hatte das geschehen können?
Stattdessen hatte sie ihm in einem weiteren Brief ihren Körper versprochen, während sie im Geist nach einem Plan, einem Ausweg suchte. Früher einmal wäre es ihr gleich gewesen, ob alles um sie herum verhungerte und starb, solange es ihr nur gut ging. Doch dann war sie an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit erwacht, in panischer Angst vor dem Dunkel, blutbesudelt und um ihr Leben bangend.
Aus dem Beutel auf ihrem Rücken hatte sie nichts zu Tage gefördert, was sie begriffen hätte. Eine sprechende Kiste, aber wie konnte darin ein Mensch sitzen? Ein dicker Packen Papyrus, aber viel besser gehämmert, als sie es je gesehen hatte. Etwas Längliches, das essbar roch und behauptete, ein MARS zu sein.
Sie konnte die Worte zwar lesen, doch sie verstand sie nicht.
Als sie die runde, flache Schachtel aufklappte, wurden ihre schlimmsten Albträume wahr. Aus dem Inneren hatte sie ein Kheft, ein Dämon, angestarrt, mit rotem Haar, das flammengleich um ein papyrusweißes Gesicht wehte, und hervorstehenden braunen Augen unter blutfleckigen Brauen.
Mittlerweile war RaEm endlich wieder in Ägypten zurück und berührte ihre Haut, um sich zu vergewissern: braun. Ihr Schädel war geschoren, doch ihre Brauen waren schwarz.
Sie war in Sicherheit. Vorübergehend von Echnaton verbannt, doch in Sicherheit.
Damals jedoch hatte sie befürchtet, im Jenseits gelandet zu sein, und kreischend den Kreis fortgeschleudert, um in der Dunkelheit zusammengekauert auf das Zupacken der Fänge und Krallen zu warten.
»Schon okay«, hatte sie in ihrem Geist durch das heftige Zittern hindurch vernommen.
Nichts war passiert. Sie hatte über ihre Arme geschielt. Der Kheft war ihr nicht nachgekommen. Dicht an den Boden gepresst war sie näher an die runde, flache Schachtel gekrochen, um festzustellen, ob der Kheft darin gefangen saß oder ob er freigelassen worden war. Sie sah nichts außer der Decke und einem Licht, das aus einer fernen Öffnung hereindrang. Nachdem sie die Schachtel umkreist und festgestellt hatte, dass keine Gefahr mehr drohte, hatte sie die Hand danach ausgestreckt, um sie zu schließen -
Der Kheft war zurückgekehrt! Keck starrte er sie an. RaEm schrie auf und knallte die Schachtel zu, um den Dämon darin einzusperren. Dann blickte sie auf ihre Haut. Der Dämon hatte sie mit Pocken angesteckt! Überall an ihren Armen sprossen braune und dunkelrosa Pünktchen. Sie sah auf ihre Beine; die waren ebenfalls befallen! »Hathor!«, hatte sie gebrüllt.
RaEm war in Chloes Welt nie heimisch geworden. Selbst nachdem sie erfahren hatte, dass die sprechende Kiste ein »CD-Player« war; dass ein MARS eine Süßigkeit und ein »Snack« war; dass der »Dämon«, den sie erblickt hatte, lediglich ihr Spiegelbild in einer Puderdose von Estee Lauder gewesen war - selbst da fühlte sie sich noch verloren.
Ganz langsam waren die Begriffe in ihren Verstand gesik-kert, doch waren sie schwer zu verstehen, da ihr jede rationale Erinnerung fehlte, da sie keine Ahnung hatte, wie sie das Gehörte mit irgendetwas verknüpfen sollte, das sie kannte. Alles war hier größer und komplizierter. Selbst die Menschen und ihre eigenen emotionalen Erinnerungen verwirrten sie.
Schließlich hatte sie sich in Chloes Leben zurechtgefunden, doch es hatte Monate gedauert, bis sie »Die Zukunft« begriff. Nie zuvor hatte sie einen Gedanken an »Die Zukunft« verschwendet ... es gab keine Zukunft, nur die Gegenwart und danach das Jenseits.
Dass sie in einem Krankenbett gefangen und von hilflosen Ärzten umzingelt war, die ihr Fragen stellten, auf die RaEm keine Antwort geben konnte - »Warum sind Sie in Ägypten?« »Wo befindet sich Ihr Vater jetzt?« »Nehmen Sie den Stift und zeichnen Sie etwas für mich« -, machte alles nur noch schlimmer. Sie wurde von grauenvollen Albträumen gequält; wenn sie die Augen schloss, erwachte sie jedes Mal schreiend. Und wenn sie erwachte, wurden jedes Mal ihre schlimmsten Albträume wahr. Sie war zum Kheft geworden!
Schließlich waren die Krankenschwestern ihrer überdrüssig geworden. Sie »schalteten« die schwarze Kiste an der Decke »ein« und ließen sie allein. Sie konnte sie nicht ausschalten; sie kam nicht einmal hinauf, wenn sie sich darunter stellte. So hatte sie angefangen, Sky TV zu schauen.
Als sie schließlich begriff, was Unmögliches geschehen war, tastete sie sich zaghaft in die Welt vor.
Jetzt, wo sie mehr Bilder und damit mehr Wissen hatte und auch die Chloe Kingsley, die immer noch in ihrem Kopf hauste, besser verstand, konnte sie allmählich begreifen, was gesagt oder getan wurde.
Wohl fühlte sie sich dennoch nie. Sie ekelte sich vor ihrer eigenen Haut. Sie versuchte, Ägypten in den dunkeläugigen Menschen, die jetzt im Niltal lebten, wieder zu finden, doch Ägypten war verloren. In panischer Angst, das Rote und Schwarze Land verlassen zu müssen, hatte RaEm ihren Stolz hinuntergeschluckt und Phaemon, jenen Liebhaber, den sie zu ermorden versucht hatte, jenen Mann, den sie mit sich durch die Zeit geschleppt hatte, um Vergebung gebeten.
Zumindest war sie danach nicht mehr allein.
Manches an der Zukunft war einfach phantastisch.
Die Elektrizität, Neonlichter, Käse in schier unzähligen Geschmacksrichtungen. Kondome. Hochhackige Schuhe. Zeitschriften. Fernsehen. Doch ihr gehörte nichts davon.
RaEms Blick ging über den leeren Audienzsaal. Leer, da dies ein Feiertag Amun-Res war, des verbannten Gottes aus Waset. Sie saß auf Ägyptens Thron. Mit Krummstab und Geißel in den Händen. Hier hatte Hatschepsut gesessen; jetzt saß sie hier. Der Thron gehörte ihr. Ägypten gehörte ihr. RaEm musste es bewahren, sonst würde es am Ende vom Erdboden getilgt und sie wäre wieder allein.
Doch Ägypten wurde von niemand anderem gemeuchelt als von RaEms Geliebten, ihrem Liebhaber, ihrem Bruder.
Noch einmal überdachte sie ihre Wahl: ihr Liebhaber oder sie selbst?

MAMRE
Es gab keine korrekte Übersetzung für meine Reaktion. Uff! Außerdem hätte sie wohl nicht der Etikette entsprochen. Darum beließ ich es bei einem gehorsamen Nicken.
»Du hast gehört, wozu uns haMelekh vor ein paar Wochen herausgefordert hat.« Yoav stand auf und begann hin und her zu gehen. Ohne Rüstung sah er in der einärmligen Tunika der Israeliten aus, als würde sein fleischiger Leib im nächsten Moment das Gewebe mit dem Goldbesatz sprengen. »Wer als Erster in die Stadt Jebus vordringt, erwirbt für alle Zeiten den Rang des Rosh Tsor haHagana. Das will ich sein.«
So eine Überraschung.
Er drehte sich zu mir um. »Und du wirst mir dazu verhelfen.« Das war wirklich eine Überraschung. »Ich? Wie, wie soll ich denn ...?« Ich sah Avgay’el an. Ihr dunkler Blick wirkte berechnend, weshalb ich mich fragte, was sie hiervon hatte, wieso sie hier war.
Yoav wandte sich ab und spazierte erneut im Zimmer herum. »Nur Blinde und Lahme gelangen hinein«, zitierte er.
Meine Haare stellten sich auf. Er wollte doch nicht vorschlagen, mir die Augen auszustechen und die Knochen zu brechen? Instinktiv wich ich einen Schritt zurück.
»Pass auf, dass dir die Augen nicht aus dem Kopf fallen«, meinte er mit einem Blick über die Schulter. »Ich habe Gerüch-te von einem Wasserlauf gehört, der von außerhalb der Mauern bis zum Stadtbrunnen führen soll.«
»Ein Wasserlauf?« Ich versuchte irgendeinen Sinn in seine Worte zu bringen.
»Eine Frau und nur eine Frau darf zum Brunnen gehen«, erklärte mir Avgay’el.
Mir fiel der Krug ein, den ich den ganzen Nachmittag mit mir herumgeschleppt hatte. »Was hat das mit mir zu tun?«
Yoav fuhr sich mit dem Finger über den Schnurrbart. »Du bist eine Frau, eine schlaue Frau.«
Mir war durchaus bewusst, dass er mit seiner Schmeichelei etwas erreichen wollte, dennoch wurden mir die Wangen heiß.
»Und außerdem habe ich, was du begehrst.« Breitbeinig und mit durchgestreckten Schultern baute er sich vor mir auf, wodurch die perfekten Proportionen seines Körpers klar erkennbar wurden. »Deine Freiheit.«
»Ich verstehe dich nicht.« Ich gab mir alle Mühe, ruhig zu erscheinen.
»Wenn dein Gemahl heimkehrt, wird er freigelassen.«
Ich schwieg.
»Dies ist die Gelegenheit für dich, ebenfalls freizukommen.«
»Du willst, dass ich nach Jebus gehe?«, fragte ich. »Als Brunnenmagd?«
»Ken.«
»Um was zu tun?«
»Um mir die Stadt auszuliefern.«
»Ich soll die Wachen überwältigen? Die Stadttore öffnen?« Hoffentlich war mir anzuhören, was ich von seinem Vorschlag hielt. »Als Frau und ganz allein - du musst verrückt sein!«
Seine grünen Augen blitzten mich an. »Hüte deine Zunge, Isha. Sonst wird sie dich noch in Schwierigkeiten bringen.«
Du bist eine Sklavin, Chloe. Eine Sklavin. S-k-l-a-v-i-n. Denk nur an all die Haremsdamen mit ihren nervenaufreibenden Wünschen, an all die entkernten Datteln. Eine Sklavin! Also benimm dich auch wie eine! Ich biss mir auf die Zunge. »Was soll ich für dich tun?«
»Du sollst vom Brunnen aus dem Wasserlauf folgen und uns in die Stadt führen.«
»Was für einem Wasserlauf?«, wiederholte ich. Sprachen wir hier über die Kanalisation?
»Dem vom Brunnen aus, einem Trinkwasserbach.«
»Und wenn ich erwischt werde?«
Yoav zuckte mit den Achseln.
»Du gehörst nicht unserem Stamm an, darum wird man keinen Verdacht gegen uns schöpfen. Falls überhaupt, wird man die Pelesti ins Visier nehmen. Das ändert nichts.«
Er zog sein Messer aus der Scheide und hielt inne, um das Lampenlicht in der Bronzeklinge und in dem mit Steinen besetzten Heft blinken zu lassen. »Falls du mir den Weg in die Stadt nicht zeigen kannst, werden dich die Jebusi als Spionin der Pelesti hinrichten. Falls du mir jedoch den Weg in die Stadt nicht zeigst, werde ich dich persönlich töten.«
»Aha: Wenn ich bei dem Versuch scheitere, dann wirst du mich töten, und wenn ich bei dem Versuch erwischt werde, bin ich so gut wie tot. Aber wenn ich es nicht versuche, dann lässt du mich in Ruhe?«
Er sah kurz zu Avgay’el hinüber. »Nachdem ich sichergestellt habe, dass du mich nicht hintergehen wirst, ken.«
Ich bekam eine Gänsehaut unter meinem Kleid. »Und wie willst du das sicherstellen?«
Yoav ließ die Klinge langsam in die Scheide gleiten. »Ich schneide dir die Zunge heraus.«
Ich begann am ganzen Leib unkontrollierbar zu zittern. »Das ist doch ... ein Scherz? Oder?«
Er breitete die Hände aus. »Ich muss mich schützen. Ich habe Yeladim.«
Es war schwer zu glauben, dass er ein Vater war und mir trotzdem ohne Skrupel die Zunge herausschneiden würde. Ich antwortete langsam, denn plötzlich fühlte sich meine Zunge dick und pelzig an: »Und wenn ich es in die Stadt schaffe, dann lässt du mich frei?«
»Wenn du es in die Stadt schaffst und uns hineinführst, nachon. Dann bist du frei.«
»Du lässt mir keine große Wahl«, kommentierte ich trocken. Die ganze Sache war unglaublich.
Er rammte den Dolch endgültig in die Scheide zurück.
»Natürlich lasse ich dir die Wahl! Yoav ben Zeriu’a ist kein unbeschnittener Heide. Du kannst weiter bis ans Ende deiner sieben Jahre tagein, tagaus als Sklavin bei den schwangeren Müttern, den stillenden Müttern und den Frauen in der Regel dienen.«
»Ohne Zunge«, ergänzte ich.
Er zuckte mit den Achseln.
»Wieso ausgerechnet ich?«, wollte ich wissen. »Wieso nimmst du keine andere?«
Yoav sah erst Avgay’el, dann mich an. »Du bist nicht aus unserem Stamm, das erkennt man an jeder deiner Bewegungen. Und du bist keine ...« Seine Hände fuhren durch die Luft, als wollten sie nach dem richtigen Wort haschen. »Dir fehlt das Weibliche. Du bist wie eine Witwe, die alle Geschäfte ihres Gemahls führen kann, ohne dass sie die Hilfe eines Mannes brauchte.« Er wirkte bekümmert. »B’Y’srael...«
In Israel, kritzelte das Lexikon auf die Tafel.
». hatten alle unsere Anführerinnen diese Eigenschaft, diese Fähigkeit. Alle waren wie Witwen, von der großen Richterin D’vora bis hin zu Ya’el, die dem Wunsch ihres Mannes zuwider gehandelt hat. Selbst Yeftahs Tochter wirkte wie ein alleinstehendes Weib, als sie in die Wüste ging.«
Ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren, und ich war ganz bestimmt keine Witwe. Und dass ich eine Mauer hinaufklettern und ein Ziel treffen konnte, bedeutete nicht, dass ich nicht weiblich war. Ich schoss wütende Blicke auf ihn ab, während ich mir zugleich ins Gedächtnis zu rufen versuchte, dass er ein Mann aus der Zeit vor Christi Geburt und für seine Kultur und seine Zeit ziemlich progressiv war . doch er hatte immer noch einen weiten Weg vor sich. Aber war er deshalb ein Idiot? Glaubte er tatsächlich, dass ich ihm eine Stadt ausliefern konnte, die nicht einmal vier Armeen eingenommen hatten? »Ich will das einmal klarstellen.«
»B’vakasha«, überließ er mir das Rednerpult.
Ich rang darum, nicht respektlos zu klingen. »Du willst, dass ich, eine Pelesti-Sklavin, euch die Stadt Jebus übergebe, damit ihr, dieselben Hochländer, die meine Schwesterstädte geplündert haben, die nächste Stadt plündern könnt? Du glaubst, dass ich, weil es mir an Weiblichkeit mangelt und ich in der Lage bin, einen Wasserkrug zu tragen, diese Jebusi dazu überreden kann, mich in ihren Brunnen, ihre einzige Trinkwasserquelle zu lassen, von wo aus ich dann irgendwie aus der Stadt gelange, um auf demselben Wege mit einer ganzen Armee zurückzukehren?«
Sein Blick tastete mich langsam und wohlwollend ab. Wieder wechselte er in einen anderen Dialekt; einen, den ich verstand, Avgay’el hingegen nicht. »Dir mangelt es an gar nichts, Isha. Es ist, dass du weißt, wie du mit dir umgehen musst. Du kannst nachdenken. Du kannst dich verstecken, wenn jemand dich verfolgt. Du verstehst dich vor Fremden in Acht zu nehmen.«
Er sah mir wieder in die Augen. »Doch nicht, weil du irgendwie unansehnlich wärst. Im Gegenteil, du wirst dich verkleiden müssen.« Das Letzte sagte er auf Hebräisch oder Ak-kadianisch oder wie auch immer das hier übliche Patois hieß. »Das ist eine Aufgabe für Avgay’el.«
»Ata meshugah!«, brüllte ich ihn an. Er war wirklich absolut durchgeknallt!
»Ist das ein Nein?«, fragte er, eine Hand schon an seinem Messer.
