Kapitel 23

Irgendetwas schrillte penetrant in ihrem Kopf. Verdriesslich zog sich Miri die Decke über den Kopf und wünschte sich zum hundertsten Mal, seit sie in dieser Wohnung wohnte, dass die Wände nicht gar so hellhörig wären. Dann würde sie wenigstens nicht mitkriegen, wenn samstags in aller Herrgottsfrüh beim Nachbarn das Telefon läutete. Und das bei ihren dröhnenden Kopfschmerzen. Wieso zum Teufel nahm denn niemand dieses Telefon ab? Frustriert rieb sie sich die verklebten Augen und setzte sich auf. Das war gar nicht das Telefon. Das war ihre Türklingel. Scheiße! Sie hatte sich ja zu diesem Spaziergang mit Kaja verabredet. Irgendwie hatte die Idee vorgestern Abend besser geklungen als zum jetzigen Zeitpunkt. Miri schlug die Decke zurück, was Chili, der offenbar geduldig auf ihrem Bett gewartet hatte, bis sie aufwachte, mit einem Fauchen quittierte. Empört sprang er vom Bett und verschwand in der winzigen Küche.

Als die Türklingel nochmals schellte, murmelte sie ein verärgertes „Komm ja schon“ und hetzte zum Fenster. Sie riss es auf und rief hinunter: „Kaja, bist du’s?“ Unten sah sie, wie Kaja einen Schritt zurück machte und zu ihrer Wohnung hoch sah.

„Hallo? Bist du startklar?“

„Äh, so gut wie. Warte, ich werfe dir den Schlüssel hinunter, dann kannst du hier oben auf mich warten bis ich ganz fertig bin“, krächzte sie.

Ein breites Grinsen erschien auf Kajas Gesicht. „Mach das.“ Sie warf ihr den Schlüssel hinunter, den Kaja geschickt fing. Miri wartete nicht ab, bis Kaja im Haus verschwand, sondern begann hektisch, ein paar Kleider zusammen zu suchen und verschwand unter der Dusche, in der Hoffnung, so ein wenig schneller von den Toten zu auferstehen.

Als sie barfuß mit Jeans und T-Shirt bekleidet aus dem Badezimmer kam, duftete es nach Kaffee und auf dem winzigen Küchentisch lagen frische Brötchen. Miri rubbelte sich noch schnell die kurzen Locken trocken und ließ sich schräg gegenüber von Kaja auf den Klappstuhl fallen. „Aufgewacht bin ich in der Hölle und direkt aus der Dusche im Himmel gelandet?“ Sie nahm einen Schluck heißen Kaffee. „Himmlisch auf jeden Fall. Diesen Trick muss ich mir merken. Oder war das Drachenservice?“

Kaja lachte. „Drachenservice, schön wär‘s. Na ja, nachdem ich dich offensichtlich geweckt hatte und du sowieso noch Duschen musstest, hatte ich genug Zeit, die Brötchen zu organisieren. So als Wiedergutmachung fürs aus dem Schlaf reißen sozusagen. Und als ich dann noch deinen hawaiianischen Kaffee entdeckt hatte, konnte ich nicht wiederstehen, uns eine Kanne davon aufzubrühen.“

„Das verstehe ich, eins meiner kleinen Laster, dieser Kona-Kaffee. Sündhaft teuer. Aber auch sündhaft gut.“ Sie nahm noch einen Schluck und schloss genussvoll die Augen.

„Spät geworden gestern?“, erkundigte sich Kaja beiläufig.

