Diese Worte waren nicht für dieses Land geschrieben, in dem Regen, Blitz und Donner äußerst seltene, schon beinahe nicht existente Erscheinungen waren. Und sie waren auch nicht für ein flaches Land ohne Berge, ohne Säulen der Erde geschrieben; und ebenso wenig für ein Volk, dessen Vorstellung von einer großen Wasserfläche sich auf einen Fluss, den Nil, beschränkte.
Man brauchte nur ein paar Worte und den Namen des Gottes zu ändern, dachte Cheftu . und schon hatte man einen Psalm!
Pharao hatte aus der Bibel gestohlen! Mon Dieu!
Kaum hatte Echnaton angefangen zu sprechen, hatte RaEm gespürt, wie sich ähnlich einer dünnen Flüssigkeit Begierde in ihrem Leib zu sammeln begann. Sobald seine nicht zu entschlüsselnden und sinnlichen Worte über sie hinwegrollten, wurden ihre Beine feucht vor Lust. Seine Hände vollführten Gesten mit langen Fingern, die sie sich sehnlichst auf ihrem Leib wünschte. Sein Leib wand sich unter den Gebeten auf der Liege, als würden ihn die Sonnenstrahlen begatten, so wie ein Mann eine Frau begattete.
RaEm begehrte ihn. Gut, er war Pharao. Seine Töchter hatten ihm weitere Töchter geboren; er hatte keinen Sohn. Sie hatte auch erfahren, dass er sich im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger weigerte, eine nicht mit ihm verwandte Frau zu schwängern, weil der Samen der Sonne nicht auf jedem beliebigen Feld ausgesät werden durfte.
RaEm hatte schon früh gelernt, dass ihre Verführungskraft wenig mit ihrer Schönheit zu tun hatte. Männern konnte man sie beibringen, und durch die viele Übung hatte es RaEm darin zu wahrer Meisterschaft gebracht.
Pharao meinte, nur für die Mitglieder seiner Familie Augen zu haben. Da hatte er nicht mit ihr gerechnet.
Er war der Sohn der Sonne. Hatschepsut hatte sich zum Kind Amun-Res erklärt, doch das war ein politischer Schachzug gewesen. Diesmal war RaEm klar, dass Echnaton tatsächlich der Sprössling der unsterblichen Sonnenscheibe war. Seine Stimme war wie flüssiges Feuer, das alle entfachte und alle erweckte. Das sie alle verzehrte.
Je länger sie in die Sonne starrte, desto fieberhafter arbeitete es in ihr. Licht verschmolz mit Licht, und sie wiegte sich zum Klang seiner Stimme, zu ihrem durchdringenden Pulsieren. Ergeben hob sie die Hände, um sich ihm und dem Aton zu öff-nen, um eins mit beiden zu werden. Ein kleines Stöhnen stieg von ihren Lippen auf. In ihrer Nähe hörte sie noch jemanden keuchen. Und noch jemanden. Echnatons Stimme wurde lauter, tiefer, kräftiger, gewaltiger. Sie gab sich keine Mühe mehr, ihre Schreie zu unterdrücken.
Unfähig, die Folter noch länger zu ertragen, öffnete sie die Schließe ihres Gewandes und spürte die Hitze der Sonne auf ihren flachen, nackten Brüsten. Sie kniff sich in die Brustwarzen, um sich, mit gespreizten Beinen im Licht stehend, ganz und gar der Sonne darzubieten.
Eine Hand umfasste sie von hinten und schlüpfte unter ihr Kleid. Das Gedränge war so groß, dass sie keine Ahnung hatte, wer das war, aber es war ihr auch egal. In ihrem Geist war es Echnaton, der sie mit langen Fingern betastete, dessen Stimme ihren Rücken und ihren Hals kitzelte, dessen Zunge in ihrem Haar, ihrem Ohr war. Tausende bewegten sich mittlerweile wie ein einziger Mensch, schwankend, pulsierend und im hitzigen Rhythmus der Gebete Pharaos schwitzend.
Die Hände über den Kopf erhoben, vor seinem Gott entblößt und zum Leben erweckt durch die Sonnenstrahlen auf seinem Leib peitschte Echnaton durch seine Gebete, in denen er Aton um Gnade anbettelte, um Weisheit bat und um das Vergnügen flehte, der Sonne dienen zu dürfen. Seine letzte Bitte endete in einem wilden, kehligen Stöhnen, das in den ekstatischen Schreien seines Volkes unterging.
RaEms Schenkel schlotterten derart, dass sie sich kaum abfangen konnte, ehe sie auf dem Boden auftraf. Sie war völlig erschöpft, verschwitzt und so befriedigt wie noch nie in ihrem Leben.
Pharao lag da wie Osiris, reglos und mit auf der Brust gekreuzten Armen, während seine Erektion zur Sonne zeigte. Noch nie hatte RaEm etwas so Schönes gesehen. Sie musste in seine Nähe gelangen, sie musste ihn berühren, sie musste sich von ihm berühren lassen.
Sie musste seine Verwandte werden; sie musste diesen Mann besitzen.
Und sie würde es.
Der Abend dämmerte bereits, als RaEm gemeinsam mit We-naton heimkehrte. Er war befremdlich still. Auch Cheftu schwieg. »Kannst du mir noch mehr von Semenchkare erzählen?«, fragte RaEm.
»Niemand weiß etwas«, antwortete Wenaton.
»Worüber?«, hakte sie nach.
»Niemand weiß mehr über Semenchkare, außer dass er -«
»Oder sie«, fiel sie ihm ins Wort, ohne sich um Cheftus Seitenblick zu kümmern.
»Oder sie«, bestätigte Wenaton, »aus Kush kommt.«
»Wann wird Semenchkare eintreffen?«
»Er kommt direkt hierher, also wird es wohl eine Woche dauern. Möglicherweise auch länger oder kürzer.« Den Rest des Weges zum Palast legten sie schweigend zurück. RaEm nahm nichts von ihrer Umgebung wahr, ihr fiel nur auf, dass Echnaton in der Kunst die Ma’at zerstört hatte. Die Gestalten standen nicht mehr im Profil da, mit makellosen Gesichtern und Körpern. Stattdessen wirkten sie . natürlich, auch wenn alle Gesichter und Gestalten aussahen wie Kopien ihres geliebten Echnaton. Was für ein Zauber war das?
Cheftu verschwand in ein Zimmer, worauf RaEm Wenaton beiseite zog, mit ihren Händen über seine hageren Schultern strich und ihn unter ihren Wimpern hervor anlächelte. Eine Woche, dachte RaEm. Kann ich in nur zehn Tagen seine Bestimmung zu meiner machen? »Woher kann ich eine wirklich gute Klinge bekommen?«, fragte sie.
»Wozu brauchst du eine Klinge, wo du doch mit mir und Cheftu hier bist?«
»Du weißt, wie schwach Cheftu ist«, meinte sie vertraulich. »Er ist der größte Geck, den man sich vorstellen kann. Ganz anders als du.« Wenaton kniff die Augen zusammen, nicht ge-rade die Reaktion, die sie sich erhofft hatte. »Deshalb mache ich mir als allein stehende Frau große Sorgen.« Bei diesen Worten streichelte sie seinen Arm.
»Du bist nicht allein«, widersprach er und deckte dabei ihre Hand auf seinem Arm mit seiner Hand zu. RaEm spürte einen Anflug von Panik, entspannte sich aber sofort wieder.
»Du hast ein Weib und eine Familie, du trägst Verantwortung«, sagte sie. »Und ich, aii, bin nicht dazu geschaffen, etwas anderes als eine Hauptfrau zu sein.«
»Den meisten Frauen wäre das egal«, erwiderte Wenaton gedehnt.
Den Göttern sei Dank, dachte RaEm. »Siehst du, wie durcheinander ich bin? Ganz gleich, wie stark und schlau du auch bist, es würde leider nicht funktionieren.« Sie wandte den Blick ab und spannte ihre Miene ein wenig an, so als würde sie die verpasste Gelegenheit bedauern, Wenaton mit auf ihre Liege zu nehmen. »Darum muss ich tapfer sein. Woher kann ich also eine Klinge bekommen?«
»Du bist nicht allein, weil überall Soldaten sind«, stellte Wenaton klar. »Das habe ich damit gemeint. Überall. Wahrscheinlich kannst du nicht einmal in den Garten gehen, ohne dass du über einen stolperst.«
RaEm hätte diesen vernagelten Kerl am liebsten geohrfeigt. Hatte er mit ihr gespielt? Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Woher kann ich eine Klinge bekommen?«
Wenaton zuckte mit den Achseln und nannte ihr dann den Namen einer Schmiede im Viertel der Pelesti. »Nur die Pelesti haben Eisen«, erklärte er. »Doch nichts schneidet besser. Durch Leder, Wolle, Panzer jeder Art. Bronze hinterlässt nicht einmal Macken darauf.«
Sie dankte ihm, auch wenn ihre Worte nur auf seinen Rücken trafen, denn er hatte sich bereits umgedreht. Dieser Idiot, dachte sie, und schlüpfte in ihr Zimmer. Doch er wäre ein nützlicher Idiot; er kannte den Hof und die Adligen. Sie würde ihn hartnäckiger bearbeiten müssen, um mehr über dieses eigenartige Land zu erfahren, wo sogar die Sprache ein wenig anders klang als in jenem Ägypten, das sie gekannt hatte. Sobald die Tür hinter ihr zufiel, bellte RaEm nach ein paar Sklavinnen. Sie brauchte ein Bad, etwas zu essen und etwas zum Anziehen, und zwar genau in dieser Reihenfolge.
Er würde ihr nicht widerstehen; das hatte noch niemand geschafft.
Erschöpft, aber ohne einschlafen zu können, lag Cheftu auf seiner Liege. RaEm führte irgendetwas im Schilde, doch er wusste nicht was und hatte auch im Augenblick nicht die Kraft, ihre abartigen Gedankengänge nachzuvollziehen.
Was hatte er heute Nachmittag gesehen?
Wie Pharao sein Volk zu einem Massenhöhepunkt geführt hatte, einfach indem er die Worte des 104. Psalms vortrug? Woher kannte Pharao diese Verse? Stammten die Worte am Ende gar nicht aus der Feder von David, dem Autor der Psalmen? Hatte David ein altes ägyptisches Gebet umgedichtet? War es Blasphemie, so etwas auch nur zu denken? Hatte David vor, nach oder während dieser Epoche gelebt? Unmöglich; David war Gottes Liebling, er konnte kein Dieb sein. Also musste Pharao die Worte gestohlen haben, doch wie war er dazu gekommen? Cheftus Gedanken jagten einander, bis er beinahe eingeschlafen war, dann schoss er plötzlich hoch.
Er war allein. Er konnte die Steine befragen! Stolpernd stand er von seiner Liege auf und ging ans Fenster, wo das Mondlicht auf den Urim und Thummim fiel. Seine Hände zitterten, als er jene Frage stellte, die ihm unter den Nägeln brannte.
»Ist Chloe in Sicherheit?«
»J-E-T-Z-T.«
Jetzt? Hieß das, dass sie es zuvor nicht gewesen war? Oder hieß das, dass sie es bald nicht mehr sein würde?
»Wo ist sie?«
»B-E-I-DA-G-O-N.«
Dagon? Wer war Dagon? Gab es am Hof einen Mann namens Dagon? Handelte es sich um einen Gott? Einen Priester? Ein Land? Ein Schiff?
»Wie komme ich zu ihr?«
»S-I-E-H-N-I-C-H-T-A-U-F-D-E-N-G-Ö-T-Z-E-N.«
Den Götzen? »Was für einen Götzen?«, fragte Cheftu, doch die Steine blieben reglos und stumm liegen. Verärgert und erschöpft steckte er sie wieder ein. Offenbar konnten oder würden sie heute keine weiteren Antworten geben. Er würde es morgen noch einmal probieren.
Auch der folgende Tag brachte keine Antworten oder, genauer gesagt, dieselben Antworten.
Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte es Cheftu durch den Tag. Er fragte Wenaton, ob er jemanden namens Dagon kenne. »Klingt nach einem Ausländer«, meinte Wenaton abweisend. Danach wich er allen Fragen nach RaEm aus.
Cheftu erkannte die Anzeichen: Wenaton war von der zeitreisenden Priesterin bezaubert. Infolgedessen war er nicht länger vertrauenswürdig.
Cheftu verstand das nur zu gut, schließlich hatte sie ihn einst ebenso behext. Damals hatte er sich vor seiner Verantwortung gedrückt, seinen Verstand ausgeschaltet und nur noch auf sein Herz und seine Lust gehört. Wenn RaEm lächelte, war das, als würde sich eine Tür zu jeglichen Spielarten der Lust einen Spalt weit öffnen und den Blick auf alles, was sich ein Mann nur wünschen konnte, freigeben.
Was für ein Narr war er gewesen. Hatschepsut, die ihre Freundin RaEm allzu gut kannte und Mitleid mit Cheftu gehabt hatte - und der es missfiel, wie nachlässig er seinen Pflichten nachkam -, hatte ihn über RaEms wahres Wesen aufzuklären versucht. Doch er hatte die Worte seiner Gebieterin in den Wind geschlagen, bis sein Ego zertrampelt und sein Herz
durchbohrt war und seine Seele gellte: »Du Narr!«
Erst da hatte er auf Hat gehört. »RaEm ist ein Krokodil«, meinte sie. »Ein Krokodil kennt nur die Welt, die es mit eigenen Augen sieht. Es kennt keine Familienbande, ihm liegt auch nichts an der Erhaltung seiner Dynastie. Ihm liegt allein an einem vollen Magen und einem angenehmen Leben; nichts anderes hat irgendeine Bedeutung.« Hat nippte an ihrem goldenen Kelch. »RaEm ist eine hervorragende Priesterin, denn ihre Bedürfnisse stimmen mit denen Hathors absolut überein. Um weiter so angenehm leben zu können, wird sie alles Notwendige unternehmen - sogar töten.«
»Ich wollte es ihr ja angenehm machen«, protestierte Cheftu. »Ich wollte ihr ein Haus bauen, direkt am Nil -«
Er verstummte, denn Hat hatte eine Hand erhoben.
»Unter einem angenehmen Leben versteht RaEm nicht nur, dass ihre fleischlichen Bedürfnisse befriedigt werden, sondern auch, dass sie ständig neue Eroberungen machen kann.«
Cheftu erstarrte. RaEm war mit einer neuen »Eroberung« verschwunden, während ein ganzes Haus voller Gäste darauf gewartet hatte, dass sie Cheftu heiratete.
»Ein Krokodil«, führte Hat weiter aus, »interessiert sich ausschließlich für lebende Beute, für frisches Blut. Nach dem Töten verliert das Krokodil sofort das Interesse. Dann will sie frisches Fleisch.« Hats dunkle Augen blickten in seine. »Ein einziger Mann kann RaEm nie genügen. Sie wird immer verschlingen, so viel sie kann, und dann die Knochen zurücklassen, um sich die nächste, aii, sagen wir, Beute zu suchen.«
Cheftus amour propre hatte einen schweren Schlag abbekommen, noch schlimmer war, dass RaEm nicht einmal eine kleine Pause in ihrem Treiben eingelegt hatte, dass er so unbedeutend für sie war. Dann wurde ihm klar, dass zwar seine Selbstachtung verletzt war, er aber nie mit ganzem Herzen bei der Sache gewesen war.
»Du hast Glück gehabt, dass du ihr entkommen bist«, tröstete ihn Hat. »Die Götter haben dir zugelächelt.« Sie setzte ihren goldenen Kelch ab und winkte einen Sklaven heran. »Jetzt benimm dich wie ein Mann, ein Adliger Ägyptens, und tu, was deine Lehensherrin von dir verlangt. Vergiss diese Frau!«
Und dann hatte sie ihn an den Hof von Mitanni geschickt, damit er genau das tat.
Jetzt allerdings entdeckte er in Wenatons Augen den gleichen glasigen, überspannten Blick. Jene Miene, die verriet, dass er für ein Lächeln von RaEm einfach alles täte, dass er jede Lüge erzählen und alle Grenzen überschreiten würde. Wie schaffte sie es nur, die Männer so in Bann zu schlagen? Nachdem sie Cheftu verlassen hatte, hatte er verfolgt, wie sie sich durch die Ränge in der Armee und am Hof hocharbeitete. Sie war eine Zauberin, todbringend wie Circe, die eine breite Spur von gebrochenen Herzen und am Boden zerstörten Männern zurückließ.
Und jetzt führte sie wieder etwas im Schilde. Das wusste er. Vor allem, da Wenaton sich kühl weigerte, Cheftus Fragen zu beantworten, und ihm keinerlei Hilfe anbot. Die Steine schwiegen, sein Gastgeber war kurz angebunden. Chloe war im Augenblick nicht in Gefahr, doch wer wollte schon wissen, wann sich das änderte? Was hatte die Antwort der Steine zu bedeuten? »Sieh nicht auf den Götzen?« Welchen Götzen? Wie sollte ihm das helfen, Chloe zu beschützen oder zu ihr zu gelangen? Verlier nicht den Glauben, ermahnte er sich. Le bon Dieu hatte sie noch nie im Stich gelassen. Noch nie.
