Kapitel 43

»Bruder? Es tut mir aufrichtig leid, Euch stören zu müssen ...« Dem harten Klopfen am Türrahmen folgte ein Quietschen, als die Tür geöffnet wurde.

Agonistes hörte die Angst in der bebenden Stimme des Abts und beschloss, sie zu ignorieren. Im Gebet konnte er die irdischen Sorgen dieser verderbten Welt und ihrer Diener vergessen. Er neigte seinen Kopf noch tiefer, hob seine gefalteten Hände noch höher und sprach noch lauter.

»Heilige Jungfrau Maria, unbefleckte und reine Mutter unseres Erlösers, sieh hinab auf deinen sündigen Diener. Stehe mir bei, ich flehe dich an .«

»Bruder!« Eine Hand senkte sich auf seine Schulter. Die Hand war schwer, und die Schulter war schwach. Wann hatte er zuletzt gegessen? Agonistes sackte unter diesem irdischen Gewicht zusammen. Er war so müde, so müde. Er hörte auf zu beten. Langsam öffnete er seine Augen, brauchte aber eine Weile, bis er das sorgenvolle Gesicht, das sich über ihn beugte, richtig sehen konnte.

»Ich möchte Euch nicht stören, aber es gibt Dringendes zu besprechen. Sehr Dringendes.« Gegen seinen Willen konnte der Abt nur noch flach atmen, und seine Stimme war mindestens eine Oktave höher als sonst.

Agonistes verstand. Jahrelange Erfahrung als Höfling hatte ihn manches gelehrt, auch wenn er vermied, daran zu denken. Er, das Werkzeug des Herrn, hatte eine gute Freundin der Herzogin verleumdet, und sie, die einstige Lady Margaret von England, war eine mächtige Frau. Der Mönch lächelte. »Bruder, warum sich um die Zukunft unserer sterblichen Hülle ängstigen, wenn es allein die ewige Seele ist, auf die es ankommt?«

Waren es dieses schmallippige Lächeln oder der fatalistische

Tonfall, der die Nerven des Abts fast zum Reißen brachten? Er atmete tief durch die Nase ein, wobei er ein seltsam pfeifendes Geräusch erzeugte. Er bemühte sich um einen festen Ton. »Trotzdem, liebster Bruder, muss ich offen mit Euch sprechen. Ihr seid unser Gast, unser heiß geliebter Bruder im Angesicht des Herrn.« Der Abt schluckte, diese Formulierung klang selbst für ihn etwas übertrieben. »Und ich muss für Euer körperliches Wohl sorgen, auch wenn es Euch nicht kümmert.«

Agonistes stemmte sich mühsam hoch und stand schwankend neben der schmalen Pritsche. Er hatte nicht das geringste Interesse, bei diesem Spiel mitzuspielen. »Womit Ihr sagen wollt, Bruder, dass Ihr für das Wohl Eures Hauses fürchtet, wenn ich weiter unter diesem Dach weile?«

Der Abt war gekränkt und, ja, verärgert. Die Herzogin war immer eine äußerst großzügige Gönnerin gewesen - man beachte nur das neu gemalte Fenster, das Margaret gestiftet hatte und das dem heiligen Georg, dem ersten Heiligen Englands, geweiht war. Trotzdem hoffte der Abt, dass die enge Beziehung zwischen seinem Orden und dem burgundischen Hof nicht so schwer wog wie seine Pflicht. »Bruder, ich habe in dieser vergangenen Nacht inbrünstig gebetet, und Gott hat mir seinen kostbaren Rat in dieser - Angelegenheit angedeihen lassen. Er hat mir gesagt, dass ich das Wohl aller in diesem Haus im Auge haben muss, das der Seelen wie der Leiber. Aber meine Fürsorge soll mit Euch beginnen.«

Wohlformulierte Lügen. Agonistes zuckte die Achseln. »Ich bin bereit, nach Paris zurückzukehren, Bruder, falls es das ist, was Ihr von mir verlangt. Macht Euch keine Sorgen. Wir haben alle unsere Pflichten.« Tatsächlich war der Mönch froh, Brügge hinter sich lassen zu dürfen, vor allem, seit er früher am Tag mitten im Gebet den Aufruhr gehört hatte, der den triumphalen Einzug von Edward Plantagenet in die Stadt begleitet hatte. Allein bei der Erinnerung an das Getöse verschloss Agonistes seine

Augen und seine Ohren. Und sein Herz. Diesen Ehebrecher, der so viel Leiden über sein Leben gebracht hatte, wollte er in keiner Form wahrnehmen müssen.

Verstohlen wischte sich der Abt den Schweiß von der Oberlippe. Es war bereits kurz vor der Terz, dem dritten Stundengebet. Wenn er sich beeilte, konnte er diesen »geliebten Bruder in Christo« aus dem Kloster geschafft haben, bevor die Glocken zur Andacht riefen. »Da Ihr Euren Weg gewählt habt, Bruder, möchte ich Eure Entscheidung unterstützen. Hier, das ist für Eure Reise nach Paris, damit der Weg nicht zu beschwerlich wird.« Wie ein Zauberer zog der Abt vor den Augen des Mönchs eine Satteltasche hervor. »Essen, Münzen - nicht viel, natürlich. Wir sind ein armes Kloster.« Er hustete. Es war nicht leicht gewesen, einen angemessenen Betrag zu bestimmen - zu viel, und Agonistes würde das Geld als Bestechung betrachten und sich in seinem Wahnsinn weigern abzureisen. Denn nur ein Wahnsinniger hätte das gesagt, was er bei dem Fest am Tag zuvor gesagt hatte. »Und wir haben auch einen Esel für Euch, Bruder. Kommt mit und lernt ihn kennen, Euren neuen Freund und treuen Reisegefährten. Ein reizendes Tier und auch recht robust.«

Vor Erleichterung babbelte der Abt wie ein geschwätziges Weib, als er den Mönch aus der Zelle scheuchte. Doch Bruder Agonistes wollte sich kein Urteil über die Käuflichkeit des Mannes erlauben. Vielleicht geschah esja wirklich nur aus Rücksicht auf seine Brüder, dass er seinen »geliebten Bruder in Christo« auf die unbarmherzige Straße entließ. Der Mönch wusste sehr wohl, dass er, wenn er nicht abreiste und in Brügge bliebe, seine Anschuldigungen vor der Herzogin würde rechtfertigen müssen. Agonistes sehnte sich nach Frieden, aber sein Kopf schmerzte, und sein Blick trübte sich, wenn er zu verstehen suchte, was Gott in diesem Augenblick von ihm erwartete. Natürlich würde er seinem Bruder, dem König von Frankreich, nicht mehr nützlich sein, wenn die Herzogin Margaret in ihm die kümmerlichen Reste des sündigen Dr. Moss wiedererkennen würde. Das konnte nicht Gottes Wille sein, oder doch? Louis de Valois war ein heiliger Speer in der Hand des Herrn, und er, der Sünder, war vielleicht die Speerspitze, wenn auch aus minderem Metall. Nein, wenn er es recht bedachte, war die Entscheidung richtig, diese verderbte Stadt, diesen Ort des Lasters und der Sünde zu verlassen. Er hatte seine Aufgabe erfüllt. Die Mönche hatten ihm berichtet, dass Anne de Bohun sich in den Händen der kirchlichen Gerichtsbarkeit befände. Und obwohl er sich über den begeisterten Empfang des einstigen Königs von England wunderte, war dieser jetzt wenigstens als Ehebrecher entlarvt. Ja, sein Werk war vollbracht.

Und so machte sich Bruder Agonistes auf den Weg, als vom Belfried über der Tuchhalle am Marktplatz die Mittagsglocke zu läuten anhob. An diesem Stephanitag war es recht unwirtlich geworden. Ein unangenehmer Schneeregen fiel vom Himmel, und es wehte ein eisiger Wind. Doch trotz der Kälte hatte Ago-nistes nichts an als seine schmutzigen Kleiderfetzen und einen geflickten Wintermantel, den er eng um seinen ausgemergelten Leib geschlungen hatte. Den pelzgefütterten Mantel, den der Abt ihm in letzter Minuten angeboten hatte, hatte er ausgeschlagen. Seine Füße in den löcherigen Sandalen, die er vor langer Zeit selbst genäht hatte, waren blau gefroren. Wegen seiner mannigfaltigen Sünden glaubte er, dass Gott für ihn keine neuen Schuhe wollte, jetzt nicht und nicht für alle Zeit. Deshalb schwelgte er in der Gewissheit, dass die Reise nach Paris, die viele beschwerliche Tage dauern würde, ihm Gelegenheit gäbe, über seine Fehler und Sünden nachzudenken. Vielleicht konnten seine jetzigen Leiden einen Teil der Schuld sühnen, die er in seinem weltlichen Leben in Westminster auf sich geladen hatte.

Kaum war Agonistes aufgebrochen, wurde deutlich, dass der Heiland Gefallen an seinem Gehorsam fand: Der Esel zwischen seinen Beinen schien sich plötzlich seiner Lebensaufgabe bewusst zu werden. War er vorher noch unschlüssig durch Brügges Straßen gelaufen, trottete er nun stetig unter den Festungsmauern des Kruisport entlang und über die hallende, hölzerne Zugbrücke, die das Stadttor mit dem Ufer des Zwin verband. Dies, obwohl Agonistes dem Tier keinerlei Richtung angegeben hatte. Ehrfürchtig bekreuzigte sich der Mönch. Gewiss, Gott war gütig. Er hatte ihm einen Esel geschickt, der den Weg nach Paris kannte.

Als Agonistes die Stadt hinter sich gelassen hatte, schloss er zuversichtlich seine Augen. Mochten Gebete seine eisigen Finger erwärmen, mit denen er den Rosenkranz betete. Und der Esel, als wollte er ihn beruhigen, trottete unermüdlich an der Uferstraße entlang, seine zierlichen Hufe klapperten auf dem letzten Stückchen gepflasterter Straße, bevor der Weg sich in einen gefrorenen Lehmpfad verwandelte.

Sie hatten einen langen, langen Weg vor sich.

Endlich sahen sie in der Ferne die Festungsmauern und Türme, und jeder der hungrigen, durchgefrorenen Männer schuf sich in seiner Vorfreude das Trugbild eines üppigen Mahls und eines warmen Betts. Und vielleicht auch das Bild einer willfährigen Frau dazu. Sie beschleunigten ihre Schritte, als flösse neue Kraft in ihre müden, frierenden Füße.

»Brügge, da wären wir also, Meister Seemann. Vielleicht hört Ihr hier Neues von Eurem Weib.«

Leif blieb einen Augenblick stehen und stützte sich auf seinen langen Gehstock. Konnte er der Wahrheit ins Auge blicken? Was, wenn er nichts über Anne erführe? »Das hoffe ich sehr, de Plassy. Meine Frau hat viele Freunde in der Stadt. Und ich auch.«

Der Franzose drehte sich zu seinen Kameraden um und winkte. »Mein Freund, das glaube ich Euch gern, ob Ihr nun verheiratet seid oder nicht. Und nun, Jungs, sputet euch, dann sind wir vor Einbruch der Dunkelheit in der Stadt. Jede Menge Zeit, neue Freunde und Gespielinnen zu finden. Brügge ist zu unsereins schon immer gut gewesen.«

Das war das Beste, das die Männer seit dem Knirschen des Schlüssels in der Tür ihrer Gefängniszelle gehört hatten. Niemand hatte etwas einzuwenden. Johlend und schreiend rannten sie um eine lange Straßenbiegung, bis sie in der Ferne das große Tor des Kruispoort sahen.

