Kapitel 7

Pünktlich um fünf Uhr fuhr Tims Auto die Hofeinfahrt hinauf. Kaja hatte inzwischen geduscht und sich umgezogen. Sie fuhr noch schnell mit der Bürste durch ihre dichten dunklen Haare und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Was sie sah, gefiel ihr heute sogar einigermaßen. Die hellbraunen Augen leuchteten unter ihrem dunklen Pony. Sie hatte sich auch wirklich Mühe gegeben beim Schminken. Zufrieden nahm sie ihre Jacke vom Stuhl und ging hinunter. Zorro hatte den Neuankömmling schon entdeckt und sprang schwanzwedelnd an ihm hoch.

Sie ging zu den beiden hin und meinte fröhlich: „Wie ich sehe habt ihr zwei schon Freundschaft geschlossen.“

Tim hatte sie gar nicht kommen hören und drehte sich beim Klang ihrer Stimme um. Und wäre beinahe rückwärts über Zorro gestolpert. „Wow ... ich meine ... hey“, stotterte er.

„Was ist denn los?“, fragte Kaja verwundert.

„Nichts, gar nichts ist los, nur ... also ... ja ... du siehst toll aus!“, erklärte er hastig, während sein Gesicht langsam eine dunklere Farbe annahm.

Kaja musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Geschieht ihm recht, dachte sie. Nur gut, wenn er merkt, dass ich nicht mehr der kleine Dreckspatz von früher bin. Eigentlich ganz süss, wenn er rot wird, stellte sie amüsiert fest. Ein wenig Make-up und die richtige Kleidung verfehlen ihre Wirkung aufs andere Geschlecht selten.

„Danke“, nahm sie das Kompliment gelassen entgegen. „Du siehst auch nicht schlecht aus.“ Wenn sie ehrlich war, wurde ihm diese Äusserung nicht gerecht. Mit seinen bequemen Workerjeans, dem gestreiften Hemd und den alten Timberlandschuhen bot er ein sehr ansprechendes Bild. Seine braunen, nicht ganz kurz geschnittenen Haare hatte er sich nach hinten gekämmt, doch ein paar Strähnen kringelten sich schon wieder und fielen ihm vorwitzig über die Stirn. Kaja konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen. Was ist nur mit mir los, überlegte Kaja. Erstens habe ich definitiv die Schnauze voll von Männern, mindestens für die nächsten dreihundert Jahre, und zweitens ist das Tim, mein Blutsbruder aus Kindheitstagen, hallo, erinnerte sie sich selber.

„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, Zorro mitzunehmen“, sagte Kaja, „es ist nur so, dass ich ohne ihn nirgends hingehe.“

„Dann habe ich ja keine Wahl“, scherzte Tim. „Los, komm mein Kleiner“, meinte er zu Zorro und klappte den Sitz nach vorn, so dass der Hund auf die kleine Ladefläche des Renaults springen konnte. Zorro kam der Aufforderung freudig nach und nahm auf dem Rücksitz Platz.

Kurze Zeit später kamen sie bei Lucs Garage an. „Das finde ich so schön an Luc und seiner Werkstatt. Auf ihn ist einfach Verlass. Egal, ob die Welt Kopf steht oder sich alles ändert, hier sieht es immer gleich aus“, meinte Kaja zufrieden.

„Ja, da hast du recht“, stimmte Tim ihr zu. „Obwohl, technisch ist er ja immer auf dem neuesten Stand, das muss man ihm lassen.“

Zu dritt betraten sie das alte Gebäude durch die Werkstatt. Ihre Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht, das hier drin herrschte, gewöhnen, bis sie Lucs Beine entdeckten, die unter einem Auto hervorragten. Wie er bei diesen Lichtverhältnissen überhaupt arbeiten konnte, war Kaja schon immer schleierhaft gewesen.

„Hey Luc, Besuch für dich“, rief Tim.

