winselnd zu Kaja um und legte ihr eine Pfote in den Schoss. „Ich habe nicht dich gemeint. Natürlich kriegst du deinen Teil.“

Miri, die das Zwischenspiel beobachtet hatte, konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Ja, ja, ich weiß, ich sollte ihm keine Pizza füttern, aber ich konnte ihm noch nie widerstehen und jetzt ist er schon hoffnungslos verzogen.“ Kaja schnitt eine Grimasse.

„Ich habe gar nichts gesagt.“

„Nein, aber gegrinst.“

„Schon, nur aus einem anderen Grund.“

„Weswegen denn?“, wollte Kaja wissen.

„Tja, der Grund, wieso ich immer Thunfischpizza bestelle, heißt Chilli“, gab Miri zu und deutete auf den riesigen Kater, der sich trotz seiner Grösse lautlos angeschlichen hatte und jetzt auf dem Fensterbrett thronte. Ab und zu ließ er ein warnendes Fauchen hören, wenn er den Eindruck hatte, Zorro würde ein Ohr zu sehr in seine Richtung drehen.

Miri bestellte telefonisch die Pizzas und holte eine Flasche Rotwein aus ihrer winzigen Küche. Kaja machte es sich bequem und die beiden hoben ihre Gläser.

„Na dann. Auf uns, unsere neue Familie.“

„Auf unsere neue Familie.“

Gleichzeitig nahmen sie einen Schluck und strahlten einander an. „Ich hab mir immer schon Schwestern gewünscht“, gab Miri zu.

„Ich hab unsere Nachbarn auch immer um ihre große laute Familie beneidet“, antwortete Kaja ihr.

„Wie sie wohl so ist?“

„Wie wer ist?“

„Unsere andere Schwester.“

„Das werden wir ja hoffentlich bald erfahren. Macht keinen Sinn, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen.“

„Hört, hört, was für weise Drachenworte“, spottete Miri gutmütig.

„Ich gebe es ja zu“, lachte Kaja. „Das ist auf Lance‘ Mist gewachsen. Aber ich habe in den letzten Tagen heraus gefunden, dass weise Drachenworte durchaus etwas für sich haben.“

„Das ist ja das Ärgerliche“, meinte Miri schmunzelnd. „Natürlich hat er Recht. Und trotzdem bin ich extrem ungeduldig, das ist einfach mein Naturell. Zudem find ich es total spannend, Vermutungen anzustellen.“

„Grundsätzlich geht es mir genauso. Nur kann ich dann manchmal gar nicht mehr aufhören und ein Szenario jagt das nächste in meinem Kopf.“

„Das ist dann anstrengend.“

„Genau.“

20 Minuten später klingelte an der Tür. Miri sprang auf, ihren Kater dicht auf den Fersen, gefolgt von Zorro, unter Einhaltung eines Sicherheitsabstands von eineinhalb Metern. „Soll ich mitkommen?“, rief Kaja Miri hinterher.

„Nein, nein, bleib ruhig sitzen. Wir sind gleich wieder da.“

„Pass auf, dass dir die Raubtiere nicht alles klauen, bis du wieder oben bist.“

Die Tür öffnete sich und leckerer Pizzaduft verteilte sich in dem kleinen Wohnzimmer.

„Irgendwie erinnert ihr mich an die Bremer Stadtmusikanten“, witzelte Kaja, „fehlt bloß noch der Hahn…“

„Danke auch“, schnaubte Miri gespielt empört, „was mich dann zum Esel machen würde.“ Kaja schnappte sich ihre Pizzaschachtel, bevor es Miri einfallen konnte, ihr zur Strafe das Essen vorzuenthalten.

In einträchtigem Schweigen teilten sie miteinander das Essen. Erst nachdem sie beide fast fertig waren, nahm Miri das Gespräch wieder auf. Mit halbvollem Mund fragte sie: „Was ist denn nun los bei dir im Geschäft.“

Kaja schluckte den letzten Bissen herunter und leckte sich die fettigen Finger ab. „Hättest Du ein Glas Wasser für mich? Der Wein ist sehr lecker, aber ich muss ja leider noch fahren.“

„Aber klar doch, ich habe noch Apfelschorle, Tee, Kaffee oder natürlich Wasser, allerdings nur Leitungswasser. Was möchtest du?“

„Wasser reicht völlig, danke.“

Miri verschwand in der Küche um ein Glas Wasser zu holen, während Kaja wieder einmal die letzten paar Wochen ihres Lebens rekapitulierte.