Leif zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und ließ die Männer rennen. Die Söldner waren seine Freunde und Kameraden geworden. Sie schnatterten glücklich und aufgeregt wie junge Mädchen, trotz des Schneeregens, der ihnen ins Gesicht peitschte. Leif ging rasch weiter, bis er Julian de Plassy erreichte. Der Franzose zeigte in die Ferne.

»Eine hübsche Aussicht auf ein bisschen Taschengeld, Kapitän. Genau das, was wir brauchen.«

Auf dem Weg kam ihnen ein ausgemergelter Mönch auf einem Esel entgegen. Er war bis über die Augen in einen fleckigen Mantel gehüllt, und sein Kopf wackelte im Rhythmus des Trabs seines kleinen Reittiers.

Leif lachte. »Wie immer ein Optimist, de Plassy. Warum wollt Ihr Euch die Mühe machen, einen Mönch auszurauben?«

Der Franzose kniff die Augen zusammen. »Wisst Ihr, diese Geistlichen, das sind alles Lügner. Sie sind reich, jeder einzelne von ihnen. Sie tun nur so arm, um uns an der Nase herumzuführen. Seht, der hier hat eine Satteltasche. Eine richtige schöne, dicke Satteltasche.« In diesem Augenblick dröhnte von fern aus der Stadt das Schlagen von Trommeln, und Jubelgeschrei aus vielen Kehlen erhob sich.

De Plassy sah den Dänen bedeutsam an. »Nun . dann wollen wir mit unserem neuen Freund erst einmal ein wenig Konversation betreiben.«

Der Franzose eilte an die Spitze der Gruppe und stellte sich dem Esel in den Weg. Stockend sagte er mit den wenigen Brocken Flämisch, die er beherrschte: »Euer Segen, Bruder. Diese Festlichkeit in der Stadt - zu wessen Ehren ist sie?«

Der Esel blieb stehen. Der Mönch hörte auf zu beten und öffnete die Augen. Finster betrachtete er die Männer, die sich vor ihm auf dem Weg drängten. »Ich spreche Eure Sprache nicht, Sir.« Unwillkürlich hatte Agonistes auf Englisch geantwortet. Seine missbilligende Miene vertiefte sich. Sehr eigenartig, so zu sprechen, nachdem er schon so viele Jahre lang französisch sprach und dachte.

Auch Leif war verblüfft, dass dieser ausgemergelte und schmutzige Mann - zweifellos besonders heilig aufgrund eines entbehrungsreichen Lebens - englisch sprach. Er rief: »Ich spreche englisch, Pater. Könnt Ihr uns sagen, was heute in Brügge gefeiert wird?«

Der Mönch bekreuzigte sich, dann hustete er und spuckte Schleim aus. Fast traf er die Stiefel des Seemanns. »Kein ehrbares Fest, obwohl heute Stephanitag ist. Der einstige König von England ist nach Brügge gekommen, den Herzog zu besuchen. Mehr weiß ich auch nicht. Und nun lasst mich vorbei.«

Julian de Plassy lächelte. »Edward Plantagenet? Den meint Ihr?« Er warf Leif einen vergnügten Blick zu.

Der Mönch schniefte. »Ja. Seine bösen Taten werden ihm das Genick brechen. Das wird bald alle Welt erfahren.«

Der Franzose bedeutete seinen Männern, zur Seite zu gehen. Brügge war plötzlich so kostbar wie Jerusalem, nur viel, viel näher. Dem Mönch, der ihm diese gute Nachricht gebracht hatte, wollte er die Freiheit schenken.

Agonistes, seine Angst verbergend, sagte verärgert: »Ja! Und nun macht den Weg frei. Ich vollbringe das Werk Gottes. Um Eurer schwarzen Seelen willen, haltet mich nicht länger auf.«

Julian verbeugte sich. »Keine Angst, ehrwürdiger Vater.

Die Männer im Habitat achten wir wie unsere eigenen Mütter.«

Schamlos kam diese Lüge über seine Lippen, und Leif hustete, um ein Lachen zu unterdrücken. De Plassys Männer gaben den Weg frei und ließen den Mönch ziehen. Agonistes trat dem Esel in die Flanken, woraufhin das knochige Tier wieder in seinen gewohnten Trott verfiel. Leif Molnar und Julian de Plassy verschwendeten nicht viel Zeit, dem Mönch nachzublicken. Mit weit ausholenden Schritten hielten sie auf die Stadt in der Ferne zu, und die anderen Männer folgten ihnen, so schnell sie konnten.

»Ab jetzt ist das Glück uns hold, mein Freund, das spüre ich. Ich muss den englischen König daran erinnern, welchen Dienst ihm meine Männer erwiesen haben. Er wird dankbar sein - wenn man auf die Dankbarkeit von Königen überhaupt zählen kann.« Er sah Leif von der Seite an. Auch der Däne blickte zur Stadt hin, aber er sah traurig aus. »Nur nicht verzweifeln, Leif. Verliert nicht den Mut. Ich spüre genau, dass Eure Frau auf Euch wartet, nicht weit von hier. Glaubt mir, diese Gefühle täuschen mich nie.«

Leif lächelte und schwieg. Mit stetigen Schritten ging er weiter. Seine »Frau«. Wenn Edward in der Stadt war, war sie dann bei ihm ... oder war sie tot?

Kapitel 44

Anne wollte sich waschen, und sie brauchte Schlaf, noch wichtiger aber waren für sie Informationen.

Am Licht, das durch ein hoch gelegenes Fenster schien, konnte sie erkennen, dass eine Nacht, ein Tag und ein Teil der nächsten Nacht verstrichen waren, doch außer Essen hatte sie nichts bekommen. Vor allem keine Informationen, so sehr sie sich auch bemüht hatte, den Wächter zum Sprechen zu bringen.

Er war jung, ihr Wächter, kaum dem Knabenalter entwachsen, doch seine Angst war ihm deutlich anzumerken, wenn er der Gefangenen Schrotbrot, Gerstenbrei oder ein Stück Stockfisch brachte. Er hatte noch nie eine Hexe gesehen, und als Anne ihm danken wollte, wich der junge Kerl zurück und bekreuzigte sich heimlich, als hätte der Teufel persönlich ihn angesprochen. Normalerweise hätte Anne darüber gelacht, aber jetzt machte es ihr Angst. Wie konnte jemand sie nur für eine Dienerin des Bösen halten, sie, ein Mädchen mit wirren Haaren und zweifellos schmutzigem Gesicht und einem vom Schlaf zerknitterten Kleid? Wenn man seine Seele dem Teufel verkaufen wollte, sollte man doch wenigstens sauber gekleidet sein!

Anne ging hin und her, ihre Röcke schleiften über den Boden. Es wurde Zeit, dass sie ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nahm und nicht auf Hilfe wartete, die womöglich gar nicht kam. Dieser Gedanke schnürte ihr das Herz zusammen, aber sie schob ihn beiseite. Sie wollte sich ihren klaren Verstand nicht durch Panik trüben lassen. Es war alles nur eine Frage der Zeit. Zur eigenen Beruhigung wiederholte sie alles, was sie wusste. Margaret und Karl von Burgund waren ihre Freunde, und sie befand sich in ihrem Schloss. Margaret war fort, um Hilfe zu holen. Margaret würde sie nicht im Stich lassen - dessen war sie gewiss. Es dauerte nur ein bisschen länger, als sie beide gedacht hatten.

Außerdem befand sich in diesem Moment auch Edward in der Stadt. Sie hatte die Glocken gehört, die an diesem Morgen zu seiner Ankunft geläutet worden waren. Sie hatte versucht, zu dem einen, hohen Fenster hinaufzuklettern, um etwas sehen zu können. Aber obwohl sie den Schemel auf die Sitzfläche der Cathedra gehoben und sich dann auf die Zehenspitzen gestellt hatte, hatte sie nicht hinaussehen können. Aber Edward musste über ihre Situation mittlerweile Bescheid wissen. Und er liebte sie. Ja, bestimmt wusste er, wo sie war, und wartete nur auf einen günstigen Zeitpunkt, um ...

Anne war eigentlich eine Optimistin, aber jetzt war da noch eine andere Stimme in ihrem Kopf, eine Stimme, die aus Angst und Schlafmangel geboren war und die sie zu ignorieren versuchte, die sie nicht hören wollte. Er wird nicht kommen, sagte diese Stimme. Er hat von dir bekommen, was er wollte. Wenn er einmal bei Karl ist und Pläne schmieden kann, was kümmert es ihn dann noch, was mit dir und deinem Sohn geschieht? Er hat dich bereits vergessen. Warum auch nicht? Er hat jetzt einen eigenen, ehelichen Knaben, ein richtigen Prinzen .

»Nein!«

Der Wächter vor der Tür hörte das Mädchen drinnen in der leeren Zelle schreien. Ihn schauderte. Beschwor sie Geister herauf, wenn sie so schrie? Unwillkürlich trat er einen Schritt vor, um besser hören zu können. Aber ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden. Was sagte sie da?

»Er wird kommen. Er wird kommen. Du wirst sehen«, rief Anne mit tränenerstickter Stimme. »Und dich werde ich auch bald wiedersehen, mein Kind. Sehr bald .«

Frauen sind so törichte Wesen«, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Sie hoffen und glauben, wo ein Mann den Mut hätte, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Du bist verlassen und wirst hier sterben, Anne de Bohun. Einsam und allein. Herzog Karl weiß alles. Er hat verhindert, dass Margaret zurückkommt, weil sie ihm vom Tod des Bischofs erzählt hat. Er hat sie in ein Kloster geschickt, genau wie Odo gesagt hat. Und Agonistes verspritzt immer noch sein Gift. Horch. Kannst du es hören? Auf dem Marktplatz bauen sie schon den Scheiterhaufen für dich. Der König von England und der Herzog von Burgund müssen Hexenverbrennungen unterstützen, das ist ihre Pflicht.

»Nein! Fort mit dir. Ich will dich nicht hören. Ich will hier nicht sterben. Sie werden mich nicht verbrennen!«

Der Wächter presste sich die Hände auf die Ohren und zog sich bis an das äußerste Ende des Ganges zurück. Er wollte das Toben der Hexe nicht länger mit anhören. Es machte ihm schreckliche Angst, denn er wusste nicht, mit wem sie sprach.

Anne stürzte zur Zellentür und trommelte gegen das unnachgiebige Holz. Sie musste an Informationen kommen! »Wache! Ich muss die Herzogin sprechen.«

Aber der Wächter hatte die Finger in die Ohren gestopft und sprach das Vaterunser.

»Ich weiß, dass Ihr da seid. Ich kann Euch hören!«, schrie Anne. Und dann fuhr sie verzweifelt fort: »Antwortet doch! Bitte, antwortet. Habt Mitleid.« Anne sank auf den Boden ihrer Zelle. Ihr Gefängnis befand sich in einem alten, abgelegenen Teil des Schlosses, hoch oben unterhalb des Wehrgangs. Wollten sie sie hier behalten, bis sie verrückt wurde oder starb? Sah so ihre Zukunft aus? War das besser als der Scheiterhaufen?

