17. KAPITEL

Wir gingen in einem engen Pulk, darum flüsterte ich in der Hoffnung, dass Cheftu mich verstehen würde, auf Englisch: »Wie erklärst du dir die Flöhe?«

»In der Bundeslade?«

»Ja!«

»Vielleicht ernähren sie sich von dem Manna oder dem knospenden Stab, mit Flöhen kenne ich mich nicht aus.«

Dadua teilte uns auf, weil wir uns den Ägyptern aus allen vier Himmelsrichtungen nähern sollten. Cheftu und ich sollten die Ostseite des Berges ersteigen.

Es war schlammig, kalt und absolut unglaublich.

RaEm auf dem Tempelberg? »Wieso jagt Gott sie nicht einfach in die Luft?« Ich schnaufte neben Cheftu bergauf. Inzwischen hatten wir den Rand des Plateaus erreicht. Die äußeren Wände des Heiligtums waren eingerissen, und das Tabernakel selbst war enthüllt, wodurch nur noch die zwei Pfeiler vor der Lade stehen geblieben waren. Blitze erhellten die Szenerie. Ich hörte Cheftu zischen: »Mon Signeur! Sieh dir das an! Was tut sie da?«

Anstelle des Tabernakels stand dort ein weiter Kreis von silbernen und goldenen, gegen den Himmel gerichteten Schilden.

»Ihre Blasphemie ist grenzenlos«, meinte mein Ehemann schockiert.

Die Lade stand im Zentrum dieses äußerst bizarren Arrange-ments. Die vier Stangen, an denen sie getragen wurde, waren hochkam gestellt. Wieso um alles in der Welt? Ich konnte mir nicht einmal ausmalen, was RaEm damit bezweckte.

Sie stand knapp nördlich ihrer Konstruktion. Um sie herum schossen ägyptische Soldaten Pfeile in den Himmel. Mein erster Gedanke war, dass alles, was da hochflog, auch wieder herunterkommen würde und ich vermeiden musste, von oben herab aufgespießt zu werden. Dann fragte ich mich, was sie wohl beabsichtigte.

Die Blitze kamen näher.

Auf wilde, wahnsinnige, hexenweibische Weise sah sie wunderschön aus. Sie hatte Semenchkares Schurz gegen ein weißes Kleid ohne Schmuck getauscht, und ihr geschorener Kopf glänzte in der regenglatten Nacht.

Blitze! RaEm hätte sich wie besessen für Blitze interessiert, hatte meine Schwester Cammy erzählt. Der Regen klatschte uns fast waagerecht ins Gesicht. Die ägyptischen Soldaten standen wie angewurzelt da, allerdings hatten sie die Augen vor Angst so weit aufgerissen, dass ich selbst in der Düsternis das Weiße darin erkennen konnte.

Die Blitze kamen noch näher, sie zuckten um uns herum nieder. Was tat sie da? Wollte sie die Lade als eine Art riesigen Blitzableiter benutzen? »O mein Gott«, sagte ich auf Englisch.

Cheftu blieb stehen und sah mich an. »Chloe?«

RaEm wollte die Macht des Fernsehens eindeutig als Macht der Finsternis einsetzen.

»Menschen der Stämme!«, verkündete sie mit dramatischen Gesten. Gut, dass sie Hebräisch gelernt hatte, ein Übersetzer hätte die ganze Atmosphäre versaut. »Das Feuer des Himmels steht in meiner Macht! Es ist mir Untertan!« Die Soldaten schossen immer weiter Pfeile in die Luft. »Mit den Mitteln der alles überragenden Magie Ägyptens«, sagte sie, »habe ich den Göttern der Wüste und des Sturmes einen Altar erbaut. Shaday selbst ist mein Sklave.«

Um uns herum dröhnte Donner los, der ihre Worte ein paar Sekunden lang überrollte. Die versammelten Menschen sahen voller Ehrfurcht zu. Für sie hatte RaEm allem Anschein nach Zauberkräfte. Ob ihr aber irgendwer sonst, irgendwer, der selbst Macht besaß, diese Geschichte abkaufte?

Dennoch war sie eindrucksvoll. Äußerst eindrucksvoll.

»Meine Forderungen sind schlicht«, erklärte sie in bester Terroristenlogik. »Das Gold, das ich begehre, für die Truhe, die ihr so hoch schätzt.«

»Wieso nimmt sie nicht einfach die Truhe?«, flüsterte ich Cheftu zu. Schließlich war sie mit schwerem Gold überzogen; man brauchte eine kleine Armee von Priestern, um sie zu bewegen.

»Die Truhe ist nichts verglichen mit den Goldschätzen, die Dadua versteckt hat. Wir haben hunderttausende von Talenten in Gold und Silber mitgebracht. Ein solcher Reichtum wäre selbst zu deiner Zeit noch eindrucksvoll.«

Trotz der Inflation?

RaEm war mit ihrer Theatervorstellung noch nicht am Ende. »Durch die Kraft der Götter der Luft und des Sturmes, durch Ba’als eigene Blitze wird dieses einsame Totem eures einsamen Gottes bis in Gottes eigenen Thronsaal fliegen!«

Wie auf Kommando schlug ein Blitz in den Berg ein. Alle sprangen zurück. Statik knisterte in der Luft. Ich blickte auf die Stangen, die Schilde, die Lade. »Sie will, dass der Blitz in die Bundeslade einschlägt?«, überlegte ich laut.

Wie das? Blitzableiter waren dazu da, die Blitze anzuziehen und sie auf diese Weise von anderen Dingen abzulenken. Wollte sie ...? Plötzlich schubste Cheftu mich beiseite und rettete mir dadurch das Leben. Ich sah nach unten. Wo ich gestanden hatte, zitterte ein Pfeil im Boden. Ich kniete daneben nieder. Hauchdünne Golddrähte hingen wie jüdische Schläfenlocken in winzigen Spiralen vom Schaft herab.

Blitz und Donner setzten gleichzeitig ein.

»Chloe«, schrie Cheftu über den heulenden Wind hinweg, »wenn diese Truhe geöffnet wird, wenn sie nur einen Spaltbreit offen steht, dann kann das eine Katastrophe auslösen.«

»Wieso?« Ich versuchte immer noch, die Sache mit dem Pfeil zu verarbeiten.

»Die Pest.«

Ich blickte wieder auf die Lade, die inmitten der goldenen Schilde thronte. »Sie hat eine grausamere Waffe, als ihr bewusst ist«, murmelte ich.

»Die Priester wissen das«, antwortete er.

Ich kaute auf meiner Lippe und versuchte verzweifelt, mir den Physiklehrstoff aus der achten Klasse wieder ins Gedächtnis zu rufen. »Gold ist ein elektrischer Leiter«, sagte ich. »Falls der Blitz einschlägt, wird er nur das zerstören, was er trifft. Die elektrische Ladung wird nicht ausreichen -«

»Siehst du die Drähte?« Cheftu brüllte beinahe. Ich kniff die Augen gegen den Regen zusammen. »Sie verbinden alles miteinander, die Schilder mit den Stangen und der Truhe!«

»B’seder«, bestätigte ich. »Dann haben wir wirklich ein Problem.« Ein Blitzeinschlag, dann würde die Spannung, falls sie das Gold nicht augenblicklich schmelzen ließ, schließlich und endlich in die Truhe überspringen. »Würden die Flöhe bei einem Blitzschlag nicht verbrennen?« Ich trat von einem Bein aufs andere.