„Kann man wohl sagen“, murmelte Miri in ihren Kaffee hinein. Tatsächlich hatte sie gehofft, jemanden kennen zu lernen, der sie von dem Mann, den sie am Donnerstag getroffen hatte, ab lenken könnte. Oder eben diesem Mann wieder über den Weg zu laufen. Von dem sie wohlgemerkt nicht einmal den Nachnamen kannte. Eins von beidem halt. Was ziemlich jämmerlich war, wie Miri sich selbst eingestand. So war sie den ganzen Abend in ihrer Lieblingsbar abgehängt und hatte den ganzen Inhalt ihrer Brieftasche gegen Alkohol eingetauscht. Zum Glück hatte sie nicht so viel Geld dabei gehabt, sonst würde sie sich jetzt bestimmt noch viel schlechter fühlen. Sie seufzte und schüttelte die unerfreulichen Gedanken ab. „Und du? Was hast du gestern so gemacht?“, wandte sie sich an Kaja, die geduldig gewartet hatte, bis sie ihren Kaffee getrunken hatte.

„Das ist eine lange Geschichte, glaub mir. Die erzähle ich dir am besten unterwegs“, meinte Kaja mit einem Grinsen im Gesicht. „Ich hatte gestern einen extrem ereignisreichen Tag.“

„Also dann, lass uns gehen, das klingt ja spannend.“

Sobald sie im Auto waren, löcherte Miri Kaja mit Fragen. Kaja begann mit dem geschäftlichen Teil. Sie fügte auch noch die Schlussfolgerungen hinzu, welche Simon und sie inzwischen gezogen hatten und füllte die Stellen aus, welche Miri noch nicht bekannt waren.

„Eins verstehe ich nicht“, meinte Miri, als sie aus dem Auto stiegen.

„Was denn?“, fragte Kaja, die eine Frage nach möglichen Gründen für die seltsamen Vorgänge in der Firma erwartete. Sie ließ Zorro aus dem Wagen springen, der freudig bellend um die kleine Gruppe herumsprang, missbilligend beobachtet von Lance, der überraschenderweise noch den ganzen Morgen nichts gesagt und so getan hatte, als sei er unsichtbar.

„Macht dich denn deine Kündigung nicht völlig fertig? Ich meine, was machst du denn jetzt?“

Kaja war selber immer noch überrascht, dass sie die Sache mit der Kündigung nicht mehr stresste. „Zum einen bin ich in der glücklichen Situation, dass ich ein kleines bisschen Geld gespart habe, mir also einen oder sogar zwei Monate Zeit lassen kann, mich zu entscheiden, was ich machen möchte bzw. mir einen Job zu suchen. Zum anderen hat es mir zumindest im letzten halben Jahr auch überhaupt nicht mehr gefallen in der Firma. Klar, ich hatte einige Freunde da. Aber die kann ich auch außerhalb der Arbeit treffen, wenn mir etwas daran liegt.“ Sie bogen auf einen mit Gras bewachsenen Waldweg ein. Die Herbstluft war wunderbar frisch und das herunter gefallene Laub raschelte unter ihren Füssen.

„Ja das stimmt. Zumindest die, die dir wirklich wichtig sind. Und, hast du schon eine Idee, bei welcher Firma du dich bewerben möchtest?“

„Hm, eigentlich nicht. Ich kenne natürlich in der Branche einige Unternehmen, die in Frage kämen. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, diese unerwartete Kündigung stellt eine Chance dar, etwas gänzlich anderes zu machen.“

„Hört, hört, sie hört doch tatsächlich auf ihr Gefühl“, neckte sie der Drache, der sich nun doch entschieden hatte, sich am Gespräch zu beteiligen.

„Ja ja, reib es mir nur unter die Nase“, schnaubte Kaja. Wieder an Miri gewandt meinte sie: „Was ich sagen will, ist, dass ich unter normalen Umständen mir gar nie so konkret Gedanken darüber gemacht hätte, ob das, was ich mache, auch das ist, was ich wirklich machen möchte. Vielleicht wäre ich in fünfzehn Jahren eines Morgens aufgewacht und hätte mich gefragt, ob das jetzt alles war.“

„Aber du hast dich doch aus freien Stücken für diese Ausbildung und diesen Beruf entschieden oder nicht?“ Miri schien sie noch immer nicht ganz zu verstehen.