Tage und Wochen verstrichen, ohne dass er RaEm oder We-naton zu Gesicht bekam. Cheftu wohnte wie alle anderen den Gottesdiensten für den Aton bei. Er wurde fast verrückt vor Angst um Chloe, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, was er unternehmen sollte. Die Zeit verging viel zu schnell und viel zu langsam zugleich. Die Untätigkeit machte ihn allmählich wahnsinnig, doch die Angst davor, etwas Falsches zu tun, war noch stärker.
Er stand auf den Stufen zu Wenatons kleinem Palast, als vor seiner Nase die Tür aufgerissen wurde. Ein Chaos bot sich seinem Blick dar: Barbiere warteten in Habachtstellung und mit gezückten Arbeitsgeräten; mit Goldschmuck behängte Sklavinnen hielten geplättete Schurze bereit; Frauen forderten kreischend ein Bad und Schminke. Und mittendrin stand Wenaton mit herabhängenden Schultern und rang die Hände.
Ein Blick genügte, um Cheftu klarzumachen, dass Wenaton eben begriffen hatte, wie er von RaEm ausgenutzt wurde.
»Pharao hat sich bereit erklärt, den Botschafter zu empfangen!«, erklärte die Haushälterin außer Atem. »Doch die Herrin RaEm ist leider unauffindbar.«
Cheftu kniff die Augen zusammen. »Seit wann?«
»Ich Weiß nicht, seit wann er -«
»Seit wann RaEm unauffindbar ist«, stellte Cheftu klar.
Die Haushälterin zog die Schultern hoch. »Seit fast einer Woche?«
Cheftu drängte durch die Sklavinnen, Barbiere und die aufgebrachten Frauen. Dann legte er eine Hand auf Wenatons Arm. »Was ist passiert?«
»Sie hat alles mitgenommen«, hauchte er. »Das Geschmeide meiner Frau und die Grabbeigaben für meine Familie, die wir anfertigen ließen, ehe ich ins Ausland musste.«
Seine Stimme war matt, sein Blick trübe.
Sie hat besseren Männern als dir Schlimmeres angetan, dachte Cheftu. Doch er gestattete sich keine Bemerkung.
»Wir gehen an den Hof?«
»Ja, ja. Pharao wird uns jetzt empfangen.«
Vielleicht war das ja die Gelegenheit, Chloe zu treffen? Befand sie sich dort, in der Macht eines Menschen namens Dagon? Eines Ausländers? Eines Gesandten?
»Ich werde dich begleiten«, sagte Cheftu.
Wenaton erklärte sich, immer noch zerstreut, einverstanden und überließ es Cheftu, alles für die Audienz vorzubereiten.
Als Pharao sie von einem Streitwagen abholen ließ, wartete Cheftu bereits an Wenatons Seite. Sie drängten sich hinter den Lenker auf den Wagen. Wenaton hielt seine Perücke fest, als sie die Prachtstraße hinauffuhren.
Der Botschafter regte sich darüber auf, dass er seit zwei Jahren seine Familie nicht mehr gesehen hatte. Er hatte nicht einmal das Grab seines Vaters besuchen können, denn der Mann war gestorben, während Wenaton auf See gewesen war. Und jetzt hatte RaEm die Wertsachen mitgenommen, die Wenaton in sein Grab geben wollte. Wenaton zitterte bei dem Gedanken, seiner Frau zu erzählen, dass ihr Geschmeide gestohlen worden war. Cheftu äußerte murmelnd sein Beileid und fragte sich, was für ein Mensch wohl einen Namen wie Dagon trug.
Der Audienzsaal im großen Staatspalast stand ebenfalls den Sonnenstrahlen, den Strahlen des Aton, offen. Mit jeder noch so winzigen Hand trommelte der Gott auf die Versammelten nieder. An Echnatons Hof war fast jedes Land repräsentiert. Raunend wurde bestätigt, dass einige der Gesandten schon seit Jahren auf eine Audienz bei Pharao warteten. Manchen war verboten worden, ohne eine ägyptische Eskorte nach Hause zurückzukehren. Wenaton hatte Recht; das Imperium zerrann Pharao unter den Händen.
Die Wände des Palastes wirkten für ägyptische Verhältnisse befremdend. Keine Darstellungen von Pharao, der Wüstenvölker unterjochte oder unter den Göttern residierte. Stattdessen tollte Pharao mit seinen Kindern herum, mit unförmigem Kopf, ausladendem Bauch und vollen Hüften wie ein Weib. Er hatte sogar Brüste!
Cheftu musste ein überraschtes Lachen unterdrücken, als ihm auffiel, dass die meisten Höflinge ihre Kleider ausgestopft hatten, um Echnatons Leibesfülle nachzuahmen. Schmerbäuche wabbelten über langen Schurzen, und falsche Stoppelbärte imitierten Pharaos hohlwangiges Gesicht. Die Kopftücher waren ausgestopft, um Echnatons spitzen Schädel nachzuformen. Die
Frauen sahen ausgemergelt aus, hatten die Brüste flach gebunden, damit sie denen von Pharao ähnelten, und ihre Hüften mit Stoff behängt, um dem König zu gleichen, während sie auf dem Kopf die »kuschitische« kurze Perücke trugen. Wer war was? Männer und Frauen waren kaum voneinander zu unterscheiden. Am ägyptischen Hof sahen alle Menschen wie Missgeburten aus. Nur um sich der obersten Missgeburt anzugleichen, dem Pharao.
»Alle loben ihn, der mit dem Aton spricht, der den Aton anbetet, der eins mit dem Aton ist, den allerhöchsten, ruhmreichsten Echnaton!«, rief der Zeremonienmeister aus. Alle Köpfe senkten sich auf den Boden, Cheftus eingeschlossen.
»Erhebt euch, erhebt euch.«
Echnaton konnte mit seiner Stimme Knochen schmelzen lassen. Er sang mit sirenengleicher Verführungskraft. Wer ihm zuhörte, geriet unwillkürlich auf den Weg der Selbstzerstörung, und zwar ohne die geringsten Bedenken. »Sagt mir, was euch zu mir führt, damit ich mit meinen Gebeten fortfahren kann.«
Ein älterer Mann, dessen Schurz und Kopftuch betrüblich altmodisch wirkten, erhob sich. »Meine Majestät, ich habe weitere Hilferufe aus Kanaan erhalten. Der Löwe Labayu ist tot, sagt man, doch ein neuer, junger Löwe hat seinen Platz eingenommen. Sie fürchten -«
»Was haben sie zu befürchten, wo doch der Aton uns liebt und bei uns wohnt? Was ist Furcht, gemessen an der Hitze, der Macht des Aton?« Pharaos Stimme klang so sanft, so melodiös, dass fast jeder sich von seinem nichts sagenden Gewäsch über das Thema der Landesverteidigung einlullen ließ. Nur ein Gesandter nicht, dessen Volk sterben würde. Und zwar bald.
»Meine Majestät -«
»Den Aton zu umarmen, mit seiner Kraft und der Pracht seines Feuers zu verschmelzen ist der einzige Weg, wahrhaft alle Schlachten zu gewinnen.«
Der Adlige unternahm noch mehrere Anläufe, doch bei jedem wurde er mit einem Lobgesang auf den Aton unterbrochen. Schließlich gab der Mann auf und zog sich unter steifen Verbeugungen zurück.
»Der Nächste«, wandte sich Echnaton an seinen Hofstaat, an die wartenden Gesandten und Adligen, deren Begeisterung merklich abgekühlt war. »Wen habe ich berufen, mir Bericht zu erstatten?«
Wenaton erhob und verbeugte sich.
»Haii! Natürlich! Wenaton, erzähl mir von deiner Reise! Wo sind meine Zedern?« Echnaton sah sich um, als erwarte er, dass Wenaton sich ein paar Bäume auf die Schultern gepackt und in den Saal geschleift hätte.
»Aii, meine Majestät, ihr Eintreffen verzögert sich durch unabwendbare Ereignisse.«
»Wie das? Du hast dich schon jetzt um Jahre verspätet.« Der friedvolle, nachsichtige Pharao löste sich in Luft auf. Echnaton beugte sich mit zornigem Blick vor. »Ich habe doch gewusst, dass du unfähig bist!«
»In drei Wochen werden sie eintreffen, meine Majestät«, antwortete Wenaton, ohne sich, wie Cheftu erwartet hätte, einschüchtern zu lassen.
»Das ist lang«, befand Echnaton knapp.
»Ich habe viele Unbilden durchstanden«, erklärte Wenaton. »Nur aus Liebe zu meinem Land und zu meinem Lehnsherrn.« Er verneigte sich.
»Du kehrst weder mit dem Gold zurück, das ich dir mitgegeben habe, noch mit den Zedern für das Haus des Ergötzens am Aton. Wieso?«, verlangte Pharao zu wissen.
Cheftu fand sich plötzlich im Blick der bohrenden, durchdringend dunklen Augen wieder. Pharao mochte wahnsinnig sein, doch er war nicht dumm. Echnatons Blick wanderte über Cheftus Körper und kehrte dann zu Wenaton zurück.
»Meine Abreise stand unter dem Segen A-Atons«, antwortete Wenaton. »Kein Zwischenfall trübte die Reise mit dem Schiff von hier bis ins Land der Pelesti und von dort aus weiter nach Tsor, um Zedern zu holen.«
»Eine simple Reise für einen Simpel.« Echnaton rutschte auf seinem Thron herum.
Cheftus Blick wanderte über die versammelten Höflinge und Frauen. Konnte er irgendwo Chloe sehen? Würde er sie überhaupt erkennen? Er glaubte auszusehen wie immer, schließlich war das bisher jedes Mal so gewesen. Wieso eigentlich? Und wieso wechselte sie den Körper? RaEm behauptete, sie habe eigentlich rotes Haar und eine helle Haut. Ein schneller Blick verriet ihm, dass sie, falls sie ein Rotschopf war, nicht hier war.
Ich werde sie erkennen, dachte er. Bestimmt. Mein Fleisch, mein Blut wird sie erkennen. Manch eine dunkeläugige Maid erwiderte seinen forschenden Blick, doch keine grünäugige.
»Nun, wir landeten in Ashqelon, wo uns irgendwann mitten in der Nacht ein Matrose das Gold raubte, das du uns für das Holz mitgegeben hattest«, fuhr Wenaton in seiner Erklärung fort.
»Du bist von einem Pelesti ausgeraubt worden?«, brüllte Echnaton. »Wo steckt Horemheb? Wir werden diese undankbare Stadt dem Erdboden gleichmachen -«
»Majestät, Majestät«, beschwichtigte ihn Wenaton. »Das Gold wurde von einem ägyptischen Matrosen gestohlen.«
Echnaton verstummte kurz. »Bist du dir sicher?«
»Ziemlich.« Wenaton rückte seinen Schurz gerade und berichtete weiter. »Natürlich habe ich mich an den Herrscher der Stadt gewandt, einen gewissen Yamir-dagon, und mein Gold zurückverlangt. Immerhin wurde es mir in einem pelestischen Hafen gestohlen.«
Dagon! Cheftu war schlagartig hellwach. Yamir-dagon? Hielt sich Chloe etwa dort auf? Hatte er richtig gehört?
»Ich dachte, du hättest gesagt, ein ägyptischer Matrose habe es gestohlen.«
»So ist es.«
Echnaton zog die Stirn in Falten. »Und hat dieser Yamir dir Gold gegeben?«
»Nein. Er meinte, falls ein Pelesti mich bestohlen hätte, würde er mir den Verlust ersetzen. So jedoch würde er mir zwar helfen, nach dem Dieb zu suchen, doch er könne mich nicht entschädigen, da ich von einem Landsmann bestohlen worden sei.«
Dagon? Pelesti? Ashqelon? Steckte sie vielleicht dort? Cheftu merkte, wie er den Kopf vorreckte, um alles mitzubekommen.
»Neun Tage lang harrte ich dort aus und wartete auf eine Nachricht des Stadtregenten, ob das Gold und der diebische Matrose gefunden worden waren. Doch ich hörte nichts. Ich betete um ein Zeichen, ob ich weiterfahren oder umkehren sollte. An jenem Morgen flog während meines Gebetes ein Falke mit drei Flügeln über mich hinweg in Richtung Norden.«
Cheftus klopfte das Herz im Hals. Bestimmt war dies der Grund dafür, dass er von Wenaton gerettet worden war! Damit er diesen Dagon, diesen Yamir fand! Wann war die Audienz vorüber, damit er endlich Fragen stellen konnte? Wieso hatte Wenaton den Namen Dagon nicht erkannt, als Cheftu danach gefragt hatte?
»Dies erschien mir wie ein Zeichen, meine Reise fortzusetzen«, sagte Wenaton. »Ich wusste, dass mir nichts widerfahren konnte, da ich das Bild, das gnadenvolle Bild, meine Majestät, des Aton bei mir hatte. Vielleicht würden die zivilisierteren Menschen in anderen Ländern mir Gehör schenken und meine Geschichte anhören. Vielleicht wären sie eher gewillt, mir Glauben zu schenken oder gar Kredit einzuräumen, wenn sie die Majestät des einen Gottes erblickten.«
»Doch du hattest kein Gold mehr.« Echnaton zappelte auf dem Thron herum. »Weil du treulose Taugenichtse angeheuert hattest, die es dir abgenommen haben.«
Wenaton rief rot an, antwortete jedoch nur auf einen Teil der
Frage. »Ich hatte kein Gold mehr, nicht ein einziges Stück. Doch während wir in Yaffo vor Anker lagen, gab mir der Gott Gelegenheit, das gestohlene Gold durch Silber zu ersetzen.«
Zwar zuckte Cheftu bei dem Gedanken an einen weiteren Diebstahl zusammen, doch die übrigen Höflinge schien das kalt zu lassen. Ausländer blieben Ausländer. Ungewaschen, unzivilisiert, ungeschlacht. Für den Diebstahl an einem Fremden würde der Gott niemanden verurteilen.
»Ich kam in Tsor an, jenem elenden kleinen Inselreich. Der König weigerte sich, mich zu empfangen. Im Gegenteil, er sandte mir jeden Tag einen Sklaven, der mir eine gute Heimreise wünschte. Fünfzehn Tage und Nächte bettelte ich um eine Audienz. Ich war gekommen, um Zedern für den Gott zu kaufen!, erklärte ich. Doch wollte er mich empfangen? Nein!« Mutlos schüttelte Wenaton den Kopf.
»Kannst du ihm einen Vorwurf daraus machen?«
Damit löste Pharao leises Gekicher unter den Zuhörern aus. Er war gehässig, dachte Cheftu. Was war aus der »Liebe-deinen-Nächsten«-Philosophie von vorhin geworden?
»Ich kann nichts daran ändern; also lade ich das Götterbild und meine Habseligkeiten wieder ein, um nach Ägypten heimzukehren. Schon da habe ich, da ich bekanntlich zwei Monate vor der Überflutung abgefahren bin, nur noch einen Monat, um nach Hause zurückzusegeln, ehe die Winde die Heimkehr verhindern und ich bis zum Frühjahr unter den Ausländern ausharren muss.«
Echnaton lauschte gespannt und mit ihm der gesamte Hof.
»Am letzten Tag, als ich gerade mein Schiff besteige, um heimzukommen - genau an diesem Tag! -, schickt mir der König einen Mann, der mich zu einer Audienz bringen soll. Ich mache dem Mann Vorhaltungen, denn ich bin überzeugt, dass er mich nur ablenken soll, damit man mir die Statue und den Rest meiner wenigen Habseligkeiten stehlen kann. Ich verleihe meinen Bedenken Ausdruck, woraufhin der König das Schiff bittet, im Hafen zu bleiben. Als die Audienz beim König beginnt - der von seinem Volk Zakar Ba’al genannt wird, Herr über alles -, frage ich ihn, wieso er so lange gewartet hat und warum er sich gerade heute dazu herabgelassen hat, mich zu empfangen.«
Wenaton senkte die Stimme, um Zakar Ba’al zu imitieren.
»>Ein kanaanitischer Tzadik, ein heiliger Mann, hat mir geraten, dich hier heraufzubringenc, sagt er und deutet dabei auf seinen Palast. Er steht auf einer Klippe mit Blick auf das große Grün, das dort oben im Norden noch grüner ist. Die Hügel des Festlandes sind mit Zedern bedeckt, von denen manche dicker sind als ein Ochse breit ist und andere einen Stamm haben, der dünner ist als mein Arm. Er fragt mich ganz unvermittelt, wie lange ich Ägyptens Küste schon nicht mehr gesehen habe. Fünf Monate, antworte ich.« Wenaton hielt inne und erfrischte seine Kehle mit einem Schluck Bier.