»Es reicht, wenn ein, zwei Flöhe überleben, und die Krankheit geht auf die Tiere, die Kleider und Möbel über. Den schwarzen Tod wird man nur los, wenn man die Toten mitsamt all ihren Habseligkeiten verbrennt.«

RaEm zählte immer noch auf, wie viel Gold sie wollte: das gesamte Gold, das N’tau und Cheftu aus der Wüste von Gottes Berg in Midian mitgebracht hatten. Ägyptisches Gold, wie RaEm behauptete. Sie hatte Recht, doch die Ägypter hatten das Gold am Vorabend des Exodus den Israeliten geschenkt, als diese noch Apiru gewesen waren.

Ein Blitz schlug in das Tal westlich von uns ein. War das Zentrum des Sturmes bereits weitergezogen? Der nächste Pfeilhagel stieg zum Himmel auf. Die Blitze würden zurückkehren. Irgendwie zog RaEm sie an. Halbwissen konnte sich als sehr gefährlich erweisen.

N’tan sprach uns von hinten an. »Was rätst du uns? Was sagen die Steine?«

»Sie liegen wie tot in meinen Händen«, erklärte Cheftu.

»Zu viel statische Spannung«, vermutete ich.

»Zieht eure Schuhe aus.« N’tan deutete auf unsere Füße. »So verlangt es das Gesetz auf diesem Berg, vor Shaday und dem Thron.«

Natürlich, denn barfuß war jeder geerdet, der die Lade berührte oder ihr so nahe kam, dass die Spannung überspringen konnte. »Wir müssen den Stromkreis durchbrechen«, meinte ich, wobei ich durch den Regen zu den Drähten spähte. Und auf die vielen Soldaten zwischen ihnen und uns.

»Wie?«

Er fragte nicht, ob das geschehen würde, sondern nur wie? »Glaubst du mir?« Ich war verdutzt.

N’tan wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Feuer kommt vom Himmel nieder, es verbrennt die Felder, Häuser, Dörfer. Ich weiß, was ein Blitz anrichten kann. Irgendwie lockt sie ihn an. Aber was wird dadurch mit dem Thron geschehen?«

»Bumm! Die Lade zerspringt möglicherweise in tausend Stücke«, antwortete Cheftu. Es gab keine korrekte Übersetzung für »Explosion«. »Dadurch könnten die Flöhe freikommen und die Stadt verseucht werden.«

Ganz zu schweigen davon, dass die Lade unwiederbringlich verloren wäre. War sie vielleicht deshalb nie gefunden worden? Weil sie zu Asche zerfallen war? Wenn die Seuche sich ausbreitete, wenn die Israeliten ausgelöscht würden . wie würde sich das auf die Menschheitsgeschichte auswirken?

Woher sollten wir ohne die Juden die Zehn Gebote bekom-men?

Woher sollten wir ohne die Juden die Bibel bekommen?

Woher sollten wir Jesus bekommen? Oder Mohammed?

Falls dieser kleine Stamm vom Erdboden getilgt wurde, würde es mich dann überhaupt geben? Oder die Vereinigten Staaten von Amerika? Einstein wäre nicht geboren worden. Oder Freud. Es gäbe kein Nahostproblem - weil es keinen Nahen Osten geben würde. Keine Juden, keine Christen, keine Moslems. Würden wir alle stattdessen die Bäume und den Himmel und den Blitz anbeten?

»Du beschreibst ein -« N’tans Worte wurden von einem massiven Blitz unterbrochen, der minutenlang am Himmel zu stehen schien, obwohl so etwas unmöglich war.

Es wurde noch dunkler. Der Donner kam näher.

»Du kannst das Haus unseres Gottes nicht zerstören!«, brüllte Dadua von seinem Unterstand am Südende des Plateaus aus zu RaEm hinüber. »Er ist ein mächtiger Gott! Er wird das nicht zulassen!«

Eine Eins plus für deine Glaubensfestigkeit, Dadua.

Doch Gott hatte auch die Elektrizität erschaffen, und zwar so, dass sie unter bestimmten Bedingungen wirkte. All diese Bedingungen waren berücksichtigt und erfüllt - und wurden von RaEm kontrolliert.

»Ich allein gebiete über den Himmel!«, brüllte RaEm zurück. »Dein Gott ist nichts! Er kann sich mir nicht entgegenstellen! Du bist nichts! Jedes einzelne Wort wirst du bereuen!«

Der Blitz schlug hinter RaEm ein, und zwar so nahe, dass wir ihren Körper als Silhouette sahen. Die Anordnung von Schilden und Bundeslade ähnelte auf perverse Weise einer Blüte mit dem Blütenstempel in der Mitte. Einer todbringenden Blüte, so viel stand fest.

»Soll ich durch den Draht brechen?«, fragte N’tan und machte sich bereit, an den Soldaten vorbei in Richtung der Lade zu rennen. Der Regen ließ geringfügig nach, dafür kamen die

Blitze wieder näher. »Warte, der Stromkreis ist noch nicht geschlossen.« Ich kniff die Augen zusammen. Richtig, RaEm hielt die zwei Enden des Drahtes in ihren Händen. Ich zeigte auf sie. »Wenn sie die beiden verbindet, ach, also dann -«

»Werden wir alle geröstet?«, ergänzte N’tan.

Er wartete nicht länger ab, sondern rannte los. Mit quecksilberhafter Schnelligkeit fingen ihn zwei ägyptische Soldaten ab und schleuderten ihn in den Schlamm. Wir mussten an ihnen vorbei. Cheftu sah mich an. »Niemand sonst weiß, was zu tun ist.« Ich geriet in Panik.

Ein paar weitere Giborim rannten auf das Zentrum zu, wurden aber samt und sonders von ägyptischen Soldaten gefällt. Mein Blick fiel auf eine Schleuder in der Bauchschärpe eines Mannes, die ich mir auslieh und lud, um dann abzuwarten. »Du hast deine Chance gehabt, du Narr!«, brüllte RaEm Dadua an.

»Du wirst ebenfalls sterben!«, brüllte Dadua zurück.

»ICH BIN unsterblich!«, kreischte sie und hob die Drähte über ihren Kopf. Das Zentrum des Gewitters befand sich jetzt genau über uns. Ich richtete mich auf und ließ die Schleuder kreisen, bis ich sie über meinem Kopf surren hörte. Mit einem Gebet auf den Lippen schoss ich den Stein ab. Der Soldat vor uns stürzte zu Boden und gab den Weg für Cheftu frei, der zur Lade hinraste.