„Jetzt hab ich diese Geschichte schon so oft erzählt, dass ich bald ein Buch darüber schreiben könnte.“

„Mach doch, ausgeschmückt als Thriller verkauft sich das bestimmt gut.“

„Woher willst du denn das wissen.“

„Ich lese selber viel und zudem arbeite ich in einer Buchhandlung.“

„Du arbeitest in diesem kleinen Buchladen an der Ecke, wo wir den Unfall hatten?“

„Genau.“

„Was für ein Zufall: an dem Tag, an dem wir zusammengestoßen sind, wollte ich genau dort hin! Da hätte uns das Schicksal also auf jeden Fall zusammengeführt“

„Vielleicht auch nicht.“ Miri druckste herum. „Ich arbeite meistens im Hintergrund. Ich mache die Bestellungen, die Buchhaltung, den ganzen administrativen Teil halt. Die Buchhandlung gehört meinem Onkel.“

„Das ist ja toll: freier Zugang zu allen Büchern“, schwärmte Kaja.

„Ehrlich gesagt, es geht so. Mein Onkel und ich sind nicht gerade das ‚Dream Team’. Er ist der geizigste Mensch auf Erden. Er mag mich nicht besonders, was zugegebenermaßen auf Gegenseitigkeit beruht.“

„Wieso arbeitest du denn da?“

„Ich hatte zu dem Zeitpunkt, als ich bei ihm angefangen habe, absolut kein Geld, einige Schulden und brauchte dringend einen Job. Ich nehme mal an, ich sollte ihm dankbar sein dafür“, brummte Miri. „War ich auch, die ersten paar Wochen. Bis mir aufging, dass er mir die Stelle offenbar nur angeboten hatte, um mich konstant unter seiner Fuchtel zu haben und mich fertig zu machen.“

„So schlimm?“, fragte Kaja erschüttert.

„Ziemlich. Ich darf kaum Kundenkontakt haben, weil er es als eine Schande ansieht, wie ich rumlaufe, wie ich aussehe, wie ich spreche – ich würde ihm die Kundschaft vergraulen. Wenn ich einen Fehler mache… “ Miri schluckte und blickte zur Seite.

„Was dann?“

Miri riss sich zusammen und straffte die Schultern. „Dann folgen endlose Monologe darüber, wie dumm ich bin und dass das die gerechte Strafe ist, weil meine Mutter eine Sünde begangen hat – nämlich die, mit meinem Vater zu schlafen, ohne dass sie verheiratet waren, und dann auch noch schwanger zu werden dabei.“

„Aber...“, Kaja suchte nach den passenden Worten, was gar nicht so einfach war, „ihm ist schon bewusst, dass wir mittlerweilen im 21. Jahrhundert leben – welchem das 20. vorangegangen ist – und nicht im Mittelalter?“, schloss sie dann ungläubig.

„Puh“, atmete Miri hörbar aus. „Tut mir leid, mich nimmt das immer unglaublich mit. Ich weiß, dass ich das einfach von mir abprallen lassen sollte, aber ich kann einfach nicht anders. Ich nehme es immer persönlich.“ Sie schnäuzte sich geräuschvoll die Nase.

