POSIE GRAEME-EVANS Der Triumph der Heilerin

Buch

Der Rosenkrieg um die englische Thronfolge entzweit das ganze Land. Überall herrschen Not, Hunger und Elend, und obwohl Anne de Bohun, einstige Geliebte von König Edward IV., ihre Heimat vermisst, ist sie erleichtert und dankbar, in Brügge fernab der Intrigen und Kämpfe des königlichen Hofes zu sein. Auf ihrem ländlichen Gut vor den Toren der geschäftigen Handelsstadt glaubt sie sich und ihren Sohn, die Frucht ihrer Liebe zu Edward, in Sicherheit. Dort widmet sie sich ganz den Kräutern und ihren Heilkräften. Sie wird umsorgt von ihrer Ziehmutter und alten Amme Deborah, und zu ihrem Schutz geleitet sie der königstreue Adjutant Leif Molnar überall hin. Doch dann überstürzen sich auf der Insel die Ereignisse: König Edward IV. muss fliehen und Henry VI., Annes leiblicher Vater, hat in Westminster erneut das königliche Zepter übernommen. Anne ist hin- und hergerissen zwischen ihrer immer noch bestehenden Liebe zu Edward und ihrer Loyalität zu ihren Vorfahren. Und ihre Angst um ihren Sohn ist groß, denn als Nachkomme beider sich bekriegender Familien ist sein Leben in anhaltender Gefahr. Umso größer ist der Schrecken, als sie plötzlich eine mysteriöse Nachricht von Edward zugestellt bekommt, deren Sinn sie vorerst nicht entschlüsseln kann. Aber Anne zögert nicht lange, nimmt stattdessen all ihren Mut zusammen und begibt sich auf die Suche nach Edward und seinen Verbündeten. Leif Molnar soll ihr auf der Reise beistehen, obwohl Anne nicht weiß, ob sie in den gefährlichen Zeiten diesem Mann mit den kräftigen Armen und unergründlichen Augen ihr Vertrauen schenken kann . „

Autorin

Posie Graeme-Evans hat 25 Jahre lang als Redakteurin, Direktorin und Produzentin in der australischen Film- und Fernsehindustrie gearbeitet. Eine ihrer erfolgreichsten Fernsehproduktionen ist »McLeods Töchter«, die inzwischen mit über 140 Folgen auch in Deutschland bei VOX zu einer der beliebtesten Serien gehört. Sie lebt mit ihrer Familie in Sydney; der Name ihrer Website lautet: www.posiegraemeevans.com.

Von Posie Graeme-Evans außerdem als Goldmann Taschenbuch lieferbar:

Der Eid der Heilerin. Roman (46316)

Die Heilerin von Brügge. Roman (45911)

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »The Uncrowned Queen« bei Atria Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York

FSC

Mix

Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wildem md anderen kontrollierter HerfcOnftan

Zert.-Nr.SGS-COC-194l)

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Verlagsgruppe Random House fsc-deu-oioo Das Fsc-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung August 2007 Copyright © 2005 by Millennium Picture Pty Limited and Posie Graeme-Evans Copyright © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagcollage: Getty Images/Christus Redaktion: Ilse Wagner KvD · Herstellung: Str.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany

ISBN: 978-3-641-01632-6

www.goldmann-verlag.de

Für meine Tochter Emma MacKellar mit all meiner Liebe.

Als du geboren wurdest, bekam ich eine Ahnung von der Bedeutung des Lebens. Ich bin sehr glücklich,

Teil dieser Welt zu sein.

Prolog

Adler flogen am Himmel über London. Zwei Seeadler. Gemächlich zogen sie in der rauchgeschwängerten Luft ihre Kreise, ließen sich von der Hitze morgendlicher Herdfeuer in die Höhe tragen - er neben ihr, sie über ihm. König und Königin der Lüfte.

Unter ihren Schwingen duckte sich die Stadt hinter Mauern. In den Häusern erwachte nach und nach der neue Tag. Die Adler sahen weit unter sich die Menschen, winzige Gestalten, die vor die Türen traten - unruhige Farbflecken aufgereiht in einem Gewirr dunkler Gassen.

Die Adler stießen Schreie aus. Genug, hießen diese Schreie. Hier gibt es nichts für uns. Und sie flogen zur Küste hin, zum blanken, sauberen Meer, ohne noch einmal nach unten zu blicken.

Die Menschen in London hatten keine Schwingen. Sie blieben zurück in den schmutzigen Straßen, in denen es vor Gerüchten zischte und brodelte. Zuerst war es nur ein ängstliches Flüstern zwischen Nachbarn, aber schließlich fand das Entsetzen Worte und wurde laut ausgesprochen. Krieg. Es gibt Krieg.

Doch keiner sprach ihren Namen aus, denn allein das hätte einen Fluch bedeutet, hätte das Verderben über die Türschwellen getragen.

Das schreckliche Wissen belastete den Tag. Die alte Königin, Margaret von Anjou, und der Earl von Warwick hatten ein Bündnis geschlossen, obgleich zuvor ihre Feindschaft mit dem Tod unzähliger Männer besiegelt worden war.

Die Furcht vor diesem seltsamen Bündnis schwappte über die Mauern der Stadt, zog durch ihre Tore wie graue Nebelschwaden und ließ die Unwissenden frösteln.

Die Gerüchte verbreiteten sich wie eine ansteckende Krankheit von Mund zu Mund. Auf der anderen Seite des Meeres waren Truppen zusammengezogen worden. Ihre Ritter hatten sämtliche Rösser der Normandie beschlagnahmt, und die Masten ihrer Schiffe waren stark wie Baumstämme. Dies und anderes bewies, dass sie die Unterstützung des wahnsinnigen und schrecklichen, französischen Königs Louis genoss.

Es sei eine abgemachte Sache, flüsterten die Leute. Margaret habe geschworen, das Königreich für sich, ihren schwachsinnigen Ehemann und ihren unbefleckt empfangenen Sohn zurückzuerobern. Gott stehe uns bei, wenn das geschähe. Sie würde keine Gnade kennen, wenn ihre Soldaten in die Stadt zögen. London und die Londoner hatten sie schon einmal verraten, kein Gebet der Welt, kein Flehen um Gnade würde ihnen helfen, denn das Gedächtnis der alten Königin war gut. Viele Jahre zuvor war sie selbst aus dieser Stadt, aus ihrem Königreich vertrieben worden. Im Exil sann sie auf Rache. Sie war die Nemesis für Edward Plantagenet, und nun war endlich, endlich ihre Stunde gekommen.

Dies flüsterten die Bürger von London mit bebenden Lippen, und die Kinder, die sie so reden hörten, zitterten vor Entsetzen. Die Leute beteten verzweifelt, und sie trauerten.

Sie trauerten um ihren König, ihren Sommerkönig, und um Elizabeth, seine Königin, die schön war wie eine Himmelskönigin. Den Yorks war nur ein kurzer Sommer vergönnt gewesen, ein Sommer der Hoffnung und der Zuversicht, doch bald würden der junge König und seine silberschöne Königin fort sein, mitsamt ihren kleinen Prinzessinnen hinweggetragen von der Woge der Geschichte, und nie mehr zurückkehren. Daran zweifelte niemand.

Am wenigsten Sir Mathew Cuttifer, Tuchhändler in der City of London. Unerschütterlich kniete er Stunde um Stunde wie auf glühenden Nägeln, während die Stille in seinem Arbeitszimmer in Blessing House, seinem Londoner Geschäftssitz, zum Schneiden dick wurde. Mathew betete um Erlösung.

Zuerst galten seine Gebete dem englischen Königreich, dann seinem König, Edward Plantagenet, und dessen Familie. Dann betete er für seine Stadt und ihre verängstigten Bürger. Er bat für seine Frau und seinen Enkel, für seinen Hausstand, sein Handelsgeschäft und für sein eigenes Überleben, wenn es denn Gottes Wille sei.

Und schließlich betete er für die Sicherheit und das Wohlergehen von Anne de Bohun,jenem Mädchen, das er sein Mündel nannte und das jenseits des Meers in der Stadt Brügge lebte. Jene junge Frau, deren Schicksal so eng mit dem Schicksal seiner Familie, seines Hauses und wahrlich auch dem des Königreichs von England verknüpft war, dass schon allein ihre Existenz ein Omen war. Ob ein gutes oder ein schlechtes Omen war unmöglich zu ermessen. Das war schon immer so gewesen.

Und auch wenn Anne in Sicherheit war, so würde der Aufruhr in England schon bald, sehr bald über das Meer schwappen und seine bedrohlichen Finger nach ihr ausstrecken. Daran hatte Mathew Cuttifer keinen Zweifel.

»Master?«

Hinter der vier Zoll starken, eisenbeschlagenen Tür aus alter Eiche klang gedämpft eine Stimme.

Mathew runzelte verärgert die Stirn. Er betete, das ganze Haus wusste das. Er hatte klare Anweisung gegeben, in seiner Andacht niemals wegen profanen Dingen des Alltags gestört zu werden. Er murmelte ein Ave und achtete nicht auf seine Knie. Er wollte den Schmerz nicht zulassen. Und er wollte dem Mann vor seiner Tür nicht antworten. Der Diener würde wieder fortgehen, wenn er einen Funken Vernunft in sich hatte.

Wieder Stille. Staubteilchen tanzten in dem kalten Lichtstrahl, der von dem einzigen, hohen Fenster herabfiel.

Doch da war es wieder, ein rasches Klopfen. »Master? Hört Ihr mich?« Mathew bekreuzigte sich und holte tief Luft.

»Nicht jetzt. Geh fort.«

»Schlechte Nachrichten, Master.«

Mathew war ein vernünftiger Mann, ein ruhiger Mann. Das konnten alle seine Freunde und Geschäftspartner bestätigen. Mathew Cuttifer behielt in Krisensituationen immer einen klaren Kopf, hieß es. Er wusste immer klugen Rat und ging Probleme ruhig und nüchtern an. Aber nicht an diesem Tag.

»Was für Nachrichten?«

Die Tür wurde so eilig aufgerissen, dass sie in ihren Angeln quietschte. Dort stand Leif Molnar, Kapitän der florierenden Cuttifer'schen Handelsflotte. Sorgenvoll hatten seine riesigen Hände seine Seemannskappe zu einer unförmigen Masse verwandelt.

»Warwick und Clarence sind im Westen gelandet, Master. Jasper Tudor ist in ihrer Begleitung. Das Volk unterstützt sie. Und auch einige Lords, eigentlich ziemlich viele.«

Mathew Cuttifers Gesicht war kreidebleich geworden. Er winkte den Mann herein und deutete auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne, der vor seinem Arbeitstisch stand.

»So ist es also geschehen. Weiß es der König?«

Leif zuckte mit seinen mächtigen Schultern. »Es heißt, er sei noch immer im Norden, vielleicht in York. In Kent haben sie sich schon erhoben. Die Nachrichten reisen schneller als die Menschen.«

Mathew bekreuzigte sich. »Gott möge uns beschützen.«

Kent war eine schwierige Region, egal, welcher König auf dem Thron saß. Die Leute dort drehten ihr Mäntelchen immer nach dem Wind. Nur aufgrund eines Gerüchts hatten sie schon einmal London geplündert.

»Wir müssen hier eine Verteidigung aufbauen. Diejenigen, die dem König nicht wohlgesinnt sind, werden glauben, sie hätten einen Freibrief, die Stadt zu plündern.« Mathew schlug seine altmodische Houpelande um seine Beine und humpelte eilig aus dem Zimmer. Der plötzliche Energieschub hatte seine Glieder vom Schmerz befreit - die Heilkraft der Angst. »Folgt mir, Leif. Es gibt viel zu tun.« Leif stand wie angewurzelt in dem niedrigen Raum. »Master?«

»Was noch?«, rief Mathew über seine Schulter.

»Die Lady de Bohun?«

Mathew verlangsamte seine Schritte und erlaubte, dass Leif ihn einholte. »Sie ist am sichersten, wenn sie nichts damit zu tun hat. Am besten bleibt sie, wo sie ist.«

»Aber ihre Verbindungen könnten von Nutzen sein - für den König und seine Sache.« Leif Molnar sagte nicht »und für Euch, Master«, aber das meinte er.