Unwillkürlich strömten Tränen über ihre Wangen. »Debo-rah. Kannst du mich sehen? Und mein Kind. Mein kleiner Junge. Mama passt auf dich auf, mein Goldschatz. Bald bin ich wieder zu Hause .«

Du wirst niemals nach Hause kommen... dein Fall ist verloren und du bist von aller Welt verlassen. Du wirst sie nie mehr, nie mehr wieder-sehen .

Anne lag auf dem Boden ihrer Zelle allein und verängstigt und weinte sich wie ein Kind in den Schlaf.

Kapitel 45

Das Begrüßungsfest im Prinzenhof dauerte sehr lange, und erst weit nach Mitternacht kehrten der König, Richard und William Hastings in ihr prächtiges Gasthaus zurück, das Stadtschloss von Mijnheer de Gruuthuse. Am nächsten Tag würden weitere Treffen, Besprechungen und Streitgespräche stattfinden, aber wenigstens hatten die Verhandlungen zwischen Herzog Karl und den Engländern jetzt begonnen.

Dort, in einer luxuriösen Zimmerflucht im zweiten Stock des Palasts, direkt neben der berühmten Liebfrauenkirche - einem besonders gelungenen Bauwerk mit dem erst unlängst fertiggestellten Paradiestor -, waren Edward Plantagenet und sein Bruder endlich allein.

Ihr Gastgeber hatte sie für das Fest mit modischen, neuen Kleidern ausgestattet. Beide Brüder hatten es jedoch abgelehnt, bei ihrer Rückkehr von Dienern entkleidet zu werden. Seit ihrem feierlichen Einzug in die Stadt an diesem Morgen war dies der erste Moment, in dem die Brüder allein waren.

»Sämtlichen Göttern sei Dank, Bruder. Endlich allein!« Richard zerrte an den ungezählten, kleinen Goldknöpfen seines eng sitzenden, höfischen Wamses. Vom reichlichen Essen und vielen Wein nach so vielen Wochen des Darbens war sein Bauch aufgebläht. Er fühlte sich überfressen, betrachtete dieses ungewohnte Gefühl aber als ein positives Zeichen.

»Pst!« Edward blitzte seinen Bruder bedeutungsvoll an. Er warf seine weichen Stoffschuhe von sich und schlenderte barfüßig zur Tür, um zu lauschen. Dann spähte er sogar durch das große Schlüsselloch. Richard kicherte bei diesem Anblick und bekam einen Schluckauf.

»Was hast du - hick - denn jetzt vor? Hick. Tut mir leid.«

Er sah so zerknirscht aus, dass Edward zu ihm hinüberging und ihm über die Haare strich. Allzu leicht vergaß man, wie jung der Herzog tatsächlich war. »Was ich vorhabe? Nichts. Wenigstens nicht, bis alle richtig schlafen. Ich höre immer noch Bewegungen vor der Tür.«

Richard trat von einem Fuß zum andern. »Du hast ... hick... einen Plan, oder? Hick. Was ist es? Hick. Tut mir leid, Edward.«

Der König beachtete seinen Bruder nicht weiter und streifte sich sein Hemd und seine Kniehosen vom Leib. Das prachtvolle und reich bestickte blaue Samtwams mit den weit ausgeschnittenen, mit Hermelin gefütterten Ärmeln lag wie ein wertloser Fetzen auf dem Bett. Auch die Kette aus massivem Gold mit den zwei ineinanderverschlungenen »S«, die auf seiner Schulter gelegen hatte, war auf der pelzverbrämten Tagesdecke gelandet. Und schon folgte der Kette das massive Diadem, das ihn als Herrscher kennzeichnete, und flog in einem gut gezielten Bogen genau auf die Stelle, wo später sein Kopf ruhen würde. »Margaret hat mir erzählt, Anne sei eingesperrt und würde bewacht werden, sonst aber ginge es ihr gut.« Bei dem Wort »gut« verzog Edward sein Gesicht, denn unter diesen Umständen war das kaum anzunehmen.

Eilig streifte er sich einen warmen Reitumhang über. Er war aus bestem, doppelt gewebtem, englischem Wollstoff und in einem dunklen Tannengrün gefärbt. Er hatte seit dem Einzug nach Brügge an diesem Morgen in seiner Satteltasche gelegen. Das gute Stück hatte schon einiges überstanden und ihn in den vergangenen langen Wochen durch halb England und Europa warm gehalten. Und es würde ihn auch bei zukünftigen Abenteuern begleiten, dessen war er sich sicher.

Richard spürte Edwards Eile. Er schüttelte ebenfalls sein einengendes Wams ab und sah sich in dem riesigen Zimmer nach den Dingen um, die sie von Annes Bauernhof mitgebracht hatten. »Aber Lady de Bohun wird doch nicht etwa das Verschwinden des Bischofs in die Schuhe geschoben, oder?«

Edward warf ihm einen kurzen Blick zu und streifte sich hohe, geschmeidige Reitstiefel über. »Nein. Bis jetzt nicht. Margaret hat es geschickt angestellt. Sie hat sogar Karl hinters Licht geführt.« Der König runzelte die Stirn. Hatte sie das wirklich? Edward war während des Festes aufgefallen, dass Karl von Burgund, wann immer die Rede auf den vermissten Bischof Odo kam, seine Gemahlin mit einer gewissen distanzierten Nachdenklichkeit betrachtete. Er durfte nicht vergessen, dass Karl ein Pragmatiker war. Den König schauderte bei diesem Gedanken. Seine Schwester hatte Nerven wie eine abgebrühte Glücksspielerin - und er hoffentlich auch -, trotzdem waren sie beide nichts als Figuren auf dem Schachbrett der Politik. Und Karl war ein ausgezeichneter Schachspieler.

»Was wird mit Anne geschehen, Bruder?«

Edward schwieg und zerrte an seinen Stiefeln, bis diese sich seinen Waden anpassten. Er wusste nicht recht, was er antworten sollte.

»Auf keinen Fall kann sie in Brügge bleiben«, fuhr der Herzog fort. »Erst muss sich die Aufregung wieder gelegt haben, bevor sie in dieser Stadt sicher sein kann.«

Wieder gelegt? Das war eine schamlose Untertreibung. Das immer lauter werdende Geschwätz, das des Bischofs Verschwinden bei Hof ausgelöst hatte, war ihnen nicht entgangen, als sie am Tag zuvor mit dem Herzog verhandelt hatten. Edward, Herzog Karl, Richard, Louis de Gruuthuse und Hastings hatten über die Stellung der französischen Truppen, die gegenwärtige Situation mit Warwick und Clarence in England und die Anzahl an Soldaten, über Geld und Waffen diskutiert, die Edward für die Rückeroberung seines Reiches benötigte.

»Hast du gehört, dass der Mönch geflohen ist?«, fragte Edward und verzog dabei sein Gesicht zu einem bitteren Lächeln. »Völlig verrückt kann er demnach nicht sein.«

Richard setzte ein schiefes Grinsen auf, doch seinen Miene blieb weiter besorgt. »Glaubst du, sie werden herausfinden, wo Margaret . ich meine, angenommen, sie finden den Leichnam, glaubst du, dass eine Leiche in Gegenwart ihres Mörders zu bluten anfängt? Glaubst du, dass so etwas möglich ist?«

Edward, der gerade nach seinem Schwert greifen wollte, drehte sich lachend um. »Richard, du setzt mich immer wieder in Erstaunen, wirklich. Margaret hat den Bischof nicht umgebracht, und Anne auch nicht. Unsere Schwester hat in diesem Punkt keinen Zweifel gelassen. Der Mann hatte eine Herzattacke, an der er gestorben ist. So etwas passiert eben manchmal. Übrigens ...« Richard war nun ebenfalls zum Ausreiten gekleidet. »Ja?«

»Dein Schluckauf ist weg.«

Anne wachte mit verweinten Augen auf, ihre Glieder schmerzten, und sie fror. Die stinkende Talgkerze, die man ihr gegeben hatte, war längst abgebrannt, und der Steinboden ihrer Zelle war kalt und hart wie ein Eissee.

Zitternd setzte sie sich auf. Die eisige Luft kratzte beim Einatmen in ihrem Hals und in ihren Lungen. Der Schreck darüber hatte etwas Belebendes, und sie verspürte unwillkürlich eine rasende Wut, die sie aufspringen und zur Tür laufen ließ. Mit aller Kraft trat und schlug sie dagegen.

»He da! Macht die Tür auf. Sofort!« Sie wollte nicht nachdenken, sie wollte einfach, dass etwas passierte.

Sie hörte ein Klicken, der Schlüssel wurde im Schloss gedreht, der Riegel zurückgeschoben.

Anne hielt den Atem an und trat einen Schritt zurück.

»Ich danke Euch. Meine Freundin, die Herzogin, wird sehr erfreut sein.« Sie wollte das Beben in ihrer Stimme verbergen, wollte stolz und zuversichtlich klingen, aber dann konnte sie nicht mehr - ihre Augen füllten sich mit Tränen, und die enge, steinerne Welt, die ihr Gefängnis geworden war, verschwamm.

»Und meine Schwester wird sehr froh sein, Euch in Sicherheit zu wissen. Und ich ebenso. Sehr froh.«

Edward.

Mit zwei Schritten war er bei ihr, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Und beide spürten das Herz des anderen schlagen. »Verzeih mir, verzeih mir. Ich konnte nicht früher kommen. Scht, scht, mein Schatz.« Anne schluchzte aus tiefster Seele. Edward hielt sie fest, tröstete sie und wiegte sie in seinen Armen. Sie klammerte sich wie eine Weinrebe an ihn. »Nun, nun ...« Er küsste ihr die Tränen vom Gesicht, küsste ihre Mundwinkel, und als sie zu sprechen anhob, auch ihre Lippen.

»Ich hatte solche Angst. Und ich hatte fürchterliche Träume, Edward. Träume von Feuer und Tod und ...«

Ihr Entsetzen war so greifbar, dass der König es fast körperlich spürte. »Aber jetzt bin ich hier. Wir sind zusammen.«

Anne war plötzlich niedergeschlagen. War dies ebenfalls ein Traum? Sie sah auf ihre Hände, die sich mit den seinen verschränkten, und spürte die Wärme seiner Finger. Dann sah sie in seine Augen und lächelte erleichtert. »Ja. Wir sind zusammen.« Und sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn zärtlich.

Er schlang seine Arme noch fester um sie, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich muss nach Hause, Edward. So bald wie möglich.« Aber sie erlaubte ihm, sie noch ein klein wenig länger festzuhalten. Es war für beide ein Trost, so zu stehen, ohne Gedanken, ohne Worte. Sie schöpften beide Kraft aus dieser traumhaften Geborgenheit.