Ich folgte ihm nach, allerdings erst nach kurzem Zögern. Ich steckte in meinem eigenen Körper; ich hatte keine Ersatzhaut, falls mir irgendetwas zustieß. Ich würde mich selbst versengen. Aber wenn wir nichts unternahmen, dann würde die Truhe unter Umständen in die Luft fliegen, die Seuche würde ganz bestimmt freigesetzt, und wir würden sowieso alle sterben - bis auf Cheftu und Dion.

Jemand berührte meinen Armrücken und jagte einen elektrischen Schlag durch meinen Körper. Ich machte einen Satz, wurde aber nicht langsamer.

Yoav raste mit gezogenem Schwert auf RaEm zu. Das war ein Plan! Wie in Zeitlupe fasste RaEm hinter sich, packte einen Stock und zielte damit auf ihn. Der lang herbeigerufene Blitz schoss in das Ende des Stockes und sprang dann auf Yoav über.

Er fiel zuckend zu Boden und blieb dann reglos stehen.

»Ihr da! Stehen bleiben!«

Der Ruf erreichte uns auf Ägyptisch. Cheftu drehte sich um und bekam die Faust des Soldaten in den Bauch. Zu zweit stürzten sie sich auf uns. Ich duckte mich unter dem Speer weg und trat sofort zu. Ich erwischte den Angreifer in der Brust und schleuderte ihn zurück. Er riss das Schwert hoch, um mich aufzuspießen, doch ich sprang zur Seite weg und schlidderte dabei in den Schlamm.

Sekundenlang erhellte sich der Himmel auf gespenstische Weise, während ich mich wieder zu meinem Soldaten umdrehte. Aus seinem Hals sprudelte Blut, und sein Kopf baumelte schief auf der Seite. Er war von hinten gefällt worden. Mir wurde der Arm aus dem Gelenk gerissen, so heftig wurde ich zur Seite katapultiert.

Wieder schlug der Blitz ein. Der Regen prasselte mittlerweile so laut, dass nichts anderes mehr zu hören war. Durch das stroboskopartige Licht sah ich einen Mann in den Kreis der Schilde treten und sie auseinander reißen. Das Haar stand ihm zu Berge, und seine dichten schwarzen Locken schienen in den wenigen Sekunden, in denen er die von RaEm konstruierte moderne Maschinerie einriss, noch voller zu werden.

»Verräter!«, kreischte sie und in diesem Moment schlug der Blitz ein.

Er schlug in eine der Stangen, sprang unten auf die Lade über und von dort aus zur zweiten Stange und zu dem Schildkreis weiter, wo Dion stand. Er zuckte durch seinen Körper, ließ ihn wie eine Marionette zappeln und verschwand dann im Boden.

Nichts flog in die Luft. Die Seuche blieb eingesperrt.

Dion hatte uns, warum auch immer, gerettet.

»Tötet sie!«, kreischte RaEm. Ich schaute gar nicht erst auf, um festzustellen, wen sie damit meinte. Ich packte Cheftu am Arm und zog ihn strauchelnd hinter mich. Überall sirrten Pfeile durch die Luft, Pfeile, die nicht mehr in den Himmel, sondern auf die Menschen gerichtet waren. Die Giborim stürzten vor, die neuen pelestischen Schwerter gezückt.

Das Klirren von Metall auf Metall wetteiferte mit dem Heulen des Sturms.

Ägypter und Israeliten bekämpften einander auf dem Tempelberg. Schreie, Stöhnen und das Scheppern der Waffen erfüllten die elektrisch knisternde Luft. Doch nachdem keine Pfeile mehr in den Himmel flogen, um den Sturm anzulocken, zog er schnell über uns hinweg. Cheftu und N’tan bahnten sich einen Weg durch die Kämpfenden, also zog ich den Kopf ein und lief ihnen hinterher. Immer mehr Priester schienen sich aus dem Tumult zu lösen, während die Stammesangehörigen und Cheftu den Golddraht von den Stangen holten, die von den Priestern neu angeordnet wurden.

Andere Priester bauten das Zelttabernakel wieder auf, um weitere Blitzschläge abzuwenden und ihren wertvollsten Besitz zu schützen. RaEm hatte die Lade an ihrem Platz gelassen, sie hatte einfach alles im Umkreis niedergerissen. Die Priester holten die Schilde herunter und rückten die Lade gerade, deren Cherubim wie ein einziges, vierflügliges Wesen aussahen. Doch darüber wollte ich mir keinesfalls den Kopf zerbrechen.

Statuen bewegten sich nicht; daher auch die Redewendung still wie eine Statue. Dies war bestimmt ein Traum. Eine Halluzination.

Dion lag leblos am Boden. Das Tabernakel wurde wieder aufgerichtet, die Soldaten kämpften, und mittendrin lag Dion.

Zögernd fasste ich nach seinem Hals und versuchte, den Puls zu ertasten. Immer wieder zuckte der Himmel auf, doch ich kam beim Zählen bis »acht«, ohne dass es donnerte.

Dion schlug die Augen auf und schnappte nach Luft. Dass sich mir die Haare aufstellten, hatte nichts mit der statischen Aufladung in der Luft zu tun. »Wo ist RaEm?«, fragte er.

Diese Hexe.

»Sag du es mir.«

Er schnappte noch mal nach Luft. »Unter der Stadt. In den Höhlen. Versteckt sich.« Ich blickte auf den Mann hinab, dessen Tod ich nur wenig bedauert hätte, und begriff, dass er niemals sterben würde. Genauso wenig wie Cheftu. Ich ließ ihn liegen und eilte auf der Suche nach dem Eingang zu den Höhlen durch das Schlachtengetümmel. Noch einmal würde sie nicht davonkommen. Nicht noch einmal.

Ich hielt inne und lauschte auf Schritte. Nichts. Kein anderer Atem, nur meiner. Ich ließ mich hinab und folgte dann dem Pfad durch alle Windungen und Wendungen. Unter einem weiteren von Menschen gehauenen Bogen hindurch in eine weitere Kammer. Ich war inzwischen durch so viele gekommen, dass ich nicht mehr sagen konnte, ob ich mich vorwärts oder im Kreis bewegte. Kannte ich diesen Raum bereits?

Stattdessen stand ich an einem ganz anderen Ort, als ich geglaubt hatte. Ich bewegte mich nicht im Kreis. Ich war in einem Labyrinth! Ich hob die brennende Öllampe hoch, die ich aus einem der vorigen Räume mitgenommen hatte, und sah mich um.

Selbst hier unten in diesem steinernen Irrgarten konnte ich den Schlachtenlärm von oben hören. War da noch etwas anderes? Ein Wimmern vielleicht? Statt denselben Weg zurückzugehen, folgte ich dem Klang, der durch die Mauern zu mir drang, und wagte mich dabei Schritt um Schritt tiefer in das Labyrinth vor. War Dion darauf gestoßen, als er hier unten Steine gebrochen hatte?

Ich blieb stehen und lauschte. Hatte ich nicht ein Keuchen, ein Stöhnen gehört? Ich schlich ein paar Schritte weiter vor. Ja. Nachdem ich ein paar weitere Kurven in diesem Gewirr von

Gängen umrundet hatte, sah ich sie zusammengerollt auf dem Boden liegen. »RaEm?«, fragte ich.