Erst brummte es nur, dann schob der den Beinen zugehörige Mann sich unter dem Auto hervor und erhob sich mühsam. „Ich werde langsam zu alt, um am Boden rum zu kriechen“, schimpfte er, „aber meine Hebebühne zickt mal wieder rum. Ach Kaja, schön dich wieder einmal zu sehen!“ Er nahm sie in seine gewaltigen Arme und drückte sie so fest, dass sie beinahe keine Luft mehr bekam. Dann hielt er sie eine Armlänge von sich weg und schaute ihr prüfend in Gesicht. „Hm, wohl falsch abgebogen, Mädchen“, meinte er kryptisch, „na ja, wenn es dich dafür wieder einmal hierher geführt hat, kann es nicht ganz falsch sein.“ Er wandte sich ab und rief über die Schulter: „Kommt, ich hab’ frischen Kaffee aufgebrüht.“

Ohne ein weiteres Wort, sicher, dass die beiden ihm folgen würden, verschwand er in seinem vollgestopften Büro. Kaja trottete ihm perplex hinterher. Hatte sie etwa ein Schild auf der Stirn?

Tim fragte: „Was meinte er wohl damit? Weißt du, wovon er spricht?“

„Mmh“, antwortete Kaja unbestimmt.

Luc goss ihnen Kaffee ein, original italienischen Espresso, der verlockend duftete. Er war in diesen Dingen sehr eigen. Original italienischer Kaffee, authentische amerikanische Motorräder, echter irischer Whiskey, Schweizer Schokolade. Mist, dachte Kaja, diesmal habe ich gar keine Schokolade für ihn dabei.

„Mir fällt gerade ein, ich hab’ deine übliche Ration Schweizer Schokolade vergessen“, entschuldigte sich Kaja.

„Hm“, brummte der Alte hinter seinem Bart hervor. „Dann muss ich wohl deinen fahrbaren Untersatz als Pfand hier behalten“, witzelte er.

„Wie geht es meinem Auto denn überhaupt?“

„Ach das ist schon wieder fit. Brauchte bloß einen neuen Keilriemen. Und einen längst überfälligen“, er blickte sie streng an, „hast du gehört Mädchen, einen längst überfälligen Ölwechsel! Ist alles schon erledigt. Du solltest dich wirklich ein bisschen besser um deinen Wagen kümmern.“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Ist gut“, meinte Kaja kleinlaut. „Ich vergesse es einfach dauernd.“ Sie kam sich ein bisschen vor, wie ein Schulmädchen, das vom Rektor eine Standpauke erhält. Aber so viel sie wusste, war sie nicht die einzige, auf die Luc diese Wirkung hatte. „Was bin ich dir schuldig?“, fragte sie.

Tim verfolgte interessiert das Gespräch, während Luc Zorro beobachtete, der herumschnüffelte und das ganze Sammelsurium im Büro genau inspizierte. Zuerst schien es, als hätte er die Frage gar nicht gehört, bis er plötzlich antwortete: „Ich will eine Kerze, aber nicht von Josephine, sondern eigenhändig von dir gemacht.“ Er drehte sich zu Tim um. „Und für ihn machst du auch eine. Dann sind wir quitt.“

„Aber, ich kann das doch gar nicht. Zumindest nicht so gut wie Mémé!“

„Papperlapapp!“, wischte Luc ihre Einwände beiseite. „Du hast ihr wohl schon oft genug dabei geholfen, um zu wissen, wie das geht!“

Kaja setzte an, um noch etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben. Wenn Luc sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er sowieso nicht mehr davon abzubringen. „Also gut, du sollst deinen Willen haben. Aber beschwere dich dann nicht, wenn sie dir nicht gefällt.“

„Gut“, nickte er. „Und vergiss die Kerze für Tim nicht!“

„Ja, ja.“

„So dann hätten wir ja den geschäftlichen Teil hinter uns und können uns jetzt dem Vergnügen zuwenden.“ Er langte hinter sich in den Schrank und brachte drei saubere Gläser und eine Flasche alten irischen Whiskey zum Vorschein. „Nehmt ihr auch einen Schluck?“, fragte er, wartete die Antwort jedoch gar nicht erst ab und schenkte ein.

Das kann ja heiter werden, dachte Tim. Er hatte heute noch nicht wirklich viel gegessen. Kaja grinste ihn an, sie wusste ungefähr, was ihm durch den Kopf ging, hatten sie doch im Auto eben darüber gesprochen, wie hungrig sie beide waren.

„Na, dann chin-chin!“, stiessen sie miteinander an.