Dann trat Anne einen Schritt zurück und befreite sich aus Edwards Armen. Sie blickte in das Gesicht des Mannes, den sie so unendlich liebte. »Ich brauche ein Pferd - und Geleitschutz.«

Edward nickte. »Steht schon bereit. Margaret hat dafür gesorgt. Ich werde dich nach Hause bringen, und mein lieber Schwager wird nicht klüger sein als zuvor.« Er berührte ihr Gesicht und zeichnete mit einem Finger die Umrisse ihrer Wange, ihres Mundes und ihres Kinns nach, bis zu der Vertiefung ihres Halses, wo der Puls schlug.

»Aber du kannst nicht auf deinem Hof bleiben, mein Liebling. Du musst ein paar Dinge zusammenpacken und fliehen. Margaret wird sich darum kümmern, dass der Hof weiter versorgt wird.«

Anne runzelte die Stirn. »Und wenn ich das nicht will?«

Geduldig nahm Edward Anne bei der Hand und führte sie zur Tür. Er spähte in den Gang hinaus - außer Richard war niemand zu sehen. Der Herzog lächelte Anne an. Sie lächelte verwirrt zurück, und der König sagte: »Ich muss dich in Sicherheit wissen. Ich kann dafür Sorge tragen. Und dann, wenn ich wieder in London bin und alles in Ordnung ist, können wir richtig zusammen sein.«

Annes Herz schlug wie eine Trommel, wie eine ferne, flatternde Trommel.

»Nein.«

Edward Plantagenet drehte sich zu der Frau um, die er so unendlich liebte, sein Blick war traurig. »Anne, bitte, nimm Vernunft an. Du bist meinem Herrscherwillen untertan. Ich befehle es dir. Unser Sohn muss in Sicherheit sein, und wenn du nicht .«

Er war zu weit gegangen. Anne war stolz und die Gefühle, die sie beide verbanden, waren sehr kompliziert. »Befehlen? Befehlen ist kein Wort für Liebende. Es ist ein Wort für Gefolgsleute. Und für Sklaven.«

Die Temperatur in der Zelle sank, und die Kerze, die Edward ergriffen hatte, flackerte, als würde ein heftiger Wind wehen. Vor dem König stand eine völlig veränderte Frau und starrte ihn an. Anne war plötzlich größer geworden, das Licht der Kerze spiegelte sich in ihren Augen wider.

»In der vergangenen Nacht, als ich dachte, ich sei von aller Welt verlassen, habe ich einiges begriffen. Ich werde freiwillig mit dir gehen oder gar nicht, Edward. Du hast nicht die Mittel, mich zu zwingen. Ich bin keine Leibeigene, die man nach Lust und Laune nehmen, benützen und wieder fortwerfen kann.«

Der König war erst erstaunt, dann verärgert. Verstand Anne denn nicht, was er alles zu bewältigen hatte, wie wichtig es für ihn war, bei klarem Verstand zu sein, wenn er vollenden wollte, was getan werden musste? Sie und der Knabe mussten in Sicherheit sein, erst dann konnte er sich auf seine Aufgaben konzentrieren, konnte kämpfen und die beiden später nachholen. »Anne, das ist töricht. Bitte mach, was ich sage.«

Er hatte nicht flehen wollen, aber erstaunlicherweise versagte ihm die Stimme. Und die Marmorstatue vor ihm verwandelte sich in die Frau zurück, die er liebte.

»Sobald ich wieder zu Hause bin, werde ich überlegen, was für mich und meinen Sohn am besten ist. Nein!« Sie hielt ihre Hand hoch, um ihn aufzuhalten, als er die Arme nach ihr ausstreckte. Sie hätte ihre Meinung geändert, wenn er sie in die Arme genommen hätte, beide wussten das. »Das ist meine Entscheidung, Edward, nicht deine. Und ich werde heute Nacht mit dem Geleitschutz allein nach Hause reiten.«

Sie hatte ihn entlassen, hatte seine Hilfe abgelehnt und schwieg fortan. Gequält, wütend und stumm hüllte Edward Plantagenet Anne de Bohun in einen Reitumhang der Herzogin und eilte mit ihr durch den Palast bis hinunter zu den Pferdeställen des Herzogs. Richard rannte neben ihnen her. Im Hof wartete ein Zelter, eine zierliche, lebhafte Stute, sowie vier Männer in bur-gundischen Uniformen. Der Augenblick war gekommen, und noch immer hatte Anne nichts gesagt.

Edward stand mit ihr neben dem Pferd und sprach als Erster: »Anne, begreifst du denn nicht ...«

»Scht.« Anne legte einen Finger auf Edwards Lippen. Sie sah zu ihm auf, sie waren sich nah, so nah. Aber sie schüttelte ihren Kopf.

Auch Edward hatte seinen Stolz. Noch einmal wollte er sie nicht anflehen. Der einstige König von England fasste Anne de Bohun um die Taille und hob sie in den Sattel. Eigenhändig band er ihren Reitumhang am Hals zusammen und bestand darauf, dass sie die roten Reithandschuhe mit dem Katzenfellfutter trüge, die seine Schwester vorsorglich für ihre Freundin bereitgelegt hatte.

Weil andere dabei waren, küssten sie sich nicht, aber sie tauschten einen langen Blick.

Dann drehte Anne ihr kleines Pferd zum Ausgang und zog die Zügel straff. Die Stute war wohl genährt und begierig darauf loszugaloppieren. Kaum spürte sie das Signal ihrer Reiterin, sprengte sie vorwärts, so dass die Männer in Annes Begleitung sich beeilen mussten, sie einzuholen.

Das Letzte, was Edward von Anne sah, als sie in die dunkle Nacht eintauchte, war das Winken einer roten Hand. Dann schlossen sich ächzend die großen Torflügel des Prinzenhofs, und auch das Fallgatter schloss sich wieder. Angst ergriff von ihm Besitz. Wann würden sie sich wiedersehen?

Kapitel 46

»Ich kann Euch denken hören, Margaret.«

Die Herzogin hielt die Luft an. Sie hatte gedacht, sie hätte sich erfolgreich schlafend gestellt. Sie seufzte und drehte sich zu ihrem Gemahl um. Die Kerze neben dem Bett leuchtete in dem großen, dunklen Zimmer wie ein einsamer Stern.

»Ich kann nicht schlafen, Karl.«

Der Herzog lächelte dünn. »Gewissensbisse vielleicht?«

Einen Moment lang verschlug es Margaret die Sprache, und ihr Herz klopfte bis zum Hals.

»Gewissensbisse? Nein. Zu viel von diesen Marzipanleckereien. Ihr wisst doch, wie gierig ich auf Süßes bin. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass ich schwanger bin?«

Der Herzog setzte sich in seinen Kissen auf und sah seine Frau an. »Ihr seid schamlos, Margaret. Ich weiß, dass sie fort ist. Und ich weiß auch, was Ihr mit Bischof Odo gemacht habt.«

Einen Moment lang herrschte beklommenes Schweigen, dann zwang sich die Herzogin zum Sprechen, zwang sich, nach Worten zu suchen. »Aber ... aber Aseef kann weder sprechen noch ...«

Der Herzog nickte, und seine belustigte Miene wurde ernst. »Noch hören. Das ist richtig, mein Schatz. Aber Aseef war bereits mein Diener, als Ihr noch längst nicht meine Frau wart. Es stimmt, dass er stumm und taub ist, aber er kann sehr gut schreiben, das habe ich ihm beibringen lassen. Das ist einer der Gründe, warum er mir so ergeben ist. Ich habe ihm die Mittel an die Hand gegeben, sich zu verständigen. Ach, das wusstet Ihr nicht?«

Margaret schloss ihre Augen. »Was werdet Ihr tun, Karl?«

Der Herzog stand auf, warf sich eine Felldecke über seinen nackten Körper und ging rasch zum Kamin hinüber. Er fluchte kaum hörbar über die Kälte. Das Feuer war fast niedergebrannt. Tatkräftig machte er sich daran, es neu zu entfachen.

»Karl? Bitte spielt nicht mit mir.« Die Herzogin hatte sich aufgesetzt. Vor Angst hatte ihre Stimme einen scharfen Klang angenommen.

»Wieso? Ich werde gar nichts tun, Frau. Ihr habt getan, was ich nicht habe wissen können. Und Ihr habt mir damit eine schwierige Entscheidung abgenommen. In zweierlei Hinsicht sogar.«

Margaret verspürte eine solche Erleichterung, dass sich ihr Blut anfühlte wie prickelnde Brause. Zitternd trat sie zu ihrem Gemahl ans Feuer, nur in eine schwere Decke gehüllt, die sie von dem riesigen Bett gezerrt hatte. Wie eine Schleppe schleifte die Decke über die Binsen und gab ein Flüstern von sich, als hätte sie ein Geheimnis zu erzählen.

»In zweierlei Hinsicht?«

»Ja.« Der Herzog lächelte seine Frau an. »Kommt näher ans Feuer. Wärmt Euch.«

Margaret hielt ihre Handflächen gegen die Flammen. Ihre Hände glänzten im flackernden Licht. Ihr Gemahl legte seine Hand über die ihre. Beide Hände leuchteten blutrot.

»Aseef sagte, der Bischof sei durch einen Anfall gestorben. Stimmt das?«

Margaret nickte. »Ja.« Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.

»Und Ihr habt Aseef beauftragt, den Leichnam wegzuschaffen. Wieso ist er dabei nicht gesehen worden?«

Margaret schüttelte den Kopf. Diese Nacht - ein Tag war seither erst vergangen - war wie ein verschwommener Albtraum. »Es war sehr spät, und alle im Schloss schliefen. Wir zogen den Leichnam aus, Anne und ich.« Sie schauderte, als sie an die dreckige, verlauste Unterwäsche dachte, an den verfetteten Körper, an sein Gewicht, an den Gestank von jahrelang nicht gewaschenem Fleisch, als sie den Leichnam bewegen mussten, um ihn aus- und dann wieder anzuziehen. »Ich zog ihm einige Kleidungsstücke von Euch an. Etwas anderes konnte ich so schnell nicht finden. Aber nur alte Stücke, bestimmt«, fügte sie entschuldigend an, »doch sie waren viel zu klein. Wir mussten sie am Rücken aufschlitzen. Wir wickelten einen Mantel um ihn, und dann legte Aseef ihn sich wie einen Betrunkenen über die Schulter und trug ihn hinaus.«

»Und wohin habt ihr den Körper gebracht? Das hat Aseef mir nicht gesagt. Allerdings habe ich ihn auch nicht danach gefragt.«

Die Herzogin zuckte schuldbewusst die Achseln. »Mir fiel die Krypta unter der großen Kapelle ein.«

Der Herzog nickte. »Eine umsichtige Entscheidung. Wer wird schon die Ruhe meiner Vorfahren stören, um nach einem vermissten Bischof zu suchen?«

Die Herzogin war den Tränen nahe. »Ich wusste nicht, welches Grab ich wählen sollte. Es war so dunkel, aber eines hatte einen beschädigten Deckel, und da hinein haben wir ihn gelegt. Es hat einen schrecklichen Lärm gemacht, als wir den Deckel beiseiteschoben. Das war das lauteste Geräusch, das ich je in meinem Leben gehört habe - und auch das schrecklichste -, ich habe es jetzt noch in den Ohren.«

Der Herzog nahm Margarets Hand. »Was geschah dann?« Im Halbdunkel des Schlafzimmers war der Ausdruck seiner Augen unmöglich zu erkennen. Die Herzogin zuckte unglücklich die Achseln. Sie schämte sich und hatte Angst.