Zitternd suchte ich nach irgendeinem Ausweg, doch ich hatte zu viel Angst, um klar denken zu können. »Wieso tust du das?«, wandte ich mich an Avgay’el.
»Ich will meinen eigenen Palast«, antwortete sie. »Ich will endlich nicht mehr hören müssen, wie wundervoll diese Stadt ist und wie sehr Daduas Nefesh sie begehrt. Ich will, dass diese ewigen flehenden Gebete ein Ende haben. Ich will, dass sich sein Traum erfüllt, damit wir endlich unser Leben leben können.«
»Du bist bereit, jeden Preis zu zahlen, nur damit haMelekh endlich aufhört zu nörgeln?«, krächzte ich hervor.
»Nachon!«
»Und es ist dir egal, dass es mein Leben und das dieser Soldaten kosten könnte?«
»Du hast die freie Wahl«, meinte sie.
»Zu sterben oder stumm weiterzuleben!«
Sie senkte den Blick.
Du musst anders ansetzen, Chloe. »Wieso unterstützt du Yoav? Und keinen anderen der vielen Giborim?«, fragte ich. Jeder hatte ein Auge auf den Rang des Rosh Tsor haHagana geworfen.
Avgay’el sah Yoav an. »Niemand war dem Herz der Wünsche meines Gemahls treuer als er«, antwortete sie mit ihrer melodiösen Geschichtenerzählerinnenstimme.
»Yoav weiß, was Dadua will, selbst wenn Dadua meint, es nicht zu wissen.« Sie sah wieder mich an. »Yoav hat sich diesen Rang längst verdient. Er hat ihn durch Blut erworben.«
Für meinen Geschmack war diese Gegend eindeutig zu blu-%
»Es war nicht« - sie schien nach den richtigen Worten zu suchen - »allzu ehrenvoll von haMelekh, daraus einen ... einen Wettstreit unter seinen Männern zu machen.«
»Lo. Sie sollten wie Kameraden sein, statt sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen.« Ich gab mir alle Mühe, inmitten dieses Wahnsinns die Vernunft zu bewahren.
»Du hast als Soldatin gedient«, meinte Yoav tonlos. »Bei den Ashqeloni?«
Mein Blick war wenig respektvoll. »Wie lautet der Plan?«
Hatte ich überhaupt eine Chance? Die Wahl zwischen der sicheren Verstümmelung oder dem möglichen Tod?
»Gibt es überhaupt einen Plan?«
»Du wirst mit zwei meiner vertrauenswürdigsten Männern die Stadt observieren. Ihr müsst herausfinden, wo dieser Wasserlauf herauskommt.«
Ein Spähtrupp, B’seder. »Du weißt nicht, wo dieser Bach verläuft?«
»Lo, das gehört zu deiner Aufgabe als Spionin.«
Mein Vater wäre schrecklich stolz auf mich gewesen. »Und wenn ich nichts finde -« Ich sprach den Satz nicht zu Ende; das war auch gar nicht nötig, denn er hatte bereits nach seinem Messer gefasst. Offenbar fiel >den Weg nicht zu finden< in eine der oben genannten Kategorien. Stummheit oder Tod. »Und wenn es gar keinen gibt?«
»Du bist eine schlaue Frau.«
Allmählich hörte sich das eher nach einer Drohung als nach einem Kompliment an. Ich fuhr mit der Zunge über meine Lippen und atmete tief ein, um nicht wieder laut zu schreien.
»B’seder und dann?«
»Dann gehst du als wandernde Brunnenmagd in die Stadt.«
»Kommt so etwas oft vor?«, erkundigte ich mich.
Avgay’el zuckte mit den Achseln. »Oft genug. Vielleicht solltest du dich als Witwe ausgeben.«
Auch gut.
»Du bist eine Pelesti und aus den Städten geflohen, die wir zerstört haben«, schlug Yoav vor.
Es war immer gut, beim Lügen möglichst nahe an der Wahrheit zu bleiben. »B’seder. Und was ist das für eine Sache mit den Blinden und Lahmen?«, fragte ich weiter.
»Das ist ein Fluch, den Abdiheba, der jetzige König, über all jene gelegt hat, die seine Stadt einnehmen wollen.«
Ich wartete ab. Kam da noch was nach?
»Beunruhigt dich das?«, fragte er.
»Dass ich ein ganzes Volk hintergehen muss, um freizukommen? Oder dass er mich mit einem Fluch überzieht - obwohl es schon Fluch genug ist, eine Sklavin und von meinem Mann getrennt zu sein?«
Yoav und Avgay’el sahen sich an. »Es ist mir neu, dass ihr Heiden so hohe Stücke auf die Ehe haltet. Also. Habt ihr eure Kinder geopfert?«
Ich blinzelte fassungslos. »Wie?«
»Die Jebusi verehren Molekh«, sagte Yoav und spie aus. »Sie opfern bei Vollmond ihre Kinder. Sind die Pelesti genauso?«
»Ah, Dragon wollte nie etwas anderes als Krabbenfleisch«, widersprach ich. Und hin und wieder eine seiltanzende Jungfrau.
»Wieso habt ihr dann keine Kinder?«, fragte Avgay’el.
»Wir ...« Ich senkte den Blick und überlegte fieberhaft. Lügen oder die Wahrheit sagen? Oder die Wahrheit teilweise ausschmücken? Oder eine Teillüge erzählen? »Wir sind noch nicht lange verheiratet«, antwortete ich zögernd. »Und gleich zu Anfang haben wir ein Baby ... verloren.«
»Arme Isha. Möge Shekina deinen Leib dafür segnen, dass du den Stämmen zu diesem Sieg verhilfst.« Avgay’el sprach mit aufrichtigem Mitgefühl. Ich nickte und hoffte insgeheim, dass Gott mich nicht mit Unfruchtbarkeit schlug, weil ich die Frauen, die ein Kind verloren hatten, derart verhöhnte. Ja, ich hatte einst eine Fehlgeburt gehabt . aber .
Es war ein wenig anders gewesen, als ich jetzt angedeutet hatte. Ach!
Avgay’el erhob sich unvermittelt. »Ich muss zurück. Dadua fragt sich bestimmt schon, wo sein Essen bleibt.«
Yoav sah mich an. »Hast du dich entschieden?«
Ich rekapitulierte noch einmal die Situation. Ich würde eine Pelesti-Witwe spielen, die durch das Land zieht und davon lebt, dass sie Wasser holt. »Wird mir auch nichts passieren?«, fragte ich. »Achten die Jebusi die gleichen Gesetze wie eure Stämme?«
»Lo. Du wirst dich zur Wehr setzen müssen«, sagte er. »Auch aus diesem Grund ist meine Wahl auf dich gefallen.«
Seine grünen Augen tasteten mich ab.
»Avgay’el wird dich verkleiden, damit du nicht alle Blicke auf dich ziehst.«
»Und den Rest muss ich mir selbst überlegen?«
Es schien keinen festen Plan zu geben.
»Du wirst die Stadt ausspähen. In ein paar Tagen werde ich zu dir kommen, dann können wir über unsere Optionen und Aktionen sprechen.«
Ich stand auf. »Ich werde dich begleiten, G’vret, wenn ich darf?«
Yoav sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als könne er in mein Innerstes blicken. Dann sagte er zu Avgay’el: »Sie geht übermorgen im Morgengrauen los.«
»Yoav, das ist der Shabat-Morgen! So weit kann sie nicht laufen! Sonst wird sie gesteinigt!«
»Sie ist meine Sklavin. Sie wird tun, was ich ihr befehle.« Er sah mich an. »Um dich jedoch vor avayra goreret avayra zu bewahren, wirst du am Shabat nach Sonnenuntergang losziehen. Du kannst die Nacht durchwandern.«
Avgay’el tch’te und verbarg dann ihr Gesicht, Haare und den riesigen, unverkennbaren Stein an ihrem Handgelenk unter einem Umhang. Ich warf meinen Umhang ebenfalls über, so-dass mein Haar und meine Ohren bedeckt waren.
Wir waren einfach zwei verhüllte Frauen auf dem Weg zum Palast. Schweigend gingen wir durch die Dunkelheit.
»Bevor du gehst, werden wir dir einen Schutz geben«, sagte sie.
»Todah, G’vret.«
Aber wie soll ich mich schützen, wenn ich erst dort bin? Konnte ich noch in dieser Nacht aus Mamre fliehen? Oder morgen? Wohin sollte ich fliehen?
Tot oder stumm - und so was schimpfte sich nun freie Wahl?
Der Marsch würde bis tief in die Nacht dauern. Da Yoav die Stadt Jebus vor einer etwaigen Belagerung auskundschaften musste und darum rund um die Uhr überwachen ließ, begegne-ten wir ab und zu Soldaten auf dem Heimweg nach ihrer einwöchigen Schicht. Auf Grund meiner Ausbildung war mir sofort klar, dass die Posten auf diese Weise mindestens vier Stunden pro Woche unbesetzt blieben. Ob die Jebusi das wussten?
Wir sprachen nicht, wir wanderten nur. Etwa gegen zwei Uhr früh, mitten auf unserer Wanderung, stießen wir auf die anderen. Niemand sprach ein Wort, die Stammesbrüder grüßten sich lediglich mit Gesten im Vorbeigehen. Ich hielt den verhüllten Kopf gesenkt und den Blick abgewandt. Yoav wollte nicht, dass jemand von seinem Plan, in die Stadt zu gelangen, erfuhr, damit ihm niemand zuvorkommen konnte.
Als die Sonne schließlich aufging, war mein Gehirn wie leer gefegt. Die Farben durcheilten das Spektrum in einer solchen Geschwindigkeit, dass mir kaum Zeit blieb, mich daran zu erfreuen. Der Himmel wurde erst rot, dann rosa mit goldenen Fransen an den Wolken, und schließlich ging die Sonne auf und überflutete die weißen Mauern von Jebus mit ihrem Licht.
Zion, Jerusalem, die Goldene, die Stadt des Friedens.
Wow.
Sie war auf reflektierendem Felsgestein gegründet, das die Farben des Sonnenaufgangs aufnahm. Hoch auf einem Hügel erbaut, schien sie von goldenem Licht überströmt. Unter uns sahen wir die Stadtgrenzen, die sich über die Hügel zogen.
Hier war Geschichte im Entstehen begriffen.
Jetzt, wo ich sah, dass die Stadt auf drei Seiten von tiefen Tälern umschlossen war und unterhalb eines Tafelberges lag, erkannte ich, wie schwer es sein musste, sie einzunehmen. Ich war noch nie hier gewesen, und Vater hatte von Jerusalem nie als Reiseziel gesprochen, sondern immer nur als dem Kronju-wel seiner Verhandlungsbemühungen.
Jedes der winzigen Königreiche in der Region hatte schon versucht die Jebusi zu vertreiben. Trotz der vielen Stadttore war es noch niemandem gelungen, Jebus einzunehmen. Zum einen war es unmöglich, sich unentdeckt anzuschleichen; zum anderen besaßen die Jebusi anscheinend einen unerschöpflichen Vorrat an Wasser, Nahrung ... und Geduld.
Unser handverlesenes Team von zwanzig Mann unter Yoavs Kommando schwärmte aus, zwei Späher pro Beobachtungsposten. Mein Partner, Dov - der mit dem berühmten Schafswitz -, und ich bekamen den Auftrag, die Rückseite der Stadt und den Berg zu observieren, da Yoav der Auffassung war, wir würden besser im Verborgenen arbeiten.
Schon standen die Menschen vor den Toren Schlange, um in die Stadt zu gelangen. Manche wollten Waren verkaufen, andere welche kaufen, wieder andere wollten zu König Abdiheba. Die meisten davon ersuchten um eine Genehmigung, Abdihe-bas Land zu durchqueren, um in den oberen Teil Kanaans zu gelangen. Hier befand sich die Auffahrt zur Straße der Könige, die vom Salzmeer direkt nach Mitanni und von dort aus weiter nach Assyrien führte - im zwanzigsten Jahrhundert Enklaven der Araber.
Yoav zufolge war Dadua der Meinung, dass die heidnischen Stämme - die Amoni, die Amori, die Keleti, die Edomi, Moa-bi, Alameda, ganz zu schweigen von den vereinten Stämmen, die von Daduas Vettern regiert wurden - genau verfolgten, wie Daduas Stamm sich vor Jebus behaupten würde.
Ein Sieg über die Jebusi würde seine Oberherrschaft über das restliche Land sicherstellen. Dann würden sich alle weiteren
Schlachten erübrigen, da die anderen Stämme sich unter dem Eindruck von Daduas Primat zu Verhandlungen bereit erklären würden.
Wir schlugen unser Ziegenfellzelt auf, das eigentlich nur aus ein paar Stangen bestand, über die etwas Ziegenhaut geworfen wurde, um Schutz vor der Sonne zu bieten, dann nahmen Dov und ich abwechselnd den Beobachtungsposten ein. Wie oft und wie lange blieben die Tore geöffnet? Verließ jemals jemand die Stadt durch die Mauer? Darüber? Darunter? Blieb irgendeines der hoch in den Wehrgängen eingelassenen Fenster jemals unbenannt? Dov und ich observierten schweigend und wechselten uns zugleich bei unseren Wachgängen ab.
In der Abenddämmerung füllten sich die Stadttore erneut, diesmal weil so viele hinauswollten. Im Gegensatz zu den meisten Städten untersagten es die Jebusi allen Fremden, die Nacht innerhalb der Stadtmauern zu verbringen. Wer über Nacht in der Stadt bleiben wollte, brauchte einen angesehenen Bürger als Bürgen. Auf diese Weise war eine Invasion von innen unmöglich.
Oder zumindest unwahrscheinlich.
Handwerker, Kaufleute und Familien begannen an den Hängen neben der Straße in die Stadt ihre Zelte aufzuschlagen. Heute Nacht würden Dov und ich uns unter die Menschen mischen und heiße Speisen verkaufen - die jemand anderes aus unserem Team zubereitet hatte -, während wir zugleich den Berichten aus der Stadt lauschen würden.
Noch während des Tages, denn für die Stämme war die Nacht erst angebrochen, wenn die ersten drei Sterne am Himmel zu sehen waren, schlossen die Jebusi die Tore. Das Rasseln und Scheppern der Fallgitter war bis zu unserem Unterschlupf zu hören. Wie verabredet stießen wir zu einigen anderen, alle unterschiedlich gekleidet, um in die Zeltstadt der Besucher zu wandern.
Die Ironie dabei war, dass die Besucher aus der Stadt genau wussten, dass sie es mit Spionen zu tun hatten. Über zu viele Jahre hinweg hatten zu viele Triebe von Avrahams weit verzweigter Verwandtschaft diese Art von Spionage betrieben, als dass es nicht jeder gewusst hätte.
Konsequenterweise tauschten jene, die vor der Stadt lagerten, ihr Wissen nur gegen Essen ein.
Ein Kaufmann konnte beispielsweise etwas über einen unterirdischen Gang andeuten, in dem sein Kunde Waren lagerte, um dann unvermittelt um einen Gratisnachschlag zu bitten. Zum Glück war die ganze Sache ein einziger Witz, weil jeder alle Geschichten aus Jebus kannte. Sie hatten sich zu wahren Stadtmythen entwickelt.
Die Situation erinnerte mich an die Geschichte von den Sträflingen, die ihre Witze durchnummeriert hatten, sodass einer nur »Zweiundfünfzig« zu brüllen brauchte, und alle lachten los, weil jeder die Pointe kannte.
Mir oblag es, unser Gebräu auszuteilen, das wir dadurch an den Mann brachten, dass wir es als »Suppe« bezeichneten. Die Kommentare - neckisch, verführerisch, draufgängerisch oder humorvoll - nahmen kein Ende, denn ich war unverkennbar eine Frau. Dov blieb dicht neben mir und ging mit keinem Wort auf die Bemerkungen über eine dritte Frau, die Freuden der frühsommerlichen Liebe im Wald etc. ein. Zum Glück war es so dunkel, dass mir die glühenden Wangen nicht anzusehen waren. Ohne etwas Neues erfahren zu haben, kehrten wir auf unseren Beobachtungsposten zurück. Wir würden uns die Nacht aufteilen, wobei ich während der ersten Wache und er während der zweiten schlafen durfte.
Es war nach meinem Maßstab zwar kein Zelt, doch ich schlief. Nur um Cheftus Sicherheit machte ich mir Sorgen. Doch ehe ich mich versah, wurde ich von Dov geweckt.
Er schnarchte. Laut. Ich zog mich an den Rand einer ausgeschlagenen Lichtung zurück, weit genug von ihm entfernt, dass ich auf die Geräusche der Nacht lauschen und zugleich die
Stadt beobachten konnte. Ich hörte nur leises Rascheln und Knurren, doch keine Bewegungen. Ich kniff die Augen zusammen, blickte fest auf das Fenster in der Stadtmauer und behielt es im Auge, bis ich eine Bewegung zu sehen meinte: Das Rechteck wurde erst dunkel, dann wieder hell. Jemand war vor einer Lampe vorbeigegangen, reimte ich mir zusammen. Dass dieser Jemand ging, bedeutete, dass er wach war, auf diesem Weg kam also niemand hinein.