Sie drehte sich zu mir um, und ich hätte mich um ein Haar übergeben. Sie würde nirgendwohin verschwinden. Nie wieder. »Mein Gott«, hauchte ich.

»Es ist dein Gott.«

Sie krächzte nur noch. »Er ist dein Gott, und er liebt dich, genau wie deine kalte moderne Welt und dein -« Sie zischte vor Schmerz.

»Spar dir die Flüche«, sagte ich. »Du liegst im -«

»Im Sterben. Ja, ich weiß.«

Sie war versengt, die rechte Hälfte ihres Körpers war schwarz gebrannt. Ihre Hand hatte sich in eine verkohlte Klaue verwandelt, mit der sie die rechte Hälfte ihres Gesichts umfasste. Ich war froh, dass das Licht so schlecht war. Irgendwas stimmte auf groteske Weise mit ihrem Gesicht nicht. »Wieso?« Ich starrte sie an. »Du warst ägyptischer Pharao. Wie hast du es so weit gebracht?«

»Du kennst doch das Sprichwort«, antwortete sie auf Englisch. »Geld erbt man oder heiratet man.«

»Du hast es geheiratet?«

»Meritaton, das Balg.«

Ich hatte mich doch verhört - oder? »Ein Mädchen?«

Sie schnaubte. »Wieso wundert dich das?«

»Weil du eine Frau bist! Hat sie das überhaupt gewusst? Bist du lesbisch?«

»Ich bin doch nicht verrückt! Natürlich hat sie nichts gewusst.«

»Du hast also die Ehe nicht vollzogen?«

»Natürlich habe ich das.«

Mein verwirrtes Schweigen brachte sie zum Reden.

»Du bist eine Idiotin. Sie war ein unerfahrenes Kind. Ich brauchte nur die Vorhänge zuzuziehen, die Lichter zu löschen und das mit ihr zu machen, was ich mit ihr gemacht habe.« »O mein Gott.« Ich sah sie entsetzt an.

RaEm wimmerte kurz und schluckte die Tränen hinunter.

»Aber dann ist diese Flasche gestorben.«

»Das tut mir Leid.« Vielleicht kannte ich nicht die ganze Geschichte. »Das war bestimmt sehr schwierig für dich?«, meinte ich zaghaft.

»Natürlich. Echnaton war verzagt; und alle haben ihm die Stiefel geleckt. Es war wirklich schrecklich.«

»Wieso ist sie ...«

»Sie konnte nicht schwanger werden.« RaEm zuckte mit den Achseln. »Also hat sie die Überdosis eines Schlaftrunks genommen, den ich aufbewahrt hatte. Weshalb ich gezwungen war« - sie wand sich - »so zu tun, als sei sie an der Pest gestorben.«

Ich brauchte ein paar Sekunden, um das zu verdauen.

»Du bist krank«, flüsterte ich. In ihrer Nähe zu sein bereitete mir eine Gänsehaut.

Sie drehte sich zu mir um, mit einem zur Hälfte makellosen, bezaubernden Gesicht, einem Gesicht, das mich ein Jahr lang aus dem Wasserspiegel angeblickt hatte; die andere Hälfte war verkrustet und dort, wo sich die Haut nicht abschälte, von Blasen bedeckt. »Du bist nicht anders als ich«, sagte sie. »Du hättest genauso gehandelt, dieselben Entscheidungen getroffen. Dein Leben war leichter, deshalb glaubst du, über mich urteilen zu können.«

Ich starrte ihr ins Gesicht. »Ich wünschte, du hättest jetzt einen Spiegel, RaEm. Denn dies ist dein wirkliches Gesicht. Zutiefst verrottet unter einer dünnen Schicht äußerlicher Schönheit.« Ich stand auf. »Es gibt keine Entschuldigung. Wie hast du nur glauben können, du würdest damit durchkommen? Du hast ein Kind in den Selbstmord getrieben? Du hast versucht, die Bundeslade in die Luft zu jagen?«

»Vergiss nicht die Morde und das Auspeitschen«, sagte sie.

»Und du gibst noch damit an! Wie hast du nur glauben können, du könntest damit durchkommen? Was hat dich über alle moralischen Gesetze gestellt?«

»Da stand ich schon immer.«

Ich trat einen Schritt zurück.

»Avaryra goreret avayra«, murmelte ich.

»Lass mich nicht allein.« Plötzlich schien sie in Panik zu geraten.

Ich machte einen weiteren Schritt zurück.

»Bitte, geh nicht. Ich sterbe. Lass mich nicht allein sterben.«

Noch ein Schritt zurück. »Dieses Kind, Mary -«

»Meritaton.«

»Hat ihr jemand die Hand gehalten?«

»Du verstehst das nicht -«

Noch ein Schritt. »Glaubst du -«

»Bitte lass mich nicht allein, Chloe«, flehte sie.

»Weshalb sollte ich bleiben?«

»Lass mich nicht allein, bitte.« Sie kroch mir nach und ihr verbrannter Körper glänzte dabei im Lampenschein. Spürte sie überhaupt noch physische Schmerzen? Sie war außer sich. »Ich verrate dir, wo das Portal ist, aber bitte verlass mich nicht.«

»Du hast meine Beziehung zu meinen Eltern ruiniert«, sagte ich. »Obwohl mir inzwischen klar ist, dass du solche Kleinigkeiten vor dem Frühstück erledigst.«

»Es ist hier, in diesen Gängen«, sagte sie.

»Mein Ruf, meine Schwester, meine Firma. Hast du jemals auch nur eine Sekunde lang nicht an dich selbst gedacht?«

»Heute ist es so weit, hast du das gewusst?

Die dreiundzwanzigste Macht verleiht die Fähigkeit, durch das Portal zu treten. Es ist der Ausgleich dafür, dass man am unglücklichsten Tag des ganzen Jahres geboren ist.«

Sie schleppte sich weiter auf mich zu.

»Du hast mir die militärische Laufbahn versaut. Auf meine Ergreifung steht eine Belohnung, sollte ich je in die Vereinigten Staaten zurückkehren. Ich habe keine Zukunft in der Zukunft mehr.«

»Als man mich zur Priesterin weihte, hat man mir von dieser Gabe erzählt, doch ich habe damals nichts verstanden. Welche Macht haben wir, Chloe!« Wieder zog sie sich eine Handbreit näher.

»Ich kann nie wieder nach Hause zurückkehren«, fauchte ich sie verbittert an. »Ich hasse dich.«

RaEm stürzte mit einem Wimmern zusammengerollt auf ihre verbrannte rechte Seite. War sie tot? Ich trat vor, mit einem Mal entsetzt darüber, wie ich mich verhielt. Ich hatte tatenlos zugeschaut, wie ein menschliches Wesen starb? Mit angehaltenem Atem kniete ich neben ihr nieder. War sie tot?

Sie schoss herum und knallte mir eine.