»Wir mussten den Wächter glauben machen, dass er den Bischof hat weggehen sehen. Meine Zofe Estella ...«

»Ach ja. Sie ist Euch anscheinend sehr ergeben. Sie hat den Wächter unterhalten?«

Die Herzogin nickte. Lügen nützte jetzt auch nichts mehr. »Ja. Er ist noch sehr jung und einfältig, Karl. Und ich möchte nicht, dass er bestraft wird. Sie hat ihn, so lange es ging, abgelenkt. Und Aseef war gerade wieder zu Anne hineingegangen, als er auch schon wieder zurückkam.« Sie schluckte. »Anne zog Aseef Odos Kleider an. Er zog die Mönchskutte über und . ging einfach hinaus.«

Der Herzog lachte schallend, bis ihm die Tränen über das Gesicht liefen. »Aber ... er ist schwarz. Er ist ein Mohr! Ah, das ist zu viel.« Wieder brach er in schallendes Gelächter aus.

Die Herzogin rechtfertigte sich. »Aber es war ganz dunkel im Gang, der Wächter konnte ihn nicht genau erkennen. Estella hatte die Fackel mitgenommen.«

»So, Estella hatte die Fackel? Natürlich.« Der Herzog seufzte zufrieden. »Gehorsam ist anscheinend ein Fremdwort für Euch. Das muss sich ändern, Weib.«

Margaret entspannte sich zum ersten Mal an diesem langen Tag. Sie lehnte sich an die breite Brust ihres Gemahls. »Nun, dann hättet Ihr keine Plantagenet heiraten dürfen, wenn Ihr Gehorsam wolltet.«

Er lachte wieder, drückte sie und küsste sie. So standen sie zusammen am Kamin und sahen in die Flammen.

»Was meintet Ihr damit, Karl, dass ich Euch zwei schwierige Entscheidungen abgenommen habe?«

Karl streichelte Margarets nackte Hüften.

»Ich musste Odo zu Anne lassen. Eine als Hexe beschuldigte Frau kann nicht in der Stadt bleiben, ohne dass die Kirche ein Wort mitredet. Aber ich wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Wie ich ihn wieder loswerden würde. Und wie ich sie aus der Stadt hinausbekäme. Das habt Ihr für mich erledigt. Doch nun . «

Das Feuer prasselte und verströmte richtige Hitze. Margaret sah ihrem Gemahl in die Augen. »Ja, Karl?«

Der Herzog ließ die Felldecke zu Boden gleiten und stand nackt vor ihr. »Und nun möchte ich nicht mehr an Anne de Bohun und den Bischof denken und wie wir damit weiter verfahren. Wenigstens nicht bis morgen.« Mit einer raschen Bewegung zog er seiner Frau die Decke von den Schultern, und dann lag sie in seinen Armen und nichts trennte sie mehr. »Und du hilfst mir dabei. Das ist deine erste Lektion in Gehorsam.«

»Und werde ich noch viele Lektionen brauchen, bis ich meine rebellische Natur bezwungen habe, mein Gemahl?«

»Aber sicher. Und ich werde dir mit Vergnügen zeigen, wo dein Platz ist. Unter mir, und zwar hier und jetzt .«

Kapitel 47

Der Bauernhof lag im Dunkeln. Der Mann stand vor der Küchentür und klopfte leise. »Mistress?«

Über ihm quietschte ein Fensterladen. Er trat einen Schritt zurück und blickte hoch. Das Licht reichte gerade aus, damit er ihr Gesicht erkennen konnte.

»Leif?« Der Schrecken über die fremde Stimme draußen in der Nacht ebbte ab und machte einem Gefühl von Schuld Platz. Aber das war nichts Ungewöhnliches, sie träumte wieder. Anne sah oft Leifs Gesicht im Traum. Bald würde sie aufwachen und sich dem Albtraum ihres wirklichen Lebens stellen müssen.

Der Mann unter ihrem Fenster lächelte. »Ja, Lady. Nur keine Angst. Lasst Ihr mich ein?«

Anne schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und sie spürte das kalte Eisen des Fensterriegels, als sei es das erste Mal, und sie sah ihren Atem, der in Wölkchen in die stille Nacht hinausschwebte. Es war kein Traum. Sie war wach. Leif war wirklich da. »Ja. Natürlich. Bleibt, wo Ihr seid!«

Leif sah zu der Frau hoch, deren Gesicht ihn in all den langen Monaten im Norden nicht losgelassen hatte. Das schwache Sternenlicht fing die Umrisse ihres Gesichts ein und ließ die Rundung einer ihrer Schultern erkennen, als sie sich nach vorn beugte, um den Laden aufzustoßen - dabei duckte sie sich vorsichtshalber ein wenig hinter den Fenstersims, damit er nicht sähe, dass sie nackt war. Ihr Haar war offen wie bei einem Kind.

Leif schluckte. Anne war am Leben. Und anscheinend unverletzt. Der winzige Hammer um seinen Hals fühlte sich warm an, als er ihn berührte und seinem Kriegsgott für diese unerwartete Gnade dankte.

»Ja, Lady. Ich warte.« Er sprach leise. Er würde immer auf sie warten.

Anne nickte, zog den Fensterladen möglichst geräuschlos zu, um Deborah oder den Kleinen nicht zu wecken, und huschte ins Zimmer zurück. Zitternd tapste sie zu ihrem Bett und tastete sich im Dunkeln an der Wand entlang, bis sie ihr Kleid, die Unterkleider und den Schal gefunden hatte. Das musste genügen. Ihre Füße waren kalt, aber barfüßig konnte sie leiser durch das schlafende Haus schleichen .

Einen Augenblick später schob Anne die drei dicken Riegel der Küchentür zurück und öffnete die Tür.

»Lady Anne.« Leif verbeugte sich und duckte sich unter den Türsturz. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber als sie antworten wollte, bebte ihre Stimme.

»Willkommen in meinem Haus, Leif. Herzlich willkommen. Ich werde ein Licht anzünden, damit wir uns sehen können.«

Leif beobachtete, wie Anne den Docht einer irdenen Öllampe anzünden wollte. Nach drei Versuchen nahm er ihr den Feuerstein aus der Hand, und gleich darauf flammte ein helles Licht auf. »Setzt Euch, Lady. Auf die Ofenbank. Ich werde das Feuer wieder anfachen. Es ist kalt hier.«

Anne nickte und setzte sich, und Leif griff nach dem großen Schürhaken, stocherte entschlossen in der Asche herum und pustete kräftig, bis er noch glühende Kohlen fand. Er legte etwas Stroh und ein paar Zweige nach, und bald verbreitete sich eine wohlige Wärme, und ein rosiger Feuerschein verwandelte die Küche, brachte Kupferpfannen zum Glitzern und schmückte die Zinnteller auf den Regalen mit einem goldenen Rand. Ein Ort der Geborgenheit, der Vertrautheit - in seiner schlichten Zweckmäßigkeit ein schöner Ort.

Anne bemerktejedoch nichts von alledem, denn Scham, Freude und Verwirrung stürzten gleichermaßen auf sie ein. Sie hatte kein Recht auf seine Freundlichkeit, und sie wollte seine Gefühle für sie nicht ausnutzen. Das durfte sie nicht, denn Edward Plantagenet war immer noch ein machtvoller Teil ihres Lebens.

Leif drehte sich lächelnd zu ihr um. »Ist auf der Ofenbank noch Platz für mich?«

Anne fand endlich Worte, wenigstens für einfache Dinge. »Ja, ja, natürlich. Es ist spät, bestimmt seid Ihr hungrig. Seid Ihr hungrig, Leif?« Sie hörte sich plappern wie eine Närrin! Gegen solche Narrheit halfen nur Taten.

Sie sprang auf, kaum dass er sich gesetzt hatte, und eilte zu dem dreibeinigen Topf, der über dem Feuer hing. Er war halb gefüllt mit einer nahrhaften Brühe, die aus Knochen, Fleischresten und den Resten von Wurzelgemüse gekocht war. Diese Suppe war der Mittelpunkt von Annes Küche. Jeden Abend wurde Gerste und ein wenig wilder Knoblauch hinzugefügt, dann die Glut hoch aufgeschichtet, so dass die Brühe über Nacht köchelte und zum Frühstück fertig war.

Anne hob den schweren Deckel hoch, tunkte eine Kelle ein und schöpfte die dicke, schmackhafte Suppe in eine Holzschale. Dann trug sie sie zu Leif hinüber, wobei ihr, fast erschreckend, wieder einmal auffiel, wie groß er war. Durch die Arbeit auf dem Schiff waren Brust, Arme und Schultern besonders kräftig ausgebildet, und selbst wenn er saß, wirkte Anne neben ihm wie eine Zwergin. Und sie nahm seinen Geruch wahr, einen würzigen Duft nach Männlichkeit und Moschus. Er war Kapitän auf einem Handelsschiff, und wenn er sich bewegte, verströmte er den Duft von Zimt und Nelken - eine ferne Erinnerung an frühere Ladungen. Sein Duft ließ sie ihren Verlust noch stärker empfinden.

»Es gibt auch noch Brot. Von gestern, aber trotzdem gut.«

»Brot wäre fein. Es ist doch von Deborah?«

Beide lächelten. Anne hatte einfach kein Geschick zum Teigkneten, so sehr sie sich auch bemühte. Ihre Brote wurden immer schwerer als die ihrer Ziehmutter.

»Ja, sie hat Brot gebacken. Keine Sorge, ich bin nicht einmal in der Nähe gewesen.« Rasch schaffte Anne einen runden Brot-laib und ein Töpfchen mit ausgelassenem Gänseschmalz herbei.

Nach kurzem Zögern setzte sich Anne neben ihren Gast. Stumm beobachtete sie, wie Leif ein dickes Stück vom Brot abriss und in das Gänseschmalz tunkte. Dann löffelte er seine Suppe und warf dabei einen raschen Blick auf Anne. Sie sah müde aus, und die Schatten unter ihren Augen sprachen von Kummer. Oder von Angst.

»Das schmeckt köstlich«, sagte Leif und lächelte. Anne nickte, sah ihn aber nicht an, sondern legte unnötigerweise noch etwas Holz nach.

Leif aß ruhig weiter, bis er mit einem Seufzen die Schale absetzte und sich zu ihr wandte. »Ich gebe Euch keine Schuld, Lady. Ihr musstet mit dem König gehen. Man hat mir erzählt, dass Ihr gar keine andere Wahl hattet.«

Anne senkte rasch den Kopf, um ihre Tränen zu verbergen. Doch vergeblich. Als sie sprechen wollte, war ihre Stimme ein ersticktes Flüstern.

»Es tut mir so leid, Leif. Ich habe Euch im Stich gelassen.«

Er schüttelte den Kopf und deutete ein Lächeln an. »Aber nein. Das ist allein seine Schuld.« Zwischen Empörung und Erstaunen hin- und hergerissen, suchte Anne nach Worten, Leif aber lachte. Ja, er lachte. »Als ich darüber hinweg war, begriff ich. Ich hätte genauso gehandelt. An seiner Stelle.«

In diesem Augenblick kam der kleine Edward in seinem Nachthemd in die Küche gerannt und rief: »Leif!« und warf sich wie eine Kanonenkugel auf den großen Mann. Der Seemann schob seine Schale zur Seite, legte seine kräftigen Arme um das Kind und hob es zu sich hoch.