Eine uneinnehmbare Stadt. Falls ich einen anderen Plan austüftelte, würden wir dann das »Wasserweg-oder-Stirb«-Programm fallen lassen können, das Yoav sich zurechtgelegt hatte? Ich wollte freikommen; was für eine Freude wäre es, Cheftu zu erzählen, dass wir uns sofort nach seiner Freilassung aus dem Staub machen konnten, da ich ebenfalls meine Freiheit gewonnen hätte. Ich wollte mir nicht einmal ausmalen, was Cheftu empfinden würde, wenn er heimkehrte und erfuhr, dass ich gestorben war.
Ich weigerte mich zu sterben. Es musste einen Weg geben, einen weniger gefährlichen Weg. Wieso hatte ich die Urim und Thummim nicht bei mir?
Wieder sah ich zur Stadt hinüber und überlegte mir, wie ich hineingelangen könnte.
Konnte man hier mit trojanischen Pferden arbeiten? Nein -dazu war das Tor zu schmal und zu niedrig. Nicht einmal ein Pferd mit Wagen käme hindurch - wenn die Stämme so etwas besessen hätten. Sie wären in den Straßen von Jebus, die Yoav zufolge verschlungen und von unzähligen Treppen unterbrochen waren, nur hinderlich. Wäre ein Ochsenwagen mit Gespann besser? Keinesfalls.
Vielleicht hatte Yoav Recht. Vielleicht führte der einzige Weg in die Stadt durch das Wasser.
Als Dov aufwachte, erklärte ich ihm, dass ich mir den Bach genauer ansehen wollte. Er nickte und erklärte mir, wo ich ihn finden würde. Ich wuchtete meinen klobigen Wasserkrug auf die Schulter und machte mich dann an den Abstieg den fünfundvierzig Grad steilen Hügel hinunter. Abwechselnd schlitterte und rannte ich. Noch ehe ich hundert Meter weit gekommen war, schwitzte ich am ganzen Leib.
Es war heiß für einen Junitag!
Noch bevor ich am Talboden angekommen war, keuchte ich bereits vor Erschöpfung - zum Wandern brauchte man andere Muskeln als zum Dattelnfüllen. Jetzt musste ich nur noch auf der anderen Seite einen ähnlich steilen Abhang hochzuklettern.
Wieso kam eigentlich nie ein Taxi, wenn man mal eins brauchte?
Über mir erwachten eben die nach Jebus ziehenden Pilger, während bereits der nächste Spionagetrupp versuchte, ihnen gegen ein Frühstück neue Informationen abzuhandeln.
Der leere Krug schaukelte auf meiner Schulter herum wie ein betrunkener Elefant, während ich mir mühsam einen Weg suchte. Die Hügel bestanden fast durchweg aus Felsgestein. Im Wind silbern und grün changierende Olivenbäume standen in Gruppen an den Hängen.
Ich entdeckte den winzigen Wasserlauf und stellte fest, dass er über eine gewisse Strecke geradeaus verlief, um dann wie durch einen Abfluss im Boden zu versickern. Weil ich mich beobachtet fühlte, verplemperte ich etwas Zeit damit, den Krug von meiner Schulter zu heben und ihn ins Wasser zu tunken. Während ich den Lehmbehälter festhielt und er voll Wasser lief, sah ich mich um und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte.
Der Krug war viel zu schwer, um ihn wieder hochzuheben. Er war wie ein Mühlstein. Ich versuchte, daneben niederzuknien und ihn auf meine Schulter zu ziehen. Keine Chance. Ich sah mich um, teils verlegen und teils nervös, dass mein fadenscheiniges Alibi auffliegen könnte. Ich schüttete etwas Wasser aus und unternahm einen zweiten Versuch.
Er war immer noch granitschwer. Ich goss noch mehr Wasser weg und probierte dann, den Krug aus einem anderen Winkel aufzuladen. Ohne Erfolg, stattdessen hätte ich um ein Haar den Krug fallen lassen und ihn zerbrochen - was unter Umständen ein Segen gewesen wäre.
Wie schafften diese kleinen Frauen das nur? Ich hatte jahrelang Rucksäcke geschleppt. Ich war Ski gelaufen, ich war Berg gestiegen. Ich konnte sogar im Schmetterlingsstil schwimmen. Aber dies ging über meine Kräfte. Offenbar fehlten mir die richtigen Muskeln, um das Gewicht eines kleinen Dinosauriers über den Kopf zu heben. Oder vielleicht brauchte ich einfach nur ein bisschen Ruhe.
In der leisen Hoffnung, jemand möge ihn stehlen, ließ ich den Krug auf dem Boden stehen und folgte dem vermutlichen Lauf des unterirdischen Baches. Vielleicht trat er ja irgendwo wieder ans Tageslicht? Ich hatte die Stadt zur Hälfte umrundet, als ich plötzlich stehen blieb. Im Aufsehen bemerkte ich, dass ich mich genau unter einem in die Stadtmauer eingelassenen Wachhäuschen befand, auch wenn der Wachposten mich aus diesem Winkel nicht sehen konnte. Ich legte den Kopf schief und lauschte angestrengt.
Wasserplätschern.
Gemächlich im Schatten der Mauer dahinschlendernd, ging ich lauschend weiter. Das Plätschern wurde erst lauter, dann leiser und dann wieder lauter. Als ich um eine weitere Ecke in der Stadtmauer bog, wurde es eindeutig laut. Ich konnte kaum etwas erkennen, gerade so viel, dass ich jenseits einer leichten Anhöhe ein paar große Steine ausmachen konnte. Bewacht von riesigen, Furcht einflößend aussehenden gelben Pseudohunden.
Ich ließ mich auf den Boden fallen. Das musste es sein!
Nachdem ich an meinem Finger gelutscht hatte, hielt ich ihn hoch in die Luft, um die Windrichtung zu prüfen. Ich näherte mich gegen den Wind, weshalb die an die Mauer geketteten Hunde, die nur entfernt wie Hunde aussahen, nicht angeschlagen hatten. Ein nicht zu verleugnendes Siegesgefühl durch-schoss mich. Vielleicht waren die Jebusi gar nicht so gut beschützt, wie sie glaubten?
Die gelben Hunde sahen gemein aus. Eigentlich sahen sie mehr nach Wölfen als nach Hunden aus. Ich schloss kurz die Augen und versuchte mir irgendein ägyptisches Kunstwerk mit einem Hund ins Gedächtnis zu rufen. Abgesehen von Anubis, dem schakalköpfigen Totengott - Moment, das hier waren Schakale!
Als hätte er meine Gedanken gehört, drehte einer von ihnen den Kopf in meine Richtung, ganz langsam, fast als könne er mich fühlen. Mein Vertrauen in seine Leine war beschränkt, darum zog ich mich zurück, flach auf den Boden gepresst, während mein Gehirn von Erinnerungen an meine Offiziersausbildung überschwemmt wurde. Sobald ich aus dem Blickfeld der Schakale war, stand ich auf und drückte mich gegen die hoch aufragenden Steine.
Es gab einen Zugang! Unwillkürlich wurde ich aufgeregt. Ich hatte das Geheimnis entdeckt!
Ich hatte die Hälfte des Weges zu meinem Zelt zurückgelegt, diesmal auf der anderen Seite der Stadt, als ich auf die exakt gleiche Anordnung stieß: Schakale, Stein, Wasserrauschen. Gab es zwei Zugänge zur Stadt? Oder war einer davon nur eine Attrappe?
Welcher war echt und welcher war HP-gedruckt?
Meine Begeisterung verpuffte wie Schweiß in der Wüste, und deprimiert stapfte ich zu unserem Lager zurück.
Erst als ich dort ankam, klatschnass und völlig außer Atem, fiel mir der Krug mit eiskaltem Wasser ein, der immer noch auf dem Talboden stand. Dov schnaubte abfällig, als ich ihm davon erzählte, und ließ mich dann allein. Gegen einen Baum gelehnt, schlief ich ein.
Am dritten Tag meines einwöchigen Späheinsatzes sah ich Dov beim Training mit seiner Schleuder zu. Er stellte in vierzig
Schritt Entfernung einen Zweig auf, auf den er in schneller Folge fünf Schüsse abgab. Fünf lotrechte Einschläge, in gleichmäßigem Abstand wie von einer Nähmaschine gesetzt, kerbten das Holz. Der Typ war nicht gerade ein großer Unterhalter, aber Mann, er konnte zielen. Weil ich es kaum aushielt, so untätig herumzusitzen, und da ich wusste, dass mein Abschnitt der Mauer bereits überwacht wurde, beschloss ich, mein Glück mit der Schleuder zu probieren.
Leichter gesagt als getan.
Dov weigerte sich, weil die Kunst des Schleuderschießens dem Stamm der Binyami vorbehalten sei. Nur dessen Männer übten an Schleuder und Bogen. Wieder und wieder brachte er diese Erklärung vor, bis ich mir einen Bogen schnappte und mein Talent als Bogenschützin unter Beweis stellte.
Dann fragte ich ihn nochmals. Widerstrebend erklärte er sich einverstanden.
Ich hatte nicht vor, die Schleuder als Waffe einzusetzen; für mich war es nur eine Möglichkeit, mir die Zeit zu vertreiben und dabei das phantastische windige Wetter zu genießen, während ich gleichzeitig etwas von diesen Menschen lernte. Bei dem Gedanken daran, wie fest David seinen Stein schleudern musste, damit er in Goliaths Kopf stecken blieb, wurde mir ein wenig übel.
Die Schleuder bestand aus einer Ledertasche am Ende zweier langer Bänder. Um zu schießen, musste man den Stein in der Tasche halten, während man die Schleuder über dem Kopf kreisen ließ, bis sie genug Geschwindigkeit aufgenommen hatte. Dann ließ man eines der Lederbänder los und den Stein in Richtung Ziel fliegen. Dazu musste man die Bewegungen in Sekundenbruchteilen koordinieren; ganz anders als bei Pfeil und Bogen.
Beim ersten Mal rutschte mir der Stein aus der Ledertasche und fiel mir auf den Kopf, der, unnötig zu sagen, schmerzte. Dov verkniff sich ein Schmunzeln, doch ich ahnte, dass ihn das nicht überraschte. Es erforderte einige Übung, die Bänder unter Spannung zu halten, während man die Schleuder schwang. Mir war klar, dass die Zentrifugalkraft den Stein in der Tasche halten würde, wenn man die Schleuder nur schnell genug drehte, doch ich wusste das nur, weil dies dasselbe physikalische Gesetz war, das verhinderte, dass ich bei einem Achterbahnlooping aus meinem Wagen fiel.
Die Sonne wurde heißer und die Brise hatte sich gelegt. Noch mal ließ ich die Schleuder kreisen und kreisen und lauschte dabei ihrem leisen Sirren. »Jetzt!«, rief Dov. Der Stein flog zwanzig Ellen weit durch die Luft und landete irgendwo weiter unten zwischen den Felsen. Dov schickte mich los, ihn zu holen, da glatte, gleichmäßige Flusskiesel selten und damit wertvoll waren. Ich versucht es noch einmal. Und noch einmal. Mit jedem Fehlschlag wuchs meine Entschlossenheit. Ich würde diese Kunst meistern, mir fehlte nur die nötige Übung.
In der Abenddämmerung schmerzte mir der Arm - auch hierfür brauchte man andere Muskeln als zum Dattelnfüllen. Zum Glück waren in dieser Nacht nicht wir an der Reihe, um die Stadt herumzuschleichen, darum backte ich ein wenig Brot, er machte uns eine Art Eintopf, und wir speisten schweigend, den Blick auf die Lichter gerichtet.
Geht es dir gut, Cheftu?, fragte ich mich.
WASET
RaEm hielt die kleine Hand ihrer Gemahlin in ihrer kraftvollen braunen. Meritatons Gesicht war schmerzverzerrt, sie keuchte und jammerte. Es waren Scheinwehen; es mussten Scheinwehen sein, denn es gab keine Möglichkeit unter dem Aton, dass das Mädchen wirklich schwanger war.
Auch wenn RaEm sich dafür verfluchte, dass sie sich diese Last aufgeladen hatte, murmelte sie Meritaton aufmunternd zu und verarbeitete zugleich die neuesten Informationen aus dem Delta.
Die Pest hatte Ägypten heimgesucht, sie reiste immer weiter nilabwärts und raubte die Seelen aus den Leibern, die sich zu lange aufrecht gehalten hatten. Der Nahrungsmangel hatte die Menschen geschwächt, die Herzenskrankheit, weil man ihnen die Götter genommen hatte, hatte ihnen das Mark aus den Knochen gesogen, jetzt kam die Pest und fällte sie.
Schreiend bog Meritaton den Rücken durch. Pharaos ältlicher Leibarzt starrte auf den Fleck zwischen den Beinen des Mädchens, als hätte er noch nie eine Frau gesehen.
»Gib ihr irgendwas«, befahl RaEm. »Sie hat Schmerzen.« Ich habe keine Ahnung, warum.
»Sie hat den Mohn zurückgewiesen, meine Majestät«, ent-gegnete der Alte, während er ins Dunkel schielte. »Ich kann keinen Kopf sehen.«
»Natürlich nicht!«, fuhr RaEm ihn an, riss sich aber augenblicklich zusammen. »Sie ist noch vor der Zeit«, schränkte sie ein. »Gib ihr den Mohn, ob sie ihn will oder nicht.«
»Meine Majestät -«
RaEm wandte sich wieder dem Mädchen zu. Der Griff um ihre Hand hatte sich gelockert. Schweißtröpfchen kullerten über die Wangen der eben erst Vierzehnjährigen, und ihre Stirn war glühend heiß. Einen Moment lang empfand RaEm echte Angst. Vielleicht war es doch mehr als bloße Einbildung?
»Nimm ihre Temperatur«, befahl sie dem Arzt.
Er legte eine runzlige Hand auf ihre Stirn. »Ukhedu«, urteilte er bekümmert. »Sie kämpft eine schwere Schlacht.«
»Wie meinst du das? Wie können wir ihr helfen?«
»Aii! Ukhedu ist in ihren Leib eingedrungen, er frisst sie innerlich auf. Wir müssen beten und Weihrauch entzünden.«
Wenn Cheftu da wäre, könnte er ihr ein echtes Medikament geben, dachte RaEm unwillkürlich. Merkwürdig, dass sie plötzlich an ihn denken musste. »Können wir ihr denn gar nichts geben? Ein Heilkraut? Medizin?«
»All, da es sich um Ukhedu handelt, ist es eine geistige Schlacht. Am besten informierst du Pharao, ewig möge er leben!, dass der Aton sich ihrer Nöte annehmen muss, da nur er mit dem Gott sprechen kann.«
RaEm hörte sehr wohl die Provokation in der Bemerkung des Alten. »Du bist entlassen«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Meritaton schrie erneut und packte RaEms Hand so fest, dass sie zusammenzuckte.
Wenig später kam Tiye hereingelaufen und legte die Hand auf Meritatons Stirn. »Das Kind wurde vergiftet«, verkündete sie.
RaEms Kopf fuhr hoch. »Was sagst du da, Mutter?«
»Vergiftet. Ihr Bauch ist prall, aber leer, ihre Haut ist heiß und trocken.« Sie wandte sich an Meritaton. »Kind, wo genau tut es weh?«
»In meinem . meinem Bauch«, hauchte Meritaton. »Sie haben mir ein Messer reingesteckt, damit ich glaube. Ich will zum Aton, ich will zu meinem Vater, ich will zu meiner Mutter.« Die Worte kamen abgehackt und drangen nur bruchstückweise in RaEms Geist vor. Vergiftet? Meritaton war vergiftet worden?
Echnatons Stimme dröhnte ihr in den Ohren: Mach meine Tochter glücklich.
»Sie muss sich übergeben.« RaEm stand unvermittelt auf. »Wer auch immer das getan hat, dessen Kopf wird meinen Türstock zieren! Sie darf nicht sterben.«
Tiye sah auf. »Sie spürt es bereits. Das Gift hat sein Werk verrichtet, wir können nur noch -«
»Nein!«, rief RaEm. »Sie wird nicht sterben! Sie darf nicht sterben! Hilf mir oder verschwinde!«
Tiye kniff die Augen zusammen. »Du liebst sie wirklich, nicht wahr, auf deine eigene, krankhafte Art?«
RaEm hielt inne, denn ihr ging auf, dass sie mit ihrem Verhalten die Mär nährte, Meritaton sei ihre geliebte Gemahlin. »Was glaubst du denn?«, fauchte sie. »Und jetzt hol mir etwas, womit ich sie zum Erbrechen bringen kann.«
»Es ist zu spät.«
RaEm trat an Meritatons Liege und zog das Mädchen seinem Gewimmer zum Trotz hoch. »Psst, Geliebte. Es wird dir kurz schlechter gehen, aber danach wirst du dich wieder ganz gesund fühlen. Vertrau mir.«
»Ach, Semenchkare ...« Sie seufzte und lehnte sich an RaEms mit Leinen verschnürte Brust.