„Ich kann das gut verstehen. Ist ja schon schwierig genug, wenn man sich solche Dinge ab und zu anhören muss. Wenn ich mir vorstelle, das jeden Tag mitmachen zu müssen, oje oje.“

„Ich bin da vermutlich auch speziell empfindlich“, fügte Miri hinzu. „Es ist nämlich so, dass ich Lernschwierigkeiten habe. Oder besser gesagt, hatte. Schule war für mich immer eine echte Tortur.“

„Lernschwierigkeiten? Wie meinst du das genau?“

„Ich war Legasthenikerin. Ich konnte Buchstaben nicht auf die Reihe kriegen, und mit Zahlen haperte es auch.“

„Und was hast du dann gemacht?“

„Die ersten paar Jahre wurde es kontinuierlich besser. Meine Mutter hatte irgendwo gelesen, dass Yoga helfen würde. Offensichtlich liegt eine mögliche Ursache in einer schlechten Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften. Und Yoga verbessert das.“

„Und, hat es geholfen?“

„Erstaunlicherweise ja. Es hat mir auch immer viel Spaß gemacht. Ich erinnere mich, dass Maxi und ich jeweils zusammen Yoga geübt haben. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie lustig ein zusammen gefalteter Drache aussieht“, grinste Miri.

Kaja musste bei der Vorstellung lachen.

„Nur leider starben meine Eltern dann bei einem Autounfall und ich musste zu meinem Onkel und meiner Tante ziehen. Ab da war es aus mit Yoga und Maltherapie, überhaupt fertig mit Kind sein. Aber lassen wir dieses Thema jetzt. Ich möchte jetzt lieber noch ein wenig den Abend genießen.“

Die beiden blieben noch eine Stunde sitzen, bis sich Kaja irgendwann schweren Herzens aufraffte. „Ich geh jetzt dann mal lieber. Sonst komm ich morgens überhaupt nicht aus dem Bett. Obwohl, wenn ich es mir so richtig überlege, spielt das keine so große Rolle“, schloss sie ein wenig trübsinnig.

„Das denke ich mir auch jeden Abend, vermutlich bin ich deshalb so eine Nachteule. Typische Vermeidungshaltung. Solange ich nicht ins Bett gehe, kann der Morgen nicht kommen.“ Miri zog eine Grimasse. „Aber hey, lass uns doch wieder etwas abmachen. Dann haben wir was, worauf wir uns freuen können.“

„Gute Idee, Donnerstagabend, diesmal bei mir?“, fragte Kaja.

„Donnerstag, Donnerstag, ich habe um elf noch abgemacht, aber vorher könnte ich schon zu dir kommen, wenn das für dich okay ist?“

„Ja klar. Und wer weiß, vielleicht wissen wir schon, wer die dritte im Bunde ist?“, meinte Kaja schelmisch.

„Das wär schön, tschüss, komm gut nach Hause.“

„Ja, mach’s gut.“

Miri blickte Kaja vom offenen Fenster aus noch nach, wie sie mit Zorro, der freudig an ihr hoch sprang, zum Auto lief. Sie beobachtete, wie sie den Hund auf die Rückbank springen ließ, selber einstieg und schließlich weg fuhr. Sie ließ ihre Gedanken zu dem gerade gemeinsam verbrachten Abend zurück wandern. Schön war es gewesen. Und sie hatte sich einmal nicht so rastlos gefühlt. Auch wenn es ein wenig irritierend war, mit jemandem anderen über Drachen zu sprechen. Das war eine Premiere. Noch nicht mal ihre Mutter hatte verstanden, dass Maxi keine eingebildete Freundin einer kindlichen Fantasie war, so viel ihre Mutter auch sonst verstanden hatte. Sie seufzte. Es war auf seltsame Weise schmerzhaft und tröstlich zugleich. Schmerzhaft, weil der betreffende Drache zu Kaja gehörte und nicht zu ihr. Schnell schob sie das Gefühl des Verlassen-worden-seins beiseite und konzentrierte sich auf den tröstlichen Teil, endlich das Gefühl zu haben, nicht die einzige zu sein, die offensichtlich ein wenig verrückt war. Ein kalter Windstoss riss sie aus ihren Gedankengängen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie immer noch am offenen Fenster stand. Fröstelnd rieb sie sich über ihre Arme und schloss resolut das Fenster.

Als Kaja zuhause an kam, lief sie mit Zorro noch schnell zu seiner Wiese und wartete, bis er sein Geschäft erledigt hatte. Sie ließ den Abend im Geist Revue passieren. Miri war eine der nettesten Personen, die sie je kennengelernt hatte. Und alles war so unkompliziert.