»Na, Junge, ich dachte schon, du hättest mich vergessen.« Junge, so nannte Leif den Sohn von Anne.

Edward wand sich am Leib des Riesen empor, bis er seine Arme um seinen Hals legen konnte. Ernst schüttelte das Kind den Kopf. »Nein, nie und nimmermehr. Ich liebe dich. Schön, dass du wieder daheim bist, Leif.« Er tätschelte das Gesicht des Mannes, und beide lachten.

Deborah betrat die Küche. Sie hörte gerade noch die letzten Worte des Knaben und sah den wehmütigen Ausdruck in Annes Augen, die Mann und Kind betrachtete. Sie klatschte laut in ihre Hände, so dass die drei erschrocken zu ihr herumfuhren.

»Warum bist du nicht im Bett, junger Mann?«

»Ich habe sie sprechen hören, Deborah. Bitte nicht schimpfen!«

»Ich schimpfe doch nicht, aber du solltest wirklich schleunigst wieder ins Bett, Kind.«

Edward begann mit einem lautstarken Protest, änderte dann aber seine Taktik. »Liest du mir noch etwas vor, Leif? Dann gehe ich auch ins Bett.« Unschuldig wie ein Engelchen.

Leif lachte, und Anne stimmte mit ein. »Das würde ich gerne, Junge, aber ich kann nicht lesen. Ich kann dir aber eine Geschichte erzählen.«

Anne fiel ihm ins Wort. »Lass Edward doch noch ein wenig hierbleiben, Deborah. Und du bleibst auch. Ist es nicht schön, dass Leif wieder da ist und dass wir alle wieder zusammen sind?«

Die alte Frau lächelte ihre Ziehtochter an, sagte aber nichts. Sie fand es gut, dass dieser freundliche, zuverlässige Mann zurückgekommen war, aber das könnte für Anne alles nur noch komplizierter machen. Ob das gut war?

Anne küsste ihren Sohn. »Komm, Edward, du kannst dich hier neben Leif setzen. Möchtest du auch etwas Suppe?« Anne reichte ihrem Sohn ein Schälchen mit Suppe, während Deborah sich hinten in der Küche zu schaffen machte.

»Hast du etwas verloren, Deborah?«

»Die Wärmepfanne. Ich möchte Edwards Bettchen auf-wärmen, bevor er wieder hineinschlüpft. Es ist so kalt. Ah ... da ist sie ja«, sagte Deborah über ihre Schulter und schaufelte heiße Asche in die Klappe der Eisenpfanne. »Und du beeilst dich, Edward, denn du brauchst viel Schlaf. Morgen ist für uns alle ein langer Tag.«

Der Seemann schnitt ein Stück Brot für den Kleinen ab und zeigte ihm, wie er es, ohne zu kleckern, eintunken und in den Mund schieben konnte.

»Sehr gut. Und jetzt noch ein Stück .«

Der Knabe gähnte herzhaft und gab dabei den Blick auf sein halb zerkautes Essen frei. Seine Mutter gab sich alle Mühe, ernst zu klingen. »Edward, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst die Hand vor den Mund halten.«

Der Kleine kicherte und sperrte mit einem Grinsen seinen Mund extra weit auf. Das brachte alle zum Lachen, am meisten die drei Erwachsenen, denen vor Lachen die Tränen über das Gesicht liefen. Dann gähnte Edward wieder, seine Augenlider flatterten, und er rieb sich seine Augen.

»Komm, mein Goldkind«, sagte Deborah. »Genug gelacht. Wir beide wärmen jetzt das Bett auf. Und dann kommt Wissy und sagt dir gute Nacht.«

»Und Leif?«

»Ja, ich komme auch. Und jetzt deck dich gut zu, Junge.«

Der Mann beugte sich vor, stellte den Knaben vorsichtig auf die Füße und küsste ihn zärtlich. Ein Beobachter hätte sie in diesem Augenblick für eine Familie halten müssen - Mutter, Vater, Kind und Großmutter. Anne fing Leifs Blick auf und schien etwas sagen zu wollen, doch dann wandte sie sich ihrem Sohn zu. »Kriegt Wissy keinen Kuss?«

Sie umarmte das Kind heftig, und dann zogen Deborah und der kleine Edward Hand in Hand aus der Küche und sangen: »Die Treppe hinan, die Treppe hinan, ins Bettenland, ins Bettenland . «

In der Küche herrschte Schweigen, nur das Knistern des Feuers war zu hören. Anne legte noch mehr Holz nach und stocherte heftig in der Asche. Sie vermied es, den Mann anzusehen.

»Er ist gewachsen. Er wird einmal groß werden.« Leif sagte nicht: wie sein Vater.

»Was bedeutet denn das?« Er zeigte an die Wand, wo sich verschnürte Truhen und Habseligkeiten stapelten. »Ihr wollt den Hof aufgeben?«

Anne drehte sich zur Seite und nickte.

»Aber warum?«

»Ich möchte das so.«

Leif stand aufund nahm Anne den Schürhaken aus der Hand. Mit diesem Schürhaken war damals der Bote von Edward Plantagenet erschlagen worden.

»Ihr wollt es mir nicht sagen?«

Anne schüttelte den Kopf, sie war den Tränen nahe. »Wir müssen Brügge so schnell als möglich verlassen.«

Leif nahm diese Nachricht ohne Kommentar zur Kenntnis. Dann warf er ein dickes Scheit vom Baumschnitt des vergangenen Herbstes in das Feuer, nahm Annes Kopf zwischen seine Hände und drehte sie sacht zu sich. Sie konnte ihm nicht ausweichen. »Ich habe von dieser Geschichte in der Stadt erfahren. Deshalb bin ich gekommen. Wohin wollt Ihr gehen?«

Anne senkte ihren Blick. »Nach Süden. Italien vielleicht. Wir werden noch einmal von vorn beginnen - Deborah, Edward und ich.«

Das waren tapfere Worte, doch Annes Einsamkeit berührte Leif tief. Er schwieg, und diesmal war sie es, die die Spannung löste, indem sie die leeren Schalen abräumte. Dann kam sie zurück und setzte sich neben ihn auf die Ofenbank. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Niedergeschlagen.

Sacht nahm er ihre Hände. Sie hatten beide in einer seiner Hände Platz. »Ihr müsst das nicht allein schaffen, Anne.«

Sie sah zu dem großen Mann mit den freundlichen Augen hoch, und dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Tiefe, verzweifelte Schluchzer zerrissen ihre Brust. Instinktiv streckte Leif die Arme nach ihr aus, und diesmal wehrte sich Anne nicht. Sie lehnte sich an ihn, und er strich ihr zart über den Rücken. Nach einer Weile schluckte sie ihre Tränen hinunter und ruhte stumm und benommen an seiner Schulter.

»Lady, ich bin gekommen, Euch nach Hause zu bringen. Wenn Ihr es mir gestattet.«

Anne riss ihre verweinten Augen auf. »Nach Hause?«

Leif nickte. »Nach England. Ich habe die Lady Margaret aus dem Delfter Hafen nach Sluis bringen lassen. Die Handwerker, die sie repariert haben, waren tatsächlich ehrlich. Ihr hattet recht.« Er lächelte, und eine Weile schwiegen beide. Dann setzte Anne sich mit sorgenvollem Gesicht auf.

»Aber wie sollen wir nach England segeln? Der Krieg fängt . «

». fängt bald richtig an. Das stimmt. In der Stadt sagen die Leute, Herzog Karl wolle dem König nun doch helfen. Aber so schnell passiert das nicht. Wir sind aufjeden Fall schneller. Wenn Ihr mir nur vertrauen wollt.«

Wenn Leif sprach, klang alles so einfach. Kummer und Verwirrung waren vom frischen Wind der Vernunft wie weggeblasen. In Annes Wimpern hingen Tränen.

»Ich habe dem König gesagt, dass ich entscheiden muss, was für uns alle das Beste ist - für den kleinen Edward, für Deborah und für mich. Und ich werde mich entscheiden.« Sie blinzelte tapfer ihre Tränen fort. »Und Ihr könnt uns wirklich nach London bringen?«

Der Däne stand so abrupt auf, dass er seinen Kopf an dem niedrigen Deckenleuchter stieß. »Oh! Egal! Was glaubt Ihr, warum Sir Mathew sein Schiff nicht schon früher zurückbekommen hat? Ja, natürlich kann ich Euch nach Hause bringen.« Unbemerkt hatte Deborah die Küche wieder betreten. Sie hörte das unausgesprochene Ende seines Satzes: und Euch zu meinem Weib machen.

Thors Diener, der Diener des Krieges, war in einem anderen Gewand zu Anne zurückgekehrt. Ihre Tochter musste sich vorsehen, sonst würde sie eine gewaltige Kraft entfesseln. Kein Krieg zwischen Völkern, kein Unterschied zwischen Klassen konnte so stark sein wie übermächtige Liebe. Wie die Liebe, die dieser Mann für Anne de Bohun empfand.

Teil 3

DIE

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Kapitel 48

Als tiefster Winter in Frankreich herrschte, kam in Paris ein Ungeheuer zur Welt. Ein Kind mit zwei Köpfen und drei Armen, von denen einer aus der Brust herausragte, und mit Händen, die, wie man sich erzählte, Krebsscheren ähnlich waren. Ein schlechtes Zeichen, ein sehr schlechtes Zeichen. Sämtliche Pfarrer, Mönche und Bischöfe riefen das Volk zu allseitiger Buße auf, damit dieses Werk des Teufels nicht zum Vorboten von noch Schlimmerem würde.

Furcht machte sich bei den ausgezehrten und hungernden Menschen im Königreich von Frankreich breit - eine bleiche, schleichende Seuche, die aus Unvernunft und wachsender Panik bestand. Louis de Valois konnte sie riechen, konnte die giftigen Ausdünstungen beinahe mit Händen fassen, als auch sein Hofstaat davon angesteckt wurde.

»Ich muss diese Kreatur sehen. Und auch Ihr, Bruder. Und Ihr sagt mir, was das bedeutet.«

Bruder Agonistes hob sein gequältes Gesicht. Er war noch nicht lange aus Brügge zurückgekehrt, und nun kniete er im Audienzsaal nur drei flache Stufen unter dem Thron, auf dem der König saß. Nach seiner langen Reise nach Süden durch Eis und Kälte war er dünner denn je, schmutziger denn je, und er stank schlimmer denn je. Er stinkt wie ein neun Tage alter Leichnam, dachte Louis bei sich.