RaEm rief ein paar Sklaven, die den Körper des Kindes stützten. Den Kopf des Mädchens in der Linken und ihren Mund aufhaltend, damit sie nicht gebissen wurde, steckte RaEm ihren Finger in Meritatons Hals und brachte sie zum Erbrechen.
Zuerst würgte Meritaton nur Magensäure hervor, doch dann kam das Essen, und zwar in Massen. RaEm war angewidert, aber erleichtert. Das Mädchen hatte sich nur den Magen verdorben? Was hatte sie geritten, so viel zu essen? Nachdem Me-ritatons Magen geleert war, reinigten die Sklaven die Liege und den Boden, und RaEm legte das Mädchen wieder hin. Sie war zwar geschwächt, doch ihr Körper schien sich abgekühlt zu haben.
»Was sollen wir mit, äh, dem hier machen, meine Majestät?«, fragte der Zeremonienmeister und deutete dabei auf die Schüsseln mit Meritatons Mageninhalt.
»Gebt es den Hunden. Und beobachtet, ob sie krank werden.«
Tiye trat neben RaEm. »Geh dich baden, meine Majestät«, meinte RaEms getäuschte Mutter. »Du sollst wissen, dass ich noch nie einen eindringlicheren Beweis für eheliche Liebe gesehen habe.«
Ihr brach die Stimme.
»Mein Mutterherz schwillt vor Stolz auf deine Tat.«
RaEm entfloh.
Cheftu blickte nach Backbord, über das wilde, weite Midian hinweg. Seit Tagen lagen sie nun schon im Hafen fest und schacherten mit den hiesigen Schafhirten und Händlern um den nötigen Proviant für die Reise der Siebzig zu dem heiligen Berg. Har Horeb. Wieder schüttelte Cheftu kummervoll den Kopf. Und seine Generation glaubte, sie wisse alles und niemand zuvor sei so fortschrittlich gewesen.
Welche Arroganz!
Wer den Sinai gesehen und sich bewusst gemacht hatte, wie viele Menschen zusammen mit Moses aus Ägypten gezogen waren, musste ein Narr sein, um zu glauben, dass die Halbinsel genug Nahrung und Verstecke bot. Für ein Volk auf der Flucht war sie schlicht zu klein und von zu vielen Ägyptern überlaufen. Auf dem Sinai lebten mindestens zwanzigtausend Sklaven und wahrscheinlich zehntausend Soldaten dazu, und zwar noch heute. Cheftu spürte dutzende von Blicken in seinem Rücken. Diese Ägypter behielten sie stets im Auge. Würde Pharao von ihrer Reise erfahren? Und wie wollte N’tan das Gold zurück nach Mamre schaffen?
Oder wäre Dadua bis dahin in Jebus? Wusste er, dass man nur durch den Tzinor in die Stadt gelangen konnte? Wenigstens den heiligen Schriften zufolge - nur dass niemand wusste, wie dieser Begriff genau zu übersetzen war. Wasserlauf? Kanal? Abfluss? Es gab so vieles, was er nicht wusste, was er nicht verstand. Was hatten die kryptischen Anmerkungen des Tzadik zu bedeuten? Wieso war es so wichtig, Cheftus wahren Namen zu wissen? Seufzend rieb er sich die Augen. Ach, Chloe, ma chère, langweilst du dich immer noch beim Getreidemahlen?
»Ägypter!«
Er drehte sich um. N’tan redete ihn stets nur mit »Ägypter« oder »Sklave« an, so als wolle er den Namen Chavsha gar nicht zur Kenntnis nehmen. Wie sehnte sich Cheftu danach, wieder frei zu sein, wieder selbst über seine Schritte bestimmen zu können. Vielleicht würden die Löcher in seinen Ohren im Lauf der Zeit ebenfalls heilen. Dieses Zeichen, dass jemand anderer über seinen Körper verfügen konnte, war ihm zutiefst zuwider.
Fast so zuwider wie die Tatsache, dass jemand anderer über seine Zeit verfügen konnte.
N’tan winkte, und Cheftu ging zu ihm. »Wir haben jetzt Führer, Esel und Proviant«, sagte N’tan. »Wir werden in drei getrennten Gruppen marschieren.« Er senkte die Stimme und sah über Cheftus Schulter hinweg. »Ich mache mir allmählich Sorgen, dass der Anblick derartiger Reichtümer einen der Siebzig dazu verleiten könnte, unsere Gesetze zu übertreten.«
»Des Menschen Herz ist schwer zu durchschauen«, kommentierte Cheftu.
»Gold allein verführt oft zu Falschheit und Mord. Und zu allen anderen erdenklichen Taten: Avayra goreret avayra. Darum müssen wir die Versuchung verringern.«
»Also teilen wir sie auf?«
N’tan nickte und zog dann die Achseln hoch.
»Ich sehe keinen besseren Plan«, bekannte er.
»In welcher Abteilung werde ich reisen?«, erkundigte sich Cheftu.
N’tan musterte ihn wohlgefällig. »Du wirst die erste Gruppe führen.«
Cheftu neigte den Kopf zum Dank für diese Auszeichnung, auch wenn er nie vergaß, dass dieser Mann sein Eigentümer war. »Todah rabah für dein Vertrauen.«
»Selbst wenn du ein Götzenanbeter bist.«
Cheftu hielt den Blick zu Boden gesenkt, da er nicht gewillt war, auf die offenkundige Beleidigung zu reagieren. Warum sollte N’tan auf Grund dessen, was er gesehen hatte, auch etwas anderes annehmen? Cheftu wusste, dass le bon Dieu die Wahrheit kannte; war das nicht alles, was zählte? »Bekommen wir einen Führer? Oder muss ich mir den Weg allein suchen?«
»Du verehrst viele Götter, Ägypter?«, fragte N’tan.
Cheftu schwieg eisern und ohne auf das Sticheln des Tzadik einzugehen. N’tan seufzte. »Der Führer bringt euch hin.«
»Und wenn ihm etwas zustößt? Wenn er krank wird? Oder wegläuft?« N’tan lachte leise. »Sei versichert, es wird nichts passieren.« Cheftus dunkle Vorahnungen verstärkten sich zusehends. Man sollte niemals derart absolute Behauptungen aufstellen. Das brachte Unglück. »Ich hätte ein besseres Gefühl, wenn ich es genau wüsste«, sagte er. »Dann -«
N’tan schnitt ihm frostig das Wort ab. »Der Führer bringt euch hin, Sklave. Ihr werdet zu Beginn der nächsten Wache aufbrechen. Innerhalb der nächsten zwei Tage werden wir zu euch, den ersten fünfunddreißig Männern, und dann zu den zweiten fünfunddreißig Männern stoßen. Maspeak!«
Schluss; damit war das Gespräch beendet. Cheftu ließ sich wegschicken und starrte dann vom Schiff aus in die Wüste. Er hatte die Steine - von ihnen konnte er alles erfahren, was er wissen musste. Aber er brauchte eine Waffe. Um sich eine zu besorgen, würde er das Gesetz brechen und eine stehlen müssen. Doch würde er sich andernfalls vollkommen schutzlos dort hinauswagen? Und ahnungslos?
Boten die Steine Schutz genug?
ACHETATON
RaEm zupfte an ihrem Morgenschurz und besah sich einen Moment lang versonnen ihre Aufmachung. Sie war Semenchka-re, der trauernde Witwer, der nach Achetaton zurückgekehrt war, um sein geliebtes Weib zu bestatten. Verflucht, warum war Meritatons Ka nur so zerbrechlich gewesen? Wie viele Tage der Trauer um dieses weiche, leicht zu beherrschende kleine Kind würde RaEm noch über sich ergehen lassen müssen? Wenigstens war die Trauerzeit unter Aton kürzer als unter Amun-Re. Bald würden die Staatsgeschäfte wieder aufgenommen.
Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Die Staatsgeschäfte« waren in Achetaton ein weit verbreiteter Kalauer und tatsächlich ein einziger Witz.
In Wahrheit widmete sich Echnaton so gut wie nie den Staatsgeschäften, wie RaEm begriffen hatte. Er interessierte sich nicht für sein Land, nur für seine unpersönliche Gottheit, den Aton. RaEm hatte die Briefe von den Außenposten des Imperiums gelesen. Vierzehn Jahre lang hatte man dort um eine Schutztruppe gefleht. Jetzt war es zu spät; eine neue militärische Kraft machte die Hügel Kanaans unsicher.
Ägypten hatte sein Imperium verspielt. Das Zentrum der Macht lag nicht mehr in den roten und schwarzen Ländern.
Auch wenn RaEm eine Liebe zu Pharao empfand, die sie für keinen anderen empfunden hatte, so bereitete es ihr doch unermessliche Schmerzen, Ägypten sterben zu sehen. Mit anzusehen, wie alles, was Hatschepsut, ihre einzige Freundin, und Hats Vater Amenhotep errungen hatten, in Echnatons Fingern zerrann wie Nilwasser, bereitete ihr fast unerträgliche Qualen. Das Amt, um das RaEm gekämpft und für das sie gemordet hatte, würde bald nicht mehr existieren.
Echnaton ignorierte alles, was außerhalb dieser Stadt vorging; für ihn bestand Ägypten einzig und allein aus Achetaton. Er hatte verkündet, dass es nicht mehr nötig sei, sich außerhalb der Xenotaphe zu begeben, die er rund um die Stadt hatte errichten lassen. Tiye tat in Waset ihr Möglichstes, damit die Adligen weiter zu Pharao hielten, doch es war besser, dass er in Achetaton blieb. In Wahrheit war er nirgendwo sonst gern gesehen.
Außerhalb dieser Enklave hatte Ägypten seinen König verstoßen. Das einfache Volk wurde von Pocken heimgesucht, einer Seuche, welche die Menschen zu hunderten dahinraffte. Die Überschwemmungen waren dürftig ausgefallen; an allen Grenzen wurde gegen marodierende Sandwanderer gekämpft. Ägypten lag im Sterben. In den Augen der Ägypter war das die
Schuld des Pharao; er trug die Verantwortung. Er hatte sich von den Göttern abgewandt.
Es war eine bittere Erkenntnis, dass RaEm trotz all ihrer Ränke nun, wo sie am Ziel war, wo sie Krummstab und Geißel in der Hand hielt, nichts erreicht hatte, weil Ägypten nichts mehr wert war. Mochten die Götter Meritaton verfluchen; sie war gestorben und hatte ihr dadurch diesen Weg zum Thron versperrt. Auch wenn Semenchkare immer noch lediglich KoRegent war, stand er ebenfalls unter Verdacht, solange das Land so viel durchmachte.
RaEm setzte die Krone ab. Sie war wunderschön, aber auch schwer. Sie hinterließ Druckspuren auf ihrer Stirn. Was hätte Hatschepsut an ihrer Stelle getan? Gold und guter Wille halten ein Land in Gang, hatte ihr Pharao oftmals gesagt.
RaEm bellte ein Lachen durch ihre dunkle Kammer - Ägypten hatte beides nicht.
Die Hitze schlug gegen die Mauern. Es war die Zeit des Keimens, doch es war bereits viel zu heiß. Sie hatten zu wenig Wasser, und der Aton war zu mächtig. Der Emmer würde auf den Feldern verdorren, genau wie alles andere auch. Sie stützte den Kopf in die Hände, sodass der Flaum ihres rasierten Kopfes in ihren Handflächen kitzelte.
Amun-Re, haben wir dich beleidigt?, betete sie. Muttergöttin Hathor, bist du wütend auf uns? Sie wagte diese Worte nicht einmal zu flüstern, denn Echnaton würde sich abrupt von ihr abwenden. Ohne die Verzückung, die er ihr durch seine Stimme und seinen Leib verschaffte, würde sie sterben. Auch wenn seine Hitze sie bis zu den Wurzeln versengte, so hatte sie das Leben noch nie so geliebt und sich noch nie derart nach dem verzehrt, was sie nicht haben konnte. Sie sehnte sich nach jenem Teil von ihm, der allein dem Aton gehörte.
Dem Aton, einem düsteren Gott, der sich weder um die Landwirtschaft noch den Zustand des Landes scherte; wer war dieser Gott? Protestierten die alten Götter gegen die Vergesslichkeit des Hauses des Thutmosis?
Gold und guter Wille.
Die Kluft zwischen dem Haus des Pharaos und seinem Volk war nicht zu überbrücken. Nur sein Tod würde die Menschen wieder versöhnen. Auf beiden Seiten fehlte es an gutem Willen. Für Echnaton waren die Menschen Luft, und sie hielten ihn für einen Wahnsinnigen, der die Doppelkrone ebenso wenig verdient hatte wie jeder, den er erwählte.
Doch wenn sie nicht regierte, wer sollte es dann tun? Die Anwärter auf den Thron Ägyptens standen schon Schlange: Horemheb, der sabbernde Kommandant über die Zehntausend; Ay, der allzu loyale Diener des Thrones; und dazu kamen die ausgesuchten Cousins, die es schon lange juckte, die Geißel in Händen zu halten. Doch keinem von ihnen lag etwas an Echna-ton. Keiner von ihnen würde den Aton weiterleben lassen. Selbst der kleine Tuti, Echnatons jüngster Halbbruder und daher rechtmäßiger Thronerbe, ließ nicht den rechten Glauben an den Aton und an die Vision seines Bruders erkennen.
Also blieb nur das Gold. RaEm würde diese Krone, diese Macht, nicht wieder hergeben. Sie bedeutete nur wenig, doch sie würde daran festhalten und sie zu neuer Kraft führen. Sie würde all jene besiegen, die in ihrer Machtgier Echnaton zu überrollen versuchten.
Mit Gold könnten wir in anderen Ländern Getreide für das einfache Volk kaufen, dachte sie. Mit Gold könnten wir uns guten Willen erkaufen. Dann könnten wir möglicherweise in einer Versöhnungsgeste einige Tempel wieder eröffnen. Das Gold würde Ägypten erlauben, all das zu erwerben, was ihm einstmals selbstverständlich zugestanden hatte: Handelsbeziehungen zu den Mächten im Norden und Westen.
RaEm würde nicht verlieren. Nicht diesen Thron.
»Wieso sitzt du allein im Dunkeln?«, fragte Echnaton hinter ihr. Sie schloss die Augen und zwang ihren Leib dazu, ihm entgegenzuwachsen. Lächelnd drehte sie sich zu ihm um. Er war nackt, erigiert, und seine Augen glänzten. »Öffne dich mir«, befahl er.
Mit einem innerlichen Seufzen nahm sie ihn gehorsam in sich auf, um seine Leidenschaft hochzupeitschen. Seine Lust zu nähren, bedeutete Macht für sie, denn auf diese Weise konnte sie ihn kontrollieren. Auf diese Weise herrschte sie über den mächtigsten Herrscher im ganzen Land. Um ihre Macht über ihn zu betonen, drückte sie ihn auf die Knie nieder. »Gib«, sagte sie, während sie ihn leckte, »mir -«
»Ja«, stöhnte er. »Alles, was du willst.«
Sie nahm ihn ganz tief in sich auf. »Schwöre.«
»All- alles. Ich« - er keuchte - »alles, was du ... was du willst.«
»Schwöre es beim Grab Nofretetes«, flüsterte sie leise. Einen Moment lang hielt er inne und sein Blick wurde kalt; RaEm fürchtete schon, zu weit gegangen zu sein. Sie befriedigte ihn mit einem weiteren Finger, diesmal mit einem beringten, was seine Leidenschaft noch mehr anstachelte. Schlagartig war er wieder in die Sphären der Lust aufgestiegen. Eilig machte sie ihn fertig und ließ zu, dass er sich in sie ergoss.
Im Aufstehen sah er sie an. Mit kaltem, berechnendem Blick. »Wonach drängt es dich so sehr?« Sein Lächeln war ohne jede Zuneigung. »Wieso hast du mich mit solchem Bestreben genommen?«
»Mein wichtigstes Bestreben ist stets, dir Vergnügen zu bereiten ... Meine Majestät«, sagte sie.
Er ließ sich auf ihre Liege zurücksinken.