Zwei Whiskeys später machten sie sich auf den Weg ins Pub, um endlich zu etwas Essbarem zu kommen. Kaja hatte mit Luc vereinbart, dass sie ihr Auto am nächsten Tag abholen würde. Sie setzten sich an eine Eckbank und verstauten Zorro unter dem Tisch. Kaja schnappte sich die einfache Menükarte, als Tim unvermittelt sagte: „Du weißt schon, dass du keine Kerze für mich machen musst. Ich weiß nicht, was Luc sich dabei gedacht hat.“

Das wusste sie zwar auch nicht, doch eines wusste sie ganz genau: Luc wusste immer, weshalb er die Dinge so und nicht anders haben wollte. Er würde schon seine Gründe haben. Deshalb antwortete sie leichthin: „Das geht schon in Ordnung, ich mache gerne eine für dich. Wenn ich schon dabei bin, kann ich auch gleich zwei machen. Wenn du sie nicht willst, kannst du sie ja immer noch deiner Mutter schenken.“

„Nein, nein, so habe ich das doch nicht gemeint. Wenn du eine für mich machst, nehme ich sie natürlich gerne und freu mich darüber!“

„Ich habe dich schon richtig verstanden“, meinte Kaja und lächelte ihn an. „So, jetzt lass uns aber bestellen, bevor ich dank meinem ‚Whiskey-und-sonst-nichts’-gefüllten Magen hier unter den Tisch kippe.“

Sie bestellten beide einen großen Salade Niçoise und jeweils eine Cola. Kaja hätte zwar noch Lust auf einen Cidre gehabt, aber sie beschloss, sich Tim gegenüber solidarisch zu zeigen, der ja noch fahren musste. Als sie fertig waren, forderte Kaja ihn auf: „So, und jetzt erzähl mal. Was treibst du denn so? Wir haben uns das letzte Mal, ja ... wann war das, vor acht Jahren gesehen. Das ist ja schon ewig her. Ich weiß nur noch, dass du damals gerade deine komplette Profi-Fotografieausrüstung gekauft hast und voller Vorfreude warst, sie endlich auszuprobieren. Ist da etwas daraus geworden?“

„Yep, das kann man wohl sagen. Ich hab’s tatsächlich geschafft, meinen Traum zu verwirklichen.“

Er unterbrach sich, weil Kaja plötzlich finster vor sich hinmurmelte: „Schon wieder so ein erfüllter Traum, das scheint hier ja epidemisch um sich zu greifen.“

„Was sagst du?“, fragte Tim nach, der sie nicht verstanden hatte und aus ihrem Gesichtsausdruck nicht so recht schlau wurde.

„Nichts, nicht so wichtig, tut mir leid. Ich wollte dich nicht unterbrechen, erzähl weiter.“

„Ja, also: Ich konnte dann kurz darauf dank eines Fotografen, der mit meinem Vater befreundet war, als Volontär bei einem Elchprojekt in Schweden mitarbeiten. Da habe ich großes Glück gehabt, denn durch diesen Kontakt bin ich dann in die ganze Wildtierforschung reingerutscht. Genommen haben sie mich allerdings nicht, weil sie mich für so einen begnadeten Fotografen hielten, wie ich mich damals…“

„Nicht!? Aber du hast ja wirklich schon immer ein unglaubliches Gespür hinter der Kamera gehabt. Deine Bilder gefallen mir sehr gut!“

„Danke“, er deutete eine Verbeugung an, „das freut mich ungemein, das von dir zu hören. Nichts desto trotz verhalf mir schlussendlich mein Biologiestudium zu dem Job. Bei ihnen war nämlich ein Biologe ausgefallen. Somit war ich plötzlich für sämtliche Statistiken betreffend der Elchpopulation in Mittelschweden verantwortlich. Inzwischen bin ich froh, dass alles so angefangen hat. Das Fotografieren mache ich neben der Forschungsarbeit, dank der ich viel besser weiß, wann und wo sich vermutlich die besten Bilder schießen lassen. Und ich käme ohne diese Arbeit auch gar nie so einfach an die verschiedensten Orte. So kann ich beide Leidenschaften miteinander verbinden.“

„Also bist du jetzt die ganze Zeit mit der Kamera auf Elchjagd?“

„Nein, so hat nur alles angefangen. Ich arbeite inzwischen bei einer Forschungsgruppe mit, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn irgendwer plant, irgendwo ein neues Naturschutzgebiet oder Reservat zu errichten. Wir kümmern uns darum, festzustellen, welche Tierarten in diesem Gebiet leben, finden heraus, wie stark das Gebiet besiedelt ist und wie die Bevölkerung möglichst in die Pläne mit einbezogen werden kann. Besonders wichtig ist dabei, dass die Einheimischen von dem Naturschutzgebiet profitieren können, vor allem auch wirtschaftlich. Nur dann macht so ein Projekt überhaupt Sinn und hat eine Chance, nachhaltig die Tiere und Pflanzen zu schützen.“

„Das klingt extrem spannend und auch enorm vielseitig. Was war denn bis jetzt dein Lieblingsprojekt?“, fragte Kaja beeindruckt?