Agonistes schnaufte wie ein geschundenes Maultier und seine Hand zitterte, als er zwischen sich und dem König ein Kreuzeszeichen schlug. »Bruder König, ich weiß nicht, was dieses Ding bedeuten soll. Es ist ein lebendiges Wesen. Es heißt, es sauge kräftig an den Brüsten seiner Mutter und es sei gesund. Vielleicht hat nicht Satan, sondern Gott es uns geschickt.«

Louis schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Das kann nicht sein. Unser Schöpfer macht keine missgestalteten Kinder, denn wir sind nach seinem heiligen Antlitz erschaffen. Nein, dies ist ein Zeichen. Das ist gewiss.«

Bruder Agonistes zuckte müde die Achseln. »Der König, mein Bruder, weiß mehr, als ich verstehen kann, denn er ist von Gott gesalbt.« Die Finger des Mönchs krochen zum Rosenkranz, der an einer Schnur hing, die ihm auch als Gürtel diente. Er schloss seine Augen und begann leise den Rosenkranz zu beten. Die Anwesenheit des Herrschers schien er vergessen zu haben.

Louis war nicht beleidigt, denn das Verhalten dieses Mannes war immer außergewöhnlich. Einen Augenblick lang vergaß der König seine Angst vor dem Ungeheuer und fragte sich, was der Mönch wohl sah, wenn er so intensiv betete. »Ihr seid fromm wie immer, Bruder Agonistes. Aber Ihr habt Euch auch verändert. Seid Ihr krank?«

Schweigend schüttelte der Mönch den Kopf und ließ die Perlen des Rosenkranzes unermüdlich durch seine Finger gleiten.

»Nun, fürchtet Ihr vielleicht den Tod, da Ihr Euch so kasteit?«

Die Augen des Mönchs öffneten sich und richteten sich auf den König. »Ja, ich fürchte den Tod. Und das solltet Ihr auch. Wir beide tragen die Last der Sünde, diese stinkende, verhasste Bürde. In der Vergangenheit war die Lust schuld an meinem Niedergang und nun, als ich diese Frau wiedergesehen habe, hat mich die Erinnerung daran von Neuem besudelt. Diese Frau, zu der Ihr mich geschickt habt, Bruder.« Agonistes hörte sich fast vorwurfsvoll an. Louis war über die Vermessenheit des Mönchs so erstaunt, dass er zu sprechen vergaß und der Mönch fortfuhr: »Und doch hat es Euch und dem Herrn gefallen, mir diese Aufgabe zu übertragen, und deshalb bin ich dankbar für die Entbehrungen, die sie mir auferlegt hat. Ich hoffe, sie finden die Anerkennung des Herrn und auch die Eure, Bruder König. Und die Frau wird mittlerweile auf dem Scheiterhaufen verbrannt sein -wenn Gott es so gewollt hat.« Ernst bekreuzigte er sich.

Louis ahmte ihn automatisch nach.

»Und auch Ihr, Bruder, müsst Euch von den irdischen Sünden befreien, wenn Ihr Euer Königreich für Gott und in seinem Namen regieren wollt. Stolz wird Euch in diesem Krieg vernichten, denn Stolz ist das Laster der Könige und die schlimmste Sünde überhaupt. Nun betet mit mir, auf dass wir beide geläutert werden.«

Die Augen des Mönchs waren weit aufgerissen, Teiche von schwarzer Leere. Louis ahnte in ihnen das Entsetzen der Ewigkeit. Plötzlich warf sich Agonistes auf den Bauch und kroch zum König hin wie ein Wurm oder eine Nacktschnecke oder sonst ein ekelhaftes, kriechendes Ding. Louis lehnte sich entsetzt zurück, als der Mönch den Thron erreichte und beharrlich am Saum seiner Robe zerrte, als wollte er mit den stinkenden Fingern an seinen Beinen hochklettern.

»Gewährt mir die Gunst eines gemeinsamen Gebets wegen des Ungeheuers, ich flehe Euch an. Nur dann kann ich für Euch und für das Königreich Frankreich von Nutzen sein, wenn ich erkenne, was unser Herr mit dieser Kreatur beabsichtigt.« Fast erstickt von dem Gestank, der von dem Mönch aufstieg, bedeckte Louis Mund und Nase mit der einen Hand und bedeutete den Wachen mit hektischem Winken der anderen Hand, Agonistes aus der Audienz zu entfernen. Unverzüglich wurde der Mönch von einem Schwarm bewaffneter Männer gepackt und, halb getragen, halb geschoben, vor die Tür geschafft. Louis schauderte vor Erleichterung, glaubte aber immer noch, dass Gott ihm durch den Mönch, seinem Gesandten auf Erden, seinen Willen mitteile. Nur manchmal bewirkte der Gestank eine gewisse Verunsicherung bei ihm. Warum paarte sich Heiligkeit mit Schmutz? In der Bibel stand nichts davon, dass der Herr schmutzig sei. War Agonistes doch kein heiliger Verkünder von Gottes Wort, sondern einfach nur ein Verrückter?

Das Eintreffen weiterer Wachen unterbrach den Gedankengang des Königs. In ihrer Mitte befand sich eine hagere, schwarze Krähe: Olivier le Dain. Die Wachen zogen sich zurück, und die T üren zum Audienzsaal wurden geschlossen. Unter Verbeugungen näherte sich le Dain vorsichtig dem König und blieb dann zu Füßen des Thronpodests stehen.

»Nun?« Der König klang gereizt. Das war gefährlich.

Le Dain schluckte. »Wir haben es gefunden, Euer Majestät.« Vom Basiliskenblick des Königs getroffen, sank le Dain rasch auf die Knie nieder.

»Und?«

»Ich habe es in den Palast bringen lassen. Die Mutter ebenfalls.«

»Sehr gut.« Louis winkte, was le Dain als Befehl auffasste. Er erhob sich und durchmaß in erstaunlicher Geschwindigkeit rückwärtsgehend die ganze Länge des riesigen Saals, wobei er sich von Zeit zu Zeit so tief verbeugte, dass sein Scheitel fast den Boden berührte. Ein belustigtes Lächeln verzerrte die runzligen Gesichtszüge des Königs, als er den Abgang von le Dain beobachtete. Er lächelte selten, und ganz sicher nicht über le Dain.

Der Barbier schluckte die Galle hinunter, die ihm vor Angst in die Kehle gestiegen war. Dieses schreckliche Lächeln! Hastig stieß er eine der großen Türflügel auf, als wöge sie nicht mehr als ein Vorhang aus Gaze. »Schafft sie her!«, bellte der Barbier und bemerkte befriedigt die Angst auf den Gesichtern der Höflinge im Vorzimmer. Abglanz von Macht wie auch Abglanz von Ruhm konnten denjenigen, der nicht aufpasste, versengen.

Unter den Höflingen hob ein Stimmengemurmel an, und dann teilte sich die Menge wie durch Zauberhand, um ein kleines, verängstigtes Mädchen mit einem großen Korb durchzulassen.

Die Höflinge schlossen dicht hinter ihr auf, als sie, eingekeilt von Wachen, die viel größer waren als sie, weiterging. Sie war sittsam in einen hoch geschnittenen Wollkittel gekleidet und trug die weiße Leinenhaube der verheirateten Frauen. Als sie näher zu le Dain kam, sah dieser, dass sie nicht so jung war, wie sie von fern gewirkt hatte. Sie war bestimmt schon sechzehn oder siebzehn, wenn sie auch für ihr Alter recht klein war. Dies also war die Mutter des Ungeheuers.

»Zeigt es mir.« Le Dain klang genauso unnahbar wie der König - den Herrn nachahmen war eine Fertigkeit, die er schon früh bei Hof erworben hatte -, und das Mädchen erbleichte. Mit bebenden Händen stellte sie den Korb auf den Boden und zog die kleine Decke weg, die seinen Inhalt verbarg. Im ersten Moment war le Dain verwirrt, denn er sah zwei gesunde Säuglinge, die Seite an Seite trotz des Lärms um sie herum friedlich schliefen. Doch dann zog die junge Mutter die Decke vollständig fort und gab den Blick auf das Scheusal frei.

Neugierige Höflinge drängten sich vor, um besser sehen zu können. »Zurück!«, befahl der Barbier den Wachen, die daraufhin sofort ihre Spieße senkten.

War es die barsche Stimme le Dains oder der empörte Protestschrei eines der höchsten Würdenträger des Landes, wodurch das Ding in dem Korb erwachte? Jedenfalls begann es zu greinen wie jedes andere hungrige Kind auch, und jene, denen es gelang, einen Blick darauf zu werfen, erzählten, dass wunderbarerweise die beiden Gesichter von engelsgleicher Schönheit seien, mit schwarz gelockten Haaren und Augen so blau wie ein See im Sommer.

»Das reicht«, befahl le Dain. »Deck dieses ... Ding wieder zu. Der König wartet.« Die Mutter beugte sich über den Korb und legte behutsam die Decke wieder darauf. Und als sie den Korb vom Boden hochhob, flüsterte sie in einem Kauderwelsch, wie es alle Mütter mit ihren Kindern sprechen. Le Dain bemerkte, dass sich auf ihrem Mieder dunkle Flecken abzeichneten. Das Kindergeschrei hatte ihren Milchfluss ausgelöst. Unwillkürlich überkam le Dain eine Woge des Mitleids. »Hier.« Er streckte seine Hand aus und bedeutete ihr, dass er den Korb tragen wollte. Einen Augenblick flammte Trotz in den blauen Augen des Mädchens auf - wenigstens diese hatte sie ihrem Kind vererben können -, doch dann machten sich Angst und Hoffnungslosigkeit auf ihrem Gesicht breit. Sie senkte ihren Kopf und übergab le Dain den Korb, in dem ihr Kind - oder ihre Kinder - schrien.

Als le Dain den Korb nahm und hin- und herschaukelte, hörte das Geschrei seltsamerweise auf, und vier blaue Augen hefteten sich auf ihn. Beobachteten sie ihn etwa? War dies der Beweis für die Vaterschaft des Teufels, oder war es nur ein zufälliger Blick von Neugeborenen? Le Dain, der selbst Vater war, wusste es nicht. Wenn diese Kreatur wirklich teuflischen Ursprungs war, dann war seine erste Annahme richtig. Da er aber schon eigene Neugeborene im Arm gehabt hatte, war er sich fast sicher, dass die zweite Annahme zutraf.

Er machte den Türwachen ein Zeichen und bedeutete dem Mädchen, ihm in den Audienzsaal zu folgen. »Komm. Der König ist an deinem Ungeheuer sehr interessiert.«

Das Mädchen zuckte zusammen und errötete vor Scham. Sie war noch nicht daran gewöhnt, die Mutter eines Lakaien der Dunkelheit zu sein. Sie faltete ihre Hände über der Brust, eine ungewollt anrührende Geste, und eilte dem hohen Hofbeamten nach. Am liebsten hätte sie sich bekreuzigt, aber sie traute sich nicht. Wenn sie wirklich eine Teufelsbrut war, würde Gott sie dann vor Empörung zu Asche verwandeln, wenn sie seinen Trost und seinen Schutz erflehte?

Der König beobachtete die seltsame Prozession mit Furcht und mit Faszination. Wenn dieses Mädchen wirklich eine Satansbraut war, warum sah sie dann nicht danach aus? Sie war unterwürfig, klein und verängstigt. War das nur eine listige Verkleidung, eine Täuschung?