»Und dein zweitwichtigstes?«
»Ich will die Armee.«
»Ein Pharao allein kann das Feuer zwischen deinen Beinen nicht löschen?«
Er war absichtlich grob, und RaEm biss sich innen auf die Lippe. Er war Pharao. Alles, was sie besaß, konnte schon morgen verschwunden sein, wenn es ihm nur einfiel. »Auf meiner
Liege brauche ich nichts außer Meiner Majestät«, sagte sie. »Doch ich will die Armee exerzieren lassen.«
Er setzte sich auf. »Wozu? Was beabsichtigst du damit?«
Ich will, dass Horemheb und seine Männer auf meiner Seite stehen, ganz gleich, was passiert, dachte sie. »Es war nur so eine Idee.« Sie schmiegte sich an ihn. »Sag, kann ich die Armee haben?«
Er hob ihr Kinn an und küsste sie auf die Lippen. »Du kannst alles haben. Du besitzt bereits Pharaos Herz. Mehr noch, du sollst Nofretetes Titel erben; fortan sollst du Semenchkare Ne-ferhetenaton heißen.«
Diese Worte aus seinem Mund zu hören war mehr, als sie sich je erträumt hatte. Es bereitete ihm nicht die geringste Mühe, sie mit seinem Mund und seinem Gesicht zu verführen, und war doch tödlich für sie. Sie blickte in sein wunderbares missgestaltetes Gesicht und erkannte, dass sie für ihn sterben würde. Und falls er starb - und das musste er, da Ägypten unter seiner Herrschaft nicht überleben konnte -, würde sie ebenfalls untergehen.

Ich zog den Schleier über meinem Gesicht glatt und sah an den Mauern von Jebus hoch. Die Morgendämmerung war angebrochen und die Jebusi warteten hinter ihren offenen Toren auf die Händler. Ich rückte mein Tramperpack auf dem Rücken zurecht und schlurfte mit allen anderen vorwärts. Im Stadttor, das einen kleinen Raum bildete, saßen die Serenim. Wie in Ashqe-lon und Mamre musste man erst an den Stadtvätern vorbei und konnte dann seitlich durch einen zweiten Durchlass in die Stadt treten. Auf diese Weise blieb einem jeder Blick verwehrt, ehe man tatsächlich in den Straßen der Stadt stand. Jeder Besucher wurde angehalten, befragt und entweder tageweise in die Stadt gelassen, oder er bekam auf Grund der Fürsprache eines angesehenen Bürgers die Erlaubnis, als Gast zu übernachten, wenn er nicht gleich abgewiesen wurde.
»Du. Isha. Was für Geschäfte bringen dich nach Jebus?«
Praktischerweise sprachen die Jebusi dieselbe Sprache und sogar einen ähnlichen Dialekt.
Ich deutete auf meine Visitenkarte - den verhassten Wasserkrug. Der Soldat war stämmig und muskulös, aber nicht fett, seine Uniform war sauber, sein Bart gekämmt, seine Rüstung glänzte. Seine professionelle Erscheinung machte mir nicht eben Mut.
»Sprich!«, fuhr er mich an. »Du bist eine Brunnenmagd?«
Ich nickte.
»Bist du stumm?«
Das war das Problem an der Sache, ich war nicht stumm, aber ich sprach mit dem falschen Akzent. Auch wenn es sich anhörte wie aus einem Dickens-Roman, so sprach ich doch »Nieder«-Akkadianisch. »Eine Witwe, Herr, auf dem Weg zu ihrer Familie. Doch leider sind sie arm und ich habe keine Mitgift.« Ich hielt den Blick gesenkt.
»Tut mir Leid, Isha«, antwortete der Mann. »Du kommst aus der Küstenebene?«
Ich nickte knapp.
»Wie ist dein Mann gestorben?«
»Die Hochländer«, ich spuckte aus, »haben meine Familie zerstört, sie haben meinen Vater, meinen Bruder und meinen Mann getötet.« Es machte mir keine Mühe, das mit ätzender Giftigkeit vorzubringen. Ich brauchte nur an Takala-dagon, Yamir ... und Wadia zu denken, den ich wahrscheinlich nie wieder sehen würde.
Der Mann beriet sich mit einem zweiten Soldaten - einem weiteren gut frisierten, diszipliniert aussehenden Soldaten. Verflixt. Aber vielleicht beschränkte sich das ja auf die Soldaten in der vordersten Reihe? Vielleicht wollten sie damit Eindruck schinden? »Wer war dein Mann? Wie ist er gestorben?«, herrschte mich nun der zweite Soldat an.
Ich erzählte ihnen meine Geschichte, bekam meinen Einlassschein in die Stadt und gesellte mich zu den anderen, die es durch die Kontrolle geschafft hatten.
Die Wächter packten uns Tagesbesucher in den ersten Raum und ließen uns dann einzeln durch das kleinere Tor ein, bis wir blinzelnd in der Sonne standen. Ich spürte einen Schauer der Erregung, als ich drinnen war. In der Stadt Jebus.
Die Stadt war aus Stein erbaut, der immer noch die Kühle der Nacht abstrahlte. Eine Art Abwasserkanal verlief in der Mitte der zu beiden Seiten gepflasterten Straße. Die Häuser hockten dicht nebeneinander und aufeinander, und überall gab es Treppen. Die Stadt begann hier unten und erklomm dann, durch kleine Treppen verbunden, eine Stufe nach der anderen bis hoch zur Hügelkuppe. Ich sah Bäume über die Dächer lugen und roch die ersten aufspringenden Geißblatt- und Rosenblüten. Die Stadt war weiß, sie war sauber, sie war prachtvoll!
Und das war Jerusalem?
Ich sagte das nicht, weil ich mir weniger erwartet hätte, sondern weil die Wirklichkeit nur in den seltensten Fällen der Propaganda gerecht wird. Stonehenge ist klein, der Turm von Pisa ist gar nicht so schief, und das Parthenon liegt über die gesamte Akropolis verstreut wie ein Puzzle.
Jerusalem war wirklich wunderschön.
Die Kaufleute hatten noch nicht zu handeln begonnen; selbst für sie war es noch früh. Ich kam auf den vom Tau glatten Steinen ins Stolpern, ging aber immer weiter. Es kostete mich Mühe, meine Gedanken von den gewundenen Efeuranken, die alle Wände schmückten, von dem azurblauen Himmel über mir und der schmerzlichen Leere in mir abzulenken und auf die Stadt zu richten. Auf den Grund meines Hierseins. O Mann, Chloe. Wasser. Brunnen. Tot oder stumm. Wach auf.
Wo befand sich der Brunnen? Dort, wo sich die Frauen versammeln würden. Mein Blick wanderte über noch mehr wohlfrisierte, auf Hochglanz polierte Soldaten hinweg in Richtung der Frauen. Aus irgendeinem Grund stimmte etwas nicht mit diesem Ort. Vielleicht fehlte irgendwas? Ich setzte meinen Weg fort und suchte weiter nach dem Grund, weshalb es mich so erschreckte, in Jerusalem zu sein.
Die Straßen verhedderten sich miteinander, bis nach kurzer Zeit jeder Schritt zu einer gemeinschaftlichen Anstrengung wurde, da immer mehr Menschen sich ins Gedränge mischten. Männer, Frauen, teils alt, teils in den besten Jahren, füllten die Durchgänge - aber etwas fehlte. Nach einer Ansammlung von Frauen Ausschau haltend, drängte ich weiter.
Die Buden begannen zu öffnen und ihre Waren aus dem Meer, den Bergen, der Wüste und den Ländern jenseits der
Wüste feilzubieten. Die Händler nahmen ihre Geschäfte auf und zogen immer mehr Kunden aus dem Pulk, der sich durch die Straßen wälzte. Die Hausierer hoben an zu rufen, und zwar die gleichen Verkaufssprüche, die wahrscheinlich von diesem Tag an bis ins Jahr 1996 in diesen Straßen zu hören sein würden.
Ein Suk blieb ein Suk blieb ein Suk.
Und doch fehlte etwas. Es war ein gespenstisches Gefühl, das noch über die alltäglichen Sorgen hinausging, die ich mir bei meinen Gedanken um und Gebeten für Cheftu machte.
Irgendetwas war hier total bizarr.
Ich sah mich um; vielleicht kam das Gefühl daher, dass dies mein erster Tag als aknegeplagte und sommersprossige Brünette war?
Wir gingen immer noch bergauf; das spürte ich in den Beinen. Als wir den Markt durchquert hatten, waren die meisten Menschen aus der Menge gefiltert worden, sodass dahinter nur noch ein Rinnsal blieb. Bald spazierte ich fast allein eine Straße entlang. Wie sollte ich mich nur als Brunnenmagd anbieten, wenn ich nicht mal den verfluchten Brunnen fand?
»Isha bay’b’er!«, rief jemand.
Erst beim zweiten Rufen begriff ich, dass ich damit gemeint war; die Frau rief nach einer Brunnenmagd, auch wenn ihr Ruf wie »Bier« klang. Strauchelnd machte ich kehrt und dachte dabei insgeheim, dass »Grazie« ganz eindeutig nicht zu meinen herausragenden Eigenschaften zählte. Den Krug balancierend, der sich auch nach einer Woche Training noch wie ein kleiner Wolkenkratzer auf meiner Schulter anfühlte, sah ich an ein paar Steinhäusern nach oben. Im strahlenden Tageslicht wirkten die Fenster und Türen schwarz. Ich suchte nach der Quelle des Rufes.
»Isha!«, war die Stimme erneut zu hören. Schließlich entdeckte ich eine winzige Frau. Sie stand tief gebückt und auf einen Stock gestützt da. Ich trat näher, woraufhin sie erneut winkte. Irgendwie kam sie mir vage vertraut vor. Nicht wegen ihrer Haltung, sondern wegen der glänzenden, rabenschwarzen Augen.
Ein Schauder lief über meinen Rücken, doch ich neigte respektvoll den Kopf.
»Ich brauche Wasser«, erklärte das winzige Wesen mit kräftiger Stimme. »Wenn du mir dann noch das Getreide mahlst, darfst du auch mein Brot essen. Sprich, Mädel.«
»B’seder«, antwortete ich, wobei ich mir Mühe gab, meinen schweren Akzent zu verschlucken.
»Sind wir uns einig?«, fragte die Alte.
Ich nickte, und die Alte, deren Gesicht kaum zu sehen war, runzelte die Stirn. »B’seder. Und jetzt geh Wasser holen«, brummelte sie. »Was für ein Unfug, dass die Männer bestimmen, wo die Brunnen hinkommen, schließlich müssen wir Frauen mit ihren idiotischen Plänen leben, denn wir müssen das Wasser holen. Viele von uns in Jebus können unsere Krüge nicht mehr füllen, ganz zu schweigen davon, dass wir sie die steilen Wege hinaufschleppen könnten. Wir sind einfach zu alt«, meinte sie traurig. »Es fehlen die Jungen.« Dann schniefte sie und fixierte mich mit ihren strahlenden Augen. »Weißt du, wo der Brunnen ist?«
Ich schüttelte den Kopf - als wäre ich nicht aus genau diesem Grund hier! -, und die Frau begann mir den Weg zu beschreiben:
»Du gehst in Richtung Stadttor. An der Rehov haLechem, dem K’vish-Basar und der Rehov Shiryon vorbei.« Mein Lexikon blendete Bilder in meinen Kopf ein: die Straßen der Lebensmittel, der Metzger und der Bäcker. Mein Magen begann augenblicklich zu knurren, während eine Dallasversion ähnlicher Etablissements durch meinen Kopf zog.
La Madelaine, Ozona’s und - der Laden mit den Schweizer Offiziersmessern?
»Links wirst du ein kleines Haus mit einem Metallgitter sehen. Du gehst durch das Gitter in einen Gang.« Ihre Wegbeschreibung klang wie aus »Tausendundeiner Nacht«!
»Er ist tief und lang und sehr kühl, was nachmittags ausgesprochen angenehm ist. Er zieht sich immer weiter nach unten hin, bis du zu den Stufen kommst. Dort musst du aufpassen, sie sind sehr rutschig.« Ihre Knopfaugen musterten mich kurz ab. »Nimm dich in Acht, auch wenn du jung bist.« Sie seufzte erneut und voller Trauer. »Wir haben kein Leben in Jebus. Keine Kinder, kein Geschrei auf den Straßen, niemand spielt in den Parks.« Sie seufzte noch mal und wandte sich wieder mir zu. Offenbar war sie mit ihrer Wegbeschreibung noch nicht fertig.
»Die Treppe geht im Kreis herum und reicht bis zum Wasserspiegel hinab. Unten ist nicht viel Platz, und man muss oft Schlange stehen. Hab Geduld und komm dann zu mir zurück. Sobald ich mein Wasser habe, kannst du nötigenfalls zum Brunnen zurückgehen und neue Aufträge annehmen.«
Diese Reise mehr als zweimal am Tag? Ich würde Proviant mitnehmen müssen! Mein Gott, wenn diese Stadt nicht uneinnehmbar war! Ich hoffte nur, dass ich mich nicht verlaufen würde. Vielleicht würde Yoavs Plan ja doch nicht klappen? Natürlich musste er klappen, sonst würde ich sterben - ich hatte keinen Zweifel, dass er seine Drohungen wahr machen würde. Seufzend nahm ich meinen Wasserkrug hoch und marschierte zurück in Richtung Tor.
Die Sonne begann die Stadt zu erhellen, die obersten Stockwerke auszubleichen und dem kalten Stein Wärme einzuhauchen. Ich sah zum Himmel auf; es war wichtig, dass ich allein am Brunnen sein würde. Würde ich es schaffen, den Frauen zuvorzukommen? Oder sollte ich bis zum späten Nachmittag warten? Nein, damit würde ich zu viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen.
Mit größeren Schritten folgte ich gewissenhaft dem beschriebenen Weg: durch die Rehovim, die Straßen.
An den Waffenschmieden vorbei; dann an den Metzgern und
Bäckern; scharf nach links und durch ein schweres Tor.
Unterwegs sah ich nicht ein einziges Kind.
Moment mal. Das war es, was hier fehlte oder eher, wer hier fehlte. Nachdem ich in Yeladim jeden Alters geradezu ersoffen war, sah ich plötzlich nur noch Erwachsene. Keine Kinder? Wie war das möglich? Wie konnte es in einer Stadt keine Kinder geben? Ich war so mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich geradewegs an den Wachposten vorbeispazierte.
»Halt!«, rief einer. Ich ging weiter, ganz auf den fehlenden Nachwuchs konzentriert.
»Halt, habe ich gesagt!«, brüllte er und setzte mir nach.
Er baute sich vor mir auf, und ich musste mein ganzes Talent aufbieten, den Krug nicht fallen zu lassen. Den Blick hielt ich zu Boden gesenkt; bei den Jebusi genossen die Frauen weniger Freiheiten als bei den Stämmen.
»Arbeitest du heute hier?«, fragte er.
Ich nickte.
Er klopfte gegen meinen Krug.
»Holst du Wasser für die Frauen aus dem Dorf?«
Ich nickte wieder, woraufhin er gegen den Krug pochte.
»Bezahlen dich die Frauen aus dem Ort?« Wieder pochte er gegen meinen Krug. Allmählich machte ich mir Sorgen um meinen Krug.
»Ken!«, rief ich und brachte meinen Krug außerhalb des Pochradius in Sicherheit.
»Pass nur auf, dass du bei Anbruch der Nacht wieder weg bist.« Er wandte sich ab. Ich hörte ihn etwas von »pelestischem Abschaum« brummeln. Noch einmal drehte er sich um. »Mach so schnell du kannst«, sagte er. »Ich warte auf dich.«
Derart verabschiedet, setzte ich meinen Weg zum Brunnen fort. Die Anlage wurde streng bewacht. Das war nicht gut. Waren alle Soldaten so fit und aufmerksam? Ich hatte noch keinen einzigen Wachposten gesehen, den zu viele Süßigkeiten und Kaffee aufgeschwemmt hatten. Im Grunde waren sie nicht zu
besiegen; hinter ihren dicken Mauern, mit ihren erstklassigen Rüstungen und Waffen, geschmiedet von Menschen, die sich auf ihr Handwerk verstanden.
Würde ich die Sache noch hinbiegen können?
In modriger und klammer Kälte zog sich die Wendeltreppe zum Brunnen nach unten. Bei jeder Stufe spürte ich, wie die Muskeln in meinen Beinen protestierend aufschrien. Auf dem Rückweg alles wieder hochzusteigen, und zwar mit zwanzig Kilo Wasser auf der Schulter, war praktisch Mord. Ich stöhnte bei dem Gedanken, dass ich mich auf mehrere Tage dieser Tortur eingelassen hatte.
Selbst mit Übung würde ich nie wieder die Alte werden.
Frauen auf dem Weg nach oben kamen an mir vorbei, teils allein, meist aber in Dreiergruppen. Die Frauen der Jebusi trugen, was ich immer als Bibelstil bezeichnet hatte: Gewänder ohne Schnitt und praktisch ohne Farbe oder Muster. Im Grunde waren es in der Mitte zusammengeschnürte Leinensäcke mit Ärmeln.