Mathew drehte sich so abrupt um, dass der Däne mit ihm zusammenprallte und ihm schwer auf die gichtigen Zehen trat. Ein heftiger Schmerz nahm dem Kaufmann den Atem, sein Gesicht verzerrte sich und gab den Blick auf den zahnlosen Kiefer frei.

»Verbindungen? Was meint Ihr?«, zischte Mathew. Seine Augen tränten, auch wenn er versuchte, den Schmerz zu ignorieren.

Leif wand sich verlegen. Nur auf Deck seines Schiffes bewegte er sich gewandt und würdevoll. Und im Kampf. »Die Schwester des Königs, die Gräfin von Burgund. Sie ist doch mit Lady Anne befreundet, weil die Frauen beide Zuneigung für den ...« Leif schluckte, als Mathew ihn böse anstarrte. »Es ist allgemein bekannt, Master, dass Lady Anne und der König eine ... Verbindung haben.«

Mathew schnaubte. »Allgemein bekannt! Klatsch und Tratsch meint Ihr. Ihr enttäuscht mich, Leif.«

Er eilte davon und ließ den Kapitän stehen, der beunruhigt seinem Herrn folgte.

Doch spät in der Nacht, nach einem längeren Gespräch mit seiner Frau, Lady Margaret, deren Meinung Mathew Cuttifer hoch achtete, sowie nach langen ratsuchenden Gebeten, fasste Mathew einen Entschluss, der alle gleichermaßen überraschte wie ängstigte. Er wollte Leif Molnar nach Brügge entsenden.

Der Däne sollte die Handelsgeschäfte des Hauses Cuttifer in Brügge überwachen und sichern und ihm Bericht erstatten. Mathew zweifelte weder an den Fähigkeiten seines dortigen Verwalters Maxim noch an denen von Mijnheer Boter, der das Kontor führte. Aber wenn Krieg drohte, würde über kurz oder lang das Chaos ausbrechen, und als umsichtiger Mann musste er schützen, was Gott ihm so gnädig geschenkt hatte.

Leif sollte auch Anne de Bohun aufsuchen. Mathews Mündel hatte tatsächlich beste Beziehungen zum burgundischen Hof. Er wollte sie bitten, herauszufinden, was Karl, der Herzog von Burgund, in dem kommenden Krieg zu tun beabsichtigte. Informationen dieser Art würden für die Zukunft Londons und Englands von größter Wichtigkeit sein. Und auch für die Sache des Hauses York.

Mathew Cuttifer setzte alles aufeine Karte. Die Heilige Jungfrau mochte ihnen beistehen. Eine Situation wie diese hatte er mit Anne de Bohun und ihren schrecklich guten »Verbindungen« früher schon erlebt. Einmal hätten ihre Beziehungen zum englischen Hof, ja, zum englischen König persönlich, Mathew beinahe um Familie, Geschäft und Leben gebracht.

Wenn er Leif Molnar in dieser Situation mit einem solchen Auftrag zu Anne schickte, brachte er sie wieder alle in Gefahr. Aber was blieb ihm anderes übrig?

Seine Gebete hatten ihm den richtigen Weg gewiesen.

Es war Gottes Wille.

Teil 1

DER

SCHATTEN

Kapitel 1

Wieder fiel Schnee. Weiche, träge Flocken. Sie schmeckte sie, sie streckte ihre Hände aus, sie zu fangen. Sie berührten sie sanft wie ein Kuss.

Am Boden bemerkte sie Spuren im Schnee. Große Fußabdrücke, die nicht von ihr stammten. Fußabdrücke von einem Mann. Aber die Abdrücke waren alt, die Ränder stumpf und verwischt. Der Mann war längst fort. Sie blickte zu ihren roten Schuhen hinab. Passten ihre Füße in die Abdrücke, die der Mann hinterlassen hatte? Sie führten über das weiße Feld zu den dicht stehenden Bäumen am Waldrand. Starke, schwarze Baumstämme, Äste, die unter der Schneelast ächzten. Ja.

Mit plötzlicher Zuversicht eilte sie los, der tiefe, pulvrige Schnee knirschte unter ihren spanischen Pantoffeln. Ihr wurde seltsam heiß, als sie den Vertiefungen im Schnee folgte. Sie musste weit ausholen, um sich seinem Schritt anzupassen - es war ein großer Mann gewesen -, sie spürte ein Ziehen in Schenkeln und Knien.

Und dann kam sie atemlos unter den Bäumen an und begann zu laufen. Sie versuchte, trotz ihrer feuchten, schweren Röcke nicht zu straucheln, und stolperte weiter. Ihr Mantel behinderte sie. Am besten, sie warf ihn fort, dann würde ihr nicht mehr so heiß sein. Ungeduldig riss sie an der Mantelnadel, ein goldener Drache mit milchigen Perlenaugen. Der schwere Samt riss ein, aber sie achtete nicht darauf. Sie warf das kostbare Kleidungsstück neben einen kahlen Weißdornbaum, an dessen Zweigen die letzten blutroten Beeren verkümmerten, manche waren in Eiszapfen, den Fingern des Winters, eingeschlossen. Sie konnte später wiederkommen und den blauen Mantel holen. Vielleicht.

Sie war stark, das wusste sie. Aber als sie nun den Spuren im Schnee zu folgen versuchte, tat ihr alles weh, und sie keuchte schwer von der Anstrengung, immer weiter durch den Schnee zu laufen. Die Fußspuren leiteten sie, und ein Funken Hoffnung wollte in ihr aufkeimen, wollte ihr glauben machen, dass sie bald da sei. Sie durfte nur nicht diesem unerträglichen Schmerz in ihren Knien, in ihren Lungen, in ihrem Hals nachgeben. Dann würde sie den Mann, der diese Abdrücke hinterlassen hatte, bald finden. Denn das wollte sie. Sie musste ihn finden, musste ihn fragen, warum er . was? Natürlich. Warum er diese beschwerliche Reise unternommen hatte, zu einer Zeit, in der alle Welt schlief und im tiefsten Winter versank.

Sie fühlte sich glücklich bei dem Gedanken, ihm bald zu begegnen, so glücklich, dass nichts anderes mehr zählte. Sie wollte diesen Mann sehen, ihn berühren, sein Gesicht mit ihren Händen umfassen. Sie würde die rauen Bartstoppeln auf seinem Kinn spüren, seine sanften Lippen schmecken. Und er würde sie festhalten. Aus Unaufmerksamkeit stolperte Anne und fiel in den kalten, weichen Schnee. Sie lachte. Sie liebte Schnee, liebte seine pulvrige Beschaffenheit, aber es war wichtig, ihn schnell wieder abzuklopfen, damit die Kälte nicht in die Haut eindrang. Zuerst musste sie sich hinsetzen, dann musste sie aufstehen und dann .

Dann sah sie die Wölfin. Roch sie. Die weiße Winterwelt hatte keinen Geruch, aber die Wölfin - sie verbreitete einen widerlichen Gestank nach Hundegeifer. Das Untier hatte gelbe Augen, der Körper war von Sehnen durchzogen, mitten im Winter hatte sie alles Fett aufgebraucht. Die Wölfin war ausgehungert und trächtig. Anne war Frischfleisch für sie - ein gefundenes Fressen in der eisigen Winterwelt.

Anne hörte sich schreien, der Schrei löste sich tief aus ihrer Brust. Die Wölfin sprang. Das Tier landete mit Wucht auf ihr, scharfe, gelbe Zähne schlugen in ihren Hals. Blut, überall Blut. Weißer Schmerz, weißer Schnee und Blut, ein Meer aus Blut, aus weichem, rotem Blut. Wie kam es, dass Blut sich so weich anfühlte?

Die Wölfin schüttelte sie, schüttelte Annes Schulter. Sprach sie an und verbiss sich gleichzeitig in ihrem zarten Fleisch.

»Anne? Anne, alles ist gut. Anne?«

Ja, vielleicht würde alles gut werden. Sterben war leicht, das hatte sie immer gewusst.

Anne seufzte. Dies sollte das Letzte sein, was sie je spüren würde. Sie ließ ihre Hände über den weichen, roten Schnee gleiten, während die Wölfin ihre Arbeit tat und ihren Körper hin und her schüttelte.

»Anne? Wach auf, mein Liebling. Wach auf!«

Es war nur die Überdecke - rote Seide und Gänsedaunen. Ihre Hand hob sich weiß davon ab. Nirgendwo war Blut.

»Kein Blut?«

Deborah, Annes Ziehmutter, schluckte ihre Angst hinunter und presste das Mädchen eng an sich. »Kein Blut. Es ist alles gut.«

Der Traum war vorbei, aber der Wald spukte Anne immer noch durch den Kopf. Sie sah die Fußspuren, denen sie gefolgt war. Alte Fußabdrücke, die sich in der Weite des Schnees verloren. Deborah küsste dem Mädchen die Tränen fort, die unter den geschlossenen Lidern hervorquollen, und strich ihr die schweißnassen, wirren Haare aus dem Gesicht.

Anne erkannte, wer der Mann war. Edward Plantagenet.

»Wollt Ihr vor dem Frühstück beten?«

Deborah schlug bewusst einen forschen, förmlichen Ton an und richtete das Bett neu.

Anne war plötzlich sehr froh, dass ihre Ziehmutter - in den Augen der anderen war sie ihre Haushälterin - so praktisch veranlagt war. Sie hatte recht. Es war Zeit, den Tag zu beginnen, Zeit, die Welt der Träume zu verlassen. Und es gab so viel zu tun, bevor der Winter hereinbrach. Sie mussten auch überlegen, wie sie in diesen unsicheren Zeiten den Hof vor Überfällen schützen konnten. Und woher sie das Geld dafür nehmen sollten.

Anne setzte sich auf und legte sich die Bettdecke über ihre bloßen Schultern. Es war noch dunkel, aber die Kerzen auf der Ablage neben der Feuerstelle erhellten die Dunkelheit ein wenig, und das Feuer in dem neu gebauten Kamin tat das seine.

»Ja, ich würde gerne mit den anderen die Morgenandacht halten. Aber ich habe so lange geschlafen. Womöglich bin ich die Letzte, und alle sind schon längst bei der Arbeit?«

Deborah goss heißes Wasser in die Waschschüssel neben dem Kamin und lächelte freundlich zu der jungen Frau in dem großen Bett.

»Mach dir keine Sorgen - wir haben in diesen Erntewochen alle viel zu tun gehabt. Du am meisten und ...« Sie wollte eigentlich sagen: »... und du musst einmal ordentlich ausschlafen«, aber sie unterbrach sich, denn in der letzten Zeit hatte es all zu viele Albträume gegeben, so wie in der vergangenen Nacht.

Anne wollte den Schatten der Wölfin nicht in ihre Wachwelt herübernehmen. Sie glitt von der hohen Bettstatt und angelte auf der Ablage unter dem Bett nach ihren Filzpantoffeln. »Und unser kleiner Edward?« Anne zitterte und ging nackt, wie sie war, zur Feuerstelle, wo der warme Morgenmantel auf sie wartete - ein Luxus, den sie aus ihrem früheren Leben übernommen hatte.

»In der Küche. Ich glaube, das frische Brot hat es ihm angetan. Er hat es beim Aufwachen gerochen.«

Die Frauen lachten, und die düstere Stimmung verflog. An-nes Sohn, der Knabe, den sie als ihren Neffen ausgab, war drei Jahre alt. Für sein Alter war er recht groß und geschickt und konnte schon gut sprechen. Sie war stolz darauf, dass viele, die ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, ihn auf mindestens fünf Jahre schätzten. Dann lachte sie und sagte: »Ja, das macht das gute Essen. Das Leben auf dem Land tut ihm gut. Knaben brauchen viel Auslauf und frische Luft.«

Das Ritual des Waschens und Anziehens hatte für Anne und Deborah immer etwas Beruhigendes an sich. Es war fast die einzige Zeit am Tag, in der sie ungestört waren, das heißt, wenn der lärmende Knabe, den sie beide über alles liebten, nicht in dem großen Bett herumtobte und sie zur Eile antrieb, damit sie endlich, endlich in die Küche hinunter zum Frühstücken gehen konnten.

»Das Hauskleid oder das gute Kleid?«

»Das Hauskleid, Deborah. Heute wartet wieder viel Arbeit auf uns.«

Anne mied den Blick ihrer Ziehmutter. Ihre gegenwärtige Situation war allein ihre Schuld, und das machte ihr schwer zu schaffen. In der Hoffnung, dem engen Leben in der Stadt entfliehen zu können, hatte sie ihre Lieben auf diesen kleinen Bauernhof außerhalb Brügges gebracht. Doch jetzt, wo ein Krieg drohte, wurde ihre Lage immer unsicherer. Sie musste eine Lösung finden, und das war nicht einfach.