„Schon. Und ich mache meine Arbeit auch gerne. Das sagt aber noch nichts darüber aus, ob ich mein Leben ausschließlich mit Programmieren verbringen möchte. Angestellt. Bei einer großen Firma.“

„Was wären denn die Alternativen?“

„Mich weiterbilden, Computergames entwerfen, als Freelancer zu arbeiten, was weiß ich…“

„Duftkerzen herstellen, Kräuter ziehen…“

„Was?“ Perplex blieb Kaja abrupt stehen, so dass Miri fast in sie hinein gelaufen wäre.

„Passt doch auf“, grummelte der Drache. Zorro, der das Durcheinander spürte, kehrte besorgt von seinem Ausflug ins Unterholz zu der kleinen Gruppe zurück und bellte aufgeregt.

Von einem kleinen Seitenweg nahte in schnellem Trabtempo ein fuchsfarbenes, nicht allzu großes Pferd mit einer schlanken Reiterin. Die Reiterin parierte ihr Pferd in den Schritt durch, was diesem nicht allzu sehr gefiel. Es wurde zwar langsamer, begann aber dafür nervös auf der Stelle zu treten. Kaja zerrte Zorro, der zum Glück mit seiner Kläfferei aufgehört hatte, am Halsband an den Wegrand.

„Hier geht es nicht weiter. Das ist alles Privatbesitz“, herrschte die Reiterin die kleine Gruppe unfreundlich an. „Und ich wäre froh, wenn ihr euren Drachen zurückpfeifen könntet, der macht mir mein Pferd noch ganz verrückt!“ Mit diesen Worten wendete sie ihr Pferd elegant auf der Hinterhand und galoppierte davon. Miri konnte sich gerade noch ducken, als kleine Kieselsteine in ihre Richtung spritzten.

„Du meine Güte, die war ja vielleicht unfreundlich!“, regte Kaja sich auf. „Was denkt die eigentlich, wer sie ist?“

„Äh, Kaja“, unterbrach sie eine perplex dreinblickende Miri.

„Was denn?“ Kaja wollte sich lieber noch eine Weile über diese unerfreuliche Begegnung aufregen.

„Ich sage dir das jetzt nur ungern, aber…“

„Ja, was denn?“ Ungeduldig blickte sie zu Miri.

„Ich denke, wir haben soeben unsere andere Schwester kennengelernt.“

„Schwester? Ich habe doch gar keine… Du meinst?“

„Genau. Die dritte der Drachenschwestern.“ Für einen Moment herrschte Stille. Nur die Eichelhäher ließen sich nicht stören und stritten fröhlich weiter. Schließlich brachte Kaja heraus: „Das darf doch nicht wahr sein. Und ich hatte so gehofft, dass die dritte im Bunde genau so unkompliziert und nett ist wie du!“

„Vielleicht ist sie das ja auch.“

„Wie bitte? Warst du eben gerade nicht anwesend? Das war ja wohl kaum freundlich zu nennen.“

„Wer weiß, vielleicht hatte sie ja ihre Gründe. Und schließlich begegnet man ja nicht täglich einem Drachen. Eventuell hat sie das etwas aus dem Konzept gebracht.“

„Diesen Eindruck hatte ich allerdings nicht“, brummte Kaja verdriesslich.

Damit hatte Kaja nicht einmal so Unrecht. Die Frau regte sich nämlich so über die Eindringlinge in „ihrem“ Wald auf, dass ihr zuerst gar nicht auffiel, dass sie soeben einen leibhaftigen Drachen gesehen hatte. Genau genommen war es natürlich nicht ihr Wald, auch wenn sie das soeben behauptet hatte. Sie wusste gar nicht, wem dieses Waldstück gehörte. Es war ihr auch egal. Wichtig für sie war, dass sich meistens keine Menschenseele bis hierher verirrte.