»Ich erkläre ihm, dass ich es kaum erwarten kann heimzukehren. Ich vertraue ihm an, unter welchem Fluch diese Reise gestanden hat.«
Cheftu lauschte aufmerksam, während Wenaton dem Pharao erzählte, wie Zakar Ba’al zum Beweis für seinen Auftrag ein Schreiben sehen wollte, jenes Schreiben, das Wenaton irrtümlich zur Aufbewahrung in Ägypten gelassen hatte. Dann hatte sich der König der Tsori über die ägyptischen Seefahrer lustig gemacht. »Er erzählte mir von zwei ägyptischen Gesandten, die zwei Jahre zuvor nach Tsor gereist waren, und sagte dann, er könne mir ihre Gräber zeigen. Ich hatte Todesangst. Ich bettelte ihn an, ich appellierte an seine Ehre, seine Integrität, sein frommes Herz, die Ehrlichkeit, Gnade, Gastfreundschaft, alles zusammen, damit er mir die Zedern für das Haus des Gottes überließ.«
Wenaton sah zu Boden und seine Schultern sackten herab. »Leider begann er erst mit mir zu verhandeln, als ich erwog, heimzufahren und ihm Schiffe voll mit jenem Tand zu schik-ken, an dem ihm so viel lag.«
Echnatons Nasenflügel bebten vor Zorn, doch er bedeutete Wenaton fortzufahren. Nach einer kurzen Pause erzählte Wenaton, wie er in Tsor Segel gesetzt hatte, doch sein Schiff auf der Insel Kefti Schiffbruch erlitten hatte.
Plötzlich erhob sich Echnaton, legte den Kopf zur Seite und verließ den Raum. Ohne jedes weitere Wort, ohne einen Abschied, einfach so. Die Anwesenden pressten eilends die Köpfe auf den Boden, bis die Tür zuknallte.
Cheftu lehnte sich gegen eine Säule im Schatten, lauschte den Gesandten und Adligen, die ihrem Ärger über die Situation freien Lauf ließen, und wartete darauf, dass Wenaton dem Schreiber zu Ende erzählte. Dem Gerede im Saal nach zu urteilen waren ganze Landstriche ohne Nahrung - da die örtliche Priesterschaft verjagt worden war und die kleinen Dörfer die vielen Felder nicht abernten konnten. Stattdessen hatte die Landbevölkerung neue Schreine für den Aton und neue Priester bekommen, die von ihnen versorgt werden wollten. Priestersoldaten, eine Erfindung Pharaos, durchsuchten die Häuser der Bauern, um sicherzugehen, dass keine anderen Götter oder Göttinnen angebetet wurden. Die Strafe dafür bewegte sich zwischen Sklaverei und Tod.
Unter ähnlichen Umständen hatte sich ganz Frankreich gegen seinen König erhoben, die Aristokratie ausgelöscht und alle Menschen gleich gemacht.
Doch die Ägypter hatten keine Vorstellung von Gleichheit, und ihnen fehlte auch die festgefahrene soziale Struktur des absolutistischen Frankreichs. Nur eines war unabänderlich: Die Theologie lehrte, dass Pharao König und Gott zugleich war; seinem Wort zuwiderzuhandeln bedeutete, das Gleichgewicht der Ma’at zu zerstören.
Cheftu wurde das Herz schwer; Ägypten lag im Sterben. Gleichgültigkeit tötete genauso sicher wie eine Invasion - und war vielleicht eine noch größere Katastrophe, da die Seele des
Landes darunter zerbrach. Der Glaube der Menschen an ihre Götter und an ihren König wurde auf eine schwere Probe gestellt.
Cheftu fürchtete, dass Echnaton diese Probe nicht bestehen würde. Er trug zur Zerstörung seines Volkes bei, genauso, als hätte er den Menschen die schlagenden Herzen aus dem Leib gerissen. Wie würde Hatschepsut trauern, wenn sie das wüsste.
Sie wurden wie Vieh aus dem Raum getrieben und dann auf die Straße zum Tempel des Aufgangs des Atons geführt, ohne dass ihnen Gelegenheit zu einem eigenständigen Gedanken oder einer eigenständigen Tat gelassen wurde. Trotz der Hitze und trotz seiner Sorgen um Ägypten war ihm leichter ums Herz. Bald würde er mit Wenaton sprechen und mehr über diesen Dagon herausfinden - wo er lebte, wie man dorthin kam. Chloe, ich komme, dachte er.
Vielleicht war mit dem »Folgen« ja gemeint, dass er Wena-tons Reiseroute folgen und nach Tsor segeln sollte?
Sobald sie im Tempel angekommen und zu den übrigen tausenden und abertausenden geschubst worden waren, verriegelten die Soldatenpriester die Türen.
Sie waren in der Nachmittagshitze gefangen, um hier zu beten. Bis zur Abenddämmerung streckten Ägypter wie Ausländer ihre unbedeckten Köpfe bewundernd der Sonne entgegen.
Cheftu starrte in die Sonne und schloss die Augen, als sie zu brennen begannen. In Gedanken bei Chloe, ließ er sich von Echnatons Stimme einlullen, die von den Wundern des Friedens und der Liebe wie von der Macht der Sonne kündete.
Plötzlich wurde er von Händen gepackt, während eine andere Hand seine Protestschreie erstickte. Cheftu wurde rückwärts durch die Menge geschleift, die sich teilte, um den Weg frei zu machen, doch ohne dass ihn jemand angesehen hätte. Er wurde in eine Grube geschubst, wo die Sonne auf ihn herunterbrannte, die Wände seines Gefängnisses zum Glühen brachte und durch die neuen Sandalen hindurch seine Füße versengte.
»Wer bist du?«, fragte eine Stimme. Gegen das Gleißen des Aton konnte Cheftu nichts erkennen. Am Rande der Grube standen zwei nur als Umrisse erkennbare Gestalten.
»Ch-Chavsha, Schreiber des Wenaton«, erwiderte er hastig. Es war nicht klug, diesen Männern seinen wahren Namen zu verraten. Seinen wahren Namen zu nennen konnte böse Folgen haben. Das war in Frankreich nicht anders als in Ägypten.
»Du hast deine Augen vor dem Glanz des Aton verschlossen«, verkündete der andere. »Du hast gegen das Gesetz verstoßen.«
Es war gegen das Gesetz, die Augen zu schließen?
»Ich wollte nicht erblinden«, rechtfertigte sich Cheftu. »Ich habe nur ... etwas länger geblinzelt.«
»Erst die Blindheit öffnet uns wahrhaftig die Augen«, widersprach der Erste. »Nur wenn unser Auge uns nicht mehr ablenkt, sehen wir, was wir wirklich sind, was wir wirklich haben. Blindheit ist ein Geschenk des Aton.«
Cheftu war sprachlos. Sie wollten ihn erblinden lassen? Wenn er noch länger zu ihnen aufstarrte, würde er ihnen diesen Wunsch erfüllen können, und zwar bald. Schweiß tröpfelte über Cheftus Rücken und ließ die Kleider an seiner Haut festkleben. »Deine Strafe ist, von nun an bis zu deiner Freilassung dem Aton zu huldigen. Solltest du deine Augen länger als für einen Moment schließen, werden wir sie dir wegnehmen. Nur die Blindheit bringt wahre Klarheit.«
Süße Isis, dachte Cheftu. Hoffentlich hilft mir jemand hier heraus.
Der Palast von Tsor stand auf einem wellenförmig erodierten Hügel und seine weißen Kuben waren durch Treppenfolgen miteinander verbunden. Oberhalb der unzähligen Gebäude befand sich ein riesiger Mosaikboden, der zeitweise überdacht war und zu anderen Zeiten unter freiem Himmel lag. Banner von einem so strahlenden Blau, dass die Augen davon schmerzten, wehten in den wilden Winden über den Mauerzinnen.
Unter dem Boden, dessen eigenwillig gekachelte Figuren in einem zwölffach unterteilten Kreis angeordnet waren, befanden sich Kammern und Gänge, Treppenhäuser und Lichtschachte. Hier lebten Männer und Frauen; Frauen, die webten, und Männer, die segelten. Die unteren Ebenen waren in Audienzsäle und Versammlungsräume aufgeteilt. Abgesehen von eingebetteten Muscheln oder gleichmäßig aufgetragener Farbe waren die Wände schmucklos. Außerhalb der vielen bullig wirkenden Türen lagen Gärten, in denen dicht an dicht Zedern und Bougainvillea wuchsen. In den Gewässern hinter den Gärten ankerten dutzende, hunderte, manchmal sogar tausende Schiffe. Der Kai erstreckte sich über die gesamte Insel; genauer gesagt war die Insel das Kai. Der einzige Bereich, der nicht zum Kai gehörte, war der Palast.
Auf der Insel Tsor gab es keinen Bedarf an Privathäusern. Während der sechs Segelmonate im Jahre waren alle Männer unterwegs, und alle Frauen webten und spannen sechs Monate lang; danach begaben sich alle gemeinsam in das unterste Stockwerk des Palastes, in die Gruben, wo sie sechs Wintermonate lang färbten.
Man sagte, in Tsor sei selbst das Meer blauer.
Auf dem Festland lebten die Einwohner in Höhlen, die sie ins Erdreich gegraben hatten und die von so hoch wachsenden Bäumen überschattet wurden, dass fast kein Sonnenlicht hindurchdrang. Dort waren die Männer Handwerker, sie be-schnitzten das Holz und stellten die geflügelten Löwen her, die Zakar Ba’al, der Herr über Tsor, so liebte.
Sie schnitzten Astartenbäume, Symbole für die Fruchtbarkeit der Göttin. Sie erbauten in aller Welt Tempel. Jeder dieser drei-räumigen Bauten war aus Holz errichtet, das bereits in Tsor zurechtgehauen und dann durch den Shamir - einem wundersamen Zauberinstrument - des Meisters geräuschlos und absolut nahtlos mit dem örtlichen Fels verbunden wurde. Nur wer der geheimen Bruderschaft der Mnasone angehörte, konnte vom Meister die Kunst des Steingießens, Felsformens und Verwandelns erlernen. Die Übrigen waren Zimmerleute, die das Holz behauten und sich nie aufs Meer wagten. In Tsor wollte jeder Mensch sich ganz und gar selbst gehören.
Dieses Ziel strebten alle an. Die Frauen waren wie die Frauen zu allen Zeiten damit beschäftigt, das Haus in Ordnung zu halten und die Kinder großzuziehen; doch diese Frauen waren zugleich Kaufleute. Alle zusammen hatten den Meister angerufen und darum ersucht, dass seine Seeleute in den vielen Palästen und Häfen, die sie ansegelten, Nahrungsmittel eintauschten, und zwar gegen hausgemachte Spezialitäten der Tsori: einen aus Kiefernnadeln hergestellten Trank; die Nüsse aus den Kiefernzapfen; ihre bestickten, gefärbten Stoffe; und Waisenkinder.
Dank dieses Handelns waren die Tsori ein wohlhabendes, sehr wohlhabendes Volk. Zakar Ba’al war nicht der Einzige, der von goldenen Tellern speiste, Wein von jenseits des Meeres trank oder Würfelspiele mit Figuren aus Elfenbein und Jade spielte.
Gedankenversunken betastete der Meister seine Spielfigur und blickte von der Insel aufs Festland hinüber. Die Küste war zerklüftet und wunderschön und das Blau des Meeres konnte sich höchstens mit den Stoffen der Tsori messen. In der Ferne erhoben sich Bäume und Berge, und zwar ohne Feuer und geschmolzene Lava. Gelangweilt wandte Zakar Ba’al den Blick ab.
Zwei Straßen führten in seiner Nähe von den Reichtümern Ägyptens, Kushs und des Dschungels weiter südlich zu den großen Zivilisationen im Norden - nach Mitanni, Hattai und in das hunderttorige Assyrien. Jenseits von Assyrien lag der märchenhafte Osten mit seinen Elefanten, schlitzäugigen Menschen und dem eigenwillig würzigen Essen.
Ein Weg führte über das Meer. Dazu musste man nach Süden über Qisilee, Yaffo, Ashdod, Ashqelon ins ägyptische Delta segeln und dann durch den Hals des Nils nach Noph, Waset, Simbel, Kush hinauf ... oder noch weiter.
Oder er konnte eine Eselkarawane nach Norden ausschicken, auf dem Umweg durch das Aravatal, über die Hügel und dann auf der Straße der Könige bis nach Assyrien.
Beide Wege waren nun versperrt. Bald würde sein Volk zu hungern beginnen, denn die Tsori waren keine Bauern; sie erwarben ihr Essen durch Handel.
Die Tsidoni, diese Hohlköpfe, hatten den tsorischen Schiffen den Krieg erklärt. Es gab keine Möglichkeit, nach Süden zu segeln, ohne Ako, einen tsidonischen Hafen, zu passieren. Da die Tsori kein Kriegervolk waren, besaßen sie keine Armee. Ihre einzige Möglichkeit war der Rückzug.
Dann war auch die Straße der Könige, sein Hintertürchen, verriegelt worden. Durch eine neue Kraft in den Hügeln Kanaans. Einen Monarchen, der nicht gewillt war, seinen Profit schmälern zu lassen.
Sie hatten sich diesem König einfach nicht in der angemessenen Weise genähert, dachte er. Niemand wies Zakar Ba’al ab.
Dann fielen die Jahre von ihm ab, hunderte und aberhunderte Jahre, ein ganzes Jahrtausend. Ein Gesicht hatte sich für alle Zeiten in sein Gedächtnis gegraben. Ein einziges Mal war er abgewiesen worden, noch ehe er den Namen Hiram Zakar Ba’al, Shiva, Thor oder Dionyssos angenommen hatte. Nur einen einzigen Mann hatte er vergebens begehrt, vergebens umworben. Nur ein einziger Mann war ihm, ebenbürtig gewesen. Nur ein einziges Mal hatte er so geliebt, hatte er sein Bestes gegeben und Unsterblichkeit geschenkt, nur um von dem Objekt seiner Leidenschaft verlassen zu werden.
Von dem einen Mann, den er begehrt und nie bekommen hatte.
Cheftu sa’a Khamese. Dem Ägypter.
Als die Sonne endlich vom Himmel verschwand, hätte Cheftu vor Erleichterung am liebsten geweint. Sein Kopf dröhnte, ihm war übel und die Punkte vor seinen Augen machten ihm Angst. Viele Tage würde er das nicht mehr durchhalten. Nicht mehr überleben und sein Augenlicht behalten.
Wie konnte er entkommen? Hatte überhaupt jemand sein Verschwinden bemerkt? Wenaton würde wahrscheinlich nicht einmal merken, wenn sein eigener Körper verschwand, von Cheftus ganz zu schweigen.
Der Tempelkomplex wurde bei Sonnenuntergang praktisch geschlossen; dreimal hatte er das bereits beobachten können. Die Priester wünschten einander gute Nacht und verschwanden. Ein abgeschlossener Tempel wäre an einem Hof Amun-Res unvorstellbar gewesen. Doch allmählich glaubte er, dass ihm fast nichts an dem Verhalten der Priester vom Hof Amun-Res her bekannt vorkam. Seit wann waren die Religion und ihre Ausübung nicht mehr Privatsache, sondern ein Gesetz? Was für eine Perversion des Glaubens war das denn?
Seine Augen brannten, sein Magen krampfte sich zusammen, und Cheftu fragte sich, was er wohl unternehmen konnte. Im Augenblick war es stockdunkel, er konnte also nicht einmal die Steine befragen, was die Zukunft für ihn bereithielt. An die abkühlende Wand der Grube gelehnt, schloss er die Augen. Erst einmal würde er sich ausruhen.
»Chavsha?« Ein Flüstern weckte ihn.
Als er die Augen öffnete, schlug die Erinnerung an die vergangenen drei Tage über ihm zusammen. Er kämpfte die Panik in seiner Kehle hinunter und blieb reglos stehen.
»Chavsha?« Es war Wenatons Stimme. »Bist du da?«
»Ja.« Cheftu hörte etwas rascheln, dann knallte ihm ein Seil auf den Kopf.
»Komm schnell rauf. Die Wachen können sich jeden Augenblick zum Dienst melden.«
Auch wenn Hunger und Hitze ihn geschwächt hatten, war der bloße Gedanke an die Freiheit wie Eiswasser für seine Seele. Er sprang am Seil hinauf, zerrte prüfend am Anker und zog sich dann, mit den Füßen an der Wand abgestützt, hoch.