In Gedanken versunken, wusch Anne sich rasch. Die Luft im Zimmer wurde langsam wärmer. Der Schein der Kerzen und des Feuers liebkosten ihren Körper. Sie war anmutig gebaut, ihre Hüften fein geschwungen, ihr muskulöser Rücken gerade, ihre hohen, zarten Brüste mit den braunrosa Brustwarzen waren seit ihrer Schwangerschaft üppiger geworden, und ihre Arme und Beine waren von der vielen Arbeit kräftig und dennoch schlank.

Deborah drehte sich seufzend um und holte ein Hauskleid.

Es gab so vieles, worüber sie nicht mehr miteinander sprachen. Eine Ehe, das war es, was Anne brauchte. Einen richtigen Ehemann aus Fleisch und Blut und nicht so eine unwirkliche Leidenschaft, die sich von Tag zu Tag immer mehr in einem verzauberten Nebel verflüchtigte. Die Ehe war ein Bündnis, ein Vertrag für die gegenseitige Hilfe und Unterstützung von Mann und Frau. Solch ein Vertrag würde Anne, den Knaben und die übrigen Hausbewohner schützen, wenn die ständigen Streitereien zwischen Burgund und Frankreich eskalierten. Es war eine Schande, eine Verschwendung, dass ihre Ziehtochter sich immer noch nach dem einzigen Mann sehnte, den sie nicht bekommen konnte, nach Edward, dem englischen König, Edward Plantagenet, dem Vater ihres Sohnes, obwohl sie ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Tausend Meilen weit fort über dem Meer und Anne doch so nah, immer so nah am Herzen.

Aber Dinge änderten sich, wenn es nötig war, und nun war unerwartet ein Funke Hoffnung in ihr Leben getreten. Am Abend zuvor war Leif Molnar aus Sluis eingetroffen - er war so spät gekommen, dass er nichts mehr erzählt hatte, außer dass er im Auftrag von Sir Mathew gekommen sei. Vielleicht brachte Leif eine Lösung für Anne? Vielleicht konnten sie alle wieder in das Haus der Cuttifers nach London gehen, bis die Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Burgund vorüber wären? Aber auch in England waren Unruhen ausgebrochen. Es hieß sogar, Edward Plantagenet könnte seinen Thron verlieren. Gab es überhaupt noch einen sicheren Ort für sie?

Deborah nahm ein Hauskleid vom Haken an der Wand und schüttelte es energisch aus. Konzentriere dich auf den Augenblick, harte Arbeit verscheucht die düsteren Gedanken.

»Das Kammgarnkleid? Es ist noch ganz manierlich. Welche Ärmel hättest du gerne?«

»Wähle du sie aus, Deborah. Mir ist es egal.«

Das Kleid war für die Arbeit gedacht, nicht zum Herzeigen, trotzdem sah es recht hübsch aus. Es war dunkelrot, und es gab mehrere Ärmelpaare, die man je nach Laune auswechseln konnte. Deborah dachte, der Tag würde eher trüb werden, deshalb wählte sie Ärmel in einem fröhlichen Krokusgelb mit blauen Paspeln, die gut zu den blauen Schnürbändern des Kleides passten. Sie wusste, dass Anne fröhliche Farben mochte, vor allem jetzt, wo die Tage kürzer wurden. Dann suchte Deborah noch ein Leinenhemd für ihre Tochter aus. Anne liebte ihre selbst gewebten, warmen und haltbaren Wollkleider, konnte aber Wolle direkt auf ihrer Haut nicht ertragen. Das war schon als Kind so gewesen.

In einer Obstholztruhe lagen lange Strümpfe, die unter den Knien mit Bändern befestigt wurden. Und zum Schluss die tannengrüne Sergeschürze und das warme Schultertuch mit Kettfäden aus hellblauer Wolle und den leuchtenden Schussfäden aus gelber Seide.

Beim Ankleiden arbeitete sich Deborah auf Umwegen an ihre Zukunftspläne heran. »Also, was werden unsere Nachbarn wohl für das Ackerland verlangen?«

Während Deborah das Kleid schnürte, starrte Anne in das fahle Morgenlicht.

»Ich weiß nicht. Ich könnte ihnen auch statt Geld eine jährliche Apanage bieten. Das wäre für beide Seiten von Vorteil.«

Deborah band die blauen Bänder am Übergang von Oberteil und Rock zu einer festen Doppelschleife.

»Meinst du denn, Mutter und Sohn sind damit einverstanden? Das Land ist doch ihre Mitgift, oder?«

»Ich weiß nicht, was Mijnheer Landers' Mutter wirklich will. Er ist natürlich mehr am Geld interessiert. Aber vielleicht kann ich sie davon überzeugen, dass sich regelmäßige Einkünfte lohnen würden, da sie jetzt bei ihm wohnt. Damit wäre beiden geholfen, und wir müssten bei Vertragsabschluss nicht so viel zahlen. Ich habe mit dem Land einiges vor - es wird uns den Wert der Jahresrente zehnfach zurückgeben, wenn wir es sinnvoll nutzen. In der Flussmarsch ist der Boden sehr fruchtbar.«

Deborah war mit dem Ankleiden ihrer Tochter fertig und machte sich daran, das Gänsedaunenkissen energisch aufzuschütteln. Sie war entschlossen, die Dinge von der positiven Seite zu sehen. Wenn sie über die Zukunft des Bauernhofs sprachen, konnten sich auch andere Themen ergeben. »Was willst du dort anpflanzen?«

Anne sah von ihren Strumpfbändern auf. »Krokus. Safrankrokus. Ich glaube, dafür ist der Boden gut geeignet, und Wasser ist gleich in der Nähe. Für Safran gibt es immer einen Markt, und die Blumen sehen so hübsch aus. Wir könnten auch deinen Kräutergarten erweitern. Beinwell und andere Pflanzen, die in dieser guten Erde gedeihen. Angelika, zum Beispiel. In Honig kandierte Angelikawurzel verkauft sich immer gut. Wir könnten das Wissen nutzen, das du mir beigebracht hast.«

In Deborahs Augen blitzte Angst auf.

Anne lachte. »Ich meine das Kräuterwissen. Ich habe bereits mit dem Töpfer im Dorf gesprochen. Er soll mir Fläschchen mit Stöpseln machen. Und kleine Tiegel. Wir könnten Reinigungscremes und Pflegecremes für die Hofdamen herstellen, so wie damals für die Königin, und sie dann verkaufen.« Anne hielt kurz inne und dachte an Elizabeth Wydeville, die Königin von England. Ihre Feindin. Ein Hauch von Mitleid streifte sie. Zur Zeit war es bestimmt nicht leicht, Königin von England zu sein. Sie zuckte die Achseln, richtete sich mühsam auf und lächelte. »Schönheit ist immer ein gutes Geschäft, du wirst sehen.«

Deborah nickte und strich die Überdecke glatt. Anne war eine sehr ungewöhnliche Bäuerin. Sie hatte das Anwesen, das auf der einen Seite vom Zwin begrenzt wurde, nach mehrmonatigem Feilschen im vergangenen Frühjahr erworben, aber das Gehöft und der Obstgarten waren sträflich vernachlässigt gewesen. Trotzdem erkannte Anne den Wert der nahen Wasserstraße nach Brügge. Sie war jeden Meter Land abgelaufen, hatte den fruchtbaren Boden und das dichte Gehölz - im Herbst ein idealer Futterplatz für die Schweine - und die nach Süden liegenden Weiden genau untersucht.

Der vorige Besitzer, ein wohlhabender Bauer, hatte von seinem verarmten Lehnsherrn nach und nach einzelne Streifen des fruchtbaren Lands gekauft und sie zu großflächigen Feldern verbunden - eine zukunftweisende Veränderung der üblichen Vorgehensweise. Aber Alter und Krankheit hatten ihn das Interesse verlieren lassen, das Anwesen verfiel, und die Schulden häuften sich. In diesem Zustand erbte es der Sohn nach dem Tod des Vaters. Aber Anne hatte auch gesehen, dass die Kühe auf den Weiden gesund aussahen, und solche Kühe verhießen Wohlstand. Deborah wusste, dass dies alles ihrer Ziehtochter nicht genügt hätte, wäre der Ort nicht auch so schön gewesen.

»Ja, der Plan klingt gut, falls du Mijnheer Landers dazu bringen kannst, ihm im Namen seiner Mutter zuzustimmen. Aber jetzt möchte ich noch über etwas anderes mit dir sprechen ...«

Unten ertönte ein lautes Krachen, dann das Kreischen einer Frau und der entsetzte Aufschrei eines Kindes.

»Edward!«

Anne rannte aus dem Zimmer und die Holzstiege zur Küche hinab. Dort fand sie ihren Sohn unter den Röcken von Lisotte, ihrer Köchin, versteckt. Er schluchzte, schien aber unversehrt.

Im Gegensatz zu dem Fremdling, der mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Steinboden lag.

»Er kam so schnell zur Tür herein, mit einem Schwert, und da war der Junge ...« Die Köchin wankte vor Schrecken. »Und ich hatte den Schürhaken ...«

Lisotte sah alles noch einmal lebhaft vor Augen. Sie hatte gerade den langen Haken genommen, um das Feuer unter dem Dreibein zu schüren, als der Fremdling die Tür aufgerissen und mit gezücktem Schwert aus der Dunkelheit hereingekommen war. Ihr erster Gedanke war, das Kind zu beschützen. Das Ergebnis ihrer Bemühungen lag vor ihnen am Boden.

Edward rannte zu Anne. Sie hob ihn hoch, und er barg sein Gesicht an ihrem Hals. Sie spürte sein Herz in seiner zarten Brust hämmern. Aber er hatte aufgehört zu weinen. »Aber, aber, mein Schätzchen. Du bist doch bei mir.«

Sie küsste ihren Sohn, schlang ihre Arme um seinen kleinen Körper und presste ihn fest an sich, wobei sie ihm die Sicht auf den am Boden liegenden Mann versperrte.

»So, Edward, und jetzt musst du mit Deborah hinausgehen. Ich muss mit Lisotte reden. Komm, setz dich, Lisotte. Hier auf die Bank.«

Edward liebkoste bekümmert Annes Wangen. »Geht es dir gut? Hast du Angst?« Annes Herz wollte vor Liebe zerspringen. Er fürchtete sich vor dem Mann und vor dem, was geschehen war, aber seine Hauptsorge galt ihr. Bitte, lieber Gott, möge er sich diese liebevolle Art immer bewahren. Möge er zu einem liebevollen Mann heranreifen. Anne betete stumm und voller Inbrunst, als sie den Knaben zu ihrer Ziehmutter brachte.

»Nimm ihn. Und suche Leif Molnar. Schnell.«

»Hier bin ich, Lady.«

Mit drei Schritten war der Däne bei dem Eindringling und kniete neben ihm nieder. Das Schwert des Mannes lag noch am Boden. Leif Molnar hob es auf und warf einen Blick auf Deborah. »Bringt das Kind fort, Frau. Geht.« Deborah hatte nicht die Absicht, sich ihm zu widersetzen. Sie nahm den Knaben auf den Arm und eilte hinaus.

Leif sah Anne an. »Lady, wir müssen mit dem Mann sprechen. Er darf nicht sterben, bevor wir mehr wissen.«

Lisotte stieß einen entsetzten Schrei aus und glitt ohnmächtig von der Bank. Anne konnte sie gerade noch auffangen und verhindern, dass ihr Kopf auf dem Steinboden aufschlug.

Anne nickte. »Nur zu. Ich bin einverstanden.« In diesen kriegerischen Zeiten durften sie kein Mitleid zeigen.

Vor der Küchentür stand ein Fass, in dem das Regenwasser vom Dach aufgefangen wurde. Leif schob rasch die Abdeckung beiseite, zertrümmerte die erste dünne Eisschicht dieses Herbstes und füllte einen Ledereimer. Gleich darauf stand er wieder neben dem bewusstlosen Mann und goss ihm das eiskalte Wasser über das Gesicht und in den offenen Mund. Die Wirkung setzte schnell und heftig ein. Der Eindringling spuckte rotgefärbtes Wasser und zuckte auf dem Fußboden wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Anne drehte sich zur Seite, denn ihr war selbst zum Erbrechen übel geworden. Doch als sie wieder hinsah, hatte der Fremdling seine Augen geöffnet und stöhnte.