„Findest du das nicht ungerecht, Fuks, dass wir nirgends unsere Ruhe haben?“

Das kleine Pferd zuckte mit seinem linken Ohr in ihre Richtung, behielt aber gleichzeitig einen gefährlich aussehenden Baumstrunk im Blick. Die Frau ahnte das Ausweichmanöver voraus und legte den äusseren Schenkel an, um ihn am wegspringen zu hindern und ihm Sicherheit zu vermitteln. Abwesend tätschelte sie seinen Hals. Sie wusste wirklich nicht, was diese beiden jungen Frauen mit dem neurotischen Hund und diesem unmöglichen blauschillernden Drachen hier in ihrem Wald machten. Hier gab es doch überhaupt nichts Spannendes zu sehen. Sie runzelte die Stirn. Irgendetwas stört sie, wenn sie an die Gruppe zurück dachte. Unvermittelt hielt sie das Pferd an. Fuks schnaubte unwillig. Ein Drache? Meine Güte, ich glaube ich sollte mal zum Arzt. Meine Paranoia scheint ja recht extreme Züge anzunehmen. Das kleine Pferd zuckte nochmals mit dem Ohr, diesmal mit dem andern und warf dann den Kopf hoch. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und trabte Fuks an.

Was die Frau nicht bemerkt hatte, war, dass der Drache auf dem furchterregenden Baumstrunk gesessen hatte und ihren Fuchswallach ausführlich befragt hatte. „Hallo ich bin Lance, ein Drache.“

„Ach danke vielmals für die Aufklärung“, schnaubte das kleine Pferd verächtlich. „Da wäre ich sonst nie darauf gekommen.“

Lance beschloss, den Sarkasmus zu ignorieren. Schließlich hatte er eine Mission zu erfüllen. „Sag mal, wie heißt denn eigentlich deine Reiterin“, erkundigte er sich beiläufig.

Misstrauisch beäugte ihn das Pferd. „Und was geht dich das an? Sie gehört zu mir“, stellte er fest. „Und ich bringe sie jetzt vor dir in Sicherheit.“ Der Wallach wollte wegspringen, wurde aber vom festen Schenkeldruck seiner Reiterin und ihrem beruhigenden Zuspruch daran gehindert.

„Nachdem du immer noch da bist, könntest du mir ihren Namen doch verraten, ich verspreche auch, euch danach in Ruhe zu lassen.“ Zumindest für den Moment, fügte er im Stillen hinzu.

Der Wallach legte die Ohren an. „Lass bloß Sierra in Ruhe, sonst kriegst du es mit mir zu tun!“

„Ich schätze Loyalität hoch ein“, antwortete der Drache gelassen. „Und danke.“

Fuks warf den Kopf hoch und trabte davon. Lance blickte den beiden nach. Dem großen Drachen sei Dank, dass sie nicht Nicole hieß oder einen anderen häufig vorkommenden Namen trug. Mit Sierra sollte doch wohl etwas anzufangen sein.

„Lance?“ Kaja drehte sich einmal um ihre Achse und suchte ihren Drachen. Der natürlich passenderweise wieder einmal verschwunden war, wenn sie ihn dringend brauchte. „Typisch! Da wird’s spannend und wir könnten ihn dringend brauchen und er verschwindet einfach!“

„Was machen wir denn jetzt?“, wollte Miri wissen.

„Wie meinst du das?“

„Na ja, offensichtlich sind ja unsere Leben irgendwie über diese Drachengeschichte miteinander verknüpft.“

„Ja, das haben wir schon festgestellt, und?“ Kaja wusste selbst nicht, weshalb sie so zickig klang.

„Jetzt haben wir sie endlich gefunden, die dritte, und wissen nicht einmal, wie sie heißt, oder wo sie wohnt“, antwortete Miri geduldig.

„Da hast du recht“, gab Kaja ihr widerstrebend recht. „Ich muss zugeben, dass dieses Zusammentreffen am heutigen Morgen wohl eine Neuigkeit zu viel war in den letzten 24 Stunden. Und eigentlich tue ich mich mit Änderungen jeglicher Art ziemlich schwer. Tut mir also leid, wenn ich unausstehlich war.“

„Ist denn noch mehr passiert, als du mir bis jetzt erzählen konntest?“, wollte Miri erstaunt wissen und ignorierte den Rest der Aussage geflissentlich.