Tief in Gedanken versunken schloss sie die Tür auf, trat in ihre Wohnung ein und fand Lance erwartungsvoll mit einem missbilligenden Gesichtsausdruck auf der Couch sitzend. „Auch schon zu Hause“, meinte er gedehnt.

„Äh ja – wüsste zwar nicht, was dich das angeht, wann ich nach Hause komme, aber ja, ich bin auch schon zu Hause“, antwortete Kaja leicht irritiert.

„Na hör mal, ich mach mir schließlich Sorgen um dich. Fast hätte ich in Drachennotruf-Modus geschaltet.“

Kaja verdrehte die Augen. „Du hättest ja nur kurz vorbei schauen müssen, dann hättest du gewusst, dass ich einen wunderbaren Abend genossen habe.“

„Du hast mir gesagt, ich soll mich raushalten“, antwortete Lance indigniert.

„Wie wenn dich das jemals davon abgehalten hätte, zu tun was du möchtest“, schnaubte Kaja.

„Und, wie war es denn so?“

„Gut, wirklich gut.“ Erschöpft ließ sich Kaja neben ihm aufs Sofa fallen. Sie begann, die Flasche Rotwein zu spüren, die sie zusammen geleert hatten. „Wir haben geredet und geredet und Pizza gegessen und geredet.“

Jetzt war es Lance der lauthörbar schnaubte. „Frauen… ob Menschen-oder Drachenfrauen, es ist doch immer dasselbe.“

Kaja kicherte. „So sind wir eben.“

„Und, ist wenigstens etwas dabei rausgekommen?“

„Was sollte denn rauskommen dabei? Wir haben uns einfach besser kennengelernt. Es ist ja nicht so, dass wir drei dazu bestimmt sind, auszuziehen und die Welt zu retten, oder?“

„Hm, keine Ahnung. Immerhin redest du schon ganz selbstverständlich von euch dreien – irgendwelche Geistesblitze gehabt, wer die dritte im Bunde sein könnte?“

„Wir haben beide keinen blassblauen Schimmer. Wir kennen beide niemanden, auf den die Beschreibung passen könnte“, frotzelte Kaja.

„Was für eine Beschreibung denn?“, wollte Lance interessiert wissen.

„Na, du weißt schon: Chaos im Leben, nicht ganz normal im Kopf und von Drachen besessen“, antwortete sie leichthin, was ihr einen Knuff von Lance einbrachte. „So, jetzt lass mich schlafen gehen“, meinte sie, als sie sich gähnend vom Sofa erhob.

„Nichts da, jetzt warte noch kurz. Ist dir nichts aufgefallen?“

„Aufgefallen?“

Kaja rieb sich die Augen und blickte sich in ihrem Wohnzimmer um.

„Na, dein Badge ist weg.“

„Klar ist er weg. Simon hat ja gesagt, er würde ihn abholen“, erwiderte sie ein wenig ungeduldig.

„Schon, die Frage ist nur, wie er das gemacht hat. Du hast ja abgeschlossen, als du gegangen bist – und jetzt, als du nach Hause gekommen bist, wieder aufgeschlossen… “ Lance ließ seine Beobachtungen im Raum stehen. Schließlich drang seine Botschaft durch Kajas benebeltes Gehirn.

„Oh.“

„Wie hat er es denn gemacht?“, wollte sie verwundert wissen.

Lance antwortete mit einer Gegenfrage: „Was hast du gemeint, ist sein Beruf? Professioneller Dieb?“

„Äh, nein, nicht das ich wüsste.“

„Auf jeden Fall war er in weniger als drei Minuten hier drinnen und genauso schnell wieder draußen.“

„Spannend“, sinnierte Kaja. „Ich geh jetzt trotzdem schlafen.“

Lance schaute ein wenig enttäuscht, dass seine Neuigkeiten nicht mehr Aufregung verursacht hatten, fügte sich dann aber und verschwand ebenfalls in Kajas Schlafzimmer, um auf seinen Schützling zu warten. Auf Kajas Kissen. Das verstand sich ja wohl von selbst.