Ich flog hintenüber, doch sie warf sich auf mich. Über Monate hinweg hatte sie vorgegeben, ein Mann zu sein, das hatte ihr Kraft gegeben, während mich das ständige Teigkneten und Wollekrempeln geschwächt hatten. Eine verkohlte Hand und eine heile Hand schlossen sich um meine Kehle. »Ich werde nicht alleine sterben«, schwor sie mir. Ich würgte; mir wurde übel von ihrem Anblick und dem Geruch ihrer Haut. »Du hast dich über mich lustig gemacht, so wie sie alle. Alle haben mich beiseite gestoßen. Echnaton, den ich habe ermorden lassen. Phaemon, dessen Leichnam man nie finden wird. Hiram, der mich betrogen hat. Und euer ach so gottesfürchtiger Dadua, der meine Küsse ausgespuckt hat.«

Ich kämpfte gegen ihren Klammergriff, auch wenn es in meinen Ohren schon laut summte. Ich versuchte sie abzuwerfen, kieselig und hart fühlte sich ihre Haut unter meiner Hand an. Sie hockte auf meinem Brustkorb, zu weit oben, als dass ich meine Beine einsetzen konnte, und zu schwer, als dass ich mich herumdrehen konnte. »Ich werde nicht allein sterben! Ganz bestimmt nicht!«, kreischte sie. Unter meiner Hand, an ihrem verbrannten Arm, spürte ich einen Riss in der Haut - ich konnte nichts mehr sehen, ich spürte die Hitze in meinem Ge-sicht, als würde es im nächsten Moment explodieren. Die Hand, die ich in ihre verbrannte Seite gekrallt hatte, erschlaffte.

Kraftlosigkeit packte meinen Körper. Kein Sauerstoff mehr im Gehirn, dachte ich. Ich wüsste zu gern, wie sich das in die Geschichte fügt.

Nein! RaEm würde mich nicht umbringen.

Ich bohrte die Finger unter die Haut und riss an. Sie brüllte auf, denn ihre Epidermis löste sich wie ein Handschuh ab. Blut sprühte über mich, sie heulte auf und hielt sich den Arm. Ich rollte mich zur Seite und krabbelte schwer keuchend zur Tür. Sie packte mich am Fuß, und jedes Gramm an Selbsterhaltungstrieb in mir reagierte.

Ich trat sie ins Gesicht, rammte dabei den Knorpel ihrer Nase mit einem Ekel erregenden Knirschen in ihr Gehirn und schleppte mich unter Würgekrämpfen in den Gang.

Immer weiter kroch ich, denn ich wollte nur noch fort von diesem Raum und ihrem Leichnam. Dann traf mich der Schock, und ich rollte mich bibbernd und schlotternd zusammen. Mein Gott, ich hatte eben einen Menschen getötet, einen Erdenbewohner.

Als ich endlich wieder die Augen aufschlug, sah ich etwas Blaues in allen Schattierungen glühen.

Tief in den Felsen unter Jerusalem hatte jemand ein Portal gehauen. Azurblau, türkis und kornblumenblau leuchtende Strahlen durchzogen den Raum. RaEm hatte mir verraten, dass dies die entscheidende Nacht war; möglicherweise hatte sie damit das einzige Mal in ihrem Leben die Wahrheit gesagt. Dies war die Gelegenheit, von hier fortzukommen? Dies war der Ausgleich dafür, am unglückseligsten Tag des ganzen Jahres geboren zu sein? Dass ich jetzt reisen konnte? Jetzt? Ich war zu schwach, um mich zu bewegen, zu erschöpft, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Jetzt war es so weit?

Ich habe keine Ahnung, ob ich nun stunden- oder minutenlang

wie in Selbsthypnose auf das Portal starrte. Dann hörte ich meinen Namen, einen der vielen, die sich inzwischen angesammelt hatten, durch die Kalksteinhöhlen hallen.

»Chloe, Chloe? Mon Dieu

Dann kniete er vor mir, verschwitzt, aber am Leben. Cheftu warf einen Blick über seine Schulter und fluchte. N’tan war im Durchgang stehen geblieben. »Seit Generationen hat unser Volk von diesem Gebilde gehört, aber es zu sehen ist ...«

Er verstummte.

»RaEm ist -«, krächzte ich.

»Wir wissen es.«

»Ich habe sie umgebracht.«

»Sie lag schon im Sterben, chère.«

»Dion?«

Cheftu seufzte. »Ist verschwunden.«

Da war noch etwas, das mir keine Ruhe ließ.

»Der Bundeslade ist nichts passiert?« Seitdem RaEm mich gewürgt hatte, klang meine Stimme schrecklich.

»Sie wurde versiegelt und das Tabernakel wieder darüber aufgebaut.«

Dann schlug es erneut zu: mein Wissen, meine bizarren naturwissenschaftlichen Kenntnisse.

»Entschärft die Bundeslade«, flüsterte ich.

Cheftu sah auf das Portal. »Wie meinst du das?«

»Sie ist eine Zeitbombe, die jederzeit in die Luft gehen kann. Sobald sie geöffnet wird, können die Flöhe heraus, nicht wahr?«

N’tan nickte.

»Ihr müsst sie vernichten.«

»Und wie?«, fragte der Tzadik.

Cheftu und ich antworteten ihm im Chor. »Entfernt das Manna und den Stab.«

»Woher weißt du das?«, hauchte ich verblüfft.

»Woher weißt du das?«, fragte er mich.

»Es ist ihre Nährlösung. Solange die Flöhe etwas haben, von dem sie sich ernähren können, vermehren sie sich. Sobald man ihnen die Nahrung nimmt, werden sie sterben. Wieso hast du das gesagt?«

»Weil laut der Heiligen Schrift nur noch die Tafeln in der Lade lagen, als Salomon sie in den Tempel bringen ließ.«

Es blieb still.

»Rädchen im Getriebe«, krächzte ich heiser. N’tan schlich davon, während mein Blick fest auf Cheftu lag.

»Heute ist der Tag.« Cheftu drückte meine Hand.

Ich blickte über seine Schulter auf das tiefer werdende blaue Glühen. »Willst du?«

Er seufzte.

»Eine schwere Entscheidung. Hier haben wir alles.«

»Genau. Ein Heim.«

»Mehr noch, chérie, wir haben einander.« Er drehte sich zum Portal um. »Und die Freiheit, den Einen Gott anzubeten. Das war uns noch nie gestattet.«

Ich wickelte seine Schläfenlocke um meinen Finger; ich fühlte mich schwach, doch ich musste ihn irgendwie berühren. »Gefällt dir das Leben als Jude?«

Ein weises Lächeln blitzte in seinem dunklen Bart auf. »Wir sind keine Juden, wir leben unter dem jüdischen Volk.«

»Du hast einen phantastischen Job hier«, überlegte ich.

»Und du kannst tun und lassen, was du willst«, entgegnete er. »Du bist der Liebling des Hofes.«

»Aber gehören wir hierher?«

Er gab mir einen tiefen, innigen Kuss, bei dem er mich anhob, damit ich nicht aus seinen Armen sackte. »Gehören wir denn überhaupt irgendwohin?«, fragte er.