„Mir hat es vor allem das Regenwaldgebiet im Südwesten von Kanada angetan. Erst vor kurzem wurde erreicht, dass der grösste Teil in ein Naturschutzgebiet umgewandelt wird. Zu diesem Gebiet gehört auch die Insel der Geisterbären.“

„Geisterbären? Aber ich dachte, du kümmerst dich um lebende Tiere“, warf Kaja verdutzt ein.

Tim musste lachen. „Ja, das hast du schon richtig verstanden. Die Insel heißt so, weil sie von weißen Bären bewohnt wird. Ihrer Farbe wegen wurden sie von den Ureinwohnern Geisterbären genannt.“

„Weiße Bären? Sind das nicht einfach Eisbären?“, hakte Kaja interessiert nach.

„Nein, die weißen Geisterbären gehören an und für sich zur Familie der Braunbären, nur dass sie eine Mutation in ihrem genetischen Erbgut aufweisen.“

„Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, deine Arbeit klingt unglaublich spannend und aufregend“, meinte Kaja.

„Das ist sie meistens auch. Obwohl es auch extrem mühsam und frustrierend sein kann, wenn ein Projekt einfach nicht vorankommt. Unser Team muss sich Gott sei Dank nicht mit den jeweiligen Behörden und Politikern rumschlagen, aber unsere Arbeit ist natürlich direkt davon abhängig.“

„Ich verstehe“, meinte Kaja nachdenklich. „Aber du fotografierst doch immer noch? Oder hast du das zugunsten der Biologie ganz aufgegeben?“

„Nein, nein, natürlich nicht. Ich integriere die Fotografie einfach in meine wissenschaftliche Arbeit. Es kommt mir sogar oft zugute, da ich so viel mehr Leute, auch Nichtwissenschaftler erreiche, wenn wir unsere Berichte publizieren. Wenn die Artikel von aussagekräftigen Bildern unterstützt sind, werden sie viel eher gelesen.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Das ist ja ideal“, freute sich Kaja. „Hast du auch Bilder von den Geisterbären?“

„Ja, interessieren sie dich?“

„Ja, sehr! Ich würde allgemein gerne einen tieferen Einblick in deine Arbeit erhalten“, sagte sie ehrlich interessiert.

„Ich habe leider keine Bilder mitgebracht. Aber im Moment habe ich in Bern eine Ausstellung am Laufen, noch bis Ende des Monats. Mach doch einen Ausflug in unsere schöne Hauptstadt. Dann können wir uns treffen und gehen gemeinsam hin. Na was ist, hättest du Lust?“

Kaja zögerte einen Moment. Tim verspürte eine leise Enttäuschung in sich aufsteigen, sagte jedoch in leichtem Tonfall: „Du kannst natürlich auch alleine hingehen, dann bist du flexibler, wann du gehen willst und so…“

„Doch, ich möchte gerne kommen. Und natürlich am liebsten mit dir zusammen. Dann kannst du mir auch alles genau erklären“, unterbrach Kaja ihn. Da sie ein wenig abwesend auf die Tischplatte starrte, entging ihr, wie sich auf seinem Gesicht Erleichterung breit machte.

„Es ist nur so, dass bei mir im Moment alles drunter und drüber geht in meinem Leben und ich keine Ahnung habe, wie sich das alles entwickeln wird in den nächsten Wochen. Aber an einem Wochenende habe ich bestimmt Zeit, lass uns doch gleich fix abmachen. Dann halte ich mir diesen Tag einfach frei.“ Sie zog eine altmodische Agenda aus ihrer Jackentasche und blickte erwartungsvoll zu ihm hinüber.

„Tja, äh, ich bin nicht so organisiert wie du. Wenn ich hier bin, lasse ich meinen Organizer immer absichtlich zu Hause, damit ich meine Ferien auch wirklich genießen kann. Machen wir es doch einfach so, ich ruf dich an, sobald ich wieder in der Schweiz bin, okay?“

„Ja, klar, so können wir das auch machen“, stimmte sie ihm zu und versorgte den Taschenkalender wieder in ihrer Tasche.