»Wer bist du? Was willst du hier?«, fragte Leif den Mann ruhig, hatte ihn aber in eine sitzende Position geschoben und ihm das Messer an den Adamsapfel gesetzt.

Der Mann schluckte und hustete und versuchte, beim Sprechen der Klinge auszuweichen.

»Ich komme vom König - für Lady Anne de Bohun. Dringend. Keine Zeit. Muss sie sprechen, muss ...« Seine Lider flatterten, und er verdrehte seine Augen. Anne sprang auf und zog Leifs Messer zurück. Es gab nur einen König in Annes Leben.

Edward Plantagenet.

»Gütiger Gott, er ist ein Bote! Er darf nicht sterben. Leif, mehr Wasser. Schnell!«

Der Däne rannte zur Tür, und Anne kniete sich neben den Mann. Er war ein Soldat. Sie sah den Kettenpanzer unter seinem Umhang. Lisotte hatte zufällig die einzige Stelle getroffen, wo er verletzbar war: sein ungeschütztes Gesicht und seinen Kopf. Im Schein des Feuers sah sie die klaffende, halbrunde Wunde über seiner rechten Schläfe. Unter dem Blut konnte man die zertrümmerten, weißen Schädelknochen erkennen.

Anne suchte die Kleider des Mannes nach einer Nachricht ab. Nichts. Die Erkenntnis war bitter: Dieser Mann hatte mit Sicherheit Informationen für sie, aber die befanden sich in seinem Kopf. In seinem Kopf, den Lisotte wie eine Nussschale zertrümmert hatte.

»Oh, bitte wach auf. Bitte nicht sterben. Sag, was er dir gesagt hat. Sag es mir, sag es mir ...«

Sie wiegte den großen Körper, als sei er ihr Kind. Sie presste ein Ende ihrer Schürze gegen seine Wunde, um das Blut zu stoppen. Im Schein des Feuers leuchtete ein Stück eines kleinen Medaillons auf, das um seinen Hals hing. Ein Kruzifix?

»Thors Hammer, Lady.«

Anne sah hoch. »Thors? Wer ist Thor?«

»Einer der alten Götter. Mein Volk betet ihn immer noch an, auch wenn das der Kirche überhaupt nicht gefällt.« Einen Moment lang grinste Leif, aber es war eher ein Zähneblecken als ein Lächeln. »Dieser Mann ist ein Diener Thors.«

Die Angst machte der Überraschung Platz. Andere Götter als den Gott der Christen anzubeten, also Heide zu sein, war in diesen Zeiten nicht nur ungewöhnlich, es war auch sehr gefährlich. Anne und Deborah lebten Tag für Tag in diesem Bewusstsein.

»Aber er ist Engländer. Er trägt die Farben von York.«

Der Seemann zuckte die Achseln und untersuchte die schmutzige Jacke, die aus einem braunrot und blau karierten Stoff war. »Lady, es ist die Wahrheit. Engländer oder nicht, dieser Mann gehört zu Thor. Sonst würde er nicht den Hammer tragen.«

Anne sah sich das Medaillon etwas genauer an. Es war grob gearbeitet, doch ja, es war ein Hammer, kein Kreuz, auch wenn die Umrisse bei flüchtigem Hinsehen ähnlich sein mochten. Das Feuer spie Funken und Rauch. Anne hustete und drehte ihren Kopf zur Seite. Und in diesem Augenblick sah sie unter Leifs halb offenem Hemd etwas glitzern.

»Ihr tragt ebenfalls dieses Zeichen?«, stellte Anne erstaunt fest.

Leif lächelte über ihre Verwunderung. »Damit bin ich aufgewachsen. Auch ich bin ein Diener Thors.«

Der Mann in den Armen der jungen Frau regte sich und sprach, doch seine Augen waren geschlossen. Es war, als ob ein Leichnam spräche. »Wir sind alle seine Diener, wenn der Krieg kommt. Doch Lady, Ihr müsst dem König helfen.«

»Aber wie? Wie kann ich dem König helfen?«, flehte Anne. »Was möchte er von mir?«

»Die Wahrheit von denen, die mit Lügen handeln.«

Noch ein Atemzug und der Mann verstummte.

»Nein! Nein, kommt zurück. Was meint Ihr? Kommt zurück!«

Leif beugte sich hinab und hob den Boten aus Annes Armen. Der Soldat sah trotz seiner stattlichen Größe in Leifs Armen aus wie ein Kind. »Es hat keinen Zweck, Lady. Er hat aus dem Reich der Toten gesprochen. Nun ist er weitergezogen, und wir können ihn nicht zurückholen.«

Anne faltete ihre Hände, damit sie nicht so zitterten. »Wie soll ich dieses Rätsel nur lösen?«

Leif drehte sich zu ihr um, den Soldaten immer noch in seinen Armen. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er in der offenen Tür im Gegenlicht stand.

»Wir alle suchen die Wahrheit, Lady. Ich werde Euch helfen, sie zu finden.« Mir diesen Worten verschwand er.

Annes Knie zitterten, als sie versuchte aufzustehen. Was nun? Was sollte sie tun?

Und wie konnte sie dem englischen König helfen?

Kapitel 2

Es war riskant, sehr riskant, und es geschah in Sichtweite der Küste.

Im eiskalten Wind verkrampften sich die Kiefermuskeln von Edward Plantagenet, und er brachte kaum ein Wort zustande. Trotzdem, vor seinen Männern wollte er kämpferisch aussehen - so wie es von einem König in der Schlacht erwartet wurde. Allerdings wusste er nicht einmal, ob er, technisch gesehen, im Moment überhaupt noch König war. War man immer noch König, wenn man aus dem eigenen Land flüchtete?

In den vergangenen Tagen war ihm seine Entscheidung richtig vorgekommen. Nach einem einwöchigem Wahnsinnsritt mit wenig Essen und noch weniger Schlaf hatten er und sein jüngster Bruder Richard of Gloucester in Kings Lynn eine Kogge beschlagnahmt, die Norwich Lass. Nachdem sie es bis zur Küste geschafft hatten, war die See ein verlockender Fluchtweg. Was blieb ihnen auch anderes übrig mit Warwick auf den Fersen.

Und nun, mochte es richtig sein oder falsch, nahm der Kampf seine Fortsetzung, diesmal allerdings nicht an Land, sondern auf See. Und keiner von ihnen konnte schwimmen. War dies nach einem Feldzug voller Fehler der letzte, endgültige Fehler? Der Fehler, der ihnen allen den Tod bringen würde?

Die Norwich Lass war ein robustes Schiff, aber eine Seeschwalbe war sie dennoch nicht. Jetzt versuchte sie schlingernd, ihren Kurs zu ändern. Eine hanseatische Karacke, die sich beim Kreuzen vor der holländischen Küste als die Überlegene gezeigt hatte, hielt direkt auf sie zu. Wie hatte er nur vergessen können, dass die Schiffe der Hanseatischen Liga diesen Teil des Nordmeers auf das Genaueste kontrollierten und englische wie französische Schiffe gleichermaßen auf Distanz hielten - beziehungsweise sich als Beutestücke einverleibten. Aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Ausgelaugt von der tagelangen Flucht vor Warwick und seinem anderen Bruder, dem abtrünnigen George of Clarence, sammelte Edward Plantagenet seine letzten Kräfte zusammen. Er bewegte die steifen Schultern und straffte Rücken und Beine, um sich zu wappnen. Dann fand er die rechten Gesten und Worte für seine Kameraden. »Richard, die Männer sollen Aufstellung nehmen, Bogenschützen hier vor mich - geschossen wird nur auf meinen Befehl. Hastings und Rivers bilden die Nachhut, wenn ich bitten darf. Meine Herren, an die Waffen. Und nun, Kapitän, fertig zum Angriff.«

Seine Stimme klang laut und klar, und die erhobene Hand mit des Vaters Schwert zitterte nicht. Ein Wunder.

Will Conyers, der Kapitän der Norwich Lass, war wütend. Der König hatte gut reden, wenn er sagte, er und seine kleine Anhängerschar seien bereit, gegen die offensichtliche Übermacht der Hanseatischen Liga zu kämpfen. Aber das würde ihnen kaum helfen, wenn die beiden Schiffe aufeinanderstießen. Ein lächerlich ungleicher Kampf war das. Sie waren dem Untergang geweiht.

Doch der König war dem drohenden Schicksal gegenüber anscheinend gleichgültig, ebenso seine Männer. Gehorsam stellten diese sich auf dem glitschigen Deck nah zusammen - es waren ihrer nicht mehr als zwanzig, die etwa zehn Bogenschützen eingeschlossen. Keinem von ihnen fiel es leicht, sich dem Rhythmus des schlingernden Schiffs anzupassen, trotzdem zogen sie ihre Schwerter und legten ihre Pfeile an. Die Bogenschützen schickten ein Stoßgebet zu Gott, dass die Sehnen von der Gischt nicht weich geworden waren.

Will wandte sich kopfschüttelnd ab von diesen Narren. Er rief ein hastiges »Danke schön, Majestät«, dann brüllte er seine Männer an, die Rahen noch härter herumzuziehen, und den Rudergänger beschimpfte er: »Wenden, wenden, du Hundesohn. Wenden, hab ich gesagt!« Vom gelähmten Entsetzen seines Rudergängers erzürnt, griff Will selbst in die Pinne und riss sie mit all seiner Kraft herum.

Langsam und schwerfällig reagierte die Norwich Lass und begann endlich, sich zu drehen. Die Segel blähten sich im Wind, waren mit einem Mal zum Zerreißen gespannt, das Schiff erwachte zum Leben und durchschnitt mit einer Behändigkeit die Wellen, die Will Conyers bei ihr noch nie erlebt hatte. Vielleicht wusste sie ja, was sie erwartete, und versuchte auf ihre Weise, dem Schicksal zu entkommen. Doch der Kapitän hatte keine Zeit für Gefühle der Dankbarkeit.

»Kanonen. Sie haben die Geschützpforten geöffnet!«, gellte der Ruf über Deck.

Und so war es. Die Danneborg, die direkt an Steuerbord lag und vier Mal so groß wie die Kogge war, zeigte ihnen ihre mächtige Flanke, die mit einer Reihe bronzener Bombarden gespickt war.

»Runter. Alle runter!«, brüllte Will.

Edward hörte nicht auf den Kapitän. »Bogenschützen?« Die Männer strafften sich und versuchten, auf dem schlingernden Deck das Gleichgewicht zu halten. »Auf mein Zeichen. Eins, zwei, drei ... Schuss!«

Ein guter Bogenschütze feuert ungefähr fünfzehn Pfeile pro Minute ab, und diese Bogenschützen waren gut. Sie waren die letzten, die von Edwards Welsh Guard übrig geblieben waren. Sie hatten ihren König auf der wahnsinnigen Jagd von Nottingham durch Lincolnshire begleitet, gemeinsam mit seinen treuesten Freunden und Verbündeten: seinem Bruder Richard von Gloucester, William Hastings, dem Großkämmerer von England, und seinem Schwager Lord Rivers. Und nun sahen sie dem Tod aufs Neue ins Auge, obwohl die Küste der Niederlande, ihre sichere Zuflucht, schon zum Greifen nah war.

Mit tödlichem Sirren trafen die Pfeile der Engländer auf die Matrosen der hanseatischen Karacke und bewiesen einmal mehr, was Edward längst wusste: seine beste Waffe waren seine Bogenschützen, nicht ihre Bogen. Wie verwachsen mit ihren gekrümmten Ebenholzbogen schossen sie einen Pfeil nach dem anderen ab, mit einer rhythmischen Präzision, die einem Uhrwerk Ehre gemacht hätte. Und sie zeigten Wirkung, die Gegner kamen ins Wanken, einige Männer an den Geschützen schossen daneben. Und dann wurde der Kapitän auf seinem mit Zinnen verzierten Deck getroffen, woraufhin die Karacke ins Schlingern geriet und an Geschwindigkeit verlor.

Das reichte, reichte knapp und geschah keine Sekunde zu früh, denn die Bogenschützen hatten fast alle ihre Pfeile abgeschossen.