„Das könnte man wohl so sagen“, antwortete Kaja mit einem schiefen Grinsen. „Lass’ uns zurückgehen. Vielleicht fällt uns bei einem Sandwichstopp auch etwa ein, wie wir diese geheimnisvolle Pferdefrau ausfindig machen könnten.“

„Okay. Essen klingt gut.“

„Finde ich auch“, ließ sich Lance aus dem Off vernehmen.

„Was ist denn das jetzt“, frotzelte Kaja, „eine Konferenzschaltung auf Drachenart?“

Miri musste kichern. Wieder einigermaßen gut gelaunt machten sich die drei auf den Rückweg.

Sie hatten beschlossen, die Brötchen, die sie in einer der wenigen kleinen Bäckereien, welche es in Zürich noch gab, gekauft hatten, bei Kaja zu Hause zu essen. Sie waren nicht mehr in Stimmung gewesen, sich großartig Gedanken zu machen, wo sie noch hingehen könnten. „Ich wusste gar nicht, dass ich schon wieder solchen Hunger habe“, ließ sich Miri mit vollem Mund vernehmen.

Kaja bemühte sich, ihren Bissen erst hinunter zu schlucken, ehe sie erwiderte: „Das kommt von der ungewohnten Bewegung an der frischen Luft.“

„Stimmt.“ Miri machte eine schulbewusste Miene. „Ich bin tatsächlich nicht so viel draußen, wie ich sollte.“

„Wie ich möchte“, belehrte Kaja sie.

„Das ist doch eigentlich meine Aufgabe“, zog Miri sie auf.

„Was denn?“

„Na, dir zu sagen, was du zu tun oder zu lassen hast, zumindest bezüglich deiner Intuition.“

„Ich dachte, dass sei seine Aufgabe?“, fragte Kaja und wedelte mit dem Sandwich in der Hand unbestimmt in Lance Richtung, der vor einem Glas Holunderschnaps saß.

„Äh“, Miri druckste herum. „So könnte man das auch nennen. Ich vermute, indirekt habe ich diese Aufgabe von ihm zugeschoben bekommen.“

„Solange du nicht zu herrisch wirst...“, neckte Kaja sie freundlich.

Erleichtert, dass Kaja ihr Geständnis auf die leichte Schulter nahm, beschloss sie, jetzt doch endlich nachzuhaken um heraus zu finden, was gestern alles sonst noch passiert ist. „Also, rück schon raus mit der Sprache. Was war denn gestern noch so alles los, abgesehen von deiner Kündigung.“

„Wir haben noch einen Spaziergang um den Türlersee gemacht…“ begann Kaja.

„Das meinte ich nicht“, unterbrach sie Miri stirnrunzelnd.

„Weiß ich doch, ich wollte dich nur etwas aufziehen“, grinste Kaja. „Ich habe mich doch mit Simon getroffen, das hatte ich dir ja schon erzählt, oder?“

„Ja, und?“

„Tim wollte auch noch kommen. Er musste aber erst noch etwas erledigen. So um zehn ist er zu uns gestoßen.“ Kaja erzählte das alles praktisch im Zeitlupentempo, so dass die sonst so sanftmütige Miri sie am liebsten geschüttelt hätte. „Tim, ist das der, für den du die dritte Kerze gemacht hast?“

„Genau der.“ Kajas Gesicht hatte einen verträumten Ausdruck angenommen.

„Meinst du, ich kann das Ganze beschleunigen, wenn ich sie schüttle“, erkundigte sich Miri, die vor Neugier fast platzte, bei Lance.

„Du kannst es versuchen. Wetten würde ich nicht darauf. Ich musste ihr gestern Abend, als sie nach Hause gekommen ist, auch alles aus der Nase ziehen. Und danach war meine Beute noch mehr als gering.“

„Immerhin weiß ich jetzt, dass sie überhaupt nach Hause gekommen ist“, konstatierte Miri.