„Sag mal, ist dieses vorsintflutliche Ding dein Ernst?“, zog Tim sie auf. „Ich dachte, du hättest Informatik studiert, da ist doch so ein moderner Organizer fast ein Muss, nicht?“

Kaja schüttelte lachend den Kopf: „Du weißt doch, dass bei mir alle Elektronik dauernd verrückt spielt. Ich hab ja schon regelmäßig Probleme mit meinem Handy. Da will ich wenigstens meine Termine sicher verwahren.“

„À propos Handy, gibst du mir noch deine Nummer, sonst wird’s schwierig mit dem Anrufen“, bat er.

„Null-Sieben-Neun…“, fing Kaja an zu diktieren.

„Stopp, ich, äh ... wie gesagt, ich bin in den Ferien, also kann ich die Nummer nicht speichern, mein Handy ist auch zu Hause.“

Grinsend holte Kaja ihre Agenda hervor, kritzelte ihre Nummer auf eine Seite, die sie herausriss und ihm über den Tisch zuschob. „Wer ist jetzt froh über Papier und Stift?“, neckte sie ihn.

„Wie machst du das eigentlich bei der Arbeit? Programmierst du auch auf Papier oder spuken die Computer nicht rum?“

„Hm, ich arbeite schon am Computer, aber es gibt öfters mal Probleme. Ich habe ein extra Troubleshooting-Abo bei unserem Support-Team. Normalerweise müsste ich jede Störung melden und, wie es bei uns genannt wird, ein „Ticket“ aufgeben, wo die Art der Störung und wie lange sie gedauert hat sowie, falls bekannt, ihr Ursprung und die Kosten zur Behebung genau vermerkt werden. Nur wäre ich dann vermutlich schon lange meinen Job los, weil ich die interne Kostenstelle unserer Supportabteilung zu sehr belaste.“

„Ein Privat-Abonnement? Wie hast du denn das hingekriegt?“, lachte Tim.

„Ich hab’ halt recherchiert und dabei herausgefunden, dass die Jungs vom Supportteam verrückt sind nach Appenzeller Vollmondbier. Jetzt wird einmal im Monat eine Kiste Bier in ihr Büro geliefert. Na ja, diese Zeiten sind vermutlich auch vorbei.“ Ihr Gesicht hatte bei den letzten Worten einen melancholischen Ausdruck angenommen.

„Was ist denn los, Dreckspatz“, wollte Tim wissen, worauf er von Kaja böse angefunkelt wurde. „Okay, okay“, er hob beschwichtigend die Hände, konnte sich aber ein kleines Grinsen nicht verkneifen. „Ich gebe ja zu, der Spitzname passt nicht mehr gleich gut wie früher einmal. Besonders heute, aber lassen wir das, das hab ich dir ja vorhin schon gesagt.“

„Was denn?“, fragte Kaja zuckersüss. Er soll ruhig ein wenig schmoren, dachte sie, er muss mich ja nicht immer ärgern.

Er räusperte sich. Flirtete Kaja etwa mit ihm? Verdammt, er spürte, wie ihm schon wieder diese verräterische Röte den Hals hoch kroch. Aber sie gefiel ihm auch jedes Mal besser, wenn er sie sah. Na gut, was sie konnte, konnte er doch schon lange, und er beschloss, das Spiel, wenn es denn überhaupt noch ein Spiel war, mitzuspielen. „Dass du fantastisch aussiehst, meinte ich. Allerdings nicht nur heute Abend, du gefällst mir auch im verschwitzten T-Shirt nach dem Joggen“, antwortete er und ließ seinen Blick langsam von ihren Augen über das Gesicht Richtung Hals schweifen, bis er schließlich auf ihrem Ausschnitt verweilte, wo sich der Stoff über ihren Rundungen wölbte. Jetzt war es Kaja, der die Röte ins Gesicht stieg. Doch bevor ihr eine schlagfertige Antwort einfiel, blickte er ihr wieder in die Augen und sagte ernsthaft: „Lenk nicht ab Kaja. Erzähl mir doch, was bei dir so los ist. Du hast jetzt schon ein paar Mal solche Andeutungen gemacht. Es interessiert mich wirklich.“

Also erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Allerdings in einer etwas gekürzten Fassung. Und sie verschwieg ihm auch ihre amourösen Verstrickungen mit Frédéric. Das wäre dann doch etwas zu viel des Guten gewesen. Vor allem, da sie sich immer mehr zu Tim hingezogen fühlte. Da ließ man bestimmte Details vorsichtshalber besser weg. Man wusste ja nie, wie sich die Dinge entwickelten...