Will Conyers bekreuzigte sich staunend und dachte einen Augenblick an sein Weib, das zu Hause in Lynn auf ihn wartete. Sie war von diesem Abenteuer nicht gerade begeistert gewesen. Und während er seine Männer anbrüllte, die Segel neu zu stellen, und er eigenhändig das Ruder herumriss, gab er sich ein Versprechen. Er wollte die Lass verkaufen und sich an der Bierschänke seines Schwiegervaters beteiligen. Er hatte genug von der See. Ja, dieses verrückte Abenteuer mit Edward Plantagenet hatte ihn eines Besseren belehrt. Verdammt sollte er sein, wenn er sein Schiff oder sein Leben wegen eines Mannes verlöre, der in dieser selbst verschuldeten Katastrophe seinen Thron aufs Spiel gesetzt hatte.

Will drehte die Norwich Lass weiter zum Wind und redete dabei auf sie ein wie auf ein Pferd oder ein Weib. Sie war ein heikles Ding und fühlte sich von seinen verräterischen Verkaufsplänen womöglich verletzt. »Komm schon, mein Mädchen, ja, so ist's gut. Und jetzt volle Fahrt, schneller, Wind fassen!«

Und so geschah es. Die Männer schrien sich heiser vor Erleichterung und stampften mit den Füßen, als sich die kleine Kogge von der Karacke entfernte, die in ihrem bescheidenen Kielwasser schlingerte. Ihre Schreie wurden vom Schlagen der Wellen und vom Heulen des Windes übertönt, der die Segel bauschte. Und dort, keine drei Meilen entfernt, lag der kleine, holländische Hafen von Alkmaar, ein Anblick so willkommen wie kaum je ein anderer.

Edward jubelte mit seinen Leuten und spürte, wie die Angst sich verzog und sein Herzschlag sich normalisierte. Nun würde sich das Glück auf seine Seite schlagen, bitte, lieber Gott. Die Niederlande gehörten zum Herzogtum seines Schwagers, Karl von Burgund. Bald schon würden sie unter Freunden sein und endlich Zeit haben, die wirre Lage zu durchdenken, in die England durch seine Flucht geraten war. Er brauchte Geld, Männer und Waffen, um sein väterliches Erbe und seinen Thron wiederzuerlangen.

Und dafür benötigte er Hilfe. Jemand, der sich für ihn bei Karl verwendete, damit dieser ihm Unterstützung gewährte.

Schon über zehn Nächte war es her, dass er in York einen Boten losgeschickt hatte. Hatte er sie gefunden? Liebe Mutter Gottes, hatte der Mann Anne de Bohun gefunden?

Kapitel 3

»Das werde ich nicht. Nein! Nicht, solange ich nicht weiß, wo der König ist und ob er in Sicherheit ist.«

In den Gemächern der Königin im Westminster Palast herrschte das Chaos. Die Kammerzofen und Hofdamen von Elizabeth Wydeville traten sich gegenseitig auf die Füße, fluchten und stopften gereizt und mit vom Entsetzen ungelenken Fingern Kleider, Schleier, Leinzeug und Juwelen in Truhen und

Schachteln. Die Königin saß derweil unbeweglich auf ihrem Thron, den Rücken trotzig durchgedrückt.

»Aber Majestät, wir haben Kunde, dass die Truppen schon vor der Stadt stehen. Die Bewohner und Stadtoberen werden sie nicht lange aufhalten können. Graf Warwick und ...« Der Leibkämmerer der Königin, John Ascot, verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall. Daran war allein die Aufregung dieses schrecklichen Tages schuld - und die Tatsache, dass er der Königin die Wahrheit sagen musste.

»Clarence? Sprecht nur weiter, sagt seinen Namen. Der Bruder meines Mannes, dieser Verräter, ist auch dabei, richtig?«

Schweiß rann über das bleiche Gesicht des Kammerherrn, der alles daransetzte, seine schwangere Herrin zum Verlassen des Palasts zu überreden. Wenigstens einer von ihnen musste Ruhe bewahren, auch wenn es schwer war.

»Euer Majestät, mir ist zu Ohren gekommen, dass der Herzog den Grafen begleitet. Das ist vielleicht gar nicht schlecht . «

»Gar nicht schlecht, Master? Gar nicht schlecht!«

Der Kämmerer wand sich bei dem Ton der Königin, zwang sich aber, ihrem eisigen Blick standzuhalten. Er verbeugte sich, so tief er konnte, und sprach die schreckliche Wahrheit aus. Für Feinheiten war jetzt keine Zeit.

»Der Herzog ist bei den Londonern sehr beliebt, Euer Majestät. Dadurch könnten wir ein wenig Zeit gewinnen. Aber Ihr müsst jetzt sofort mit mir kommen. Um der Sicherheit des ungeborenen Prinzen willen. Und der seines Vaters.«

Elizabeth Wydeville schloss ihre Augen, damit der Kämmerer ihre Tränen nicht sähe. Unbewusst fasste sie mit den Händen an ihren gewölbten Leib. Unter ihren Fingern spürte sie die lebhaften Bewegungen des Kindes.

»Und es gibt keinen anderen Ort?«

Sie sprach so leise, dass John Ascot sich nach vorn beugen musste, um sie zu verstehen. Seine Herrin war eine komplizierte Frau und von denen, die ihr dienten, wenig gelitten. Doch plötzlich empfand er mehr als nur Pflichtgefühl. In ihrem Flüstern lag so viel Verzweiflung.

Er schüttelte den Kopf. »Ich wäre froh, wenn ich Euch ein anderes Quartier anbieten könnte. Aber dort werdet Ihr und der ungeborene Prinz in Sicherheit sein. Der ehrwürdige Abt Dr. Milling hat angeboten, seine privaten Gemächer Eurer Majestät und« - er sah sich zu den Frauen um, die ihm mit stockendem Atem lauschten - »einigen Eurer Damen zur Verfügung zu stellen.«

Elizabeth öffnete ihre Augen und durchbohrte ihn mit Blicken.

»Wie viele?«

»Fünf, Euer Majestät.«

Einen Augenblick lang herrschte entsetztes Schweigen, dann ertönte ein leises, gequältes Stöhnen, das immer lauter wurde.

»Fünf? Das ist unmöglich!« Die Stimme der Königin war unerbittlich.

John Ascot drehte sich zu den Hofdamen um. »Es geht nicht anders. Mehr Platz haben wir nicht.« Hilfesuchend sah er zur Königinmutter, Jacquetta von Luxembourg.

Die Herzogin, die die Frauen beim Packen überwacht hatte, war nicht umsonst die Tochter eines Edelmanns. Sie klatschte Ruhe gebietend in die Hände, was unmittelbare Wirkung zeigte. Ja, sie wurde respektiert. »So sei es. Ihr, Ihr und Ihr. Und du -und du da mit dem grünen Schleier in der Hand.« Jacquetta zeigte auf einzelne Frauen. »Ihr fünf werdet die Königin und mich begleiten.« Ein scharfer Blick brachte John Ascot, der gerade zum Protest ansetzen wollte, zum Schweigen. Mit Jac-quetta waren es sechs Frauen. »Und nun sputet euch. Wir müssen endlich fertig packen und dann sofort unser Versteck in der Abbey beziehen.«

Das schwarze Kleid der Herzogin hatte eine mit Silberfäden durchwirkte, schwere Schleppe. Normalerweise benötigte sie beim Gehen mindestens zwei Hofdamen, die die Schleppe trugen. Doch jetzt raffte sie mit einer Hand den Stoff zusammen, als handelte es sich lediglich um ein seidenes Tuch, und streckte die andere Hand der Königin hin.

»Kommt, meine Tochter. Es wird Zeit. Lasst Euch helfen und nehmt meinen Arm.« Die Königin atmete hörbar aus. Der Seufzer ging in ein Schluchzen über, und zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß sie hervor: »Ich kann nicht. Ich kann nicht aufstehen.«

»Kämmerer?«

Von ihrer Mutter und John Ascot gestützt, hievte Elizabeth Wydeville ihren massigen Körper aus dem Thron. Dann führten sie sie langsam aus dem Schlafgemach, vorbei an Reihen kniender, weinender Frauen. Elizabeth warf einen Blick zurück auf ihren reich verzierten Thron. Wer würde als Nächstes darauf sitzen? Und würde sie jemals ihren Gemahl, den König, wiedersehen?

Kapitel 4

»Master Conyers, ich danke Euch für Eure Dienste. Aber eines ist mir höchst unangenehm. Wir sind so schnell aus Lynn ausgelaufen, dass ich keinerlei Münzgeld bei mir habe.«

Edward schaute auf seine Männer, die sich auf dem kurzen Kai von Alkmaar um ihn scharten. Das Land schien immer noch auf und ab zu schaukeln, obwohl sie jetzt festen Boden unter den Füßen hatten. Der König wollte seine Freunde nicht um Geld angehen. In absehbarer Zeit würden sie jeden Silberling, jeden Penny und jeden Engelstaler brauchen.

»Was beliebt Euch mehr? Dies?« Edward zog einen Ring von seiner Rechten, einen breiten Goldring mit einem geschliffenen Jaspis, in dem das königliche Wappen, eine strahlende Sonne, eingraviert war. »Oder lieber das?« Der König streifte sich den Reitmantel von den Schultern. Er war aus einem teuren Wolltuch gefertigt, das in einem seltenen, leuchtenden Blauton gefärbt und mit dem Winterfell des Marders gefüttert war, aus dem auch die breite Borte am Saum bestand. Am Hals war er mit einer mit Smaragden besetzten Silberkette versehen.

Will Conyers hatte sich nicht freiwillig auf diese Reise begeben, aber was hätte er sagen sollen, als an einem windigen Herbstmorgen eine Schar Edelleute auf sein Boot kam, mit den Waffen klirrte und ihm befahl: »Bring uns in die Niederlande«? Nichts, er war ja kein Narr.

Also hatte er sie an Bord seiner bescheidenen Handelskogge gelassen, obwohl Nan, seine Frau, als sie davon Wind bekam, zum Hafen hinuntergerannt war, um ihn aufzuhalten. Zu spät. Er war ihr eine Erklärung schuldig, wenn er heimkehrte. Falls er wieder heimkehrte.

Und jetzt waren sie angekommen und konnten ihn nicht einmal richtig bezahlen. Aber Gold war Gold - die Juden würden einen beachtlichen Preis für den Siegelring zahlen -, und auch der Königsmantel war nicht zu verachten. Auch der ließ sich gut verkaufen, wenn er das wollte. Und wenn nicht, würde er darin nicht eine stattliche Figur abgeben, zu Hause auf dem Markt? Falls Nan ihm erlaubte, ihn zu behalten.

Er lachte plötzlich laut auf, und Edward, der in der steifen Brise, die vom Meer her wehte, kaum sein Zittern verbergen konnte, lachte mit. »Nun, Master, was soll es sein?«

Der Kapitän der Norwich Lass verbeugte sich unwillkürlich, was ihn selbst erstaunte. Er hatte sich diesem König, der weit fort in London residierte, nie besonders verbunden gefühlt, auch wenn die Rivers, die Verwandten der Königin, Verbindungen nach Lynn hatten. Vielleicht spielten solche entfernten verwandtschaftlichen Verbindungen doch eine Rolle.

»Ich nehme den Mantel, Hoheit. Ich möchte mich gern wie ein König kleiden, wenn ich wieder zu Hause bin.«

Einen Augenblick lang herrschte erschrockenes Schweigen, und dann lachten sie. Edwards ganze Truppe lachte über die Dreistigkeit dieses Mannes. Ihr Lachen klang fast wie ein Schluchzen nach der Anspannung, der Angst und den Aufregungen der vergangenen Wochen. Das Lachen tat ihnen gut, denn nun mussten sie der Zukunft ins Auge blicken, einer Zukunft als Exilanten. »Das ist ein angemessener Preis, immerhin habt Ihr uns an diesen Ort gebracht. Alkmaar heißt er?«

Der Kapitän bejahte mit einer Verbeugung. Und als ihm der König den Mantel in die Hände drückte, wurde er sich seiner Kühnheit plötzlich bewusst, und er ließ ihn beinahe fallen. »Und wovon leben die Menschen in Alkmaar?«

Der König bemühte sich um einen fröhlichen Tonfall, während er seinen Blick über die kleine Stadt streifen ließ. Sie kauerte zwischen Dünen, die nach Norden und Süden verliefen.