Das Leuchten wurde heller, intensiver, es kroch über den gesamten weißen Raum und legte sich über Cheftus Gesicht, wodurch sein Gesicht etwas Außerirdisches bekam. »Das hoffe ich doch. Die Vorstellung, wir könnten für alle Zeiten Fremde

bleiben, ist deprimierend.«

»Lo, chérie, du hast mich nicht richtig verstanden. Ich frage mich, ob wir überhaupt irgendwohin gehören, denn schließlich könnten wir in jede beliebige Zeit eintreten. Es gibt bestimmt nicht viele Menschen, die so viel über die Zukunft wissen wie du, ohne aus ihrem Wissen Vorteil zu schlagen.«

Wie RaEm bewiesen hatte.

»Nicht viele Menschen könnten so mir nichts, dir nichts ihren Körper wechseln und sich unter neuen Völkern, in neuen Religionen und neuen Sprachen zurechtfinden.« Er sah mich an und hielt mein Gesicht fest, sodass auch ich von dem blauen Licht angestrahlt wurde. »Dies ist unsere Chance. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und wir bleiben hier. Dann werden wir in Tziyon leben, den Einen Gott anbeten, unsere Kinder großziehen, uns auf den Feldern lieben oder an andere Höfe reisen, ganz wie du willst.«

Ich zog die Stirn in Falten und wich seinem beschwörenden Blick aus. »Wieso liegt die Entscheidung bei mir?« Selbst von hier aus konnte ich die Inschrift auf den Steinen erkennen, wenngleich ich sie nicht entziffern konnte. War das ein Zeichen? Bedeutete dies das Ende unserer Zeitreisenkarriere? »Würden wir uns hier langweilen? Könnte es einen weiteren Krieg oder andere Katastrophen geben, die wir berücksichtigen sollten? Woher kannst du überhaupt so viele Sprachen?« Ich war hellwach und zugleich bis auf die Knochen entkräftet. »Hast du auch ein Lexikon?«

Cheftu zuckte mit den Achseln. »Keine Kriege, von denen ich wüsste. Ich verstehe alle diese Sprachen, weil sie miteinander verwandt sind.« Er zog die Stirn in Falten. »Von diesem Lexikon allerdings weiß ich nichts.«

Ich seufzte. »Was hätte es für einen Zweck, hier zu bleiben?«

Mein Mann zupfte an seiner Schläfenlocke. »Irgendwoher hat Echnaton einen Psalm Davids erhalten, den er umgeschrieben hat. Mich würde interessieren woher.« »Das kann ich dir sagen. Sie haben jahrelang miteinander korrespondiert.«

»Woher weißt du das?«

»Von meiner Schwester. Irgendwann in meinem Jahrhundert wurde ein Haufen Steintafeln gefunden, ein Briefwechsel zwischen Ägypten und Israel. Wenn ich mich recht entsinne, wird darauf zum allerersten Mal der Name Israel erwähnt.«

Cheftu sackte neben mir zu Boden. »Ach, na gut, so viel zu meinen Gründen, hier zu bleiben.«

Ich lachte verhalten und kratzend. Das Licht lockte uns. »Woher sollen wir es wissen?«, fragte ich mich.

»Welche Entscheidung wir auch treffen, sie ist nicht endgültig«, antwortete Cheftu. »Wir können jedes Jahr hierher kommen und uns neu entscheiden.«

»Solange wir keine Kids haben.«

Er sah mich fragend an und wiederholte auf Englisch: »Eine kleine Ziege?«

Ich lachte. »Kinder. Yeladim.«

Er zupfte an seinem Bart. »Ken, das wäre eine schwere Entscheidung.«

Was wollte ich eigentlich? Hier hatten wir doch alles.

Als ich vergangenes Jahr aus dem Jahr 1996 in diese verrückte Welt von Meerjungfrauen-Gottheiten, biblischen Gestalten und elektrisch geladenen Laden gesprungen war, hatte ich einzig und allein Cheftu finden und an seiner Seite leben wollen. Konnte ich denn sicher sein, dass ich ihn jedes Mal wieder finden würde? Würden wir es beide auf die andere Seite schaffen, wenn wir beide sprangen? Würden wir am selben Fleck landen oder würden wir einander suchen müssen? »Was wir hier haben, ist das, was der Ewigkeit am nächsten kommt«, sagte ich. »Hier kennen wir die Antworten; wir wissen, was wir tun, wo wir leben, wie wir arbeiten sollen.«

Wir standen auf, ich schlang meinen Arm um seinen Leib und spürte noch durch seine Gewänder seine Muskeln. Er zog die Steine aus der Schärpe und warf sie auf den Boden. Entsetzt sah ich ihn an.

»Jedenfalls sollten wir unsere Entscheidung nicht von irgendwelchen Steinen, sondern vom Gebet abhängig machen.«

Ich sah auf die Steine. »Würden sie uns überhaupt helfen?« Meine Stimme klang rau, der Hals tat mir weh.

»Was brauchen wir noch zu wissen?«, erwiderte er. »Hier haben wir alle Sicherheiten. Dort«, dabei blickte Cheftu sehnsüchtig auf das Portal, »alle Möglichkeiten.«

Ich nahm seine Hand in meine. Ich brauchte den Himmel nicht zu sehen, um die Sternenkonstellation zu erkennen, die ich so gut kannte wie meinen Namen - Chloe. Ich wusste, dass sie am Himmel stand. Zum ersten Mal konnte ich den Raum im Portal geöffnet sehen. Dahinter lagen Risiken, Mysterien, Abenteuer. Dahinter lagen alle Potenziale, gute wie schlechte. Alles, was wir aus der Geschichte kannten und alles, was nirgendwo niedergeschrieben war; die Möglichkeit, dass wir zusammenbleiben würden, die Gefahr, getrennt zu werden; die Fortsetzung unserer bizarren Bestimmung oder deren Abschluss. Ich spürte das Gewicht meiner Worte, als ich sagte: »Die Stunde ist gekommen.«

Cheftu küsste mich erst auf die Hand, dann auf den Mund und mir war klar, dass wir zusammenbleiben würden, ganz gleich, wie wir uns entschieden.

Und letzten Endes zählte nur das allein.

NACHWORT

Das alte Israel hat mit dem heutigen Israel nicht mehr gemein als das moderne Judentum mit seinen antiken Wurzeln. Im Großen und Ganzen beruht die Handlung dieses Romans auf einer ganz normalen Bibel, wie man sie in fast jedem Hotelzimmer findet, gewürzt mit ein wenig kultureller Perspektive.

Die uns verschlossenen Abschnitte der Geschichte werden allein durch die Schatten erhellt, die sie werfen. In den Jahren zwischen dem Raub der Bundeslade durch die Philister (Pele-sti) und ihrer endgültigen Ankunft in Salomons Tempel wurden der Mannakrug sowie der Stab Aarons entfernt.