„Das ist ja ein Ding!“, sagte er, als sie geendet hatte. „Und was machst du jetzt? Ich meine, du kannst das doch nicht einfach so auf sich beruhen und diesen Frédéric damit durchkommen lassen!“, ereiferte er sich.

Sie zuckte ratlos mit den Schultern: „Was soll ich denn machen. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich meinen Job noch habe, nachdem ich so Hals über Kopf hierher geflüchtet bin, ohne jemanden zu informieren.“

„Hm, lass es mich auf jeden Fall wissen, falls du Hilfe brauchen solltest. Ich bin für die nächsten drei Monate noch in der Schweiz, bevor ich nach Brasilien reise.“

„Danke für das Angebot, vielleicht ruf ich dich tatsächlich an. Wie spät ist es eigentlich?“

„Fast elf Uhr, wollen wir uns langsam auf den Heimweg machen?“

„Gute Idee, lass uns gehen.“

Während der kurzen Heimfahrt hing jeder seinen Gedanken nach. Schließlich waren sie bei Mémés Hof angelangt. Kaja stieg aus, ließ Zorro aus dem Auto und beugte sich zu Tim hinunter, der das Fenster heruntergekurbelt hatte. Sie wollte ihm drei Wangenküsschen zum Abschied geben, doch beim dritten konnte Tim nicht widerstehen. Er stoppte mit seiner Hand sanft ihr Gesicht und küsste sie kurz auf den Mund. Verblüfft starrte Kaja ihn an und leckte sich mit der Zunge über ihre Lippen, wo sie immer noch seinen Kuss zu spüren glaubte. „Danke für den schönen Abend. Und hoffentlich bis bald“, sagte Tim. Er fuhr an, wendete das Auto und fuhr weg.

„Gute Nacht“, flüsterte Kaja dem davonfahrenden Auto hinterher und schaute den Rücklichtern nach, bis sie nach und nach von der Dunkelheit verschluckt wurden.

Eigentlich ganz schön frech, dachte Kaja bei sich, als sie zusammen mit ihrem Hund zum Haus ging. Aber irgendwie auch süss. Aber Tim ausschließlich als einen guten Freund aus Kindertagen zu betrachten, war offensichtlich eine unvollständige Sichtweise.

Vor ihrer Zimmertür begann der Hund plötzlich wieder zu knurren. „Sch, du weckst sonst noch Mémé auf!“ Das beeindruckte Zorro allerdings wenig, noch immer war ein dumpfes Grollen aus seiner Kehle zu hören. Kaja schüttelte verständnislos den Kopf und öffnete die Tür. Und fiel fast in Ohnmacht. Auf ihrem Bett thronte ein riesiger, blau schimmernder Drache. Auf der Stelle schloss sie die Tür wieder. Offensichtlich hatten es diese Whiskeys in sich, dachte sie entnervt. Irgendwie wollte der heutige Tag gar kein Ende nehmen. Okay, sagte sie zu sich selbst, das sind nur deine angespannten Nerven, die dir einen Streich spielen. Ich öffne jetzt diese Tür noch einmal und alles wird in bester Ordnung sein. Sie atmete tief durch und kniff sich sicherheitshalber noch in ihren Arm, um sicher zu gehen, dass sie wach war. Richtig, das Kneifen tat weh, definitiv wach. Schwungvoll öffnete sie die Tür erneut und trat ins Zimmer. Leider hatte sich an der Situation in ihrem Zimmer nichts geändert: Der Drache saß immer noch auf ihrem Bett.

„Hallo Kaja“, dröhnte es in ihrem Kopf. Verzweifelt dachte sie, jetzt spricht mich dieses Ungetüm auch noch an, was mache ich denn jetzt bloss. Sie war drauf und dran, Mémé zu Hilfe zu rufen, das war schließlich mehr ihr Metier. Dann reckte sie jedoch kampflustig das Kinn. Das wäre ja gelacht, wenn sie mit diesem Vieh nicht selber fertig werden würde. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte laut: „Sieh mal einer an, du kannst ja sogar sprechen und kennst aus irgendwelchen Gründen sogar meinen Namen. Dürfte ich dann zum Ausgleich deinen erfahren?“