Master Conyers wog den schweren Mantel in der Hand und sprach bedächtig: »Ich glaube, sie stellen Käse her, Majestät.«

Der König lächelte leicht. »Aha, das erklärt diesen Gestank. Ich dachte, es sei verdorbener Fisch!«

Seine Männer hielten sich die Bäuche vor Lachen. Auch Edward wieherte und schlug einigen von ihnen auf die Schulter, als hätte er den Witz seines Lebens gemacht.

Ein Dienstmädchen, das früh schon unterwegs war, um Brot für ihre Herrschaft zu holen, kicherte ebenfalls, als sie an ihnen vorbeikam. Merkwürdig schauten diese Männer aus: ganz schmutzig und trotzdem vornehm gekleidet. Aber die Waffen beunruhigten sie.

Ihr Gelächter brachte Edward Plantagenet das Bild eines anderen Mädchens vor Augen. Anne. Der König seufzte ihren

Namen, bevor er es verhindern konnte. Ob sie ihn jetzt sah, wenn er ganz fest an sie dachte?

»Was habt Ihr gesagt, Majestät?«

William Hastings, der Großkämmerer von England, hätte fast sein Gesicht verzogen. Bereits jetzt klang es falsch, Edward mit dem Königstitel anzureden.

Sein Herr, dem die schnell kaschierte Unsicherheit nicht entgangen war, setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Ich muss sehr müde sein, William, wenn ich meine Gedanken schon laut ausspreche.«

Edward untersuchte sein Schwert und wischte die Klinge an seinem Wappenrock ab. Er wollte verhindern, dass das ätzende Meerwasser den Schliff verdarb. »Sie sollen Aufstellung nehmen, William. Aber zuerst, hat jemand einen Mantel für mich? Der Wind ist schneidend.«

»Ein Mantel für den König?«

Die Männer wühlten in ihren wenigen Habseligkeiten, dann zog Richard von Gloucester, Edwards jüngster Bruder, einen Ersatzmantel hervor. Er hatte als Einziger seine Satteltaschen retten können, als sie in Lynn an Bord der Kogge gestürzt waren. Die anderen würden in den kommenden Tagen noch dankbar für seine Vorräte sein.

»Nehmt diesen, Bruder. Er ist zwar sehr schmutzig, aber er tut seinen Dienst, auch wenn er nicht Euren üblichen Maßstäben entspricht.«

Die Brüder sahen sich an und lachten. Edward war bekannt für seine Vorliebe für schöne Kleider.

»Ach, ich weiß nicht, Richard. Grün hat mir angeblich schon immer gut gestanden.«

Als Edward sich den schweren Umhang über die Schultern warf und die Kette durch die Schlaufen am Hals führte, brachten ihm die weiche Machart des Stoffs, das seidene Futter und vor allem das dunkle Tannengrün noch mehr Erinnerungen an

Anne. Anne in ihrem grünen Kleid. Anne, die die Arme nach ihm ausstreckte. Anne, die ihn küsste. Anne, die bei ihm lag, als er ...

»Bereit zum Aufbruch, Majestät.«

Bereit für die Zukunft, sollte der zuversichtliche Ton von Richard von Gloucester bedeuten. Bereit, dass du uns führst, Bruder.

Edward lächelte ebenso zuversichtlich und wandte sich an seine Kameraden. »Also gut, auf ein Wort.«

Die Männer hoben ihre Köpfe, und diejenigen, die es sich auf der Kaimauer bequem gemacht hatten, standen auf.

»Ich bin sehr verärgert.«

Ein oder zwei lachten über diese ironische Bemerkung.

»Ja, sehr verärgert. Tödlich verärgert.«

Die Stimme des Königs klang wild, und sein Schwert fuhr zischend aus seiner Scheide und vollführte eine blitzende Kreisbewegung. Die Seemöwen erschraken und erhoben sich kreischend in die Morgenluft. »Wir werden unser Land zurückholen, wir gemeinsam.«

Keine zwanzig Mannen sollten England zurückerobern? Edward sprach sehr überzeugend, keiner seiner Kameraden zweifelte an ihm.

»Wir haben Freunde, gute Freunde. Uns haben Verräter hierhergejagt. Verräter haben keine Zukunft. Aber ihr, die ihr heute bei mir seid, ihr sollt eine Zukunft haben. Euch soll es an nichts mangeln. Auch euren Familien nicht.«

Der König drehte sich wieder zu Will Conyers um. »Kapitän, ich danke Euch für Eure Hilfe und für Euren Mut. Und für Eure tapfere Mannschaft.« Edward erhob seine Stimme, so dass die Männer auf der Norwich Lass ihn hören konnten. »Auch ihr, ihr alle, werdet einmal froh sein über diese Reise. Kehrt heim und verbreitet die Nachricht von unserer bevorstehenden Rückkehr.«

Edward steckte das Schwert wieder in die Scheide und schritt auf die Stadt zu, seine Männer folgten ihm, und zusammen bildeten sie eine geschlossene und entschlossene Gruppe. Will Conyers blickte Edward Plantagenet unbehaglich nach. Lynn, seine Heimatstadt, war ein ruhiges Plätzchen, und die Menschen in dieser kleinen, wohlhabenden Gemeinde waren das Auf und Ab der Politik nicht gewöhnt. Aber jetzt schwappte es bis vor ihre Türschwellen.

Der Kapitän bekreuzigte sich und wandte sich dem Meer zu. Vielleicht würde er erzählen, wo er gewesen war, vielleicht auch nicht. Aber seine Männer zum Schweigen zu bringen, das war fast unmöglich. Er machte sich Sorgen. Würden die neuen Herren Englands ihn und seine Männer in Frieden lassen, wenn sie erfuhren, dass er dem ehemaligen König geholfen hatte?

Unbewusst strich er über den kostbaren Mantel. Vielleicht konnte er sein Wissen zu Geld machen? Dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Es war gefährlich, zwei Seiten zu dienen. Am besten wäre, sich ruhig zu verhalten.

Will schirmte seine Augen gegen die aufgehende Sonne ab und drehte sich ein letztes Mal zu Edward Plantagenet um. Der König und seine Männer waren beinahe schon auf dem Marktplatz angekommen, wo sie mit ihrer vornehmen Kleidung und ihren verbissenen Mienen die verwunderten Blicke der Städter auf sich zogen.

Aber wohin sollten sie gehen? Und wer würde ihnen helfen? Tapfere Reden waren schön und gut, aber dieser König brauchte Freunde, viele Freunde. Zwanzig Männer konnten kein Königreich zurückbringen. Oder doch?

Kapitel 5

Margaret, Herzogin von Burgund, sehnte sich nach ihrem Gemahl, der wieder einmal einen Feldzug gegen die Franzosen führte. Immer diese Franzosen. Sie gab sich alle Mühe, einen ruhigen und glücklichen Eindruck zu machen, auch wenn ihr das schwerfiel, denn an diesem Morgen hatten ihre roten Tage wieder eingesetzt.

Nun war sie schon über zwei Jahre verheiratet und war immer noch nicht schwanger geworden. Diesmal war sie voller Hoffnung gewesen, denn die Tage hatten drei Wochen auf sich warten lassen. Aber das blutige Laken an diesem Morgen hatte die Hoffnung wieder zerstört. Wahrscheinlich war sie unfruchtbar. Karl hatte seine Zeugungsfähigkeit bereits unter Beweis gestellt, denn er hatte eine Tochter aus einer seiner früheren Ehen. Mary hieß sie. Margaret schluckte ihre selbstmitleidigen Tränen hinunter und konzentrierte sich auf den Bericht ihrer Freundin Anne de Bohun.

»... dann starb er. Wir konnten nichts mehr ausrichten. Aber er hatte eine Botschaft für mich, von Eurem Bruder, dem König, Herzogin. Habt Ihr etwas von ihm gehört?«

Margaret schüttelte den Kopf und gab ihren Hofdamen ein Zeichen, sie mögen sich zurückziehen, damit sie und Anne unter vier Augen sprechen konnten.

»Ich weiß nur, dass England sich im Chaos befindet. Vor einigen Wochen erhielten wir Kunde von unserem Gesandten in Westminster, dass sich die Situation zuspitze. Man rechnet damit, dass Warwick mit seinen Truppen jeden Augenblick einmarschieren kann.«

Warum hatte Edward nie einsehen wollen, dass er sich mit seiner heimlichen Heirat mit Elizabeth Wydeville Warwick zum erbitterten Feind gemacht hatte, wunderte sich Margaret. Damals hatte alles angefangen, und der Hass wurde noch tiefer, als die riesige, raffgierige Verwandtschaft der Königin in Westminster eingefallen war. Edward war ein Narr gewesen, die Lust hatte ihm den Kopf vernebelt, und nun, so fürchtete Margaret, würde ihn diese vor Jahren begangene Sünde sein Königreich kosten.

»Ach, Lady Anne, ich fühle mich so weit weg von England, so machtlos. Ungefähr vor einem Monat erhielt ich einen Brief von meinem Bruder. Damals war er noch ganz zuversichtlich, dass er sich mit dem Grafen auseinandersetzen und gewinnen würde. Herzog Karl ist immer auf Feldzug, wie Ihr wisst. Vielleicht hat er neuere Informationen, wenn er zurückkommt.« Margaret schüttelte traurig den Kopf. Eine von Edwards größten Tugenden und zugleich größten Schwächen war sein uneingeschränkter Optimismus: Immer glaubte er, am Ende würde alles gut werden. Manche warfen ihm deshalb Handlungsunfähigkeit vor, aber Margaret und Anne kannten den König besser. Er vertraute darauf, die meisten Probleme durch Verhandeln lösen zu können. Oft behielt er recht. Seine Schwester betete jede Nacht voller Inbrunst, dass er in Sicherheit war und dass das Glück ihm immer noch hold war.

Margaret lächelte ihre Freundin an. »Ihr seht müde aus, Lady Anne. Ist Euch nicht wohl?«

Anne schüttelte den Kopf. »Ich habe in letzter Zeit oft schlechte Träume, Herzogin.«

Ein leiser, kühler Luftzug zog seufzend durch das Zimmer, die Herzogin fröstelte. Sie holte bebend Luft und drehte sich um. Dort draußen lagen die Gärten des Prinzenhofs, des prachtvollen, eleganten Schlosses im Herzen von Brügge, in dem der Hof von Karl von Burgund residierte, wenn er oder seine Gemahlin in der Stadt weilten. Dann sah Margaret ihre Freundin an. »Seht Ihr auch ... meinen Bruder in Euren Träumen?«

Durch die jahrelange Freundschaft wusste die Herzogin von

Annes außergewöhnlicher Gabe. Ein Wissen, das für beide Frauen gefährlich werden konnte.

Anne nickte und sagte sehr ruhig: »Ja, Euer Gnaden.« Sie blickte auf ihre Hände, die ruhig in ihrem Schoß lagen, und achtete darauf, dass sich die Finger nicht vor Angst verkrampften. Die Anstrengung spiegelte sich in ihrem Gesicht wider.

»Was seht Ihr?«, drängte Margaret. »Anne, bitte sprecht!«

Anne ließ ein tiefes Seufzen hören, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Die Haare auf Margarets Armen sträubten sich. »Ich habe Angst vor dem, was ich sehe, Herzogin. Gefahr überall. Blut. Nacht für Nacht .«

Rasch erwiderte die Herzogin: »Sind es nur Träume, Anne? Oder seht Ihr ihn auch . zu anderen Zeiten?«

Hexerei. Dieses Wort schwebte unausgesprochen im Raum. Es besaß die Macht, ihrer beider Leben zu zerstören.

»Ich beschwöre es nicht, Herzogin. Die Bilder kommen ungebeten zu mir.«

Margaret, Herzogin von Burgund, war bei ihren Untertanen wohl gelitten. Aber sie war einst eine »englische Lady« gewesen, Befehle gingen ihr, wenn nötig, leicht von den Lippen.