Eines war mir bei den Stämmen aufgefallen, nämlich dass Männer wie Frauen sich dort nach der letzten Mode kleideten. Die Frauen trugen keine Schleier, und die verwendeten Stoffe waren bunt und gut gewebt. Am auffälligsten war jedoch, vor allem nach meinen Erfahrungen in Ägypten, dass die Kleidung individuell zusammengestellt war.
Ich hatte den untersten Treppenabsatz erreicht und blinzelte in die Dunkelheit. Wasserplätschern verriet mir, dass der Brunnen hier war. Vor mir füllten in einer Schlange wartende Frauen ihre Krüge. Ich konnte sie nur mit Mühe erkennen, da der Raum lediglich von zwei Fackeln erhellt wurde.
Wir schlängelten uns aneinander vorbei, während eine Gruppe oder Frau nach der anderen die Krüge füllte und dann die Treppe wieder hochstieg.
Neben dem Brunnen saß behäbig ein Jebusisoldat, der gemütlich vor sich hinschnitzte und ab und zu den Blick über uns
wandern ließ. Der faule Sack!
Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte ich das System der Anlage. Der Brunnenschacht war mit einer etwa sechzig auf hundertzwanzig Zentimeter großen Holzplatte versiegelt. Diese hölzerne Abdeckung war mit Kupferbolzen, dick wie mein Handgelenk, im Stein verankert. Innerhalb der großen Holzplatte war eine kleine Öffnung ausgeschnitten -das Loch zum Wasserholen. Man brauchte nur dieses Loch zu schließen und niemand würde ahnen, dass sich hier ein Brunnen befand.
Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass die innere Aussparung etwa zwanzig auf zwanzig Zentimeter maß - durch dieses Loch gelangte nicht mal eine gut genährte Ratte! Ich bemerkte, dass es einen Extraeimer zum Wasserziehen gab, aus dem man das Wasser in sein eigenes Gefäß schüttete, um es dann wieder nach oben zu schleppen.
Es war vollkommen ausgeschlossen, dass jemand durch den Brunnen in die Stadt gelangte.
Ich war so gut wie tot.
Mir stiegen die Tränen in die Augen, denn mir wurde klar, dass mir nur noch ein einziger Ausweg blieb - ich musste nach Midian, um Cheftu zu suchen. Noch heute Nacht musste ich mich aus der Stadt schleichen, ehe jemand ahnen würde, was ich vorhatte. O Gott; ich stellte den Krug ab, damit ich ihn nicht fallen ließ.
Das Mädchen vor mir in der Schlange war vielleicht im sechsten Monat schwanger. Ich beobachtete, wie sie mit ihrem Krug kämpfte, ihn aber wegen ihres dicken Bauches nicht mehr hochbekam. Die anderen Frauen ignorierten sie, was mich zornig machte. Ich trat vor, hob den Krug hoch und half ihr stöhnend, das Gefäß auf ihrer Schulter auszubalancieren.
»Todah«, flüsterte sie, ohne meinen Blick zu erwidern.
Ich murmelte, das sei doch selbstverständlich, und machte ihr den Weg frei. Die Frauen aus der Stadt waren verstummt und beobachteten uns. Mir blieb fast das Herz stehen; schon jetzt taten mir die Arme weh. Ich starrte immerzu auf die winzige Öffnung; dies sollte der Eingang zur Stadt sein? Selbst wenn ich ein Jahr lang hungerte, würde ich da nicht durchpassen. Um ein Haar hätte ich losgeflennt. So idiotisch das auch war, ich hatte mir fast eingeredet, ich könnte es schaffen, ich könnte die Stadt einnehmen.
Mühsam füllte ich meinen Krug, Eimer um Eimer. Wie ich es bei anderen Frauen gesehen und auch geübt hatte, ging ich mit durchgestrecktem Rücken auf ein Knie. Dann wuchtete ich den Krug erst auf meinen Arm und danach auf die Schulter. Ängstlich darauf achtend, dass meine Knie nicht einknickten, stand ich wieder auf.
Und das Ding war nur halb voll? Ich taumelte vom Brunnen weg. Diese Qualen waren nicht auszuhalten.
Ich hoffte nur, dass mir die Schweißströme nicht im wahrsten Sinn des Wortes die Tarnung wegwuschen.
Nicht dass das einen Unterschied gemacht hätte.
Ich war so gut wie tot.
ACHETATON
Wieder stand der Priester vor Semenchkare: der Hohe Priester eines verstoßenen Gottes, jenes Gottes, der sie ironischerweise alle überleben würde. So schnell hatte sich alles geändert. Die Seuche hatte, so wie es aussah, den Hohe Priester des Atons ebenso dahingerafft wie Echnatons Enkelin, die ihm seine Tochter geboren hatte.
Diese zwei Toten im engsten Umkreis Pharaos hatten selbst die loyalsten Anhänger des Atons überzeugt, dass Echnaton den Sonnengott beleidigt hatte. Die Stadt in der Ebene leerte sich wie ein rissiger Krug, aus dem das Wasser sickert. Jedes Mal wenn man sich umsah, waren weniger Menschen um einen herum. RaEms schönster Traum lag im Sterben; Pharao mordete auch ihre Träume.
Jetzt war der Priester zurückgekommen. Die Zeit wurde allmählich knapp.
»Welche Lügen willst du mir diesmal entgegenspeien, Hore-taton?« RaEm wusste, dass es ihn ärgerte, wenn sie seinen Namen von Horetamun in die Form brachte, die an diesem Hof angemessen war: Horetaton. Doch verhielt sie sich dadurch eher so, wie es vor so vielen zuhörenden Höflingen angebracht war.
»Ich sehe, dass mein« - er räusperte sich - »Herr Semench-kare gnädig und nachsichtig ist wie stets.«
»Was an meiner Regentschaft und Herrschaft als Ko-Regent Ägyptens, ewig möge ich im Lichte Atons leben!, vermag dein schwächliches Gehirn nicht zu begreifen? Und sprich mich so an, wie es mir gebührt, Horetaton.«
Er neigte den Kopf. »Meine Majestät. Ich sehe, dass der Aton dein Wesen gesegnet hat. Du bist noch mitfühlender, als ich dich in Erinnerung habe.«
»Solltest du je um Vergebung ersuchen, könnte ich sie dir möglicherweise gewähren. Was willst du hier?«
»Du kennst die Jahreszeiten. Pharao sollte sich bereit machen, zum Tag des Gottes in der Barke zu segeln, so wie es sein Amt gebietet.«
RaEm warf einen kurzen Blick auf die Höflinge und Adligen; gelangweilt verfolgten sie die Szene, die sie so oft und mit so vielen Priestern beobachtet hatten. Die früheren Religionen Ägyptens hatten nicht aufgehört, darum zu werben, dass ihre Gottheiten als Konsorten oder Höflinge des Atons anerkannt wurden. RaEm ließ sich Wein bringen.
»Er erkennt diesen Gott nicht mehr an.«
Horet wagte sich dem Thron zu nähern und senkte seine Stimme so weit, dass selbst die Schreiber ihn nicht mehr verstehen konnten. »Bald wird Ägypten ihn nicht mehr anerken-nen.« Sein Blick war ohne jedes Gift; stattdessen flehten seine Augen sie an. RaEm spürte, wie ihr Blut gefror. War der Tag gekommen? War nichts mehr zu retten?
Sie griff nach einem Weinbecher und nahm einen Schluck, in der Hoffnung, dass der Priester aus einem anderen Grund als dem von ihr gefürchteten gekommen war. Sie brauchte noch mehr Zeit; sie hatte noch keine Lösung gefunden, noch kannte sie die Antworten, die man von ihr forderte, nicht.
Horetaton ließ sich durch nichts einschüchtern. RaEm hatte gute Lust, ihn ins Gefängnis zu werfen, nur um ihn einmal bleich werden zu sehen. Doch so etwas zu tun, wäre töricht und lächerlich. Kaum hatte sie den Wein geleert, spürte sie, wie er in ihre Adern strömte und ihren Zorn linderte.
Mit einer knappen Handbewegung schickte sie alle Soldaten, Adligen, Zofen, Schreiber, Höflinge und Sklaven aus dem Raum.
»Was wünschst du wirklich, Höret?«
Sie hörte die Erschöpfung in ihrer Stimme. Und wirklich -seitdem sie alle Nächte hindurch Echnatons Wünsche erfüllte und sich allmorgendlich bei Tagesanbruch erhob, um zum Aton zu beten, ehe sie den ganzen Tag lang in der Hoffnung, das Königreich wieder ins Lot zu bekommen, Audienzen gewährte, unterbrochen von endlosen Festmählern, Gelagen und Feiern, bis Echnaton sie wieder ins Bett schleifte, damit sie ihm Vergnügen bereitete, war sie tagsüber fast immer den Tränen nahe.
Was sie jetzt keinesfalls brauchen konnte, waren weitere Intrigen. Die Weiber schmiedeten Pläne, die Kinder steckten die Köpfe zusammen, die Soldaten hatten ihre eigene Motive und Absichten und die Adligen nicht minder. Echnaton war und blieb ein großes Kind, das in seiner Sandburg spielte, ohne auch nur zu ahnen, wie sehr sein Volk ihn hasste. Und ohne sich darum zu kümmern.
Als Priesterin im Ägypten von Pharao Hatschepsut hatte sie den Klatsch und die Ränke am Palast genossen. Doch damals hatte Ägypten in Frieden gelebt, es war gesund gewesen, über alle Maßen reich, voller Ideen, voller schöner Menschen und mächtig.
Jetzt wurden alle Grenzen Ägyptens durch Scharmützel perforiert, das Land darbte in unerträglicher Armut, es wurde nur noch eine einzige Idee geduldet und es gab keine schönen Menschen mehr. Macht war eine Illusion. Das Palastleben hatte jeden Reiz verloren; geblieben war nichts als Hunger, Armut, Krankheit. »Was willst du hier?«, wiederholte sie.
»Meine Majestät.« Er gewährte ihr den zustehenden Titel, jenen Titel, für den sie mit Blut bezahlt hatte. »Waset fordert einen neuen Herrscher, einen neuen König, der die Last dieser alles vergiftenden Jahre von unseren Schultern nimmt, ehe es zu spät ist.«
Diesmal sprach er ganz unverbrämt; in dieser Situation konnte auf Empfindlichkeiten keine Rücksicht genommen werden. RaEm spürte ihre Angst wachsen. Sie umklammerte mit beiden Händen Krummstab und Geißel und zwang sich, gleichmäßig zu atmen.
Seit jeher hatte Waset das Land regiert. Dort lebte seit Generationen der gesamte Adel. Dort wohnten hunderte und tausende von Priestern und Soldaten. Dort befanden sich mit Gold überladene Tempel voller Magie und Geheimnisse. Dort trennte Ägyptens Schlagader das Land der Lebenden von der Stadt der Toten. Daran hatte Echnaton nichts ändern können, wenigstens nicht dauerhaft.
»Ich habe nach dem Tod Meritatons mit dir getrauert«, sagte er.
RaEm warf ihm einen verstohlenen Blick zu - ahnte er etwas? Sie neigte den Kopf.
»Es war ein heldenhafter, tapferer Versuch, die Herrschaft des Atons überdauern zu lassen«, sagte er. »Doch er ist fehlgeschlagen. Es hat keine Kinder gegeben und Ägypten braucht frisches Blut. Kräftigeres, gesundes Blut.«
»Nur der Junge ist noch da.« RaEm war so unerträglich müde. »Und er kann nur seine Schwester heiraten.«
»Wie alt ist er?«
»Sieben.«
»Und sie?«
»Elf.«
Höret seufzte. »Ich liebe Ägypten, Meine Majestät. Ich habe nicht zu jenen gehört, die sich zur Wehr gesetzt haben, als die Steuern an die Tempel beschnitten wurden. Ich habe auch nicht protestiert, als meine Brüder in der Priesterschaft allmählich mehr Zeit zu Hause als beim Gottesdienst verbrachten, weil ihnen die Gläubigen und das Gold ausgingen.« Er verschränkte die Arme. »Die Tempel hatten zu viel Macht an sich gerissen. Die Entscheidungen wurden nicht mehr am Hofe Pharaos, sondern in den Gewürzgärten der Priester gefällt.« Seine braunen Augen waren weit offen. »Das war nicht recht.« Er sah zu ihr auf. »Amun versuchte, die Ma’at wiederherzustellen.«
Höret streckte den Arm aus. »Das Pendel schwingt erst nach Norden, dann nach Süden, ehe es über dem Nabel Gebs, der Erde, zur Ruhe kommt.«
RaEm nippte an ihrem Becher, musste, aber feststellen, dass er leer war.
»Pharao, ewig möge er leben!, hat das Pendel zu weit ausschlagen lassen.« Horets Stimme wurde hörbar metallischer. »Es ist an der Zeit, Ägypten wieder ins Lot zu bringen. Das Land liegt am Boden.« Er trat vor und sank auf die Knie, so wie er es von Anfang an hätte tun sollen, aber nicht getan hatte. »Ich liebe dieses rote und schwarze Land mehr als jede Frau, mehr als jeden Gott.« Als er wieder aufsah, waren seine Wangen tränennass.
»Lieber wäre ich im Nachleben namenlos -«
RaEm stockte der Atem.
»- als es weiter so bluten zu sehen.« »Weißt du, welchen Fluch du da auf dich lädst?«, flüsterte sie und spähte dabei in die dunklen Ecken des Saales.
»Namenlos?« Nichts fürchtete ein Ägypter so sehr wie vor den Göttern keinen Namen, keine Identität zu haben.
Namenlos zu sein, bedeutete, dass man ausgelöscht und vom Allesverschlingenden verspeist wurde. Danach würde das innerste Selbst weinend und verloren durch die Ewigkeit ziehen. Es war ein unaussprechlich grässliches Ende.
»Ich würde alles tun, um Ägypten von dieser Klippe der Zerstörung wegzuziehen«, sagte er.
RaEm schlug das Herz im Hals. Ägypten, das Land ihrer Wurzeln, das Land, das sie in ihrem Blut spürte, dessen Erde sie ernährte - oder Echnaton, der Mann, dessen Leib, Seele und Geist sie vergötterte? »Wie viel Zeit bleibt noch?«
Höret wandte den Blick ab. »Höchstens Monate. Die Adligen sind von Achetaton nach Waset zurückgekehrt. Der Pharao hat seine Machtbasis und seine wichtigste Stütze verloren.«
Sie gab ihm im Stillen Recht.
»Unter meinen Männern gibt es einen habsüchtigen Menschen, dessen Hass auf Pharao keine Grenzen kennt. Falls er wüsste, dass ich hier bin, würde er nicht einmal mich ungeschoren lassen.«
Sie nickte knapp. »Könnte man die Schmerzen mit Gold lindern?«
»Aber nur lindern, meine Majestät. Damit würde man das Unvermeidliche nur hinausschieben.«
»Ja, das habe ich verstanden, doch wir brauchen Zeit, bis Tu-ti erwachsen wird, und vielleicht -« Doch RaEm war klar, dass sich Echnaton nie ändern würde. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass er irgendwann zurechnungsfähiger und vernünftiger würde.
Bestand die Möglichkeit, dass sie allein als Pharao regieren konnte?
Er nickte nachdenklich.
»Wären die Menschen besser genährt, dann würden die Krankheiten nicht so viele Opfer fordern. Mit Gold könnte man auch einige der kleineren Tempel wieder in Stand setzen.«
»Ja, wenn wir sie wieder öffnen würden, beschwichtigt das vielleicht ...« RaEm verstummte. Schon ihre Worte waren ein Verrat an Echnaton. Doch es war nicht zu ändern. Sie schloss die Augen, weil sie die wenigen Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Höret wartete schweigend ab. Sie schniefte kurz, ehe sie die Beherrschung wiedergefunden hatte.
»Mit Gold ließen sich viele der Wunden Ägyptens zupflastern«, bestätigte Höret. »Wo ist es?«
RaEm seufzte. Das war die Millionenfrage, wie es im Fernsehen immer geheißen hatte. Die Minen waren bis auf den letzten Krümel geleert, an das Gold in den Tempeln kam niemand heran. Der Staatssäckel war leer, und abgesehen von wertlosem Tand waren keine Tribute mehr eingegangen.
Ägypten hatte seine Stellung als ernst zu nehmende Macht eingebüßt. Seit zwanzig Jahren hatte das Land den Rest der Welt ignoriert.
Also war der Lauf der Welt über Ägypten hinweggegangen.
»Ich habe es noch nicht.«
Ärgerlich warf er die Hände hoch.