Hände, feste, schwielige Hände, packten ihn unter den Armen und wuchteten ihn über den Rand. Wenaton hatte Helfer. Das Gesicht seines Retters konnte Cheftu nicht sehen. »Ich werde dir ewig dankbar sein«, sprudelte es aus ihm heraus. »Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Du musst sofort fliehen. Man wird nach dir suchen«, sagte Wenaton. »In Ägypten bist du nicht mehr sicher.«
»Kann ich mich nicht irgendwo verstecken?«, fragte Cheftu. Er besaß keine Wertsachen, er konnte keine Flucht finanzieren. Er musste die Steine befragen, er musste sich davon überzeugen, dass Chloe wirklich nicht hier war. Oder war das vielleicht mit dem »Folgen« gemeint?
»Nein, alle werden nach dir suchen. Du hast nicht in die Sonne gesehen, du hast dich von ihr abgewandt.«
Sieh nicht auf den Götzen, hatten die Steine gesagt. Die Sonne war der Götze! »Wo bist du Yamir-dagon begegnet?«, fragte Cheftu. »Das musst du mir noch sagen.«
»Bei den Pelesti. Geh jetzt.«
»Danke«, wiederholte Cheftu noch einmal. »Wenn ich irgendetwas für dich tun kann -«
Die Stimme schnitt ihm das Wort ab. »Das hast du bereits, indem du mich heimgebracht hast.« Wenaton packte ihn an der Schulter. Cheftu zuckte zusammen, als seine verbrannte Haut zusammengedrückt wurde. »Still jetzt! Verschwinde!«
Das Adrenalin spülte Cheftus Kopf frei, und gleich darauf war er mit den Schatten verschmolzen, ängstlich darauf bedacht, die Straße und die Tenewos-Mauern des Tempels im Auge zu behalten. Falls Achetaton wie alle anderen ägyptischen Städte angelegt war, dann verlief die Straße der Adligen mit ihren großen Häusern parallel zum Nilufer. Der Nil war seine Pforte aus der Stadt. Sobald er am anderen Ufer oder auf einem Boot war, würde er die Steine befragen, wie er zu Chloe gelangen konnte. Wem oder was er folgen sollte.
Behutsam stahl er sich von einem schwarzen Schatten ins nächste graue Halbdunkel, denn es war Vollmond. Schließlich stand er mutterseelenallein am Kai. Nirgendwo lungerten bierselige Matrosen herum. Es war verboten, nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen, denn wer sich im Dunklen aufhielt, umarmte damit nach allgemeiner Überzeugung den Feind des Aton. Im flachen Wasser des Nils dümpelten am Ufer vertäute Boote, von denen einige auf den Bootsbauer warteten, andere hingegen bereits repariert waren. Er ließ die Steine aus seiner Schärpe gleiten und warf sie aus.
»Wo ist Chloe?«
»G-E-H.«
»Ist sie hier?«
Er musste die brennenden Augen zusammenkneifen, um die Buchstaben auszumachen.
»G-E-H.«
»Bekomme ich auch mal eine andere Antwort?«, fragte er verärgert.
»G-E-H-L-O-S.«
Er stopfte sie wieder in die Schärpe.
Mit zusammengebissenen Zähnen, weil er um einen Diebstahl nicht herumkam, wählte er das kleinste Boot aus und kletterte hinein.
Nachdem er im Rumpf die Riemen ertastet hatte, stieß er das Boot vom Ufer ab und ruderte wie ein Wilder, um noch vor der Morgendämmerung die Stadt hinter sich zu lassen. Nie würde er an diesen verfluchten Ort zurückkehren, wo man Gebete dazu missbrauchte, die Menschen zu manipulieren. Pharao lag nicht das Geringste an seinem Land.
Doch als die Muskeln in seinen Schultern sich anspannten, seine Augen in der Morgendämmerung tränten und seine Haut in der Morgensonne zu brennen begann, da wurde ihm klar, dass das nicht mehr zählte. Er würde Ägypten verlassen. Chloe wartete auf ihn.
Er ließ den Nachen am Ostufer des Nils zurück, knapp südlich von Khumnu, das im mittleren Königreich Hauptstadt des Hasengaus gewesen war. Die Stadt war praktisch verlassen. Der Thottempel war geschlossen. Selbst hier, so weit nördlich, entdeckte Cheftu die Stele Echnatons, mit der die Grenze Achetatons markiert wurde. Da er nicht wusste, ob ihm Priestersoldaten auf den Fersen waren, marschierte Cheftu in die Wüste hinein, um gleich darauf kehrtzumachen. Für den Preis einer Übernachtung und von drei Tagesverpflegungen griff er auf seine Kenntnisse als Arzt zurück und wirkte als Geburtshelfer. Es war ein Knabe, der nach ihm benannt werden sollte. Wie aus der Pistole geschossen antwortete Cheftu, sein Name sei Nachtmet. Es war ein guter, anständiger Name; er bedeutete »Einer der sehen konnte« und wies keinerlei Verbindung zu ihm auf. Er durfte keine Spuren hinterlassen.
Während die Frauen aus dem Dorf Amulette um die Arme des Säuglings banden, um ihn gegen die vielen bösen Geister der Luft, der Nacht und des Wassers zu beschützen, verließ Cheftu die Stadt.
Der Proviant hielt Cheftu auf den Beinen, während er parallel zum Nil über die Felder in Richtung Norden wanderte. Die Steine schwiegen; seine einzigen Anhaltspunkte waren der Name Dagon und die Pelesti. Er wanderte weiter.
Priestersoldaten segelten flussauf und flussab, sekreierten die Fischer und machten in den Dörfern Halt, um sicherzustellen, dass die Tempel geschlossen blieben und nur der Aton verehrt wurde.
In Akoris hörte er Gerüchte von einem gefährlichen Verbrecher, der aus Achetaton geflohen war. Bestürzt hörte Cheftu seine eigene und noch dazu ziemlich treffende Beschreibung.
In dieser Nacht schlich er im Schutz der Dunkelheit zu jener verfallenen Stufenpyramide, wo angeblich eine weise Frau hauste. Nachdem er ihr den Eingang zu einer Höhle freigeräumt hatte, entlohnte sie ihn mit einem Zaubertrank, der sein Aussehen ändern würde. Dann setzte er seinen Weg nach Norden fort.
In Per Medjet, wo neben dem Aton auch Fische verehrt wurden, vernähte er die Fleischwunde einer Barbierstochter und erhielt dafür Proviant, einen selbst gewebten Schurz und eine Tönungspaste, die ihn einerseits vor weiteren Sonnenbränden schützen würde und zweitens seine Haut dunkler aussehen ließ.
Der Mann, der die Straßen von Noph betrat, hatte nichts mehr mit dem Menschen gemein, der aus den Straßen von Achetaton davongeschlichen war. Die Sonne - und die Tönungspaste - hatten seine Haut geschwärzt, sein Kopf war kahl, das lange Haar abrasiert und irgendwo in der Wüste verbrannt worden. Er trug ein kleines Ziegenbärtchen und einen Schnauzbart. Doch das Entscheidende war die Veränderung in seinen Augen.
Das Belladonna, das ihm die Weise überlassen hatte, schützte seinen Blick nicht nur vor den strafenden Strahlen des Aton, sondern weitete zugleich seine Pupillen so sehr, dass das Bernsteingelb seiner Iris nicht mehr zu erkennen war.
Cheftu erkannte sich selbst nicht mehr, als er zum Tempel ging; er befürchtete nur, dass auch Chloe ihn nicht mehr erkennen würde. War sie hier? Die Steine befahlen immer noch: »G-E-H.« Ein schnelles, aber notwendiges Opfer für den Aton, dann würde er seinen Weg nach Norden mit dem Schiff fortsetzen.
Doch auf Grund der Freudenfeiern überall im Königreich fuhren keine Schiffe. Semenchkare war eingetroffen.
Zur Huldigung wurden dem Volk die verbliebenen Vorratskammern geöffnet, damit es drei Tage lang feiern konnte, dass Pharaos Bruder - oder Cousin, das wusste niemand so genau -ohne Zwischenfälle den Hof erreicht hatte.
Drei Tage lang suchte Cheftu nach einer Überfahrt in den
Norden. Jeder, der Ägypten verlassen wollte, benötigte dazu einen Ausreisebrief, ausgestellt von dem für den Antragsteller zuständigen Tempel des Aton. Anfangs schien das kein Problem darzustellen. Doch dann erkundigte Cheftu sich genauer, lockerte ein paar Zungen mit Bier und erfuhr dabei, dass diese Briefe auf einem ganz besonderen Papyrus geschrieben wurden. Jede Fälschung würde sofort erkannt.
Cheftu fluchte. Jede Nacht warf er die Steine aus. Geh, geh, geh, wiederholten sie. »Ich versuche es ja!«, protestierte er frustriert. In den Straßen machten Geschichten über Semench-kares Ankunft in Achetaton die Runde.
Einige erzählten, er sei in einem goldenen Schiff nilabwärts gesegelt und besäße wie der ehemalige Nilgott sowohl Brüste als auch Phallus. Andere behaupteten, er sei aus der Wüste erschienen, in einem durchsichtigen Schleier und umgeben von lauter Kindern. Jeder glaubte, sie sei die Inkarnation einer Göttin, egal welcher, die Ägypten aus der allumfassenden Herrschaft des Atons herauslocken würde. Cheftu war lange genug Ägypter gewesen, um zu begreifen, dass die Vorstellung, Se-menchkare sei ein Mann, nicht notwendigerweise bedeuten musste, dass er nicht zugleich eine Göttin sein konnte. Dass irgendjemand anderes als dieser sirenenhaft säuselnde Krüppel über Ägypten herrschen sollte, war auf jeden Fall ein Grund zum Feiern!
Hatte Echnaton wirklich so wenig Ahnung von seinem Land?, fragte sich Cheftu, während er sich unter die Menge mischte und jemanden zu finden versuchte, der ihn ans große Grün segelte. Fest entschlossen, zu Chloe zu gelangen, erwarb er im Tausch für die Kataraktentfernung bei einer ganzen Familie Proviant und schlug dann den Weg über die Handelsstraße nach Kanaan ein. Sobald er den Wadi Ägyptens hinter sich gelassen hätte, würde er sich die Überfahrt zu den Pelesti erkaufen oder erfeilschen.
Doch in der dritten Nacht seiner Reise durch den Sand lauer-ten ihm Briganten auf. Er hörte sie nicht, er sah sie nicht, doch als sie erst vor ihm standen, roch er sie. Es waren Ziegenhirten. Sie durchwühlten sein Zelt nach Gold oder Juwelen und waren außer sich, dass er keine leicht zu verhökernden Schätze besaß, darum aßen sie stattdessen seinen Proviant auf.
Cheftu kannte ihren Dialekt nicht, doch einer der Männer hätte ihn am liebsten umgebracht. Zum Glück war der andere, der ihm das Messer an die Kehle hielt, vernünftiger. Sie legten ihm Fußfesseln an und schleuderten ihn dann auf den Sandboden in seinem Zelt, während sie weiter nach etwas suchten, das sie ihm abnehmen oder kaputtmachen konnten.
Die Steine! Er musste sie verstecken! Aber wo? Wenn sie ihm die Kleider abnahmen, würden sie die Steine finden. Er hatte keinen Beutel, keine geheime Tasche. Wenn er sie im Sand vergrub, waren sie und ihre Weisheit damit verloren. Dann würde er Chloe nie mehr finden.
Konnte er sie verschlucken? Dazu waren sie zu groß; wahrscheinlich würde er daran ersticken. Ganz zu schweigen davon, wie er sie dann wieder herausholen müsste.
Un moment ... Es war zwar eklig, doch es könnte klappen. Die Fesseln ließen ihm ausreichend Bewegungsfreiheit.
Als die Briganten hereinkamen, um ihn zu den anderen Gefangenen zu schleifen, wurde Cheftu nackt ausgezogen. Routiniert durchbohrten sie den Knorpel oben in seinen Ohrläppchen und zogen eine Kette durch die Löcher. Wodurch er bis an sein Lebensende als Sklave gezeichnet war.
Dann marschierten sie los nach Norden.
ZWEITER TEIL
4. KAPITEL
Ashquelon wurde ausspioniert; nicht offen, doch hatte ganz eindeutig jemand ein Auge auf uns geworfen. Ich hatte noch nie in einem Kriegsgebiet gelebt oder eine Invasion fürchten müssen. Die Hochländer - wie die Pelesti die Israeli oder Israeliten oder Juden oder was auch immer nannten - trieben sich an den Außengrenzen unseres Gebietes herum.
Wir standen unter Beobachtung.
Gespenstisch.
Wadia, Takala und Yamir berieten sich mit den Serenim der Stadt. Wie fast alle wichtigen Geschäfte wurde auch dieses in den Stadttoren erledigt.
Es handelte sich dabei nicht um Tore, die man öffnen oder schließen konnte, sondern eher um Räume, die zu beiden Seiten in einen versetzten Durchgang eingelassen worden waren. Der eigentliche Eingang war schmal, kaum breit genug für einen Mann mit einem Esel und eindeutig nicht breit genug für eine einfallende Division. Zu beiden Seiten hielten Soldaten Wache, die jeden, der hinaus- oder hineinwollte, genau in Augenschein nahmen. Die Pelesti waren auf der Hut, sie wollten ihre Familien, ihr Auskommen und ihre Felder beschützen.
Sie waren im Grunde genau wie alle anderen Menschen zu jeder anderen Zeit.
Ich wartete in der Kammer gegenüber jener, wo die Gespräche stattfanden. Was tat ich hier? Göttin zu sein wurde mir allmählich fad. Ich durfte nirgendwo alleine hingehen, ich durf-
te die Stadt nicht verlassen, und alles, was ich tat, weckte Fragen über Fragen.
Im Gegensatz zu meiner Auffassung über die Behandlung einer Göttin, die praktisch nebenan wohnt - der man z. B. Blumen, Zuckerwerk und Gedichte schicken sollte, damit sie einen nicht totzaubert, und der man ansonsten aus dem Weg ging -, betrachteten sie mich als Enzyklopädie für alles Göttliche. Und fast alles andere.
Eine Bewegung auf den Hügeln in der Ferne weckte mein Interesse. Man war allgemein der Meinung, dass die Hochländer nicht in der Ebene angreifen würden. Solange die Pelesti blieben, wo sie waren, nämlich in der Stadt und auf den nahen Feldern, war alles in Ordnung. Doch an einem noch nicht feststehenden Tag im Frühling würde man in die Schlacht ziehen.
Schließlich war es Frühling.
Diese Leute konnten nicht einfach um einen Maibaum tanzen und sich im Gebüsch vergnügen wie alle anderen; nein, sie mussten in den Krieg ziehen.
Am ernüchterndsten war der Gedanke, dass ich, falls diese Hochländer von David angeführt wurden, jenem poetischen Psalmisten Israels, von dem ich so viel gehört hatte, dass ich in diesem Fall also auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Und auf den falschen Wagen dazu.
Wie sollte ich hier lebend rauskommen?
Ein Aufruhr draußen lenkte mich ab, weshalb ich die letzten Worte der stehenden Wendung mitbekam: »- war schon immer so.«
»Aber nicht, solange ich hier Dienst gehabt habe«, erwiderte der pelestische Soldat.
Offensichtlich verweigerte er der wartenden Gruppe den Einlass. Ich sah an ihm vorbei und war augenblicklich entsetzt. Im Schatten der Mauerzinnen standen aneinander gekettete Männer und Frauen mit sonnenverbrannter und blasiger Haut. Dass es Sklaven waren, konnte man auf den ersten Blick an den Ketten durch ihre Ohren erkennen. Einmal fest angezogen und -jaul!
Meine Ohren schmerzten vor Mitleid gleich mit.
»Meeresherrin!« Der Wachposten hatte mich bemerkt.
»Bitte beflecke deinen Blick nicht mit diesen unreinen und unglückseligen Geschöpfen.«
Dass ich hier war, schien ihn nervös zu machen.
»Dieser Mann wurde dafür zurechtgewiesen, dass er ha Ha-mishah angerufen hat, die fünf pelestischen Städte der Ebene.« Er sah wieder auf den Händler, einen dürren Mann mit fettiger Haut und schmutzverkrustetem Umhang.
Er war keiner bestimmten Rasse zuzuordnen, außer vielleicht der universellen Bruderschaft der Halsabschneider und zweibeinigen Kakerlaken. Der Wachposten befahl ihm erneut zu verschwinden, denn er würde bestimmt nicht eingelassen. Mein Blick wanderte über die Sklaven dahinter, insgesamt an die dreißig Menschen, die allesamt keuchten, schwitzten und von der Sonne gezeichnet waren. Sie mussten quer durch die Wüste gewandert sein, denn an der Küste war das Wetter mild und angenehm.
Einer der Männer kümmerte sich gerade um eine junge Frau. Sie war schwanger und hatte einen dicken Bauch, auch wenn sie ansonsten klapperdürr war. Er tupfte ihr die Stirn trocken und flüsterte ihr etwas zu. War es ihr Ehemann?
Er sah auf und mich an, als hätte er meinen Blick gespürt.
Nein, Chloe, das ist nicht ihr Mann.
Es ist deiner.