»Nun, Lady Anne, wir alle liegen in Gottes Hand. Erzählt mir, was Ihr seht. Lebt er?«

Anne zitterte. »Ja, er lebt. Aber er ist verwundet. Ich glaube, er ist fast gestorben .« Wie sollte sie diesen Moment beschreiben? Sie hatte in ihrem Hof gestanden und Stoffe in einen Bottich mit Farbe getaucht, als es passierte. Plötzliche Dunkelheit, Sand und Salzwasser in ihrem Mund - und in seinem. Die Vision verblasste, sie würgte und versuchte, die Lungen mit Luft zu füllen, die unter dem Gewicht des Wassers schier zerspringen wollten. Das ferne Schreien von Männern, und dann versank alles, Farben, Formen und Geräusche, im wilden Meer. Und dann ... qualvolle Schmerzen! Jemand zog an den Armen, riss die Gliedmaßen beinahe aus den Gelenken, während ihre -seine - Beine vom tödlichen Sog des Wassers festgehalten wurden.

»Wo? Was ist geschehen?«, fragte die Herzogin scharf. Das sanfte Murmeln der Stimmen erstarb. Rasch blickte Margaret auf und rief lachend: »Auf, meine Damen. Ich werde Ihnen gleich die köstliche Klatschgeschichte von Lady Anne erzählen.« Woraufhin ein zustimmendes Kichern ertönte und die Köpfe der Damen sich wieder über die Stickereien beugten. Margaret richtete ihr angestrengtes Lächeln auf ihre Freundin und flüsterte. »Und dann?«

»Männer ritten eilig über einen Strand, die Flut kam herein. Der König war bei ihnen. Sie wollten das Meer erreichen, aber das Pferd des Königs strauchelte, und er stürzte und versank im Treibsand .«

Anne konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten, sie wurde von Angst und Entsetzen geschüttelt. Sie wandte sich ab, um ihre Qual zu verbergen, und Margaret, wie immer sehr feinfühlig, sagte laut: »Ja, der Herbst hat wirklich früh eingesetzt. Wer hätte das nach diesem heißen Sommer gedacht? Im ersten Frost sind alle Rosen schwarz geworden.«

Anne starrte zum Fenster hinaus und hoffte, das helle Sonnenlicht würde ihre Tränen trocknen. Warum musste sie immer weinen? Die knochigen Finger der Angst hielten sie fest. Vielleicht wollte sie nur nicht wahrhaben, dass Edward tot war? War es dies, was die Tränen bedeuteten?

»Wir müssen nach ihm schicken«, flüsterte Margaret. »Wir müssen ihn suchen und herausfinden, was geschehen ist.«

Eine Woge von Geräuschen drang von außen in die Privatgemächer der Herzogin. Sie hörten Rufe und eilige Schritte. Einen Augenblick später ertönte ein Klopfen an der Tür des Sonnenzimmers und eine Stimme kündete unerwarteten Besuch an.

»Euer Gnaden!« Margaret sprang auf. Nur dank jahrelanger Übung gelang es ihr, ihren ungestümen Drang zu beherrschen, zu ihrem Gemahl zu rennen und sich ihm in die Arme zu werfen.

Das Gesicht braun wie gegerbtes Leder, die Augen hell und blitzend, die Kleidung schmutzig vom langen Ritt, so stand Karl von Burgund vor seiner Gemahlin. Er lächelte. Es war ein verschwörerisches Lächeln, das bedeutete »Ich verstehe«. Er trat ins Zimmer, verbeugte sich charmant nach rechts und nach links und sagte: »Meine Damen, meine liebreizenden Ladys, ich muss darum bitten, mich und die Herzogin allein zu lassen.« Dann bemerkte er Anne. »Ah, Lady de Bohun, Ihr mögt hierbleiben.«

Karl von Burgund trieb die kichernden Frauen durch die Flügeltüren des Sonnenzimmers hinaus und schloss sie hinter ihnen. Das Strahlen in seinen Augen erstarb, und nun zeigte er sein wahres Gesicht - er war bis auf die Knochen erschöpft. »Ich wollte es Euch persönlich sagen. Ein Bote war mir zu riskant.«

Margaret musste sich plötzlich setzen. Draußen im Garten pflückte ein sanfter Wind Blätter von den Bäumen. Die letzten Bienen des Sommers täuschten einen Zustand von geschäftiger Zufriedenheit vor, indem sie die Pollen der verwelkenden Blumen plünderten.

»Ist er tot?« Ungebeten sprach Anne Margarets Gedanken laut aus.

Karl schüttelte den Kopf und ging zu einem Tisch, auf dem eine Silberkaraffe mit Wein sowie Gläser standen. »Nein, aber er hat sein Land verloren. Er ist vor über einer Woche aus England geflohen.

Mir ist zu Ohren gekommen, dass er gelandet und nun zum Binnenhof in s'Gravenhage unterwegs ist ... ich habe ihm Männer entgegengeschickt, die ihn begleiten sollen. Bei meinem Gouverneur Louis de Gruuthuse wird er in Sicherheit sein. Bestimmt möchte Edward seinen Männern erst einmal eine Pause gönnen, bevor er weiter zu uns reist. Wir werden sehen . «

Er wandte sich seiner Gemahlin zu, in seiner Hand blitzte der blank polierte Kelch. Alle schwiegen, während er den Wein bis zur Neige austrank und diskret rülpste.

»Und?«

Margaret war kreidebleich vor Anspannung, und Anne vergaß beinahe das Atmen, als sie darauf warteten, was der Herzog weiter zu sagen hatte.

Karl von Burgund schloss seine Augen. Er war fast die ganze Nacht durchgeritten. Er wollte den Rat seiner Frau und ihren Körper, doch zuallererst musste er essen und schlafen, um wieder klar denken zu können. Er seufzte schwer. »Ach, Frau. Ich weiß, was Ihr von mir hören wollt. Und auch Ihr, Lady Anne.« Karl wusste, dass Anne Edward immer noch liebte, obwohl er keine Ahnung hatte, ob der König ihre Leidenschaft nach so langer Zeit noch erwiderte.

»Edward war immer gut zu Burgund, Mann.«

»Das stimmt, das ist richtig.«

Mit einem flüchtigen, wölfischen Lächeln betrachtete der Herzog seine Frau - ein Geschenk des englischen Königreichs. Sie war wunderschön, und er genoss ihren Körper und ihre Gesellschaft, aber das war nur ein zusätzlicher Gewinn. Sie hatte Flandern als Mitgift in die Ehe gebracht, und was noch wichtiger war, durch ihren Bruder, den König, verkörperte sie das Bündnis seines Herzogtums mit England. Doch nun war das Bündnis zerstört. Aus und vorbei. Die Figuren auf dem Schachbrett Europa würden neu geordnet werden, und er besaß womöglich nicht genug Macht, das Spiel zu beeinflussen.

Der Graf von Warwick hatte Edward Plantagenet aus England vertrieben. Nun konnte sich Frankreichs König Louis XI. des eitlen und unsicheren Grafen bedienen und sich in die englischen Angelegenheiten einmischen. Dies war in der Tat eine sehr gefährliche Situation. Ein neues Bündnis zwischen England und Frankreich würde für Burgund eine ernsthafte Be-drohung darstellen, eine Bedrohung, der Karl vielleicht nicht gewachsen war. Sollte er also seinem Schwager helfen, den englischen Thron zurückzuerlangen? Sollte er? Oder war es dafür schon zu spät?

»Werdet Ihr dem König helfen, Euer Gnaden?«

Karl lachte, sein Lachen klang unerwartet fröhlich. »Ach, Lady Anne, warum überrascht mich Eure Offenheit nicht?« Er schüttelte den Kopf, ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich seiner Gemahlin zu und gähnte dabei wie beiläufig. »Louis wird daran seine Freude haben, Frau. Er hat bekommen, was er wollte.«

Louis XI., König von Frankreich, war der Erzfeind Burgunds und ein persönlicher Feind des Herzogs. Denn Louis war es, der verhinderte, dass aus dem Herzogtum Burgund ein Königreich Burgund mit Karl als dessen König wurde. Karl I. von Burgund. Hatte das nicht einen verführerischen Klang? Aber ohne die Hilfe Englands als Verbündeter und ohne die aufreibenden Scharmützeln der Niederlande gegen Frankreich würde dies wahrscheinlich nie Wirklichkeit werden.

Karl musste seinen nächsten Zug sorgfältig überlegen. Wie stark war Warwick, nachdem er Edward mit Louis' Hilfe in die Flucht geschlagen hatte? Und würden die Magnaten und Barone Englands den Grafen auch unterstützen, wenn er diesen Idioten, Edwards abtrünnigen Bruder George von Clarence, auf den Thron setzte? Immerhin war es Warwick gelungen, seine Tochter Isabel mit dem jungen Herzog zu verheiraten. Damit standen die Chancen gut, dass eine neue Dynastie begründet wurde. Aber was war mit Margaret von Anjou und ihrem Bündnis mit ihrem einstigen Feind, dem Grafen? Sie hatte dem früheren König, Henry VI., einen Sohn geboren, und dieser Sohn sollte jetzt als Prince von Wales die Thronfolge antreten. Wo blieb Edwards Bruder Clarence in diesem Spiel, egal, ob er mit Isabel verheiratet war oder nicht? Karl schloss einen Augenblick erschöpft die Augen, aber das Gedankenkarussell ließ sich nicht aufhalten.

Wäre es für ihn und Burgund von Vorteil, Edward zu unterstützen, oder sollte er seinen Schwager im Stich lassen und versuchen, mit Warwick, Margaret von Anjou und Clarence Frieden zu schließen? Wäre dies für Burgund auf Dauer der klügere Weg? Könnte er Louis dadurch für eine Weile auf Abstand halten?

Der Herzog gähnte ausgiebig und blinzelte, er sah grenzenlos erschöpft aus. Margaret eilte an seine Seite. »Ach, Mann, was Ihr nun am dringendsten braucht, ist Euer Bett.« Sie sagte nicht Schlaf, denn sie hoffte auf mehr.

Anne de Bohun sah, wie die Herzogin den Arm um die Schultern ihres Mannes legte. Vielleicht eine Geste der Fürsorge oder Ausdruck ihrer Sehnsucht nach körperlicher Nähe, die sie so lange hatte entbehren müssen. Anne verstand sie gut. Sie raffte ihren Rock und ging unbemerkt zur Tür des Sonnenzimmers. Ihre Frage, die immer noch schwer in der Luft hing, war nicht beantwortet worden. Sie mussten sich gedulden, wenn sie mehr von den Plänen des Herzogs erfahren wollten.

Anne versuchte, sich für ihre Freundin zu freuen. Margarets Mann war unversehrt zu ihr zurückgekehrt, und das war wunderbar. Warum empfand sie selbst dann solch eine Traurigkeit -geradezu Neid -, wenn sie sah, wie der Herzog seinen Arm um die schlanke Taille seiner Gemahlin legte? In Wahrheit wusste sie die Antwort auf diese Frage.

Einige Jahre zuvor hatte sie England verlassen und war ins Exil gegangen. Sie hatte Edward Plantagenet zurückgelassen, und, die Götter konnten es bezeugen, damals war ihr diese schmerzhafte Entscheidung richtig erschienen. Aber zu sehen, wie sich Liebende nach langer Trennung begegneten, war schwer auszuhalten. Sie war jung und sehnte sich nach ihrem Mann genauso wie ihre Freundin, die Herzogin.

Und dann erinnerte sich Anne daran, was Karl gesagt hatte. Edward befand sich im Herrschaftsbereich Burgunds.

Hoffnung wallte in ihr auf. Schwindelnde, flatternde Hoffnung. Sie würde ihn wiedersehen. Bald. Falls sie das wirklich wollte. Und dann würde sie einmal mehr die drei Gefährtinnen wieder treffen, die nie von ihrer Seite wichen, wenn sie mit Edward zusammen war. Die Angst, die Freude und die Liebe. Welche würde diesmal die stärkste sein?

Kapitel 6

»Wo sind wir, Hastings? Ich habe allmählich genug von dieser hübschen Landschaft.« Edward fror und war hungrig, so wie die anderen auch, trotzdem bemühte er sich um einen heiteren Ton. William Hastings, der bis zu den Augen in eine fleckige Satteldecke gehüllt war, drehte sich um und grinste. Seine weißen Zähne leuchteten hell im Dämmerlicht.