»Eine Springflut des Zornes lässt sich nicht mit bloßen Versprechungen eindämmen!« Wütend sah er sie an, dann trat er zurück und ging auf und ab - er wagte es sogar, ihr den Rücken zuzudrehen!
»Einen Augenblick lang habe ich geglaubt, du hättest begriffen, du seist einverstanden! Wir waren uns doch einig, haii? Ägypten stirbt! Es wird ermordet, ermordet von diesem, diesem ...« Er wirbelte auf dem Absatz herum.
»Das Volk verhungert. Die Tempel sind nur noch Ruinen. In endlosen Scharmützeln, die wir nicht einmal als Schlachten bezeichnen dürfen, haben wir Söhne und Brüder und Väter verloren!« Er sprach sie direkt an. »Ich bin zu dir gekommen, um für das Land zu bitten, das Pharao seinem Eid nach allem anderen voranstellen muss. Und du machst dich über mich lustig!« Wieder weinte er, ungehemmt flossen die Tränen über seine Wangen. »Mein Leben wäre verwirkt, wenn herauskäme, dass ich hier war und mit dir gesprochen habe. Ich bin der letzte Stein, der den Fluss zurückhält, Weib. Bau mir einen Deich, sonst werden wir allesamt ertrinken.«
RaEm stieg von ihrem Thron. Schon bei der ersten Bewegung verknitterte ihr sorgfältig geschneiderter und ihrem Sitz perfekt angepasster Schurz in unzählige Falten. Eine Stufe tiefer blieb sie stehen, einen juwelengeschmückten Fuß neben den Schemel stellend.
Behutsam legte sie die eigens für sie feiner gearbeiteten Kopien der Geißel und des Krummstabs auf dem Thron ab, dann sah sie in seine Augen hinab. »Ich werde dir Gold besorgen. Ich weiß nicht genau wo, doch mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen.« Sie biss die Zähne zusammen. »Ich würde noch schneller sterben als du, sollte auch nur ein Wort dieses Gesprächs nach außen dringen. Man würde mich strecken und vierteilen, nachdem man mich eine Woche Jang in eine Ameisengrube gesteckt hätte, glaube mir.« Sie stieg eine weitere Stufe hinab, überragte ihn aber immer noch. »Ich flehe dich an, du musst den Fluss noch ein paar Monate eindämmen. Ich werde das Gold beschaffen.«
Er sah sie an; RaEm musste daran denken, was ein paar Tränen mit ihrer Bleiglanzschminke anstellen konnten, und fürchtete, dass sie eher wie ein Gespenst aussah als wie der KoRegent eines lebenden Gottes.
»Bis zur nächsten Überschwemmung können wir Tutis Hochzeit mit Anchesenpa’aton verkünden«, bot ihm RaEm an.
»Das Gold brauchen wir trotzdem«, warnte er.
Sie starrten einander an. Er war ein junger Mann, auch wenn Sorgenfalten seine Wangen durchzogen und sich Furchen in seine Stirn gegraben hatten. Seine Brauen waren ebenso dunkel wie seine Wimpern. Auch diesmal hatte RaEm nicht das Gefühl, dass dieser Mann irgendein persönliches Interesse verfolgte. Sein Blick war offen und rein wie der eines Kindes.
»Du bist der Doppelkrone würdig«, flüsterte er. »Denn du liebst Ägypten mehr als dein Herz.«
RaEm hätte am liebsten erst laut gelacht und dann geweint.
Aii, Hatschepsut, meine Freundin, jetzt hat mich die Charakterkrankheit, wegen der ich dich so oft aufgezogen habe, offenbar selbst befallen! RaEm war erschöpft, dennoch versuchte sie sich auszumalen, was für Gerüchte oder Folgen ihr Gespräch nach sich ziehen würde.
»Ich muss dich auspeitschen lassen«, sagte sie leise.
Im ersten Moment riss er die Augen auf, dann nickte er. »Da der letzte Priester nackt ausgezogen und gezwungen wurde, nach Waset zurückzuschwimmen, muss ich die Peitsche wohl als ... mildes Urteil betrachten.«
Sie blieb schweigend stehen.
Wenn er nicht ausgepeitscht wurde, würde es Fragen über Fragen geben. Falls dieser Priester unversehrt wieder abreiste, wäre allzu offensichtlich, dass sie gemeinsame Sache machten. Schon jetzt würde Echnaton nach Einzelheiten fragen, die sie sich erst ausdenken musste.
»Hast du je zuvor den Biss von Leder gespürt?«
Er lächelte spröde. »Nur bei meinem alten Lehrer, der immer behauptete, das Ohr eines Jungen sitze auf seinem Rücken. Je öfter er uns schlug, desto besser würden wir hören.«
Ein weit verbreiteter ägyptischer Glaube, wie sich RaEm ent-sann. »Wenn du ihn spürst, musst du ausatmen, und zwar aus dem Bauch. Höre auf meinen Atem, und tue es mir gleich.«
»Wirst du die Peitsche selbst führen?«
Sie biss sich auf die Lippe und kehrte ihm den Rücken zu. Es schien so lange her zu sein, diese vielen Männer und Frauen. Adlige beiderlei Geschlechts, die Mohn oder Lotos aßen, zu viel tranken und dann um ihre Peitsche bettelten. Wie hatte sie das damals erhitzt und erregt. Selbst der Matrose auf dem Schiff, dessen Leib sie mit Blut überzogen hatte, um ihn dann zu benutzen, hatte sie erregt. Schmerz und Blut, beides war ihr wie ein seltenes, kostbares Mitbringsel vom Gipfel des Lebens erschienen. »Möchtest du das?«, fragte sie.
»Ich vertraue dir«, antwortete er. »Du wirst tun, was für Ägypten nötig ist.«
»Sklaven!«, kreischte sie und wirbelte herum. Sobald die Türen aufflogen, wurde Horet an beiden Armen gepackt. Hastig verbarg er seine fassungslose Miene. »Peitscht ihn aus!«, brüllte sie und deutete dabei auf ihn. »Er hat es gewagt, mit seinem Geschwätz von Amun-« - sie spie aus - »Re, diesem mickrigen, altmodischen Gott aus Waset, die Gemächer zu beflecken, die dem mächtigen Aton geweiht sind!« Ein Aufseher zog geschwind die Peitsche und probierte sie am Boden aus, während RaEm zeternd im Raum herumstolzierte.
»Idiot!«, fuhr sie den Mann an und riss sie ihm aus der Hand. »Wieso probierst du deine Peitsche an den Kacheln aus, wenn du sie an seinem Rücken ausprobieren kannst? Dreht ihn herum!«, befahl sie.
Der Priester wurde herumgewirbelt, als hätte man ihm einen Spieß durch den Leib gerammt. Das Leopardenfell wurde ihm von den Schultern gerissen, sein Schurz gelöst und seine bleiche, bibbernde Hinterseite entblößt. RaEm hob die Peitsche und ließ sie auf seinen Rücken knallen, wobei sie sorgsam darauf achtete, laut auszuatmen, während die Vibrationen durch ihren Arm nach oben liefen. Er hatte die Luft angehalten und dadurch seine Qualen vergrößert.
Sie schlug noch einmal zu, dann trat sie zu ihm und riss seinen Kopf an der Haut im Nacken zurück, als wäre er eine Katze. »Polytheistischer Köter!« Sie spuckte ihm auf die Wange. Kaum hörbar befahl sie ihm, im gleichen Rhythmus zu atmen wie sie. Gleich darauf schleuderte sie ihn von sich, kehrte auf ihre ursprüngliche Position zurück und peitschte ihn abwechselnd mit beiden Armen durch. Rote Schwielen woben sich wie das Muster eines Korbes über seinen Rücken.
Aber er atmete in ihrem Rhythmus. Auch wenn er Schmerzen leiden musste, hatte er sie doch beträchtlich verringert.
»Gebt ihm seinen Schurz zurück und jagt ihn heim nach Wa-set«, verkündete RaEm, während sie sich wieder auf ihrem Thron niederließ. Ihre Kleider waren schweißnass und die Krone rutschte ihr in die Stirn. »Nein! Wartet, bringt ihn zu mir!«
Was sehen sie?, fragte sich RaEm. Sie beobachteten Se-menchkare mit großen Augen, während der Priester vor ihr zu Boden gestoßen wurde, mit auf dem Rücken gefesselten Händen, sodass er auf das Gesicht fiel. Sie hob seinen Kopf weit genug an, um ihm in die Augen sehen zu können. Bemerkten sie, wie weiß seine Haut wurde, als sie ihm etwas zuflüsterte? Dann presste sie ihren Fuß gegen Horetatons Stirn, stieß ihn vom Podest hinab und rief nach Wein.
Kurze Zeit nachdem der Hohe Priester aus dem Raum geschleift worden war, schickte sie die vielen Sklaven, Soldaten und Schreiber hinaus.
Wo gab es noch Gold?
Sie hatte in alle Gaue Ägyptens Kundschafter ausgesandt, in der Hoffnung, dass sich irgendwo eine noch nicht geschröpfte Goldader fand. Hundert Männer durchkämmten allein den Sinai. Sie trank einen weiteren Becher Wein, um ihre Angst zu dämpfen. Würde irgendwann ans Licht kommen, was sie heute getan hatte?
Würde Ägypten eine Chance bekommen, am Leben zu bleiben?
Hilf mir Gold zu finden, betete sie zum Aton. Wenn es dich wirklich gibt, dann verschaffe mir Gold. Zeig mir, wo es ist. Rette Ägypten.
Sobald ich das Wasser bei meiner Arbeitgeberin abgeliefert und damit meinen Lohn verdient hatte - etwas Brot, etwas Salz, etwas Wein -, nahm ich meinen Krug wieder auf, um die Stadt zu erforschen. Zum Schein wollte ich weitere Aufträge an Land ziehen. In Wahrheit ging ich die Straßen auskundschaften und versuchte weitere mögliche Wege in ... und aus der Stadt zu finden.
Allerdings hatte Jebus jede Menge Tore, auch wenn man nur durch ein einziges in die Stadt durfte. Ich konnte mich jedoch hinausschleichen und danach fliehen, am besten . Wohin, Chloe? Nur unter größter Anstrengung konnte ich mich auf das Auskundschaften konzentrieren. Gib nicht auf, vielleicht gibt es ja noch einen anderen Weg.
Die Vorstellung, allein und ohne Geld, als hellhäutige Frau und zu Fuß halb Israel durchqueren zu müssen, bereitete mir eine Höllenangst.
Das Auskundschaften umfasste eine ganze Reihe von Tätigkeiten, das wusste ich von meiner Ausbildung her.
Herauszufinden, wie viele Männer unter Waffen standen, welche Waffenkapazität ihnen zur Verfügung stand, ihren Bereitschafts- und Wachsamkeitsstatus, wer unter ihnen verbittert war, all das gehörte dazu. Und vieles davon ließ sich durch Beobachtung in Erfahrung bringen.
Nicht dass ich so etwas je zuvor getan hätte - ich hatte nur ein, zwei Kurse besucht, in der wir einen vorgegebenen Text durchgearbeitet hatten. Außerdem hatte ich Mimis Erzählungen vom Krieg zwischen den Staaten gelauscht, die meine Großmutter selbst erzählt bekommen hatte.
Der augenfälligste Unterschied zwischen Jebus und Mamre war, abgesehen von der befremdlichen Kinderlosigkeit, die Allgegenwart von Blut und Götzenbildern. In Mamre lebten die Menschen, allem Schlamm zum Trotz, einigermaßen rein-
lich. Hier schwemmte Blut durch die Straßen. Die Metzger arbeiteten im Freien und nahmen es hin, dass die Fliegen auf ihrem Fleisch hockten. Die Menschen achteten gar nicht auf das gerinnende Blut, in dem sie standen und in dem auch das Fleisch lag. Na gut, ich war in Ländern aufgewachsen, wo man Fleisch kaufte, indem man auf einem offenen Markt ging und dort auf eine baumelnde Tierkarkasse deutete, doch wenn ich sah, wie diese Händler mit ihrem Fleisch umgingen, bekam ich eine Gänsehaut.
Darüber hinaus deckte sich der Blutgeruch auch über alles andere. Er überzog meine Kehle und die Nasengänge und schien beinahe die Luft zu färben.
Als Nächstes stachen mir die Teraphim ins Auge. Ich hatte sie in Ashqelon, aber nicht in Mamre gesehen. Statuetten in allen Größen, von der eines Nagellackfläschchens bis zu der eines Deutschen Schäferhundes, füllten einen Laden nach dem anderen. Manche waren aus Stein, die meisten jedoch aus Lehm.
Es schien zwei Basismodelle zu geben: Ba’al mit einem gezückten Blitz in der Faust und einer Krone auf dem Kopf, die exakt wie ein Bowlingkegel aussah; und Astarte, die Muttergöttin, mit einem Seitenscheitel im Stil der Sechzigerjahre und ein, zwei strategisch positionierten Blumen auf ihrer Hüfte, die breit genug für Zwillinge war.
In einem weiteren Laden gab es schlechte Kopien ägyptischer Götter, allerdings drang sogar hier die Feinheit der ursprünglichen Vorlage durch. Würde ich so etwas herstellen und verkaufen können?, fragte ich mich fieberhaft.
Konzentration, Chloe, Konzentration.
Ich kam an zwei nebeneinander liegenden Teppichläden vorbei, die ihre Waren über die Türen gehängt hatten.
Dick gesponnene Wolle in Blau- und Grüntönen, zu einem undefinierbaren Muster gewoben, hing neben Teppichen in Gelb, Orange und Giftrot.
Der Händler nebenan hatte die Edelware: Teppiche in Gelb, die mit Lila-Blau durchzogen waren.
»Gefällt er dir, Isha?«, fragte der Verkäufer die Frau vor mir.
»Ein sehr edles Stück, das Lila stammt von den Keleti, wo es schöne Frauen wie du mühsam aus den Meeresschnecken herausgepult und dann zerquetscht haben.«
Er trat näher.
»Wegen dieser Schnecke ist es so selten und so begehrenswert. Komm, sieh nur, ich habe noch mehr.«
Er hob einen Teppich nach dem anderen an.
Der darunter war Orange mit noch blasserem Lila. Aus dem Augenwinkel beobachtete er genau ihre Miene und hielt inne, sobald er Interesse spürte.
Es war ein Spiel.
Sie kniff die Lippen zusammen.
»Willst du ihn kaufen?«, fragte er begeistert.
Sie schüttelte ablehnend den Kopf und ging weiter.
Wie jeder anständige Verkäufer lief er ihr auf die Straße nach und brüllte ihr hinterher, wie viel Rabatt er geben würde. Nur dass es sich dabei nicht um Geldbeträge handelte, sondern um Tauschwaren. Für ein Pferd würde er ihr den lila Teppich überlassen. Den gelb-lilafarbenen würde er ihr, auch wenn das an Raub grenzte, für nur zwei Esel und ein Huhn überlassen. Sein letztes Angebot war der Teppich in Lila und Orange. Eine so bezaubernde Farbkombination! Und was für ein Geschäft für nur drei Tauben und einen Esel!
Noch bevor er mit seiner Tirade fertig war, war sie verschwunden.
Alles wirkte so normal, so absolut alltäglich. Ahnten sie, dass die Hochländer ihre Stadt belauerten? Dass David, Gottes Liebling, diese Stadt erobern wollte und es früher oder später auch tun würde? Waren wir alle nur ein Bauernopfer? Steckte irgendein Plan hinter all dem? Was hatte ich hier zu suchen? Ich meinte in meinen Ängsten zu ertrinken, während meine
Füße mich in die Rehov Shiryon führten, die Straße der Waffenschmiede - Bronzewaffen, da allein wir Pelesti Eisen herstellen konnten.
Konzentrier dich aufs Lauschen, Chloe. Denk nach! Im Zickzack schlenderte ich über die breite Straße, dankbar dafür, dass alle so laut und deutlich zu sprechen schienen.
Die vereinte Hitze der Schmiedeöfen und der Nachmittagssonne brachte das Straßenpflaster fast zum Glühen. Nach nur wenigen Sekunden fühlten sich meine Nasenlöcher versengt an. Es war eine wichtige Straße; hier wurden die Waffen hergestellt. Das Klirren der Metallbearbeitung drang mir durch Mark und Bein, während ich erst die Waffen zählte und dann die Uniformierten, die ich auf der Straße sah.
Ein wahrscheinlich erst achtzehnjähriger Junge hämmerte Hufeisen. Bei jedem Schlag sprühten Funken, was in mir die Frage weckte, wie viele Pferde sie wohl beschlugen. Allerdings waren die Pferde nicht hier untergebracht - ich konnte also auch keines stehlen -, denn die Stadttore waren für sie zu klein.