»Siehst du etwas, das dir gefällt, Meeresherrin?«, fragte der schmierige Sklavenhändler. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Es war Cheftu: verdreckt, abgemagert, von der Sonne verbrannt und mit Bart, doch ganz eindeutig Cheftu. Meine Brust schmerzte, so stark klopfte mein Herz.
Ich war eine Amerikanerin des späten zwanzigsten Jahrhunderts - für mich gab es Sklaverei nur in der Theorie. Zum Leben als Diplomatenfamilie im Ausland verstand sich quasi von selbst, dass wir während meiner Kindheit stets Bedienstete gehabt hatten, doch das waren keine Sklaven gewesen. Als ich dann in Ägypten erwacht war, war ich in eine Welt voller Sklaven getreten, doch ich hatte mich stets bemüht, sie respektvoll zu behandeln. Vor allem da in den beiden Kulturen, in denen ich gelebt hatte. Kein Mensch besaß einen Menschen in jener Form, die auf den amerikanischen Plantagen üblich gewesen war; im Altertum hatten die Sklaven einfach der niedrigsten gesellschaftlichen Schicht angehört.
»Los jetzt, verschwindet«, raunzte der Wachposten den Händler an. »Und hör auf, die Göttin mit deinen Fragen zu belästigen.«
»Ich sehe ihre Augen«, sagte der Händler. Er drehte sich um und betrachtete die Gruppe von Sklaven. Es war kaum mehr als eine Kette von Skeletten. »Eine junge Dame vielleicht? Um dir zuzufächeln und die Hitze der schwülen Nächte zu lindern?«
Mein Blick war, wie ich hoffte, vernichtend. Cheftu hatte sich umgedreht, um der jungen Frau zu helfen; hatte er mich nicht erkannt? »Dieser Mann dort. Wie viel?« Die Worte klebten wie Dreck an meiner Zunge. Wie konnte ich auch nur eine solche Frage stellen.
»Aii, der junge Mann?«
Hatte er denn mehr als einen? »Der mit dem Mädchen.«
»Aii, ich bitte um Vergebung, Meeresherrin, doch er ist ihr Ehemann.«
Einen Augenblick wurde mir schneeweiß vor Augen. Ihr Ehemann? Ich bohrte die Fingernägel in meine Handflächen; ganz ruhig, Chloe. Du weißt, dass das nicht stimmen kann.
Der Händler deutete auf einen kleinen Jungen, höchstens vier Jahre alt, der gefügig und gesund im Schatten wartete. »Der hier ist von ihm, ein guter Junge. Einen so prächtigen Hengst kann ich nicht für den Preis eines gewöhnlichen Sklaven hergeben.« »Er, er ist der Vater?«, stotterte ich. Ich kochte vor Wut über die Lügen, die dieses Stück Dreck verbreitete. Und noch dazu über meinen Mann!
»Ja. Er zeugt starke Kinder.«
Ich wandte mich wieder dem Wachposten zu und schickte ihn an die Arbeit zurück. So zuwider es mir auch war, ich nahm den schmierigen Händler am Arm und lächelte ihn an, wobei ich allerdings ausschließlich durch den Mund atmete. »Als Göttin habe ich von Zeit zu Zeit einen Hengst nötig«, sagte ich. »Doch müsste ich erst feststellen, ob er meiner Aufmerksamkeit würdig ist.« Ich hielt kurz inne und drückte meine Brust gegen seinen Arm. »Und meine Silberstücke.« Ich fragte mich, ob die Pelesti wohl Silberstücke hatten.
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Deine Gunst ehrt mich«, antwortete er. »Wenn du, sagen wir, ihn ganz privat inspizieren müsstest ... vielleicht einen Nachmittag lang ...«
»Mit einem Nachmittag allein wird kein Handel zu Stande kommen«, erwiderte ich. »Überlass ihn mir einen ganzen Tag.«
»Einen Tag?« Da riss er aber die Augen auf.
»Ken. Sollte er mir zusagen, werde ich auch sein Weib und sein Kind nehmen. Schließlich fände ich es schrecklich, wenn er einsam wäre.« Komm schon, du Frettchen, dafür, dass du ihn mir einen einzigen Tag überlässt, kannst du drei Verkäufe abschließen! Ich hatte keine Ahnung, woher ich das Geld nehmen sollte und in welcher Währung man hier bezahlte, doch das war mir gleich. Cheftu, nur Cheftu allein zählte.
Der Händler verneigte sich. »Wohin soll ich ihn schicken?«
Ihn schicken? Ich will ihn sofort!
»HaDerkato«, rief einer der Priester aus dem Torraum, »wir erwarten deinen Urteilsspruch.«
Ich warf einen letzten Blick auf den Händler.
»Wir liefern auch«, erklärte er. »Auf diese Weise könnte ich ihn noch putzen und rasieren.«
Ich sah auf Cheftu, der immer noch mit der Frau beschäftigt war. Er hatte kein einziges Mal aufgesehen. Er war so dünn, so verhärmt. »Wenn ich auch nur einen einzigen weiteren blauen Fleck an ihm entdecke, und sei er von einer Feder, dann kostet das deinen Kopf«, prophezeite ich. »Er gehört mir.«
Der Händler senkte eilfertig den Kopf.
Wie konnte ich sicherstellen, dass er nicht verschwand und Cheftu mitnahm? Mit zittrigen Fingern nahm ich meine Ohrringe ab, irgendwelche Steine in einer Goldfassung.
»Nimm das als Anzahlung.«
Er verbeugte sich tief und packte meinen Schmuck mit seinen dreckigen Pfoten. Unfähig, den Blick von Cheftu abwenden zu können, wich ich rückwärts zurück. Wäre er später noch hier? Ich rief den Wachposten herbei. »Unter gar keinen Umständen, selbst wenn die Hochländer wie Wasser von den Hügeln strömen, unter gar keinen Umständen darf dieser Händler mit seiner« - ich würgte das Wort hervor - »Ware verschwinden.«
Der Wachposten blickte mich mit tiefem Ernst an. Ich sah in seine braunen Augen. »Schwöre es.«
»Bei Ba’al«, antwortete er nervös.
»Falls sie nicht hier sind, wenn ich zurückkomme, kostet dich das den Kopf.« Der Priester hatte nach mir gerufen. Jetzt kam er verärgert auf mich zu. »Ich komme schon«, beschwichtigte ich und folgte ihm dann durch das Tor hindurch in den Versammlungsraum.
Bitte mach, dass Cheftu dann immer noch da ist, dachte ich. Bitte, bitte, bitte. Ich bebte, so viel Selbstbeherrschung kostete es mich, nicht gleich hier und jetzt über Cheftu herzufallen, ungeachtet aller möglichen Konsequenzen - und dennoch war ich weggegangen. Bitte sag mir, war das richtig?
RaEm streckte sich und spürte das Ziehen und Brennen nach Echnatons Liebesakt, während er ihr ins Ohr flüsterte: »Du bereitest mir Lust, Schwester-Bruder Semenchkare. Öffne dich noch einmal für mich.«
Einen Moment lang spielte RaEm mit dem Gedanken, ihm zu erwidern, sie sei erschöpft und wund, sie wolle erst baden und essen. Doch immerhin war er Pharao. Er konnte ihr all die Macht und all die Reichtümer verschaffen, die sie sich erträumt hatte. Sie brauchte nur nie Nein zu ihm zu sagen, und er würde ihr immer weiter mit seinem Leib huldigen und in seiner Stimme zu ihr sprechen.
Auch wenn ihre Arme kribbelten, erhob sie sich.
Augenblicklich füllte er sie, ganz und gar, die Hände fest um ihre Taille gespannt, die Nägel in die blaufleckige Haut ihres Bauches vergraben. Je mehr sich seine Anspannung steigerte, desto fester bewegte er sich in ihr. Tränen strömten ihr aus den Augen, als sich der Genuss schließlich zur Pein wandelte. »Ich verehre dich«, keuchte er so, dass ihr seine Stimme körperliche Erfüllung bot. »Ich finde es wunderbar, dass du als Mann an meiner Seite erscheinst. Doch«, fuhr er fort, wobei er jedes Wort durch einen Schlag auf ihren Hintern unterstrich, »ich finde es genauso wunderbar, dass ich auf meiner Liege als Mann über dich herrsche.«
Der königliche Samen strömte in ihr Inneres, ohne einen Hafen, ohne eine Lebensmöglichkeit zu finden. Echnaton sackte über ihr zusammen und war sofort eingeschlafen, während sich seine Handabdrücke auf ihrem Leib abzeichneten und ihr Blut den seinen befleckte. Sie blickte durch das Gitterwerk seiner Arme auf die Kartusche auf seinem Stuhl, die goldenen Wände seines Gemaches, die Laken, die so fein waren, dass sie Nebelschleiern glichen, und schließlich auf Pharaos Kriegskrone. Die blaue Krone.
Sie würde sie tragen. Sie, RaEmhetepet, deren Eltern sie nie kennen gelernt hatten; deren Schwesterpriesterinnen sie nie leiden konnten; deren Liebhaber sie nie befriedigt hatten; sie würde über Ägypten herrschen.
Echnaton schnarchte ihr ins Ohr, bis sein schlaffer Penis schließlich aus ihrem Leib glitt. Sie war genau dort, wo sie von Anfang an hingewollt hatte: in den Armen dieses Mannes, der ihr vertraute. Sie würde durch genau jenen Krummstab und jene Geißel herrschen, die er dazu verwendet hatte, über sie zu herrschen. Sie brauchte nur noch ein wenig Zeit.
Zeit war ein Gut, das Zakar Ba’al im Übermaß besaß. Er konnte sich nehmen, was ihm gefiel, oder er konnte einfach abwarten, denn die Zeit würde ihm niemals knapp werden. Andere waren weniger glücklich, und darum würden die Tsori eines Tages auch über die Meere und das Festland herrschen.
Zakar Ba’al tat es nicht des Goldes, der Gewürze oder der Edelsteine wegen, sondern vielmehr, um die Monotonie zu durchbrechen. Schon vor hunderten von Jahren hatte er begriffen, dass dem Leben viel von seiner Süße fehlte, wenn jedes Gefühl von Eile abhanden gekommen war.
Wahrscheinlich hatte er ein, zwei Lebensspannen damit vertan, Mohnkapseln zu kauen, bis ihn selbst dieser Zustand gelangweilt hatte.
Das Einzige, was Bestand hatte, war die Macht. Immer wieder zogen Menschen gegen ihn zu Felde, die wussten, dass ihre Zeit bemessen war, und immer wieder sog Zakar Ba’al in einem Wettstreit des Witzes, der Kühnheit oder der Waffen ihnen das Leben aus und leerte die Schale ihrer Begeisterung, um danach die leeren Hüllen wegzuwerfen.
Nun stellte sich eine neue Herausforderung. Ein kühner junger Mann, Poet und Krieger zugleich, meinte, über die Straße der Könige zu herrschen. Abdiheba, dieser tattrige Idiot, schlotterte in seinen tsoriblauen Schuhen und flehte jeden dar-um an, die Bedrohung zu beseitigen.
Zakar Ba’al lächelte. Er würde seine Hilfe anbieten, doch nur, weil es ihm Vergnügen bereiten würde mit anzusehen, wie Jugend und List diesen alten, zähneklappernden Schafsbeschäler übertölpelten. Wie immer fragte sich Zakar Ba’al, wo Cheftu wohl stecken mochte. In den vergangenen tausend Jahren hätten sich ihre Wege mindestens hundertmal kreuzen müssen; Cheftu war bestimmt nicht tot, denn keine weise Frau hatte jemals seine Seele unter den Schattenwesen entdeckt.
Es war ein Mysterium, das einzige Mysterium, das Zakar Ba’al nicht enthüllen konnte. Er wandte sich an den Schiffskapitän, der an seiner Seite stand. Hinter den wie Honigwaben durchlöcherten Hügeln von Tsor stieg das Licht der Morgendämmerung auf. Dion verzehrte sich nach einer Veränderung, nach Lebendigkeit, nach etwas oder jemandem, der seinen Verstand und seine Willenskraft stimulierte, der ihn herausforderte.
Was nutzte einem das Geschenk der Unsterblichkeit, wenn die Lust am Leben fehlte?
Er machte eine Geste, der Kapitän rief einen Befehl, das Schiff setzte Segel.
Lasst mich aus dem Vollen leben oder tötet mich, bat Dion die Götter.
Ich war nervös. Hinter diesem Vorhang wartete Cheftu - Cheftu, mein teuerster Freund, mein Gefährte, der Geliebte, der tief in meiner Seele wohnte.
Mein Blick huschte noch einmal zu dem Bild im Wasserspiegel zurück. So hatte er mich noch nie gesehen. Ich war groß und blass, und mein grünes Futteralkleid ließ meine Augen noch grüner wirken. Sie waren von Bleiglanz umrahmt, und ich hatte meine Lippen mit Granatapfelsaft gerötet. Der runde Halsausschnitt des Kleides wurde von einer goldenen Halskette hervorgehoben. Dazu hatte ich passende Ohrringe in
Tropfenform angelegt. Ein Haarband in Grün, Gold und Braun hielt mein glattes, kupferrotes Haar zurück.
Meine Hände begannen zu zittern, als ich Tameras Stimme hörte: »Meeresherrin, dein Sklave erwartet dich.«
Ich krächzte mühsam eine Antwort hervor. Instinktiv postierte ich mich zwischen zwei Lampen. Dadurch war ich im Vorteil und konnte mit absoluter Gewissheit feststellen, ob dies Cheftu war. Mein Blut hatte ihn längst erkannt, es sauste nur so durch meinen Körper; doch ich wollte mich auch mit dem Verstand davon überzeugen.
Plötzlich stand er vor mir, so stolz und schön, dass ich am liebsten geheult hätte. Er sagte nichts, er sah nirgendwohin, er stand einfach nur da. Mein Blick liebkoste die Muskeln, die über seinen Schulterblättern verschmolzen, die Aderstränge, die sich von seinen einzigartigen Händen über die Arme hinaufzogen.
Morgen würde ich seine Hände malen - so wie ich es seit zwei Jahren vorhatte.
Sein Bauch war so eingefallen, dass man die Rippen zählen konnte. Mein armer Geliebter war halb verhungert. Sein Blick lag wie festgefroren auf meinem Knie oder der Lampe oder etwas anderem knapp über dem Boden. Ich atmete schwerer; es kam mir so vor, als sei in diesen kurzen Augenblicken eine ganze Ewigkeit verstrichen. Hatte ich Angst?
Ganz ehrlich - ja. Er hatte mich noch nie in diesem Körper gesehen. Er war noch nie zuvor Sklave gewesen. Würde er glauben, dass ich es war? Was sollte ich jetzt machen? Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. »Ch-Cheftu?«, flüsterte ich und machte einen Schritt auf ihn zu.
Sein Gesicht erschlaffte, als er meine Stimme hörte, dann zuckte sein Blick zu meinen Augen hoch.
»Mon Dieu«, flüsterte er und musterte mich mit riesigen Augen von Kopf bis Fuß. »Chloe?«
Ich nickte, unfähig, noch einen Schritt zu machen, weil ich so
zitterte.
Er sank auf die Knie. »Grâce à Dieu«, hauchte er mit erhobenen Händen. Dann richtete er sich wieder auf, und schon lag ich in seinen Armen und lernte von neuem kennen, was mein Körper längst zu wissen schien, mein Verstand und mein Herz jedoch so schnell vergaßen: die Hitze, die Leidenschaft, das Gefühl von Heimkehr in seinen Geruch, seine Berührung, seinen Geschmack.
Mein Herz flog auf und setzte all die Gedanken, Ängste und Gefühle frei, die ich mühsam unter Kontrolle behalten hatte. Ihn in den Armen zu halten, sein Herz an meinem schlagen und die Hitze seines Blutes unter meinen Händen zu spüren war ein Wunder. Eng umschlungen standen wir da und machten uns erneut mit dem Körper des anderen vertraut.
Auch seine Hände zitterten; auch er atmete schwer. »Ich hatte schon Angst«, sagte er, »ich wusste ja nicht -«
Ich wich zurück und drehte seinen Kopf so, dass er mich ansah. Seine bernsteingelben Augen lagen unter einem wässrigen Schleier. »Alles wird gut«, sagte ich auf Englisch. »Wir sind wieder zusammen.«
Er schloss die Augen und die Tränen rannen über seine Wangen. »Grâce à Dieu«, hauchte er immer wieder in mein Haar. Als unsere Körper sich beruhigt hatten, lösten wir uns voneinander, um uns gegenseitig zu begutachten. Sein Blick wanderte ausgiebig über mein Haar und mein Gesicht; seine Finger betasteten meine Wangen und mein Ohr. »Du bist bezaubernd«, sagte er. »Wie hat mir dein hübsches Gesicht gefehlt.«
Mein Lächeln schmolz unter seinem Kuss dahin. Ich wusste nicht, wem die Tränen gehörten, die ich während unserer Umarmung schmeckte. Seine Hände fuhren vorsichtig durch mein Haar, und meine Hände strichen über seinen Rücken, wo sie die schorfigen Peitschennarben und die Rippen unter der dünnen Haut betasteten. Er drückte mich noch fester, bis ich seine knochige Hüfte und sein Begehren spürte. Ich hielt ihn fest in den Armen, die Rippen über seinem Bauch in meinen Armbeugen und die Hände um seine schmale Taille geklammert, während er gegen mich drängte und unter meinem Mund zu stöhnen begann.