„Würdet ihr beide wohl aufhören, über mich zu sprechen, als wäre ich gar nicht hier?“

„Bist du auch nicht wirklich. Du schwebst irgendwo hoch über uns auf einer rosaroten Wolke“, gab Miri schlagfertig zurück.

Kaja hob abwehrend die Hände und musste lachen. „In Ordnung. Ich gebe mir Mühe, auf den Punkt zu kommen. Erst habe ich die beiden beim Dart buchstäblich in den Boden gerammt“, an diesem Punkt ihrer Erzählung entschlüpfte Kaja ein selbstzufriedenes Grinsen, „und dann sind wir noch mit den Hunden spazieren gegangen.“

„Bis jetzt höre ich noch nichts, was die rosa Wolke rechtfertigt“, unterbrach Miri ungeduldig.

„Wenn du mich endlich aussprechen lassen würdest, wüsstest du es schon längst“, neckte Kaja sie. „Simon hat sich dann irgendwann diskret verabschiedet und Tim und ich sind alleine weiter gegangen.“ Ihre Augen nahmen wieder einen träumerischen Ausdruck an. „Dann hat er mich geküsst. Haben wir uns geküsst“, verbesserte sie sich.

„Und?“

„Nichts weiter. Er hat mich dann noch nach Hause gebracht und das war’s.“

„Ja, aber hat es dir gefallen? Hast du Engel singen gehört, dein Herz verloren, erzähl schon, ich will einfach alles wissen!“ Schließlich gab es in ihrem eigenen Leben momentan nicht allzu viel Romantik.

„Engel singen? Das war eher ein Vulkanausbruch. Praktisch unkontrollierbar. Fantastisch. Erschreckend! Und was mein Herz angeht…“ Kaja seufzte.

„Hier ist der Punkt, wo sie wieder mal ihren Kopf die ganze Arbeit machen lässt, obwohl sie von ihrem Herz spricht“, mischte sich Lance ungefragt ein.

„He, das ist unfair. Ich verlass mich sehr wohl auf mein Gefühl. Ich bin nur dagegen, Lust gleich mit etwas Bedeutenderem zu verwechseln. Vor allem, wenn mein Kopf weiß, dass mein Herz dabei in Gefahr sein könnte.“

„Oje, du Arme. Und du Glückliche.“ Miri kam nicht umhin festzustellen, dass sie ein klein wenig neidisch war. Sicher, sie gönnte Kaja ihre Romanze von ganzem Herzen. Nur hätte sie nichts dagegen gehabt, selber auch in eine verwickelt zu sein.

„Ich weiß einfach nicht was ich denken soll.“

„Genau das ist der Punkt. Vielleicht solltest du in dieser Sache einfach überhaupt nicht denken“, brummte Lance.

„Geniess das Ganze doch einfach vorerst mal. Sorgen kannst du dir immer noch machen, wenn es soweit kommen sollte, dass Sorgen nötig sind.“ Lance warf Miri einen anerkennenden Blick zu und nahm einen genüsslichen Schluck Holunderschnaps.

„Falls du ein Drachenpraktikum machen möchtest, melde dich einfach. Du bist definitiv zum Drachenpraktikanten qualifiziert.“

Kaja warf ihm einen finsteren Blick zu. Zu Miri gewandt meinte sie: „Du hast recht. Ich versuch es ja. Gestern Abend war auch ein Resultat von einfach genießen und möglichst wenig denken. Ob das schlau war wird sich zeigen.“

„Und schon meldet sie Zweifel an!“

„Wenn du nichts Konstruktives beizutragen hast, kannst du dich auch in deine Höhle verkriechen“, schnauzte Kaja ihn an, die es langsam satt hatte, sich seine neunmalklugen Sprüche auf ihre Kosten anzuhören. Sofort rollte sich Lance beleidigt zusammen und schrumpfte auf seine Katzengrösse.