„Aber gerne: Mein Name ist Lance und ich bin dein persönlicher Drache.“

Wieder hallte die Stimme durch Kajas Kopf. Unheimlich. Sie fasste sich schnell wieder und sagte bestimmt: „Schön Lance, aber du irrst dich, ich habe keinen Drachen und ich bin mir sicher, dass ich dich nicht in mein Zimmer eingeladen habe.“ Sie hoffte, dieser Hinweis würde wirken. Irgendwie hatte sie in Erinnerung, dass Wesen aus der Anderswelt nur hinein dürfen, wenn sie eingeladen waren. Oder galt das nur für Vampire? Egal, sie konnte sich jetzt nicht um solche Feinheiten kümmern.

Der Drache setzte an, etwas zu sagen, doch sie schnitt ihm mit einer sehr bewussten Handbewegung das Wort ab, zeigte zur Tür und wiederholte: „Geh, Lance, verschwinde aus meinem Zimmer!“ Es zischte und der Drache war weg. Kaja war jetzt doch ein wenig verblüfft, dass das so gut geklappt hatte. Perplex starrte sie das nunmehr leere Bett an. Sie runzelte die Stirn. Irgendwie war das fast zu glatt gegangen. Sollte sie noch mit Mémé sprechen? Nein, beschloss sie. Es war schon spät, Mémé schlief bestimmt schon und sie selbst war auch müde. Rasch streifte sie ihre Kleider ab, schlüpfte in ihr bequemes SchlafT-Shirt und eine ausgebeulte Pyjamahose und kroch unter die Bettdecke, wo ihr überraschenderweise sofort die Augen zufielen.

Mémé saß noch in der Küche über ihre Geschäftskorrespondenz gebeugt, als der Drache mit einigem Gepolter am Tisch Platz nahm. Ohne aufzublicken fragte Mémé: „Na, hat sie dich abblitzen lassen?“

„Abblitzen lassen ist gut, sie hat mir ein Bannzeichen auf den Pelz gebrannt und mich rausgeworfen. Ich brauche dringend einen Holunderschnaps!“, jammerte Lance.

Jetzt blickte Mémé doch auf. Um ihre Lippen spielte ein verschmitztes Lächeln. Respekt, Kaja, das hätte ich dir gar nicht zugetraut, dachte sie. „Sie ist halt meine Kleine“, meinte sie mit hörbarem Stolz in der Stimme. „Aber es verwundert mich doch sehr, dass du dich davon hast abschrecken lassen. Zumal du ja gar keinen Pelz hast, den sie dir tatsächlich hätte anzünden können“, witzelte sie.

„Ha ha, das findest du natürlich wieder lustig“, meckerte er. „Ich war der Meinung, dass es für heute gereicht hätte, dass sie mich endlich wahrgenommen und mich noch dazu beim Namen genannt hat. Du weißt ja, dass dies das Ritual ist, womit sie anerkannt hat, dass ich existiere. Somit wird es mir in Zukunft leichter fallen, mit ihr in Kontakt zu treten.“

Ja, das wusste Josephine nur zu gut, hatte sie das doch alles vor Jahren selber auch erlebt. Sie seufzte, halb besorgt, halb gespannt und voller Erwartung, wohin der Weg ihrer Enkelin wohl noch führen würde.

„Also willst du mir damit sagen, du hast dich in höflicher Zurückhaltung geübt?“, schnaubte sie ungläubig.

So würdevoll wie es einem riesigen schillernden blauen Fabelwesen in einer kleinen Küche möglich ist, erwiderte er: „Selbstverständlich. Schließlich ist es auch schon sehr spät. Ich dachte eigentlich sie wäre früher wieder zurück. Was treibt sie sich zu so später Stunde auch noch draußen rum! Also wirklich, Josephine! Du solltest dem Mädchen mal ordentlich die Leviten lesen!“, schimpfte der Drache mit missbilligend gerunzelter Stirn vor sich hin. Mémé hatte inzwischen den gewünschten Schnaps geholt und stellte ihn vor den Drachen hin.

„Hier, trink. Erstens ist das Mädchen erwachsen und kann selbst entscheiden, wann sie nach Hause kommt. Zweitens bin ich sicher, dass du es schon selber übernimmst, ihr ins Gewissen zu reden. Und jetzt sei still, ich habe noch zu arbeiten.“ Mit diesen Worten beugte sie sich wieder über ihre Papiere.