Ich weiß nicht mehr, in welcher Sprache ich ihm antwortete, doch ich weiß, was ich sagte. Ja. Ja. Ja.
Das Gleiten von Fleisch über Fleisch, dieses unglaubliche Gefühl, bereitete mir gleichzeitig unvergleichliche Lust und ließ die Tränen aus meinen Augen schießen. Cheftu hielt mich fest, liebkoste mein Haar, küsste mich auf die Lider, die Wangen, den Mund und erzählte mir dabei, auf wie viele Weisen er mich liebte. Wie sehr er sich nach mir gesehnt hatte, wie lange er um mich geweint und um mich gebetet hatte.
Die Hände tief in meinem Haar vergraben, die Stirn gegen meine gepresst, stöhnte er meinen Namen, als wir gemeinsam zum Höhepunkt kamen. Ohne sich auch nur zu rühren, drückte er mich an seine Brust, bis unser Atem wieder normal ging.
Die Lampen waren niedergebrannt, und der Himmel war immer noch dunkel. Wir waren eingeschlafen. Ich küsste seine Brust, nur um mich zu vergewissern, dass ich ihn küssen konnte. Er drückte mich mit aller Kraft und begann unvermittelt zu zittern, als würde er von Dämonen gehetzt.
Ich lag friedlich da und genoss seine Berührung. Allmählich kam er wieder zur Ruhe, sein Griff lockerte sich, und ich wand mich nach oben, bis ich ihm ins Gesicht sehen konnte.
»Erzähl es mir«, bat ich ihn.
»Wirst du mich kaufen, Meeresherrin?« In dem schwachen Licht, das durch die Fenster herein fiel, sah ich seine Augen lächeln.
»Nun«, antwortete ich und fuhr dabei seine Nase und Wangen nach, »du scheinst viele Begabungen zu haben.«
Sein Gesicht wurde ernst und seine Stimme zärtlich.
»Ich habe nicht zu träumen gewagt, dass dieser Tag kommen würde«, gestand er. »Als die Briganten mich überfallen haben, hatte ich Angst, dich nie wieder zu sehen. Ich habe geglaubt, ich sei vom rechten Weg abgekommen, und die Gefangenschaft sei meine Strafe dafür.«
Es schmerzte mich, auch nur daran zu denken, was er alles durchgemacht hatte. Die Male auf seinem Rücken hatten sich für alle Zeit in meine Handflächen eingeprägt. »Was hast du gedacht, als du hierher, in den Tempel gebracht worden bist?«
»Gar nichts«, erwiderte er. »Mir war klar, dass ich keiner anderen Frau Lust spenden konnte. Ich habe einfach gehofft, dass diese Göttin, wer immer sie auch war, mich nur für ihren Garten und nicht für sich selbst wollte.« Er sah mir wieder in die Augen. »Gott sei Dank, dass du hier bist, chérie. Ich danke dir, Gott«, fügte er hinzu und presste dann seinen Mund auf meinen.
Wir liebten uns ein weiteres Mal, diesmal langsam, forschend, redend, erinnernd, entdeckend und manchmal nur einander anschauend. Schließlich fielen wir in Schlaf oder eher in friedvolle Besinnungslosigkeit, bis Tamara einem anderen Sklaven zurief: »Ich werde fragen, was die Meeresherrin rät.«
Schlagartig war ich hellwach, und mein Herz pochte wie wild. Cheftu schlief weiter, leise schnarchend. Sekunden später war ich angezogen. Das Futteralkleid war zerknittert, mein Haar zerzaust, doch ich hatte zumindest mein Gesicht gewaschen, meinen Schmuck angelegt und den phantastischen Leib meines Gatten zugedeckt.
Meines Gatten. Hier. Ich lachte in mich hinein. Gott hatte uns wieder zueinander geführt. Jetzt brauchten wir nur noch die Biege zu machen.
Tamera wartete im Gang auf mich. Mit verkniffenem Gesicht. »Yamir hat beschlossen, eine Gruppe von Kriegern in das Refa’im-Tal zu führen. Takala will, dass du ebenfalls auf das Schlachtfeld kommst. Du bist der Teraphim.«
Ich klappte den Mund auf, doch sie war noch nicht fertig.
»Außerdem macht der Händler einen ziemlichen Aufruhr vor der Stadtmauer, er behauptet, du hättest den Sklaven und seine Frau, seinen Sohn, seine vier Töchter, seine Mutter und deren Sklaven gekauft.«
»Eine Sklavin mit einem eigenen Sklaven?«, hakte ich nach.
Sie zog die Achseln hoch. »Er ist Amaleki.«
Und das erklärte alles? Ich zog die Tür hinter mir zu und redete in normaler Lautstärke weiter. »Bezahl dem Händler, was er verlangt«, sagte ich. »Und dann lass alle frei.«
Sie sah mich fragend an. Gab es irgendein Problem dabei? Hatte ich nicht genug Geld?
»Ken?«, fragte ich.
»Was heißt das, >lass alle frei<?«, fragte sie, während wir uns auf den Weg in den Hauptraum machten, um Dagon zu begrüßen.
»Was ist das Gegenteil von Sklave sein?« Ich probierte es andersherum.
»Landbesitzer sein«, antwortete sie und half mir in meinen Fischmantel. Die übrigen Priesterinnen kamen herein, grüßten uns und verschwanden wieder.
Sklave oder Landbesitzer? Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. Ich wusste nicht, wie ich mich verständlich machen sollte, darum beschloss ich, eines nach dem anderen zu klären. »Kaufe die Sklaven. Geht das?«
Sie nickte, und wir traten ein, um den Gott wach zu singen.
Nach den Morgengebeten fragte Tamera, ob ich sonst noch etwas brauche. Nachdem ich ein Frühstück mit einer Meeresfrüchteplatte für zwei bestellt hatte, schickte ich sie weg und kehrte zu Cheftu zurück.
Sobald ich ins Zimmer trat, sah ich, dass Cheftu aufgestanden und angezogen war und sich das Haar mit Wasser zurückgekämmt hatte, wodurch seine verstümmelten Ohren sichtbar wurden. »Ist das schlimm?« Ich deutete auf die Kette.
Er zuckte mit den Achseln.
»Nicht schlimmer, als seine Freiheit zu verlieren.«
»Das tut nichts zur Sache. Du bist hier. Und bald verschwinden wir von hier.«
Cheftu sah mich an und verschränkte langsam die Arme. »Und wohin?« Ich machte den Mund auf, um ihm zu antworten, doch er redete weiter. »Chloe, ich bin für alle Zeit als Sklave gebrandmarkt. Du hast mich erworben, damit ich dein Sklave bin. Dies hier ist nicht unsere Welt, wir können nichts daran ändern.«
»Das hat keine Bedeutung mehr, wenn wir erst von hier verschwunden sind.«
Er kam zu mir und nahm liebevoll meine Hände. Ich hatte ein ausgesprochen ungutes Gefühl; er wirkte entschieden zu resigniert. Darum begann ich draufloszuplappern. »Das ist doch alles kein Problem. Ich habe jede Menge Geschenke bekommen, wir müssen also nur aus der Stadt verschwinden und dann auf ein Schiff springen - irgendwohin. Wir können in Freiheit leben, wir können zusammen bleiben -«
Er brachte mich zum Schweigen, indem er einen Finger auf meine Lippen legte. »Was bist du hier?«
Ich wandte, ein wenig betreten, den Blick ab. »Die Göttin der Stadt.«
»Und du glaubst, sie lassen dich einfach so hinausspazieren?«
»Es ist mir gleich, was sie wollen. Ich bin zurückgekommen, um dich zu holen. Ich habe dich gefunden. Und jetzt -«
»Glaubst du, du bist einzig und allein hier, um -«
Tamera öffnete die Tür, wies die Sklaven an, das Essen auf dem niedrigen Tisch abzustellen, und scheuchte sie dann wieder hinaus. Ihr Blick wanderte von mir zu Cheftu hinüber, dann richtete sie sich zu voller Größe auf. »Takala wünscht dich sofort in ihrem Audienzsaal zu sehen.«
Wir mussten Pläne schmieden; ich hatte keine Zeit, Takala zu bespaßen. Mein Zeitvertrag als Göttin lief in Kürze aus. Ich brauchte mehr Zeit mit Cheftu. »Sie muss herkommen«, erklärte ich, um die Angelegenheit etwas hinauszuziehen.
Tamera zog den Kopf ein. »Wie du wünschst, Meeresherrin. Wie ich eben erfahren habe, ist König Yamir-dagon in die Schlacht gezogen.«
Der Frühling war da. »Wann sind sie aufgebrochen?«
»Die Division ist während der zweiten Wache ins Refa’im-Tal abgezogen, Meeresherrin.«
»Bevor ich irgendwas unternehmen kann, muss ich erst einmal baden.« Ich wollte noch mehr Zeit schinden.
Tamera maß mich mit einem Blick ab. Ich war eindeutig kürzer angebunden als je zuvor. Wusste sie, was in meinem Kopf vorging? »Ich werde mich mit dem Wasser beeilen.«
Als die Tür sich schloss, begann Cheftu leise zu lachen. »Du verkehrst zurzeit in vornehmen Kreisen, wie?«
Ich gab ihm einen Kuss auf die Schulter. »Vergiss das. Was tun wir jetzt?«
»Sieh meine Ohren an, chérie. Ich bin in dieser Epoche ein Sklave.«
»Na ja - kann ich nicht einfach als, als deine Besitzerin mit dir reisen?«
Seine Miene veränderte und verhärtete sich kaum merklich. »Für mich bist du natürlich kein Sklave«, flüsterte ich. »Das ist einfach kaum zu glauben, ich -« Noch während ich sprach, ertasteten meine Finger die Rippen unter seiner Haut. Es war sehr wohl zu glauben; man hatte ihn geschlagen. Man hatte ihn verletzt. Man hatte ihn als Sklaven behandelt. »Für mich bist du mein Geliebter, du bist mir ebenbürtig, mein Partner, mein Liebhaber, mein bester Freund.«
»Merci«, sagte er leise.
Die Sklaven schleppten eine Wanne herein, und wir wuschen uns hastig und schweigend. »Wir müssen fort«, setzte ich wieder an.
Er sah mich an. »Du bist nicht nur meinetwegen hier.«
»Wen sollte ich denn sonst quer durch die Zeit jagen?« Plötzlich fühlte ich mich angespannt. »Du akzeptierst diese inakzeptable Situation viel zu schnell!« Ich packte ihn am Unterarm. »Wieso fügst du dich so schnell in dein Schicksal?« Er starrte mich an, doch sein Blick war undurchdringlich. »Willst du nicht mit mir zusammen sein?«, flüsterte ich entsetzt. Ich glaubte die Antwort zu wissen, doch ich hätte auch nie vermutet, dass er sich so verhalten könnte. Er war so ... passiv.
»Wo ist sie?«, dröhnte Takalas Stimme von draußen. Wir sprangen auseinander und schlüpften in unsere Kleider. Ich hatte eben einen Kamm durch mein Haar gezogen, als Tamera verkündete, dass Takala eingetroffen sei.
»Da bist du ja!« Sie kam durch den Gang auf mich zugeschossen. »Was für eine Göttin bist du eigentlich? Wir brauchen dich augenblicklich auf dem Schlachtfeld!«
Ich sah ihr ins Gesicht. Sie hatte eine dicke Schicht Schminke aufgelegt, doch ihre Augen wirkten rheumatisch und überschattet. Sie konnte zwar ausgesprochen autoritär werden, doch sie war auch eine liebevolle Mutter und eine gute Königin. Einen Augenblick lang hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn schließlich hatte ich vor, mich so bald wie möglich aus dem Staub zu machen. Sie starrte mich an und spießte mich dabei mit ihrem Blick auf. Dann fiel er kurz auf Cheftu, und mir war klar, dass sie begriffen hatte, wie viel er mir bedeutete. Mit einer Handbewegung schickte sie alle anderen hinaus.
»Gegen wen ziehen sie?«, fragte ich schließlich.
Es interessierte mich nicht. Ich wollte nur weg. Ich hatte meinen Mann gefunden. Ich hatte meinen eigenen Körper wieder, bestimmt gab es irgendwo einen Ort, an dem wir glücklich bis an unser Lebensende bleiben konnten? Hieß es denn nicht, aller guten Dinge sind drei?
Takala seufzte so tief, dass Ketten und Fetische um ihren Hals aufgleißten und zu klimpern begannen. »Die Hochländer. Sie wollen die Stadt Jebus einnehmen.« »Jebus?« Der Name kam mir irgendwie bekannt vor; wo hatte ich ihn schon gehört? »Was haben die Jebusi mit euch zu schaffen. Mit uns?«
»Abdiheba, der König dieser Stadt auf den Hügeln, hat meine Tochter zur Frau genommen. Er hat sie gleich darauf getötet -«
Ich sah sie entsetzt an.
»Sie hatte ihm mit einem Schafbock Hörner aufgesetzt. Sie hat es verdient«, erläuterte Takala.
Vielleicht sollte ich die Sache mit der »liebenden Mutter« noch einmal überdenken? Ich nickte benommen.
»Dennoch haben wir einen Suzeränkontrakt mit ihnen. Wir haben geschworen, sie zu verteidigen, falls jemand sie angreifen sollte.«
»Haben die, äh, Hochländer schon angegriffen?«
»Noch nicht. Sie haben die Stadt eingekreist, aber sie verstecken sich in den Hügeln wie ein Rudel wilder Hunde, das nach einem schwachen Lamm Ausschau hält.«
»Wo liegt das Refa’im-Tal?« Ich war ihr gefolgt, und plötzlich merkte ich, dass ich auf dem direkten Weg in den Palast war.
»Östlich der Stadt. Wir fahren heute Nacht nach Lakshish, warten dort auf neue Nachrichten und gehen morgen mit in die Schlacht.«
»Moment mal.« Ich hatte andere Pläne. »Ich kann noch nicht fort.«
Takala blieb stehen und sah mich an. »Die Serenim von Ash-qelon haben dir ein Obdach, Essen, Gold, Geschmeide und ein hohes Amt gegeben. Du hast besser gelebt als ich! Dank deiner Fürsprache bei Dagon hat sich das Meer wieder in klares Wasser verwandelt. Trotzdem erbitten wir nichts weiter von dir als dies. Komm mit in die Schlacht. Du sollst unser Totem sein.«
Ich sah mich um. Überall standen Soldaten. Eine Stadt mit Mauern. Wachen. Sklaven. Ausgetüftelte Fluchtrouten? Null.
Sie schluckte und erniedrigte sich tiefer vor mir als je zuvor.
»Du bist eine Göttin, ich kann dich nicht zwingen. Doch ich bitte dich, denn du kennst meine Söhne. Du hast mit uns zusammen gespeist und mit uns zusammen gebetet. Es sind brave Burschen, sie lieben dieses Land, sie ehren ihre Götter. Wenn du nicht mitkommst, wird es keine Pelesti mehr geben.«
Pelesti, ein Wort, das ich selten zuvor gehört hatte. Philister, die von den Juden unterworfen worden waren, so weit konnte ich mich erinnern. Ich hatte hier nichts zu suchen, ich gehörte nicht in die Bibel.
Ja, ich hatte den Exodus beobachtet, doch ich hatte keine Rolle dabei gespielt. Moses und ich hatten kein Tête-à-tête gehabt. Ich musste verschwinden, ehe ich irgendwas durcheinander brachte. Schließlich kämpften diese Philister hier gegen die Juden. Sie würden nicht überleben, lediglich der Name Palästina würde überdauern.
Auf Grund der Arbeit meines Vaters wusste ich, dass es die Römer gewesen waren, die diesen Landstrich in »Palästina« umbenannt hatten, in dem Versuch, die Juden aus den Geschichtsbüchern, von den Landkarten und schließlich und endlich vom Erdboden zu tilgen. Es war das einzige Wort, das von den Philistern übrig geblieben war. Doch das Volk, das den Namen gestiftet hatte, gab es nicht mehr.
Ich wollte das ganz bestimmt nicht mit ansehen und auch nicht mitbekommen. Wie schrecklich, so zum Untergang verurteilt zu sein. Andererseits waren im Hier und Jetzt ihre Schmerzen genauso real wie Cheftus Peitschennarben. Was konnte es schon schaden, wenn ich mitkam und ihnen eine Weile Beistand leistete? Ich wäre nicht auf dem Schlachtfeld, und ich würde nicht eingreifen. Vielleicht würde das den Menschen ein wenig Mut machen.