Danach werden der Bundeslade keine Seuchen oder Katastrophen mehr zugeschrieben. Es sieht also so aus, als hätten zumindest die Priester gewusst, dass zwischen beidem eine Verbindung bestand.

Da das Volk Israel ermahnt wurde, auf Hautausschläge zu achten, hielten es die Gelehrten für möglich, dass die Bundeslade mit der Beulenpest in Verbindung gebracht wurde. Wer einen Ausschlag bekam, musste fortan außerhalb des Lagers leben. Wenn die Bundeslade nicht unter absolut hygienischen Bedingungen und unter der Beachtung strikter Reinlichkeitsregeln aufbewahrt wurde, konnte sie massive Zerstörung bewirken.

Für die Annahme der Gelehrten, es habe eine Verbindung zwischen der Bundeslade und der Beulenpest gegeben, spricht auch, dass die Philister bei der Rückgabe der Bundeslade gol-dene Nachbildungen von Tumoren und Ratten mitschickten. Wie konnte die Lade als Überträger einer Seuche wirken? Die Erreger der Beulenpest siedeln im Verdauungstrakt des Flohs. Möglicherweise ernährten sich die Flöhe in der Lade von einer Kombination aus Manna und den Blüten an Arons Stab. Auf diese Weise wurde die Lade, nachdem diese Gegenstände entfernt wurden und damit die Brutstätte der Flöhe zerstört worden war, zu einem rein religiösen Totem.

Die Theorie, dass die Bundeslade möglicherweise elektrisch geladen war, beruht auf ihrem Baumaterial und auf Berechnungen, welche statischen Spannungen sich in einer so schweren Goldtruhe aufbauen konnten. Diese Annahme wird von der Tatsache gestürzt, dass die Priester barfuß gehen mussten; der Brustpanzer des Hohen Priesters schützte möglicherweise den Träger, wenn er die Lade öffnete; und der Tempel selbst war wie ein riesiges Schutzfeld gegen die Kraft der Lade konzipiert.

Aufmerksame Leser werden schon vermutet haben, dass Av-gay’el (Abigail) bei mir zur Autorin der Urbibel wird, die Autorin der »J«-Version. Ich habe ihr diese Machtstellung und die Verantwortung übertragen, indem ich mich, was die Syntax der Übersetzung sowie den Kern ihrer Geschichten betrifft, freizügig bei Harold Blooms und David Rosenbergs The Book of J bedient habe.

Hiram von Tsor (Tyrus) gehört zu den rätselhaftesten Gestalten der Geschichte. Was sprach dagegen, diesen Mann, der die Freimaurerlegende inspirierte, dessen Wurzeln bis ins alte Ägypten sowie nach Atlantis zurückreichen, der die Muse für so viele Gottheiten darstellt und der noch dazu den Tempel erbaute - was sprach dagegen, diesen Mann von Dion verkörpern zu lassen? Der unsterbliche, düstere und von seinen Begierden gepeinigte Grieche konnte nach seinem Sturz problemlos in die von so vielen Legenden umrankte Rolle schlüpfen.

Es gibt keinerlei vernünftige Erklärung für Echnatons Herrschaft, während der er eigenhändig das ägyptische Imperium zu Grunde richtete und die Menschen ihren Göttern entfremdete, um auf diese Weise zum alleinigen Priester der narzisstischen Religion bis hin zum Massaker von Jonestown zu werden. Es ist durchaus denkbar, dass er aus den Psalmen abschrieb und sie umschrieb. Er heiratete seine Töchter und hinterließ keine Söhne. Dennoch wurde, so meint wenigstens der Ägyptologe James Breasted, mehr Papier über diesen Zeitabschnitt voll geschrieben als über die gesamte übrige ägyptische Geschichte. Echnaton muss ein extremes Charisma besessen haben, sonst hätte er keinesfalls die Ma’at kippen, den Hof umschmeicheln, Nofretete - die schönste Frau seiner Zeit -heiraten und sich über zehn Jahre auf dem Thron halten können.

Semenchkare bleibt uns ebenfalls ein Mysterium. Wir haben die Mumie eines achtzehn- bis zweiundzwanzigjährigen Menschen dieses Namens, doch Identität und Geschlecht des Toten sind seit fast hundert Jahren umstritten. Wer weiß? Es war zu jeder Zeit modern, die Mächtigen zu imitieren, darum ließ ich Echnaton mit seiner Androgynie einen solchen Trend setzen, dass RaEm sich in der Verkleidung eines Mannes einen Platz am Hof erobern konnte - bis hin zur Hochzeit mit Meritaton, die zufälligerweise zur gleichen Zeit wie Semenchkare von der Bildfläche verschwindet.

Eine beinahe gespenstische Erfahrung beim Schreiben hatte ich, als ich auf den Namen von Davids ägyptischem Schreiber stieß. Er wird auf verschiedene Weise interpretiert, darunter auch als Chavsha. Vieles deutet darauf hin, dass David sich die ägyptische Regierungsform zum Vorbild für seine neue vereinte Monarchie nahm.

Die Wasserschacht-(Tzinor-)Invasion Jerusalems wird vielleicht nie zur Zufriedenheit aufgeklärt werden, da wir nicht wissen, wie dieser hebräische Begriff genau zu übersetzen ist.

Doch nachdem ich in Jerusalem persönlich Hiskias Tunnel durchwandert hatte, erschienen mir die schriftstellerischen Möglichkeiten für unsere Heldin, die Wasserwegsveteranin, zu verlockend, um sie zu ignorieren.

Die Geschichten von Saul, David und Salomon wurden in der Zeit nach dem Exil verfasst, und zwar nicht als geschichtliche Aufzeichnung, sondern als spirituelle Erzählung, mit der den Juden, die so weit von ihrer Heimat und dem Zentrum ihres Glaubens entfernt leben mussten, Mut gemacht werden sollte. Daher sollte man die biblischen Geschichten auch nicht als logische, lineare und wirklichkeitsgetreue Berichte lesen, sondern als Ausschnitte eines größeren, bisweilen scheinbar widersprüchlichen Ganzen. Vor diesem Hintergrund habe ich auch die Urim und Thummim beträchtlich später eingeführt als in der Bibel erwähnt. Die Gelehrten sind der Meinung, dass mehrere Ausgaben dieser Steine als Orakel gedient haben. Um der Geschichte willen habe ich das alte Aza mit seinem heutigen Namen, Gaza, bezeichnet. Außerdem wurde von mir die Bedeutung Ashdods und Ashqelons umgekehrt.

Es war eine Herausforderung, die Welt des Alten Testamentes, Echnatons Ägypten und das Judentum vor der Festlegung ritueller Strukturen zu porträtieren. Ich musste die historischen Gestalten von meiner Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift ablösen. Trotz meines jüdisch-christlichen, westlichen Hintergrundes wollte ich diese Geschichte mit derselben Detailtreue darstellen und die Beziehung dieser Kultur zu ihrem Einen Gott einer ebenso kritischen Betrachtung unterziehen, wie ich es bei einer polytheistischen Religion getan hätte. Mehrere Bücher haben mir geholfen, einen kulturkritischen Standpunkt zu entwickeln, meine Ansichten dieser Epoche zu erhellen und die Menschen in diesen historischen Gestalten zu erkennen.