„Jetzt hast du seine Gefühle verletzt“, meinte Miri besorgt. „Aber gut, ich versteh dich auch. Meine Drachin früher hat meine Geduld auch oft strapaziert. Hat ihm die Kerze denn gefallen?“

„Ich habe sie ihm noch gar nicht gegeben. Ich dachte erst, er würde gar nicht kommen, als Simon mich alleine abgeholt hat.“

„Dann wirst du ihn ja bald wiedersehen“, meinte Miri hoffnungsvoll.

„Hm, ja“, antwortete Kaja unbestimmt. „Ich werde wohl bald einmal Simon in seiner Firma besuchen. Dann bin ich sowieso in Bern und kann auch gleich noch kurz bei Tim vorbei schauen.“

Sieh an, sieh an. Kaja hatte dem Thema offensichtlich schon mehr Gedanken gewidmet, als sie sich selbst eingestand, dachte Miri bei sich. Sie wollte jedoch nicht darauf herumreiten und wechselte das Thema.

Miri nahm sich das letzte verbliebene Brötchen und betrachtete es kritisch.

„Willst du das nun essen oder wissenschaftlich untersuchen?“

„Ich habe mir nur überlegt, wie ich es am besten teile. Es sei denn, du möchtest nichts mehr davon?“

„Vielfrass. Du kannst es haben. Ich hätte da allerdings so ein Spezialwerkzeug, falls du es trotzdem teilen möchtest.“

„Spezialwerkzeug?“

„Ja, du weißt schon, diese Dinger, die man Messer nennt? Ich glaube, ich habe so eins irgendwo.“

„Ach du“, lachte Miri und warf ein Kissen nach ihr.

„Eine Kissenschlacht? Darf ich mitmachen?“, fragte Lance eifrig und wuchs auf der Stelle zu seiner tatsächlichen Grösse heran.

„Nein, darfst du nicht“, wies Kaja ihn zurecht. „Und jetzt sei nicht gleich eingeschnappt, ich wollte nämlich noch etwas mit Miri besprechen.“

„Dass ihr überhaupt noch Worte übrig habt, verwundert mich doch ein wenig.“

„Wir sind eben Mädchen“, konterte Miri zuckersüss.

„Wie wenn das zu übersehen wäre“, murmelte der Drache, allerdings vorsichtshalber sehr leise.

„Was wolltest du denn besprechen? Unsere Drachenschwester?“

„Nein“, antwortete Kaja, korrigierte sich dann aber, „oder doch, aber erst später. Erst möchte ich etwas anderes von dir wissen. Gerade vor unserer denkwürdigen Begegnung mit unserer angeblichen Schwester haben wir doch darüber gesprochen, in welche Richtung ich mich beruflich bewegen könnte. Und da hast du etwas gesagt, was ich nicht ganz verstanden habe.“

„Ja, ich weiß was du meinst. Ich hatte nur deiner Liste von Möglichkeiten die Punkte Kräuter und Duftkerzen hinzugefügt. Das sind schließlich auch Dinge, die du gut kannst und gerne machst. Diesen Eindruck hatte ich auf jeden Fall das letzte Mal, als ich hier war.“

„Hm.“ Gedankenverloren stand Kaja auf und ging zu dem großen Fenster, das auf den kleinen Gartensitzplatz führte. „Stimmt“, meinte sie schließlich und kehrte zu ihrem Platz auf dem Sofa zurück. „Nur, was mache ich denn mit den Kerzen? Und nach Frankreich ziehen möchte ich eigentlich nicht unbedingt.“

„Wer sagt denn etwas davon, dass du nach Frankreich ziehen sollst? Wenn die Leute diese Dinge in Frankreich kaufen, kaufen sie sie bestimmt auch hier.“

Zweifelnd blickte Kaja Miri an. „Und wo würde ich meine Kräuter ziehen?“

„Na, in deinem Garten.“

Da musste Kaja lachen. „So sehr ich deinen Optimismus schätze. Aber dieser Garten ist definitiv zu klein und zu schattig für dieses Vorhaben.“

„Schade!“ Enttäuscht sank Miri in ihr Kissen zurück. Doch sie ließ sich nicht so schnell entmutigen. „Dann ziehst du halt um“, meinte sie pragmatisch.