Ganz zu schweigen davon, dass ich die vielen Wachen und Mauern hinter mir lassen würde. Es wäre leichter zu fliehen. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Ich muss meinen Sklaven mitnehmen«, sagte ich.
»Dafür ist gesorgt. Er wird sich auf dem Schlachtfeld zu uns gesellen.« Ich lächelte in mich hinein. Diese Frau hätte einen Wahnsinnsgeneral abgegeben. Ich versuchte zu überlegen, was ich noch mitnehmen konnte, ohne allzu viel Staub aufzuwirbeln. »Und meine Juwelen und Kleider.«
Sie sah mich aus schwarzen Augen an. »Dafür ist gesorgt.«
»Und Proviant.«
»Dafür auch.«
Was konnte ich sonst noch erbitten? Die Kleider würden uns warm halten, mit den Juwelen konnten wir unsere Flucht erkaufen, der Proviant würde uns ernähren - was brauchten wir noch? »Dann gehen wir«, sagte ich resigniert.
Die Streitwagen, die sie herbeirief, und die Schnelligkeit, mit der sie bereitgestellt wurden, machten mir klar, dass sie in jedem Fall vorgehabt hatte, mich mitzunehmen, ob ich nun wollte oder nicht. Insgeheim degradierte ich sie zum Oberst.
Im Gegensatz zu den Karren, die ich in Ashqelon gesehen hatte, waren diese Streitwagen leicht und geländegängig. Sie hatten Speichenräder statt fester Holzscheiben. Zum Glück hatte Takala einen eigenen Wagen, denn ich war nicht sicher, ob die Pferde unser vereintes Gewicht hätten ziehen können. Kaum war ich hinten in mein Gefährt gestiegen, fuhren wir auch schon los.
Ich klammerte mich mit aller Kraft fest und sah die Welt an mir vorbeifliegen. Wir waren in der Küstenebene, die von einem Blumenmeer bedeckt war: in Rosa, Gelb und Weiß. Zu beiden Seiten dieses aufgeblasenen Ziegenpfades wuchsen Stängel mit rot-lila Blüten, doch wir fuhren zu schnell, als dass ich etwas Genaues erkennen konnte. Der Wind zerzauste mein Haar, und ich begriff augenblicklich, wieso wir alle Haarbänder trugen: damit wir etwas sehen konnten.
Nach einigen Kilometern ließ meine Anspannung nach. Ich hatte mich an das Schaukeln und Hüpfen gewöhnt und keine Angst mehr, hinten hinauszupurzeln. Der Streitwagen hatte ausgezeichnete Stoßdämpfer. Mein Griff lockerte sich, ich begann mich zu entspannen und Pläne zu schmieden. Fröhlichkeit blubberte in mir hoch; Cheftu war da!
Erst vor wenigen Stunden hatten wir uns in den Armen gehalten. Und heute Nacht würden wir es wieder tun. Wie von nun an jede Nacht. Doch wohin wollten wir fliehen? Wie sollten wir dorthin gelangen? Danke, dass du ihn mir zurückgebracht hast, sagte ich zu Gott. Tolle Arbeit, danke.
Am Spätnachmittag kam Lakshish in Sicht. Die Stadt lag in einer Kuhle unterhalb eines Berghanges, und die umgebenden Hügel waren mit noch schlummernden Reben bepflanzt. Die Befestigungsanlagen waren beachtlich. Im Osten sah ich die Zelte der lagernden Soldaten. Im Norden reihten sich Wachtürme aneinander, von denen drei mit bloßem Auge erkennbar waren.
Wir wurden langsamer. Unsere Pferde waren müde. Meine Knochen fühlten sich gestaucht an, und meine Haut pochte immer noch im Rhythmus der Reise. Wir warteten auf Takala. Kaum wandte ich einmal den Blick ab, schon kam sie aus dem Nichts herangeflogen. Im Gegensatz zu mir lenkte sie ihren Streitwagen selbst. Ihre Pferde schäumten. Sie schoss an uns vorbei und den Hügel hinunter zum Feldlager. Der Soldat, der mich fuhr, folgte ihr, ohne weitere Anweisungen abzuwarten.
In der Abenddämmerung trafen wir im Lager ein.
Ein militärischer Alarmzustand hat etwas an sich, das man augenblicklich wieder erkennt, ob man sich nun unter Philistern in weiß Gott welchem Jahrhundert oder unter Amerikanern im zwanzigsten Jahrhundert befindet: Die dissonante, aufgereizte Atmosphäre ist stets die Gleiche. Die Soldaten der Pelesti wirkten wie Berufssoldaten. Wohin ich auch sah, erblickte ich Männer in spitzen und paspelierten Schurzen, mit bartlosen Gesichtern und gefiederten Helmen. Eine ganze Reihe von ihnen hatte einen Oberkörperpanzer angelegt, der aussah wie aus Leder und Metallspangen gefertigt. Sie trugen lange Speere mit dunklen Klingen an der Spitze und dazu Schwerter und Rundschilde.
Sobald ich ihnen beim Üben zuschaute, formulierte ich meinen ersten Eindruck um: Es waren Berufssoldaten. Unsere Pferde wurden ausgeschirrt und weggeführt, die Wagen in eine Reihe mit den Übrigen gestellt. Mit großen Augen verfolgte ich, wie sich unsere leichten Streitwagen in schwere gepanzerte Wagen verwandelten, einfach, indem einige Soldaten bronzene, beinschienenähnliche Verkleidungen daran befestigten.
Yamir-dagon war leicht auszumachen. Das Gefieder auf seinem Helm war rot und blau, sein Mantel rot. Unter den braunen, grünen und goldenen Schurzen stach er heraus wie Klatschmohn aus einem Kornfeld. Takala marschierte los. Zu meiner Verblüffung sah ich, dass sie wie die Soldaten einen gefiederten Helm und einen Kampfpanzer angelegt hatte. Während wir durch das Lager schritten, verneigten sich die Männer vor ihr. Yamir umarmte seine Mutter, nickte mir knapp zu und winkte uns dann, ihm in sein Zelt zu folgen.
Während meiner Zeit als Offizier in der Air Force hatte ich keine einzige Kampfhandlung, dafür aber jede Menge Lagebesprechungen miterlebt. Hier wurde ganz offensichtlich Kriegsrat gehalten. Ich erkannte die Serenim und ein paar der Soldaten wieder. Wadia, im gleichen Helm und Umhang wie sein Bruder, zwinkerte mir zu. Ich setzte mich neben Takala.
Der befehlshabende General umriss den Schlachtplan.
Die Hochländer machten das Gebiet um die Stadt Jebus unsicher. Deshalb würden die Pelesti sich von hinten anschleichen, sie am Fuß der bewaldeten Hügel unter der Stadt einkesseln und sie dort abschlachten. Es war allseits bekannt, dass Dadua viel zu schlau war, als dass er all seine Männer an einem Ort zusammenzog, darum würde die Schlacht keine endgültige Entscheidung bringen. Dennoch hätte man den Hochländern eine Lektion erteilt und nach dem Verbrennen der Teraphim das Gesicht wiedergewonnen.
»Warum stehlen wir nicht einfach ihre Teraphim?«, fragte ich. Die Idee, gegen Dadua in den Kampf zu ziehen, klang für mich nach einem Selbstmordkommando. Schließlich kannte ich die Geschichten aus der Bibel. Und dieses Wissen machte mich ganz krank. Ich musste hier raus, und zwar schnell.
Der Rat war schockiert. Wadia erklärte mir, dass er mir die Sache später erklären würde, dass aber selbst ihr Totem heimtückisch sei. Nie wieder würden sich die Pelesti auf das Wort der Hochländer verlassen, nicht, nachdem sie ihren Kämpfer Gol’i’at derart mit einem Zauber gedemütigt hatten. Nicht nach der Zerstörung, die ihr Teraphim über die Pelesti gebracht hatte.
Mir schwirrte der Kopf.
Ich hatte immer gedacht, die Israeliten, die Hochländer, seien ihren Feinden gegenüber im Nachteil. Wurde es in der Bibel nicht so dargestellt?
Doch aus der Sicht der Pelesti waren die Hochländer prinzipienlose Rabauken. Sie kämpften nicht mit einem stehenden Heer, sondern mit einer Bande umherstreifender Apiru, die Dadua angeheuert hatte und die notfalls mit Sensen oder Rechen angriffen. Sie scherten sich nicht um allgemein akzeptierte Kampfregeln, sie kannten keine Gnade und, was das Schlimmste war, sie achteten keine fremden Götter.
Was man mir in der First Methodist Church von Reglim, Texas, alles verschwiegen hatte ...
Da die Totems von Dagon und Ba’al gestohlen und zerstört worden waren, würde ich in meiner Eigenschaft als örtliche Göttin an Stelle der Totems der Schlacht beiwohnen. Meine Aufgabe bestand darin, auf dem Hügel zu stehen, den Kampf zu beobachten und um Dagons Hilfe zu bitten - schließlich wollten sie extra seinetwegen in der Nähe eines Baches kämpfen -, wie auch um jene Ba’als, des Blitzeschleuderers, sollte es notwendig werden. Als Vorsichtsmaßnahme gegen die gerissenen Hochländer würden die Pelesti einen bestimmten
Punkt im Tal nicht überschreiten, da die Karren und Pferde im felsigen, baumbestandenen Gelände der Hügel nicht manövrieren konnten.
Takala und ich logierten im selben Zelt, das im Grunde nur aus einer Ziegenhautplane über ein paar Zweigen bestand. Es tat nichts zur Sache; nach der nächtlichen Wiedersehensfeier mit Cheftu und der stundenlangen Fahrt im Streitwagen hätte ich auch auf dem Rücksitz eines Rennautos schlafen können, und zwar die gesamten vierundzwanzig Stunden von Le Mans durch. Allerdings machte es mich nervös, dass Cheftu noch nicht aufgetaucht war. Takala beschwichtigte meine Ängste, und gleich darauf waren mir die Augen zugefallen.
Ich erwachte in tiefschwarzer Nacht und mit einer Gänsehaut. Ich hörte nichts weiter im Zelt, nicht einmal Takalas Atem.
Dann wehten Worte zu mir herein, die ich im ersten Moment nicht einzuordnen vermochte.
Ich richtete mich auf, schlüpfte unter meiner Decke hervor, wanderte zum Rand des Lagers und dann noch weiter.
Ein wenig höher als wir und nicht einmal zwanzig Meter von uns entfernt feierten die Hochländer. Von meinem Beobachtungspunkt aus wirkte das Plateau wie eine Theaterbühne mit natürlicher Akustik. Die Musik setzte ein, ein wildes Trommeln, das mein Blut zum Brodeln brachte. Hinter ihnen brannte ein riesiger Scheiterhaufen, um den herum die schwarzen Gestalten tanzten, ummalt von orangenen und roten und goldenen Flammen. Es sah aus wie auf einem Hexensabbat.
»Wir wollen doch nur so wenig«, sagte Takala hinter mir, und zwar ausnahmsweise leise. »Dass wir in Frieden auf unserem Land leben können. Dagon hat uns ha Hamishah geschenkt, wieso hilft er uns nicht, es zu verteidigen?«
Als sie »Hamishah« sagte, leuchtete mein innerer Diapro-jektor auf und zeigte mir die fünf Städte, welche die Pelesti als die ihren betrachteten: Gaza, Ashdod, Ashqelon, Ekron und
Qisilee. Ich sagte nichts, ich sah nur zwischen den Bäumen auf. Jetzt verharrte vor dem Feuer die Silhouette eines einzelnen Mannes, der seine Hände über den Kopf erhoben hatte. Seine Stimme trug, als hätte er eine Stereoanlage aufgedreht, denn der geschwungene Hang des Hügels wirkte wie ein Amphitheater.
»Morgen stoßen wir in der Schlacht auf unsere ehemaligen Verbündeten« - die Hochländer lachten - »und gegenwärtigen Feinde.« Die einsame Figur schritt mit gesenktem Kopf vor dem Feuer auf und ab, weshalb sich bei jeder Bewegung ihr Schatten über die Bäume und das Plateau legte. Der Schatten eines Riesen im Gebet oder in Gedanken. Als er sich umdrehte, der Mann im Schatten, glitzerte an seiner Braue Gold auf.
Seine Soldaten verharrten wie reglose schwarze Klumpen vor dem goldgetönten Licht. »Was bleibt am Vorabend unserer Schlacht noch zu sagen?«, fragte er in derselben Sprache, die auch die Pelesti sprachen. »Welche Fragen strömen durch unser Blut? Welcher heimliche Kummer wird uns heute Nacht den Schlaf rauben?«
Der Auftritt war darauf angelegt, den Pelesti Angst einzujagen. Und obwohl ich das wusste, verfehlte er seine Wirkung nicht. Die Stimmen der Männer konterten in titanischer Lautstärke, fast als würde das Tal selbst die Antworten zurückbrüllen. Als wäre selbst der Himmel auf seiner Seite, hörten wir um uns herum: »Möge Shaday dir in deiner Not zur Seite stehen! Möge el Sh ’Yacov dich beschützen! Möge Er dir Hilfe von den Außenposten senden und dir Unterstützung aus Qiryat Yerim gewähren! Möge Er das Blut nicht vergessen, das du ihm geopfert hast, und auch deine Brandopfer nicht!«
El war »Gott«; das wusste ich, einerseits von meiner Mutter, der Archäologin, und andererseits, weil ich ihre Sprache verstand. Yacov war Jakob ... wie in Jakob und Esau. Ich konnte mich an keine Einzelheiten erinnern, doch ich entsann mich, dass Jakob eine ausgesprochen wichtige Figur war. Das »sh« vor seinem Namen war das Schrecklichste. Es bedeutete, dass Shaday der Gott Jakobs war. Und dieser Gott Jakobs liebte Blut- und Brandopfer.
Es war der Gott, der Hal von Herim verlangte.
»Ist das Dadua?«, fragte ich Takala.
»Ken. Der Andere ist Dadua. Ach, und dabei war Der Andere einst einer von uns. Wie viele Jahreszeiten hindurch hat er uns beschützt und ernährt? Wie viele Jahreszeiten hindurch haben wir ihn wie einen Sohn behandelt, nur damit er nun über uns herfällt wie ein hungriger Wolf?«
Die Hochländer fuhren mit ihren einstudierten Wechselreden fort und schienen dem mittlerweile vom Feuer umrahmten Mann Mut zu machen. »Möge Er all deine Herzenswünsche erfüllen und deine Schlachtpläne mit Erfolg segnen. Wir rufen unsere Freude über den Sieg hinaus und erheben unsere Standarten zu Ehren Shadays. Möge El deine Bitten erhören!«
Dann rief eine einsame Stimme, eine andere Stimme, über das ganze Tal hinweg: »Der Unveränderliche errettet Seine Gesalbten; Er antwortet jenen, die auserwählt sind, von der Höhe des Himmels aus, mit der Kraft Seiner rechten Hand.«
Der Mann vor dem Feuer sprach wieder. »Manche verlassen sich wie Toren auf Streitwagen und Pferde. Sie glauben, ihre Schnelligkeit und ihre Brustpanzer könnten ihnen den Sieg eintragen. Doch wir ...« Er hielt inne. »Doch wir, woran glauben wir?«
»Wir glauben an den Namen Gottes!«
»Die anderen werden in den Staub geworfen!«, schrie er.
Die Menge stöhnte auf. »Sie sinken auf die Knie -« Der Mann spielte das nach und sank auf die Knie, als könnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Die Hochländer lachten.
»Sie vergehen, sie fallen.« Seine Worte tropften in eine erwartungsvolle Stille. »Wir aber, die wir erwählt sind von el haShaday, die wir durch ganz Kanaan wandern, wir erheben uns und stehen fest!«
Chaos! Die Männer sprangen auf und tanzten, sangen, weinten wie besessen. Ein Wechselgesang unterstrich das Treiben. »Shaday, errette Dadua. Erhöre sein Flehen! Shaday, errette Dadua! Erhöre sein Flehen! Shaday, errette Dadua! Erhöre sein Flehen!« Ich sah den Mann im Feuerschein erglühen. Er hatte die Augen geschlossen und tanzte ebenfalls. Jeder Derwisch hätte ihn um seine Bewegungen beneidet. Als ich den Kopf wandte, sah ich die Soldaten der Pelesti in ihren Schurzen, aber unbehelmt, zum Plateau aufstarren.
Schon jetzt zeichnete sich in ihren Gesichtern die Niederlage ab. Offenbar hatte man schon viel früher psychologische Kriegsführung betrieben, als ich geglaubt hatte.