The Book of J von Harold Bloom und David Rosenberg, das meine Weltsicht verändert und die Syntax inspiriert hat, habe ich bereits erwähnt; zu nennen ist außerdem Pharaonen und Propheten von David Rohl, dessen Forschungen jedes Mal meine Phantasie beflügeln; In the Wake of the Goddesses von Tikva Frymer-Kensky mit einer umwerfenden Neueinschätzung des Lebens als Frau in biblischen Zeiten; Ancient Zionism von Avi Ehrlich, der mich mit seinen Ansichten und seiner Gelehrsamkeit ebenso verblüfft wie in Ehrfurcht versetzt hat; Das Gold des Exodus von Howard Blum, dem ich die Wüstenepisode verdanke; und die Bibel auf Hebräisch sowie in verschiedenen Übersetzungen.

Unsere Motivation, der kulturelle Blickwinkel, selbst das Wetter beeinflussen jenes feste Fundament unserer Realität, das wir Geschichte nennen. Doch jede neue Erkenntnis, jede archäologische Ausgrabung, jedes neu übersetzte Wort verleiht dem, was wir wissen, neue Nuancen und Schattierungen; darum ist die Geschichte keinesfalls tote Materie. Sie lebt, atmet und verändert sich mit jeder neuen Information und Einsicht. Die Vergangenheit ist genauso beseelt und lebendig wie die Gegenwart, und wenn wir auf sie hören, kann sie uns viel über uns selbst lehren.

Suzanne Frank 12. Februar 1999 Dallas, Texas

DANKSAGUNG

Viele Menschen haben zu meiner geistigen Gesundheit und zur Richtigkeit meines Romans beigetragen - manche sogar zu beidem. Mein tiefster Dank gilt Hanne und Sydney für die Freiheit, die ich auf ihrem Speicher genoss, und für den Derka-to-Mythos; Renée, meiner außergewöhnlichen Chavera; dem Piraten für die aufmunternden Gespräche, inspirierenden EMails und durchdachten Überraschungen; Ernie für die explodierenden Augäpfel, Dannyboy, Peter und Tanya für das Foto; Tim für die Nachhilfe in Elektrophysik; Mister Avolio dafür, dass er seine Musikbegeisterung mit mir geteilt und mir Dadu-as Herz geöffnet hat; Dana und Melanie für die Rückzugsmöglichkeit im Baumhaus; Michael für die Truhe und die Pest; Martine für ihr magisches Wissen; Fabian und La Madeleine für die Party; Marianne für den Paradigmenwandel; Geraldine im Mystery Bookstore für ihre enthusiastische Unterstützung; Maxwell Books in DeSoto für die erstaunliche Leistung als Sponsor; Brent für seinen scharfen Blick; Kati für ihr Heim, für ihre Freundschaft und ihre schwesterliche Liebe; und Dan, dem alle Worte nicht gerecht werden.

Wie immer gilt mein unermesslicher Dank Susan Sandler und Jessica Papin, die ihre Messlatte immer höher legten und mich dadurch forderten und förderten; Sona Vogel und Har-vey-Jane Kowal bei Warner, die mich auf dem wahren Pfad gehalten haben. Ich danke auch meinen Eltern für die erste Israelreise (und die zweite und dritte), dafür, dass sie mir eine Welt ohne Grenzen erschaffen haben, und vor allem für ihr

Vertrauen.

Sunrise war eine Schlacht, die ich nicht ohne die ständige enthusiastische Unterstützung meines ganz persönlichen Fanclubs hätte schlagen können (dazu zählen auch alle zuvor Erwähnten): Renée, Mathias, Paul, River, Ira, Joebo, Drue, Barbara W, Kris, Steve A., David El, David C., the Rickster, Elaine W, Jimbo, John, meine SMU-Klasse, Sally (C. E. der SMU), Debi, Michelle und Dwayne.

Todah rabah.

GLOSSAR

Adon/Adoni - Mann, Herr, mein Herr akchav - Hebräisch für »sofort«

Ashodod- Stadt der Philister Ashqelon - Stadt der Philister

Astarte - Gefährtin Ba’als und Fruchtbarkeitsgöttin im vorchristlichen Nahen Osten avayra goreret avayra - eine Missetat zieht die nächste nach sich Ba’al- nahöstliche Gottheit, u. a. des Gewitters Bereshet- das erste Wort in der hebräischen Bibel: »Am Anfang« B’rith - Kontrakt

b’seder - hebräischer Ausdruck der Zustimmung

b’vakasha - Hebräisch für »Bitte«

chalev v’d’vash - Milch und Honig

Chesed - liebende Freundlichkeit

Dagon - fischschwänziger Gott der Pelesti (Philister)

Derkato - mythologische Gefährtin Dagons echad - eins el - Gott

Elohim - Engelskrieger und göttliche Höflinge

Gaza - Philisterstadt, auch Aza genannt

Giborim - Davids Leibgardisten

Guf - Körper/Fleisch

G’vret - Dame

ha - der/die/das

hakol b’seder - alles in Ordnung

Hal - biblische Bezeichnung dafür, Gott etwas als Opfer darzu-

bringen, indem man es zerstört Hamishah - Bezeichnung für die fünf Philisterstädte in der Ebene Har - Berg

Henti - ägyptisches Längenmaß, vergleichbar einem Stadion Herim - heiliger Krieg ICH BIN - Name Gottes Isha - Frau

Keftiu - Kreta und die Kykladeninseln Kemt - ägyptische Bezeichnung für Ägypten ken - Hebräisch für »Ja«

Kinor - zehnsaitige Harfe

Laylah - Nacht

Levim - die Stammespriester

lifnay - Hebräisch für »davor« im chronologischen Sinne

lo - Hebräisch für »Nein«

mah - was

Melekh - König

Moshe - der biblische Moses

nachon - nachdrückliche Zustimmung

Nasi - Prinz

Nefesh - Seele

Nishmat ha hayyim - der göttliche Odem, der Leben einhaucht

Pelesti - damalige Bezeichnung für die Philister

Qiryat - Stadt

Qisilee - Stadt der Philister

Rosh Tsor haHagana - Oberbefehlshaber der Armee sela - Amen

Serenim - Anführer der Philister

Shabat - Hebräisch für den Sabbat, der vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag dauert shalosh - drei shtyme - zwei

Tani’n - Anfeuerungsrede und -tanz vor der Schlacht Teraphim - Totemstatuen

Thummim - Orakelstein todah - danke tov - gut

Tsidon - das heutige Sidon Tsor - das heutige Tirus Tzadik - Heiliger/Prophet Urim - Orakelstein Yaffa - das heutige Jaffa Yam - Hebräisch für »Meer«

Yelad/im - Kind/er

Zakar Ba’al- offizieller Titel des Herrschers von Tsor Zekenim - die siebzig Stammesführer