Verkauften sie die Hufeisen an andere Völker? Im Weitergehen machte ich mir im Kopf eine Liste. Speerspitzen, Schwertklingen, Pfeilspitzen - alles war zum Verkauf ausgelegt. Aus dieser Entfernung war schwer zu sagen, ob sie aus Kupfer oder Bronze waren. Näher wagte ich mich nicht heran, weil das Verdacht erregt hätte.
Doch die Liste in meinem Kopf wurde immer länger. Jebus war eine Stadt mit reichlich Reserven.
Ein kurzer Spaziergang an der Mauer entlang ließ erkennen, dass die Fundamente ausgezeichnet in Schuss waren und jeder Wachturm mit drei Männern besetzt war. Falls es diesen Leuten jemals gelang, ein Fallgatter zu konstruieren, würde Jerusalem nie eingenommen werden!
Und nirgendwo ein Kind zu sehen.
In der Abenddämmerung verließ ich zusammen mit den übrigen Reisenden die Stadt. Meine Arbeitgeberin hätte mich in ihrem Hof schlafen lassen, doch ihr junger, pfiffiger Sohn hatte Vorbehalte. Unter dem fernen, aber wachsamen Auge von Yo-avs Soldaten schlief ich ein.
MIDIAN
Cheftu sah sich um. Er war überzeugt, dass sie sich verirrt hatten. Seit beinahe vier Tagen waren sie nun unterwegs, dabei hätten sie den Berg schon in zweien erreichen müssen. Und immer noch steckten sie mitten im Nirgendwo. Meilenweit erstreckte sich nur Sand um sie herum, weicher, nachgiebiger, in endlose Wellen gelegter Sand.
Die Mehrheit der Sklaven war in der ersten Gruppe losgezogen, um das Lager für ihre Herren herzurichten. Cheftu hatte den Auftrag bekommen, sich umzusehen und zu prüfen, ob er am Fuß des Berges irgendwo eine Spur von Gold entdecken konnte.
Nicht nur, dass er kein Gold fand, es war noch nicht einmal ein Berg zu sehen.
Die Führer weigerten sich, mit den Sklaven oder mit ihm zu sprechen. Sie führten nur durch Gesten, ganz nach Lust und Laune pausierten sie oder zogen weiter. Cheftu legte die Hand auf die Steine an seiner Taille; er hatte schon vorgehabt, sie notfalls einzusetzen. Dann dämmerte ihm, dass er den Weg des Exodus aus Ägypten bereits kannte, da er die Bibel kannte.
In der Stille des Nachmittags, als sie sich in der größten Hitze des Tages ausruhen sollten, hatte er all das niedergeschrieben, was er noch wusste. Der Heiligen Schrift zufolge waren die Hebräer nach der Durchquerung des Roten Meeres drei Tage lang ohne Wasser weitergezogen. Dann hatten sie Wasser gefunden, bitteres Wasser. Moses und Gott hatten eingegriffen und das Wasser gereinigt und süß gemacht und Gott hatte ihnen erklärt, dass er ein heilender Gott sei, Jahwe Yi’ra.
Danach hatten sie eine Oase namens El’im erreicht, wo sie ihr Lager aufschlugen.
Sie hatten El’im verlassen und waren in die Wüste vorgestoßen. In der Bibel stand, dies habe sich einen Monat nach ihrem Auszug aus Ägypten ereignet. Ein Monat war vergangen, seit Pharao sie ins Meer gedrängt hatte; das wusste er, schließlich war er selbst dabei gewesen. Das Wissen, dass diese Worte wahr und unverfälscht durch Jahrtausende hindurch weitergegeben worden waren, bereitete ihm immer noch eine Gänsehaut.
Wieso hatte Chloe nur solche Schwierigkeiten, die Gültigkeit und Wahrheit der Bibel und damit die Existenz Gottes anzuerkennen?
In der Wüste regneten Manna und Wachteln auf die Hebräer herab. Dann, nachdem sie weitergewandert waren, schlug Moses unerlaubt gegen einen Fels, doch Gott gab ihnen trotzdem Wasser.
Die Amalekiter - Amaleki genannt - hatten angegriffen, waren von den Stämmen aber geschlagen worden.
Kurz darauf wurde Moses wieder mit seiner Familie vereint, vor allem mit seinem Schwiegervater. Und der schlug dann vor, dass Moses seine Verantwortung delegieren solle. Danach war er heimgekehrt und die Stämme waren auf den Sinai gezogen, um am Fuß von Gottes Berg ihr Lager aufzuschlagen.
Demzufolge hätte Cheftus Gruppe schon längst an den Quellen des bitteren Wassers, den Quellen von Mara, vorbeikommen müssen. Irgendwo am Horizont müssten eigentlich siebzig Psalmen zu sehen sein.
Es sei denn, sie hatten sich verirrt.
Cheftu legte sich auf den Bauch und stellte sich schlafend. Er ließ die Steine aus seiner Schärpe gleiten und flüsterte ihnen zu. »Haben wir uns verirrt?«
»I-H-R-S-E-I-D-I-M-H-O-F-E-J-A-H-W-E-S.«
Noch während die letzten Buchstaben vorbeiklackerten, be-
griff Cheftu, dass er fortan barfuß gehen würde. Er wandelte auf heiligem Boden.
ACHETATON
»Wir müssen die Bekanntmachung vornehmen«, sagte RaEm leise. »Ägypten muss wissen, wer der nächste Herrscher sein wird. So will es die Ma’at.«
Echnaton rückte von ihr ab und löste dabei seine verschwitzte Haut von ihrer. »Du sprichst immer noch von diesen altmodischen« - er sah kurz über seine Schulter - »und abgesetzten Göttern.«
»Die Ma’at ist ein Ideal!«, protestierte RaEm. »Und keine Gottheit.«
»Es gibt inzwischen ein neues Ägypten«, meinte er düster und mit abgewandtem Blick.
Sie seufzte in sich hinein. Pharao wurde mit jedem Tag bok-kiger - und die Zeit wurde immer knapper. »Geliebter«, schnurrte sie und legte ihre Hand auf seinen Rücken, der immer noch von ihren Nägeln gerötet war. »Wir leben in ungewissen Zeiten. Das wäre das Sicherste.«
»Der Aton verlangt, dass wir an ihn glauben, selbst wenn uns alles ungewiss erscheint. Es gibt keinen anderen Weg.«
»Sieh es einmal aus einem anderen Blickwinkel«, setzte sie erneut an. »Wenn du ankündigst, dass Tuti der nächste Pharao sein wird, dann verleiht das der Herrschaft des Aton Dauer.«
Er blieb lange still; unter ihrer Handfläche spürte sie seine Atemzüge. »Wenn ich Tuti zum nächsten Pharao ernenne, verleugne ich damit meinen eigenen Samen«, antwortete Pharao schließlich. »Der Aton will, dass ein Kind meiner Lenden auf dem Thron sitzen wird. Nicht irgendein kleiner Bruder, nicht der Sohn Amenhotep Osiris’.«
»Ich bin dein Bruder und sitze ebenfalls auf dem Thron«,
wandte sie ein.
Echnaton zog die Achseln hoch.
»Du bist mein Schwiegersohn-« Seine Stimme stockte, weil Pharao ein paar Atemzüge lang stumm um seine Tochter weinte. »Du sitzt an meiner Seite.«
Meritaton, dieses kleine Balg, dachte RaEm. Es musste einen anderen Ausweg aus dieser Misere geben. Sie hatte dem Hohen Priester Amun-Res versprochen, dass Tutis Thronfolge verkündet würde; und genauso würde es auch geschehen.
Ägypten durfte nicht sterben.
Sie wollte ihren Platz auf dem Thron und in der Geschichte nicht verlieren.
Wenn du nicht weiterweißt, verführe ihn, dachte sie. RaEm beugte sich eben vor, um von neuem das Feuer in ihrem Liebhaber anzufachen, als sie Laufschritte auf dem Gang hörten. Der Palast in Achetaton war praktisch totenstill. Wer rannte hier wohl herum? Und warum?
Sie hörten draußen etwas rascheln und dann ein Klopfen an der Tür. RaEm sah sich nach einem Sklaven um, doch es war keiner zu sehen. Sie hatten Todesangst vor ihr. Seufzend zog sie sich einen Umhang über und riss die Tür auf.
Augenblicklich warf sich der Bote bibbernd auf den Boden. »Weshalb unterbrichst du die Ruhe Pharaos, er lebe ewig im glorreichen Licht des Aton?«, verlangte sie zu wissen.
»Weil etwas gesichtet wurde, meine Majestät! Wie befohlen.«
RaEm wurde steif. Sie spürte, wie hinter ihr Echnatons Interesse erwachte. »Melde dich in der Küche und lass dir eine Erfrischung geben«, sagte sie, um den Mann loszuwerden. Der Bote zog sich eilig zurück. RaEm winkte dem Wachposten, gab ihm ein paar Anweisungen und schloss die Tür.
»Was wurde gesichtet?«, fragte Echnaton misstrauisch.
»Schleichen etwa diese verfluchten Priester des abgesetzten Gottes durch die Wüste?«
Nur auf einem einzigen Weg ließ sich erreichen, dass Pharao sich für die Vorgänge in seinem Königreich interessierte - man musste versuchen, sie geheim zu halten, dachte RaEm seufzend. »Ich habe die Soldaten gebeten, darauf zu achten, wer an unseren Kupferminen im Sinai vorbeikommt. Sonst nichts.«
Seine dunklen Augen tasteten erst ihr Gesicht und dann ihren Körper ab. Schließlich sah er ihr wieder in die Augen. »Wie viele Soldaten haben wir auf dem Sinai?«
»Mehrere Kompanien.«
Keinesfalls genug, um unsere Interessen dort zu verteidigen
»Die meisten davon beaufsichtigen die Sklaven.«
»Wie viele Sklaven?«
RaEm zog die Achseln hoch. »Ich habe keine Ahnung.« Jedenfalls nicht genug. »Vielleicht ein paar tausend?«
»Wozu brauchen wir Kupfer?«
Sie musste an sich halten, um ihrer Miene nicht anmerken zu lassen, wie dumm er ihr bisweilen vorkam. Glaubte er etwa, das Land funktionierte von ganz allein? Dass Ägypten nichts aus anderen Ländern brauchte? Dass alle Dienste und Produkte in Ägypten hergestellt werden konnten?
Möglicherweise zu Hatschepsuts oder Ramses’ Zeiten - die erst noch kamen, wie ihr mittlerweile klar geworden war -, aber nicht zu dieser Zeit. »Wir müssen Tuti krönen«, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.
»Er ist noch ein Kind und nicht alt genug, mit einer Frau zusammen zu sein. Außerdem«, meinte er schmollend, »sollte Anchenespa’aton meine Frau werden!«
»Sie ist auch deine Tochter und die einzige noch lebende Frau, die das Königsrecht trägt.«
»Aii, Meritaton«, flüsterte er leise. Einen Moment lang blieb er stumm, dann stand er auf, die dicken Schenkel von dem Samen verklebt, den er nicht mehr von ihrem Körper aufnehmen ließ. »Ich werde ihr einen König besorgen.«
Blinzelnd versuchte RaEm ihn zu verstehen, seinen Worten
irgendeinen Sinn zu geben.
Pharao hob seinen Schurz vom Boden auf.
»Wenn du meinst, dass wir einen König krönen müssen, dann werde ich Anchenespa’aton auf meine Liege mitnehmen, bis sie schwanger ist.«
Augenblicklich standen RaEm die Tränen in den Augen. »Du willst mich verlassen?« Ihre Stimme war dünn wie ein Faden.
»Du hast selbst gesagt, dass wir im Sinn der Ma’at handeln müssen«, meinte er. »Ich sage dir, die Ma’at ist tot, die Ma’at hat sich gewandelt zu einem Verständnis von geistiger Offenheit. Doch eines gestehe ich dir zu: Ägypten muss begreifen, dass diese Dynastie fortdauern wird. Da du«, er kicherte, »deiner Pflicht nicht nachgekommen bist, ist die Reihe jetzt an mir. Die nächste Generation von Ägyptern wird nur noch die wärmende Liebe des Atons kennen. Ein König von meinem Blut muss sie anführen.«
RaEm hatte die Fäuste so fest geballt, dass sie die Halbmonde ihrer Nägel spürte, die sich jetzt in ihre Handflächen gruben. Der Biss des Schmerzes war das Einzige, was sie noch auf den Beinen hielt. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. Es waren Worte, die sie noch nie aufrichtig ausgesprochen hatte. Worte, die sie bisher einzig und allein eingesetzt hatte, um zu manipulieren und Macht zu gewinnen.
Jetzt hatte sie alle Macht verloren. »Bitte ... tu mir das nicht an. Verlass mich nicht.« Der Gedanke, dass sie ihn anbettelte, ekelte sie an, doch die Vorstellung, ohne ihn leben zu müssen, war tausendmal schlimmer.
Echnatons Blick blieb kühl und seine volle Stimme tonlos.
»Fahr zu deinen Kupferminen. Bei deiner Rückkehr wird Anchenespa’aton ein Kind erwarten. Sollte mir dann der Sinn danach stehen, werde ich dich wieder aufnehmen.«
RaEm spürte den Schlag so deutlich wie seine Hand, die sie so oft auf ihrem Hintern und ihren Schenkeln gespürt hatte.
»Wie Meine Majestät wünscht«, hauchte sie.
Er kam zu ihr, mit verknittertem Schurz und schlaffem Bauch. Falten gruben sich durch sein Gesicht und schnitten tief in die Haut beiderseits seines Mundes, seines weiblichen und so beweglichen Mundes. Seine Schultern hingen herab, seine Arme waren zu dünn, doch sie liebte ihn. Sie kannte jede Faser seines Körpers. Sie hatte ihn auf jede nur erdenkliche Weise gefoppt und erregt, doch es hatte nicht genügt. Ich tue das für Ägypten - am liebsten hätte sie das laut herausgebrüllt, damit die Götter ihre Taten rechtfertigten, damit ihr Geliebter sie verstand. Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie. »Auch du liegst mir am Herzen«, sagte er. »Komm schnell zurück.«
Dann war Pharao verschwunden.
RaEm starrte die Tür an, dann befahl sie den Sklaven, Wein und den Boten zu holen. Zuerst den Wein.
»Majestät?«, hörte sie wenig später eine Stimme in der Tür. Augenblicklich stellte sie ihren Weinbecher ab und griff nach den Insignien ihrer Königswürde. Sie neigte den Kopf, da kein Schreiber oder Zeremonienmeister anwesend war, der ihre Wünsche hätte verkünden können.
»Ein Spion aus den Kupferminen auf dem Sinai, Meine Majestät. Er bittet, dich sprechen zu dürfen«, sagte ein Sklave.
Es war unter ihrer Würde, mit diesem Menschen zu sprechen, doch ihr blieb nichts anderes übrig. »Er soll eintreten.«
Der Sklave wich rückwärts zurück. Gleich darauf trat ein zweiter Mann in den Raum. Er hatte dunkle Haut, war jung und hatte ein Glänzen in den Augen, das verriet, dass er zu allem bereit war. Er warf sich zu Boden und wartete auf ihren Befehl.
»Erhebe dich«, sagte RaEm leise.
Er kam ihrer Aufforderung nach. Über der scharfen Nase saßen zwei aufmerksame, dunkle Augen. Er kam frisch vom Barbier, das verrieten die kleinen Schnitte an Hals und Kinn. Sein Schurz war frisch gewaschen, wenn auch altmodisch. Er trug keinerlei Schmuck, lediglich eine schlichte Kupferklinge im Gürtel.
»Sprich.«
»Meine Majestät, ich gehöre zu den Männern, die überall nach Gold suchen sollten.«
»Gibt es eine neue Ader?«
»Ader? Nein, nein, meine Majestät. Es handelt sich um ein Schiff, das aus Midian kommt.«
Was war das für ein Hohlkopf? »Das tun viele Schiffe.«
»Dieses Schiff kommt vom Berg Horeb.«
»Was soll das heißen? Woher weißt du das?«
Er senkte den Blick. »Meine Vorfahren waren Apiru, meine Majestät. In Midian gibt es Gold.«
»Eine Ader? Eine noch nicht angezapfte Quelle?« Wer herrschte über Midian? Konnte man ihn kaufen oder beseitigen? »Sprich!«
»Aii ... eine noch nicht angezapfte Quelle, meine Majestät.«
»Sprich!«, bellte sie ihn an.
»Die Apiru haben viel ägyptisches Gold in den Bergen vergraben, meine Majestät. Das Schiff stammt aus Jebus in Kanaan.« Offensichtlich ahnte er, dass ihr diese Namen nichts sagten. »Während der Herrschaft von Thutmosis Osiris dem Großen sind die Apiru nach Kanaan, in ihr Heimatland, zurückgekehrt. Jetzt suchen sie ihr Gold, um es heimzubringen.«