»Sein Gott gewährt ihm alles, worum er bittet«, kommentierte einer von ihnen. »Selbst falls wir morgen siegen, können wir die Jebusi nicht ewig verteidigen. Er wird sich das Tal nehmen.«
»Jebus kann er auf keinen Fall einnehmen«, meinte ein anderer. »Wir haben das jahrzehntelang vergeblich versucht.«
»Ich wünschte, er würde tot umfallen«, spie Takala. »Dann würden die Mütter der Pelesti keine Söhne mehr verlieren. Yamir wird gegen Den Anderen kämpfen, bis unsere Hoffnungen auf Kinder im Blut der Väter ertrinken.«
Ich hörte ihnen zwar zu, doch ich beobachtete dabei die Männer auf dem Hügel. Ganz plötzlich eilten sie auf den Sprecher zu und hoben ihn auf ihre Schultern. Sie wirkten wie eine Fußballmannschaft nach einem gewonnenen Spiel, doch dann hörte ich ihre Worte, ihre Rufe durch das ganze Tal hallen, bis in die Herzen jener, die schon jetzt geschlagen, besiegt, halb tot waren. »Einen Segen hat Er gegeben! Den Segen des Landes und Chesed!«
Sobald Cheftu hier auftauchte, würden wir uns auf die Sok-ken machen! Ich hatte alles, weswegen ich gekommen war; jetzt war es höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Was oder wo auch immer das sein mochte - hier war es auf keinen Fall.
»So beenden sie wieder einen Tani'n«, erklärte der Soldat direkt neben mir. Er war älter und sein Haar schon ergraut, doch seine Brauen waren immer noch dunkel und buschig. »Vor jeder Schlacht tanzen sie sich in einen Blutrausch.«
Der Rest seiner Erklärung hing unausgesprochen in der nach Rauch schmeckenden Luft: Und dadurch machen sie sich unbesiegbar.
Schweigend kehrten wir in unsere Zelte zurück. Bevor ich die Augen schloss, begriff ich, dass die Hochländer in zweierlei Hinsicht erfolgreich gewesen waren. Einerseits hatten sie dem Gegner durch diese ausgetüftelte Vorführung den Schneid abgekauft; zweitens hatten sie dafür gesorgt, dass jeder im Lager mindestens drei Stunden Schlaf verlor, denn es stand außer Frage, dass die Männer die verbleibenden zwei Stunden bis zur Morgendämmerung voller Angst durchwachen würden.
Morgen früh würde ich mich verdrücken. Mein guter Wille, morgen auf dem Hügel zu stehen, war in Daduas Lagerfeuer dahingeschmolzen. Das würde nicht das Geringste bringen. Wir mussten von hier verschwinden.
Wo war Cheftu?
RaEm drehte sich zur Seite und zeigte sich dem Künstler im Profil, obwohl ihr klar war, dass er ihr Gesicht jenem Echna-tons angleichen würde.
In Wahrheit gab es keinen Semenchkare. Doch andererseits gab es auch keine Ma’at.
Beide wurden durch Echnatons Begierden neu interpretiert.
Der Begriff und die Göttin, die früher das universelle Gleichgewicht symbolisiert hatten, standen jetzt für »Offenheit« und »Individualismus«. Semenchkare, ein krummbeiniger Knabe mit erdfarbener Haut, war verscharrt worden, während sich der neue Semenchkare erhoben hatte: RaEm.
»Es reicht, mein, ähm, Semenchkare«, verkündete der Künstler und zog sich rückwärts zurück. RaEm entließ ihn mit einem
Winken.
»Pharaos Tochter Meritaton wünscht eine Audienz«, kündigte RaEms Zeremonienmeister an.
»Welche ist sie?«
»Anchenespa’atons Schwester. Die ebenselbe, die dich schon früher besucht hat, meine ... mein Semenchkare.«
RaEm wünschte, irgendjemand würde sich ein Herz fassen, ihr Geschlecht aufs Geratewohl zu bestimmen und dadurch dem Raten ein Ende zu machen. Manchmal war sie selbst nicht mehr sicher. War sie nun Frau oder Mann? Machte das einen Unterschied? So oder so gehörte ihr Pharaos Herz und Leib, wenigstens im Augenblick. »Sonst noch jemand? Ich habe nicht den Wunsch, Meritaton jetzt zu sehen.«
Der Zeremonienmeister, ein steifer alter Knacker, dem ständig die Perücke verrutschte, räusperte sich.
»Die Königinmutter, Tiye, deine Mutter, wünscht dich zu sehen.«
Einen Moment blieb es still.
»Ich werde Meritaton empfangen.«
Wenig später ließ man das Mädchen vor, ein zerbrechliches Geschöpf, das auf Grund seiner extrem schlechten Augen nicht einmal erkennen konnte, dass RaEm in Wahrheit eine Frau war. Doch andererseits war das an Echnatons Hof, wo selbst Pharao Brüste und einen Phallus besaß, bei vielen schwer festzustellen.
»Der Segen des großen Gottes Aton sei heute Morgen mit dir, Cousin Semenchkare.« Die melodiöse Stimme des schmächtigen Kindes war kaum mehr als ein Flüstern. Es war kaum zu glauben, dass ein so energischer Mann wie Echnaton als Töchter derart farblose Würmer gezeugt hatte.
»Mit dir desgleichen, Meritaton.« RaEm stand aus ihrem Stuhl auf. »Möchtest du deinen Mund parfümieren, Cousine?«
Meritaton blickte auf, mit ausdruckslosen, großen braunen Augen. »O ja. Das ist sehr fürsorglich von dir, Herr.«
RaEm erstickte ein Lächeln und warf dem Zeremonienmeister einen Blick zu. »Du bist ein zu empfindsamer Lotus, um dir weniger angedeihen zu lassen«, wiegelte sie ab. Nach einem weiteren Blick wurde ihnen etwas zu essen gebracht.
Gewässerter Wein, krümeliges Gebäck und angematschtes Obst. RaEm hätte das Zeug zum Fenster hinausgeworfen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass dies das Beste war, was die Küche zu bieten hatte. Nur dieser Gedanke hielt sie davon ab.
Sie ließ sich neben einem leopardenköpfigen Tisch nieder und befahl mit einem Winken, einen Hocker für Meritaton zu bringen. Das Mädchen setzte sich und strich dabei an RaEm vorbei. Aus der Nähe betrachtet, war sie auf puppenhafte Weise hübsch. Sie hatte runde Augen, und ihr Kinn war spitz wie das ihres Vaters. Die kurze Perücke auf ihrem Kopf brachte ihren dünnen Hals zur Geltung.
So leicht abzuknicken, dachte RaEm. Sie schenkte dem Mädchen Wein ein.
»Hast du deine Mutter schon besucht?«, fragte Meritaton leise.
»Noch nicht.« RaEm hatte geflissentlich vermieden, Tiyes Weg zu kreuzen, während sie daran gearbeitet hatte, Echnaton mit Leib und Seele an sich zu fesseln. Es war ein Wunder, dass sie nach den Nächten mit ihm überhaupt noch laufen konnte. Bald jedoch würde sie der Frau gegenübertreten müssen.
Würde sie alles durchschauen?
Der gegenwärtigen Mode folgend trug RaEm alias Semench-kare ein Hemd und einen Schurz, eine androgyne Perücke sowie Goldgeschmeide. Während der drei Wochen, die sie in der Wüste verbracht hatte und während derer sie beinahe an der Umsetzung ihres Planes zu Grunde gegangen wäre, war sie noch dünner und damit knabenhafter geworden.
Ihre Brüste waren seither kleiner, und ihre Hüften wirkten weniger fraulich.
Sie sah fast aus wie Echnaton.
Und genau darum konnte er ihr nicht widerstehen. Er glaubte, sie sei sein Spiegelbild, sie beide seien die männliche und weibliche Seite derselben Seele und dazu geschaffen, in Harmonie mit dem Aton zu sein. Außer ihm wusste kein Mensch, was er von ihr halten oder wie er sie auch nur ansprechen sollte. Und dieses arme Mädchen an RaEms Seite wünschte, ihre Braut zu werden.
Das Interessante dabei war, dass RaEm sich den Kopf darüber zermarterte, wie sie mit einem solchen Schauspiel durchkommen konnte. Sie wollte über Ägypten herrschen; doch einer Frau würde man das nicht gestatten, nicht noch einmal. Wie konnte sie Echnaton dazu überreden, sie zum Mitregenten zu machen?
»Ich . ich nähere mich dem zweiten Jahr meines Frauseins«, sagte Meritaton schüchtern. »Vater hat davon gesprochen, mich zu heiraten. Ich .«
Wenn sie nicht schneller sprach, würde RaEm ihr noch den Kragen umdrehen. »Alle deine Schwestern haben deinen Vater geheiratet«, meinte sie.
»Und alle sind gestorben.«
»Was ist mit Anchenespa’aton?«
»Sie ist noch klein und Tuti zugedacht.« Meritaton sah mit Leidensmiene zu ihr auf. »Gefällt sie dir besser?«
RaEm streichelte dem jungen Mädchen das Gesicht.
»Natürlich nicht, sie ist noch ein Kind. Du bist eine bezaubernde junge Frau.«
Meritaton errötete, und ihre braunen Augen huschten verlegen herum. Ich war nie so dumm, dachte RaEm. »Ich ... ich hätte so gerne Kinder«, verriet Meritaton.
Das, meine dumme Lotosblüte, ist genau das Problem.
»Söhne für den Aton?« Jetzt streichelte RaEm Meritatons Haar.
»Ja.« Das Mädchen stand auf und sah RaEm in die Augen. »Du bist so hübsch, fast hübscher als ich.« Sie lächelte. »Ich, ich will auch Söhne für mich selbst. Die ich im Arm halten kann. Ich hoffe, sie werden hübsch.«
RaEm zog ihre Hand zurück. »Alle Kinder, die du bekommen wirst, werden hübsch sein, Meritaton.«
»Ich will sie von dir.«
RaEm starrte sie an, ebenso beeindruckt wie angewidert von der Courage dieses Mädchens. Und in diesem wortlosen Augenblick beugte sich Meritaton vor und küsste sie auf die Lippen. Ihr Mund war weich, nachgiebig, und RaEm reagierte unwillkürlich darauf.
Als sie sich voneinander lösten, waren beide überrascht über das Feuer, das sie entzündet hatten.
»Wirst du mit meinem Vater sprechen?«, fragte Meritaton und legte dabei eine kleine Hand auf RaEms Schenkel.
RaEms Augen wurden schmal. Sie hatte dieses Mädchen unterschätzt. Diese kleinen morgendlichen Besuche waren durchgeplant, als wären sie auf Papyrus niedergeschrieben, und RaEm hatte sich wie ein Esel hinters Licht führen lassen. Die Hand wanderte höher. RaEm erhob sich abrupt.
»Das werde ich.«
Meritaton sprang auf und starrte wieder zu Boden. »Möge dein Tag mit dem Aton gesegnet sein.« Ihre Wangen waren hochrot, und ihre Hände zitterten. Sie reichte RaEm bis zur Brust, ein Mädchen von kaum dreizehn Überschwemmungen.
Das ihren Cousin Semenchkare für einen Knaben von siebzehn Überschwemmungen hielt.
Erst als RaEm schwer seufzte, sah Meritaton wieder auf. Wie man in Chloes Zeit sagen würde: »Scheiß drauf.« Sie gab dem Mädchen noch einen Kuss und genoss dabei die absolute Kontrolle, die sie über dieses Kind ausübte. »Geh in deinen Garten«, befahl sie. »Ich werde heute Nacht mit deinem Vater sprechen.«
Die Tür ging hinter Meritaton zu, und RaEm warf sich auf die Liege. Mit einem Klatschen rief sie den Zeremonienmeister herbei. »Richte der Königinmutter Tiye aus, dass ich heute Abend mit ihr speisen werde. Und dann erkundige dich, ob Meine Majestät Echnaton nach Sonnenuntergang alleine ist.«
Jawohl. Sie würde über Ägypten herrschen.
Der Wind peitschte uns entgegen, die wir am Rande der Anhöhe standen und auf das Schlachtfeld blickten. Mein Gott, ich war auf einem Schlachtfeld. Ich hatte in der Normandie den Omaha Beach und den Utah Beach besichtigt; ich war durch das Shenandoah Valley in Virginia gewandert; Herrgott, ich war sogar auf der Ebene von Troja gewesen - doch nie mit so vielen Menschen zusammen.
In Rüstung.
Und Waffen.
Ich zupfte an meinem paspelierten und spitz zulaufenden Kampfkleid und rückte dann den gefiederten Helm gerade, den man mir aufgesetzt hatte. Ich sah aus wie eine riesige Statue, genau wie beabsichtigt, da ich das Totem darstellte.
Ich schmeckte Magensäure. Cheftu war immer noch nicht aufgetaucht, sonst wäre ich schon längst abgehauen. Zieh das hier durch, heute Nachmittag ist er bestimmt da, dachte ich. Dann konnten wir beide verschwinden.
Takala saß wie das Sinnbild innerer Ruhe auf einem Stuhl und trank Wein. Wania stand mit ernster Miene neben ihr. »Sie lässt mich nicht mit, Meeresherrscherin«, wandte er sich mit leicht weinerlicher Stimme an mich. »Sag ihr, dass ich ein Mann bin und dass ich Dagon auf diese Weise dienen kann.«
Wie alt er wohl war? Fünfzehn? Vierzehn? Nicht einmal im amerikanischen Bürgerkrieg waren die Soldaten so jung gewesen, wenigstens nicht zu Kriegsbeginn. »Sie braucht deine Kraft an ihrer Seite«, antwortete ich. Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er sich von mir betrogen fühlte, darum winkte ich ihn heran und flüsterte ihm zu: »Ich weiß, dass das schwer für dich ist, doch falls, was Dagon verhindern möge,
Yamir etwas zustößt, dann bist du der Kronprinz von Ashqe-lon. Dein Leben ist zu wertvoll, um es aufs Spiel zu setzen.«
Er sah mich missbilligend an, doch er hatte offenbar begriffen, dass ich die Wahrheit sagte. »Ich werde beten, dass Dagon über meinen Bruder wacht«, sagte er. »Dann kann er in der nächsten Schlacht hier oben sitzen, und ich kann unten im Tal kämpfen.«
Würde es überhaupt ein Morgen geben?, fragte ich mich. Brauchten die Juden nicht ausgesprochen lange, sogar mehrere Jahrhunderte, um die Philister zu unterwerfen? Andererseits hatte ich keine Ahnung, wo auf dieser langen Strecke wir uns befanden. David. König David. Ach du liebe Scheiße.
Takala blickte weiter angestrengt ins Tal, doch ich war sicher, dass sie jedes einzelne Wort mitbekommen hatte. Zögernd trat ich an den Rand des Abhanges. Etwa dreißig Meter unter uns marschierten die Pelesti in Schlachtordnung vorbei, wobei jeder Zug einen von zwei Pferden gezogenen Streitwagen umschloss. Die Sonne brach sich in ihren Speergriffen und Schilden. Sie sahen unbesiegbar aus. Es war schwer, diese Philister mit jenem Begriff in Übereinstimmung zu bringen, der später gleichbedeutend mit »barbarisch« geworden war. Sie hatten Mosaikböden, verflixt noch mal!
Die Sonne prügelte auf uns herab, allerdings linderte eine leichte Brise die Hitze. Im Tal war es bestimmt wesentlich wärmer.
»Zum Zenit weht eine Brise von haYam durch das Refa’im«, sagte Takala. »Ein guter Zeitpunkt für einen Angriff.«
Ich sah die Hochländer von Norden her vorrücken. Sie trugen Rundhelme und hatten Metallpanzer. »Sie haben keine starken Waffen«, sagte Takala. »Wir allein kennen das Geheimnis der Erzschmelze. Ihre Waffen verbiegen und brechen leicht.« Im Unterschied zu den Pelesti, die nur einen Brustpanzer angelegt hatten, steckten die Hochländer fast in einer Rüstung.
Doch wenn die Pelesti nur gegen Bronzewaffen antraten -die Bronzezeit kam vor der Eisenzeit, wieder ein wertvolles Informationshäppchen, das ich meiner archäologisch bewanderten Mutter verdankte -, brauchten sie keine schweren Panzer. Die Hochländer hingegen bekamen es mit Eisenwaffen zu tun.
Andererseits waren die Hochländer Juden. Das Endergebnis wollte mir nicht aus dem Kopf. Es würden keine Philister übrig bleiben. Ich hätte zu gern ein paar Valium gehabt.
Die Kampftracht der Hochländer machte einen zusammengestöpselten Eindruck. Nichts passte zueinander, die Waffen blinkten nicht, und die Männer schlurften kraftlos daher. War dies dieselbe Gruppe wie in der vergangenen Nacht?
»Vielleicht haben sie sich bei dem Tani’n gestern Nacht verausgabt«, meinte Takala fröhlich. »Wir werden sie zerschmettern und noch in der Abenddämmerung in Lakshish sein.«