„Umziehen? Stopp, stopp, stopp. Das gehört eindeutig in die Kategorie zu viele Veränderungen auf einmal. Ich liebe meine Wohnung!“

„Na schön“, lenkte Miri ein. „Versprich mir einfach, dir das Ganze einmal durch den Kopf gehen zu lassen.“

Kaja schnitt eine Grimasse. „Ich befürchte, das ist ja das Problem. Diese Idee kriege ich bestimmt nicht mehr so schnell aus meinem Kopf. So, jetzt zum nächsten Punkt auf ihrer Traktandenliste. Unsere Schwester. Beziehungsweise, die Frau, die wir dafür halten.“ Kaja atmete einmal tief durch. „Ich weiß gar nicht, weshalb mich diese Begegnung so aufwühlt. Schließlich kommen wir zwei ja total gut aus. Dann sollte es auch mit ihr gut klappen.“

„Ja, Schwestern sind schließlich immer ein Herz und eine Seele“, ließ sich Lance mit sarkastischer Stimme vernehmen.“

„Wie viele Schwestern hast du denn“, wollte Miri interessiert wissen.

„Sieben“, erzählte der Drache stolz. „Und wir streiten uns jeden Tag, wenn wir Zeit dafür finden.“

„Das gehört zu deinem Charakter. Du streitest einfach gerne“, sagte Kaja. „Können wir jetzt zum eigentlichen Thema zurückkehren?“

„Wenn du weiterhin so unfreundlich bist, sage ich dir auch nicht, was ich rausgefunden habe.“ An dieser Stelle schaltete sich Miri ein, die bis dahin fasziniert dem amüsanten Schlagabtausch gelauscht hatte. Hoch erfreut, dass ihm wenigstens eine der beiden zuhörte, fing er an, seine Begegnung mit dem kleinen Fuchswallach zu schildern.

„Sierra? Was ist das denn für ein seltsamer Name.“

„Keine Ahnung“, meinte Miri. „Aber dein Drache hat recht. Zum Glück für uns trägt sie einen seltsamen Namen. So sollte sie einfacher zu finden sein.“

„Du hast recht“, sinnierte Kaja. Inzwischen war auch sie neugierig geworden. „Ich werde mich gleich dahinter klemmen, und versuchen, ob ich auf elektronischem Weg etwas über Sierra rausfinden kann.“

„Und wenn wir wissen, wo sie wohnt? Was wollen wir dann machen?“

Soweit hatte Kaja noch gar nicht überlegt. Schließlich hatte sie erst vor ca. zwei Minuten aufgehört, sich über die fremde Frau aufzuregen. Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber ich nehme an, uns wird schon etwas einfallen. Vielleicht hat ja auch mein toller Drache eine Idee“, meinte sie liebevoll und kraulte ihn unterm Flügel.

„Wurde auch Zeit, dass dir das wieder einmal auffällt“, brummte dieser schmollend.

„Bleibst du zum Abendessen?“, wollte sie von Miri wissen. „Was ist schon wieder Zeit zum Essen?“, fragte Miri entsetzt.

„Nein, noch nicht, ich wollte es nur wissen, weil ich noch einkaufen gehen muss.“ Erleichtert streckte sich Miri kurz und meinte dann. „Danke für die Einladung. Aber ich sollte wohl langsam nach Hause gehen. Aufräumen und so. Lass uns nächste Woche nochmals sprechen, vielleicht wissen wir bis dahin mehr.“

„Gut, dann geh ich noch Joggen. Kommst du mit Lance?“

„Äh, ich, ich muss mich von den heutigen Strapazen noch erholen“, war seine lahme Ausrede.

„Faulpelz. Aber das sollte ich inzwischen wohl wissen.“