»Gute Nachrichten, mein König. Wir haben es beinahe geschafft. Nur noch ungefähr fünfzehn Meilen an der Küste entlang nach Süden. Dann sind wir beim Binnenhof und werden von Mijnheer de Gruuthuse herzlich aufgenommen. Der Mann hat gesagt, der Weg sei gut. Auf den Dünen gibt es ein paar Fischerdörfer, die wir leicht umgehen können.«

Die erschöpften Männer hatten vor kurzem eine Stelle erreicht, wo sich zwei Feldwege kreuzten. Es wurde rasch dunkler, und Hastings war froh, als er einen Bauern sah, der sich gerade von der Feldarbeit nach Hause schleppte. Es wurde eine seltsame Unterhaltung, ein Kauderwelsch aus ein paar holländischen Brocken, die der Engländer kannte, plus ein paar Brocken Mittelhochdeutsch und den wenigen französischen Sätzen, die der Bauer beherrschte. Aber William hatte erfahren, was er wis-sen wollte. Sie waren, Gott sei Dank, schon so nah bei s'Gra-venhage und dem Binnenhof, dem einstigen Sitz der Grafen von Holland, dass sie es noch in dieser Nacht erreichen würden. William bekreuzigte sich dankbar. Es war gefährlich, nach dem Weg zu fragen, aber sie hatten es so eilig, dass sie das Risiko eingehen mussten, auch wenn ihre Anwesenheit, selbst in einer verlassenen Gegend wie dieser, schnell bekannt werden würde. Würden sie früher im Binnenhof eintreffen als die Kunde über ihre Ankunft, dann hätte sich das Risiko gelohnt.

Er hatte für die erfreuliche Information jedoch nicht viel zahlen können, und das machte ihm Sorgen. Er hatte dem Mann seine letzte Münze gegeben, einen englischen Threepenny. Aber das war vielleicht nicht genug für eine Nacht des Stillschweigens. Immerhin war die Münze aus schwerem Silber gewesen. Gottes Wege waren wahrlich rätselhaft. In seinem früheren Leben als Großkämmerer des Landes - wie kurz lag das erst zurück - hatte William das englische Münzwesen reformiert, um zu verhindern, dass korrupte Münzhändler die Ränder einwandfreier Münzen »abknipsten« und das so gewonnene Edelmetall mit Blei oder Zinn vermischten, um Falschgeld herzustellen. Dadurch war das Vertrauen in die Währung drastisch geschwunden, was für den Staatshaushalt und den Handel in England katastrophale Folgen gehabt hatte. Hastings' Maßnahmen hatten diesem Missbrauch ein Ende gesetzt. Der holländische Bauer, nachdem er prüfend auf die Münze gebissen hatte, schien zufrieden gewesen zu sein. William hätte beinahe lachen müssen. Vielleicht war es göttliche Fügung, dass er den Edelmetallgehalt englischer Münzen hatte verbessern lassen und sich so von einem holländischen Bauern eine Nacht des Stillschweigens erkaufen konnte.

Angeregt von solchen Überlegungen, machte William seine Runde, um die Vorräte der Gruppe zu überprüfen. Sie hatten nur fünf Pferde, kamen deshalb nur langsam voran, auch wenn das Ende dieser mühseligen Reise zum Greifen nahe war. So wie die Männer aussahen und schweigend auf Anweisungen warteten, mussten sie gefährlich müde sein. Nach wochenlanger Kälte und harten Kämpfen in England hatten sie die Strapazen der Seereise über sich ergehen lassen und waren dann zwei Tage lang mit nur wenig Nahrung nach Süden marschiert. Meistens waren sie nachts gereist. Die Edelleute, der König eingeschlossen, hatten sich beim Reiten abgewechselt, die anderen waren zu Fuß gegangen. Tagsüber hatten sie, in ihre Mäntel gewickelt, in den Dünen geschlafen, sich wie Hunde aneinandergekuschelt und gegenseitig gewärmt. Feuer zu machen, hatten sie nicht gewagt. Doch an diesem Morgen waren die wenigen Essensvorräte erschöpft gewesen, und der König hatte entschieden, die Reise bei Tageslicht fortzusetzen und das Marschtempo zu erhöhen. Vielleicht zahlte sich diese Kühnheit jetzt aus. William wünschte sich nichts sehnlicher, aber erst auf den letzten Meilen würde sich erweisen, ob die Entscheidung richtig war.

»Mein König, wenn Ihr jetzt den Befehl geben würdet?«

Edward glitt von dem mageren Wallach, auf dem er seit einigen Stunden geritten war. »Ihr seid an der Reihe, William. Hinauf mit Euch.«

Hastings protestierte. »Nein, Euer Majestät. Ich werde nicht reiten, wenn Ihr zu Fuß geht.«

»Ich möchte mir die Beine ein wenig vertreten«, erwiderte Edward lächelnd. »Kommt, lasst Euch helfen.« Er verschränkte seine Hände, damit William leichter aufsteigen konnte. Was er verschwieg, als er sich dem Haufen erschöpfter Gefährten zuwandte, war, dass er auch froh war, seinen wunden Hintern zu schonen. Die Gangart des Wallachs war bei dem langsamen Tempo besonders unsanft. Aber schneller ging es nicht, sonst hätten die Fußgänger nicht Schritt halten können. »Es dauert nicht mehr lange. Der edle Mijnheer de Gruuthuse, der ein guter Freund von mir ist, wird uns mit einem Festmahl empfangen.«

Ein sirrendes Zischen ließ sie aufschrecken, es klang wie eine Klinge, die aus einer metallenen Scheide gezogen wird. Zu spät. Edwards Hand flog an den Griff seines eigenen Schwerts, aber er wusste, dass es keinen Zweck hatte.

»Lasst die Schwerter fallen, meine Herren.«

Edwards Herz pochte gequält, als er die große Zahl von Männern ausmachte, die seinen eigenen kleinen Trupp umzingelt hatten. Wie konnten sie nur so unvorsichtig sein, so dumm? Die Weggabelung war von Bäumen umgeben, von denen manche noch belaubt waren. Ein perfektes Versteck für Wegelagerer. Sie waren gefangen.

Der Angreifer wiederholte seine Anweisung. »Euer Schwert, Herr, wenn ich bitten darf.« Edward nickte widerwillig und streckte vorsichtig seinen Arm aus. Er dachte fieberhaft nach. Der Mann sprach ein höfisches Französisch und nahm offenbar an, dass er verstanden wurde. Edward schöpfte plötzlich wieder Mut. Anscheinend wussten ihre Häscher gar nicht, wen sie sich eingefangen hatten.

Der Franzose beugte sich vom Pferd und nahm dem König das Schwert aus der Hand. Seine Augen blitzten auf, als er sah, was er erbeutet hatte.

»Oh, ein sehr gutes Schwert, mein Herr. Woher habt Ihr es?« Der Franzose sprach leise, offenbar wollte er nicht, dass seine Männer ihn hörten. Mit einem Mal begriff der König. Die Männer waren Gesetzlose, Banditen. Eigenartigerweise stimmte diese Erkenntnis Edward zuversichtlich.

»Ich schenke es Euch, wenn Ihr uns helft.«

Der Anführer der Banditen lachte laut. »Wenn Ihr uns helft? Wir - euch helfen! Also das ist das Merkwürdigste, das ich je in meinem Leben gehört habe.«

Plötzlich lag die Schwertklinge des Mannes an Edwards Kehle. Im selben Atemzug legten sich englische Hände um englische Schwertgriffe.

»Ich glaube nicht, dass wir euch helfen wollen, meine Herren. Im Gegenteil.« In dem Glauben, von seinen Männern geschützt zu sein, beugte sich der Franzose wieder aus dem Sattel und riss Edwards kostbaren Schwertgürtel und seine Scheide herunter. Dann sollte Richards Reitumhang folgen, da flüsterte Edward: »Seid kein Narr, mein Freund. Ihr bekommt mehr, wenn Ihr uns leben lasst. Zieht!«

Edwards Ruf drang durch die Dämmerung und im selben Augenblick hatten die Engländer ihren König umringt und bildeten einen undurchdringlichen Schutzwall. Der allzu siegessichere Räuberhauptmann befand sich plötzlich in ihrer Mitte, mitsamt seinem übernervösen Pferd. Rings um sich sah er gezogene Klingen, englische Klingen, die nichts Gutes verhießen.

Der Franzose ließ sich wieder in seinen Sattel fallen und entfernte sein Schwert von Edwards Kehle. »Ah. Touché. Schlau. Und sehr diszipliniert.«

Edward streckte seine Hand aus. »Mein Schwert.«

Nach kurzem Zögern reichte ihm der Franzose das Schwert, obwohl seine Männer laut protestierten. Aber er hatte keine andere Wahl.

»Aber das wird Euch nichts helfen, Herr, denn mein Zustand als Euer ... Gast ... kann nicht lange währen.«

Der Halunke hatte Mut, das gefiel Edward, vor allem, da jetzt sein eigenes Schwert auf die Kehle des Angreifers zielte.

»Steigt ab«, sagte der König freundlich, doch als der Franzose nicht reagierte, wiederholte er mit eisiger Stimme: »Ich sagte, steigt ab.«

Der Franzose zuckte die Achseln und glitt von seinem Pferd. »Nun, was soll das, Engländer?«

Edward lächelte, als er auf das Pferd des Gesetzlosen stieg. Es war mager, aber in weit besserem Zustand als die Tiere, die er in den vergangenen Tagen geritten hatte. »Ihr enttäuscht mich. Ich dachte, ich beherrsche Eure Sprache ohne Akzent.«

»Französisch wie ein Franzose? Pah! Typische englische Überheblichkeit.«

Selbst ohne Pferd war der kleine Mann angriffslustig, ein Kampfhahn mit bedrohlichen Sporen. Auch darüber musste Edward lächeln.

»Sagt mir Euren Namen, Franzose. Ich möchte wissen, wie Ihr heißt.«

»Bevor es ans Sterben geht, Engländer?«

Es war ein neckisches Geplänkel, das beiden Vergnügen bereitete, derweil die Männer auf beiden Seiten angespannt warteten, wie sich die Sache entwickelte.

»Halte ihn bitte gut fest, Richard.« Der König nahm die Zügel des schlanken, braunen Pferds, machte es sich im Sattel bequem und verlängerte die Steigbügel, um Platz für seine langen Beine zu schaffen. »Ich wiederhole, mein Herr, wie heißt Ihr?«

»Julian de Plassy.« Der kleine Franzose sprach den Namen stolz aus, er straffte dabei seinen Rücken und drückte seine schmale Brust nach vorn.

»Nun, Julian de Plassy, Ihr tragt einen ehrbaren Namen, aber Ihr geht einem ehrlosen Geschäft nach. Ich könnte Euch helfen, das zu ändern.«

Der Franzose hob überrascht den Kopf. Das Licht des aufgehenden Mondes spiegelte sich in seinem Helm. Seine Männer traten unsicher einen Schritt vor.

»Nein. Zurück!«, befahl er, und sie gehorchten.

»Sie folgen Euch. Mir scheint, Ihr versteht, sie zu führen.«

Der Franzose nickte, seine Zuversicht schien ungebrochen. »Engländer, wie könntet Ihr mir helfen?«

Edward lachte. »Oh, ich kenne vielleicht jemanden, der wieder jemanden kennt. Ihr wisst, wie das ist. Aber zuerst müsst Ihr uns heute Nacht noch nach s'Gravenhage geleiten.«

Der Bandit kniff seine Augen zusammen. »Und was wäre

unser Lohn, wenn wir einwilligten, Euch zu beschützen?« Das Wort »beschützen« sprach er mit einem hintergründigen Grinsen aus. Die Engländer rückten enger zusammen, ihre Schwertspitzen kitzelten den Franzosen auf eine ausgesprochen unfreundliche Art und Weise.

»Euer Leben ist die Belohnung, Julian de Plassy. Und Freiheit für Euch und die Euren. Ich werde den Strafbeschluss gegen Euch aufheben lassen. Ich bin sicher, einen solchen gibt es.«

Julian de Plassy verbeugte sich in ironischer Anerkennung. »Mein Herr, Ihr seid unendlich weise.«

Der König verzog das Gesicht. »Nicht so weise, wie Ihr glauben mögt. Aber bei dieser Gelegenheit kann ich Euch sagen, was die Zukunft für Euch bereithält. Sollte Gott entscheiden, Euch zu sich zu rufen und in seine liebenden Arme zu schließen, so kann ich als sein Werkzeug auf Erden dafür sorgen, dass sein Wille geschehe. Jedoch, ein langes Leben ist besser als ein kurzes Leben, und Gott ist barmherzig, selbst zu Euresgleichen. Ihr habt die Wahl. Wie lautet Eure Antwort, Julian de Plassy?«