»Zeig her.«

Le Dain stellte den Korb mit dem nun stillen Ungeheuer auf die unterste Thronstufe und bedeutete dem Mädchen, näher zu treten. Vor lauter Angst rutschte sie auf den Knien zum Thron, das Rascheln ihres Kleides war das lauteste Geräusch in dem großen, kalten Audienzsaal. Sie griff in den Korb, hob ihr Kind heraus und wickelte es bedachtsam in die wollene Überdecke. Kaum lag das Kind in ihren Armen, drückte sie es automatisch an ihre Brust. Beim Geruch der auslaufenden Milch fingen die beiden Mäulchen an zu wimmern. Die beiden Köpfchen drehten sich zu ihr und wollten saugen. Hilflose Tränen rollten über das Gesicht der Mutter, als sie, die Schreie ignorierend, ihr Kind von sich weghielt, damit der König es genau studieren konnte.

»Setz dich. Zeig mir, wie du es stillst.«

Die junge Mutter beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. Sie wagte sogar, ihrem Kind ein paar beruhigende Worte zuzuflüstern, und ließ sich schwer auf den Stufen nieder. Dann schnürte sie, so schnell sie konnte, ihr Mieder auf, während die beiden kleinen Köpfe ein lautes Geschrei begannen.

»Scht, scht, nur Geduld. Hier, hier ist sie doch ...«

Keusch wandte sie sich von Louis de Valois ab. Die Schreie des Säuglings gingen in eifriges Schniefen über, als sie ihn in ihren Schoß bettete und das eine gespitzte Mündchen an die eine Brust setzte. Dann gelang es ihr mit einiger Mühe, die andere Brust zur gleichen Zeit dem zweiten Mündchen anzubieten. Wie jeder gesunde Säugling fing auch dieser gleich kräftig an zu saugen, und beide tranken gierig die Milch aus den marmorweißen Brüsten.

Es war ein anrührender Anblick, trotz der höchst eigenartigen, kleinen, rosa »Hummerscheren«, die sich nach oben arbeiteten und neben den Brustwarzen der Mutter zu liegen kamen, und trotz des überraschenden dritten Arms, der nun zwischen den Brüsten des Mädchens ruhte und dessen Scheren sich im Saugrhythmus des zweiköpfigen Kindes öffneten und schlossen.

Ein Ausdruck des Friedens schlich sich auf das Gesicht des geplagten Mädchens, als es mit mütterlicher Zärtlichkeit seinem Kind beim Trinken zusah. Sacht legte es die Decke zurecht, damit das seltsame, kleine Wesen nicht fröre.

Der König winkte le Dain nach vorn zu seinem Thron. Zu seinem eigenen Erstaunen flüsterte er: »Was meint Ihr, was das ist?«

Le Dain, der genauso gebannt war wie der König, antwortete ohne nachzudenken: »Das weiß Gott allein.«

Louis sah seinen Ratgeber streng an. »Gott, meint Ihr? Nicht ...?« Er wollte den Namen nicht aussprechen, sondern bekreuzigte sich und küsste inbrünstig ein seidenes Reliquiensäckchen, das er um den Hals trug. »Soll es getötet werden?«, fragte der König weiter.

Das Mädchen hörte ihn, und seine Augen weiteten sich vor Schrecken, und die Pupillen wurden so groß, dass vom Blau nichts mehr zu sehen war. Das Kindchen sperrte beide Münder zugleich auf und schrie. Hatte es ebenfalls gehört, was der König gesagt hatte?

Die beiden Männer sahen sich voller Angst an, und das Mädchen brachte mit bebenden Fingern erst den einen, dann den anderen Kopf dazu, sich wieder ihren Brüsten zuzuwenden. Vier kleine Augen schlossen sich, als die Münder wieder zu saugen begannen und die Mutter es hin- und herschaukelte, um ihr Kindchen - oder sich selbst - zu trösten.

»Euer Majestät, vielleicht ist dieses Kind ... ein Symbol?« Le

Dain hörte überrascht seine eigenen Worte. Er hatte es »Kind« genannt.

Der König nickte und betrachtete die Szene, die sich ihm darbot. »Der Krieg. Gott hat uns ein Zeichen zum Krieg mit England gesendet. Das erkenne ich jetzt.«

Le Dain lächelte seinen Herrn erleichtert an. »Gewiss habt Ihr recht, Euer Majestät.« Heftig nickend verbeugte er sich in der Art der Höflinge. »Natürlich habe ich nicht die Gabe, dies zu sehen. Doch Eure von Gott gesalbte Majestät versteht Dinge, die dem gemeinen Mann verborgen bleiben.«

In Anerkennung des Kompliments neigte der König ernst und gebieterisch sein Haupt. »Es ist ganz deutlich, le Dain. Seht nur die zwei Köpfe, diese weisen auf die zwei Könige, auf mich und auf Edward Plantagenet. Drei Arme, diese weisen auf die beteiligten Armeen. Auf die gemeinsame Armee Frankreichs und Englands, auf die Armee von Burgund und auf seine Armee, die Armee von York. Zwei von ihnen sind stark, eine ist schwach.« Louis deutete nacheinander auf die winzigen Gliedmaßen. Das dritte, welches aus der Brust herauswuchs, war in der Tat kleiner. »Die Armee von York - seht nur, wie schwach sie ist, eingekeilt zwischen den beiden anderen. Diese Arme symbolisieren auch die drei am Krieg beteiligten Länder: Frankreich, England und Burgund. Burgund ist natürlich das kleinste Land.«

Le Dain legte eine Art atemloser Verzückung in seine Stimme. »Natürlich! Und die ... Hände?« Fast hätte er »Scheren« gesagt.

Der König runzelte die Stirn. Das war schwieriger zu deuten.

»Sie sehen nicht aus wie die Hände von Sterblichen, das ist richtig.« Nachdenklich sahen beide Männer auf die seltsamen, kleinen Scheren. »Und doch liegt auch hierin eine Botschaft.« Unaufgefordert fiel le Dain auf die Knie und neigte ehrfürchtig sein Haupt, als empfinge er die Hostie beim Abendmahl.

Sacht löste das Mädchen den einen kleinen Mund von ihrer Brust. Die dazugehörigen Augen waren geschlossen. Das Kindchen schlief, wie jeder Säugling nach dem Stillen. Seltsamerweise war der andere Mund noch am Saugen, seine Augen wanderten durch den Raum, während seine Lippen sich eifrig bewegten.

»Ja. Die Hände sind mächtige Waffen. Seht, sie sehen aus wie Scheren, und Scheren schnappen zu und zermalmen ihre Beute. Und seht auch, wie der eine Kopf schläft und der andere wacht. Das mag seltsam anmuten, aber das ist es, was Gott mir sagt. Siehe, der wahre, von Gott gesalbte König darf niemals schlafen, niemals ermüden, sonst erwartet ihn die Vernichtung. Ich bin der wahre König von Frankreich, wohingegen Edward Plantagenet ein Thronräuber ist! Ich muss immer wachsam bleiben. Und ich werde meine Beute, den falschen König, im Schlaf zermalmen!«

Le Dain hatte den König nie zuvor so angeregt sprechen hören, und so glücklich hatte er ihn auch noch nie erlebt. Er empfand Ehrfurcht, denn dies war ein unglaublicher Tag. Er verzichtete auf den Hinweis, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass Edward Plantagenet einem Säugling gleich schlief, während sein Reich in Gefahr war. Louis de Valois erhob sich und deutete auf das Mädchen zu seinen Füßen. Instinktiv kauerte sie sich über ihr Kind, als wollte sie den kleinen Körper vor den Blicken des Königs schützen.

»Hab keine Angst, Maid. Dein Kind ist ein Fingerzeig Gottes! Es wird den Schutz deines Königs genießen, denn es hat uns manches mitzuteilen.«

Louis hob seine Hand über den Kopf des Mädchens, was le Dain als Entlassung deutete. Er klatschte in die Hände und musste seinen Ärger unterdrücken, als das Mädchen ihn angstvoll ansah, willenlos wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird. Er verneigte sich, ging so schnell er konnte rückwärts die Thronstufen hinab und zischte: »Beeil dich.« Bemüht, ihm zu gehorchen, reichte das Mädchen ihm das Kind und machte sich an seinen Kleiderbändern zu schaffen. Diese selbstverständliche, menschliche Geste bedeutete eine Missachtung seiner Stellung als königlicher Ratgeber, doch die Dankbarkeit des Mädchens entschädigte ihn. Sie war wirklich sehr hübsch, und ganz offensichtlich sah sie in ihm ihren Retter und den Retter ihres Kindes. Das konnte von Nutzen sein. Ein Symbol war immer etwas Wertvolles, und er wollte dafür sorgen, dass ohne seine Erlaubnis niemand Zugang zu diesem speziellen Symbol - und seiner Mutter - bekam.

Darüber dachte le Dain nach, als er, das Mädchen und das Kind sich der Tür des Audienzsaals näherten. Sie gingen beide rückwärts, so schnell, wie sie es vermochten.

Die Stimme des Königs ließ sie stehen bleiben. »Welches Geschlecht hat es?«

Das Mädchen sah mit stummem Entsetzen auf den Kämmerer. Dieser lächelte gütig wie ein Vater. Sie war verwirrt, aber gleichzeitig blitzte Hoffnung in ihren Augen auf. »Ein Mädchen, Euer Majestät«, flüsterte sie.

Der König schaute sie verdutzt an. »Ein Mädchen? Ein Mädchen . « Dann leuchteten seine Züge wissend auf. »Ah, ich verstehe. Ein Mädchen, das schwache Geschlecht. Ja! Gottes Heerscharen werden unterwerfen, was schwächer ist. Ein ausgezeichnetes Symbol für unsere Cousine, König Margaret von England. Jetzt ist mir alles klar!«

»Aber das ist wunderbar, mein König. Ein Wunder!«, rief le Dain. »Erlaubt mir, diese Offenbarung zu wiederholen, zur Beruhigung des Hofs und des ganzen Landes!«

Der König nickte gnädig. »Ja. Beruhigt mein Volk. Es soll im ganzen Land verbreitet werden. Und behütet mir gut das Kind und seine Mutter. Wir müssen über einiges nachdenken. Gott möchte, dass dieses Kind gedeihe und uns allen ein Wunder sei. Es soll Louisa heißen. Das haben wir verfügt.«

Überwältigt fiel das Mädchen, das vor kurzem noch eine Teufelsbraut gewesen war, auf die Knie und schlug vor Dankbarkeit den Kopf auf den Boden. Als sie benommen wieder aufsah, sah sie, wie der Ratgeber mit einem Blitzen in den Augen ihre geschwollenen Brüste anstarrte. Schüchtern lächelte sie ihren neuen Beschützer an, der den Korb mit ihrer Tochter hochhob. Langsam wich ihre Angst und machte einer neuen Gewissheit Platz. Sie würde leben. Und ihr Kind würde leben. Und ihr Mann musste sich eben mit der neuen Situation abfinden.

Ihr zweiköpfiges Ungeheuer konnte für sie alle noch zum Segen werden.

Kapitel 49

»Aber in welchem Umfang wird Herzog Karl den König unterstützen?«

Es war spät. Im Sonnenzimmer des Blessing House, dem Wohnsitz von Mathew Cuttifer in London, war das Feuer niedergebrannt. Mathew, Lady Margaret und Anne hatten den ganzen Abend lang über die Situation in Burgund gesprochen, doch Anne war so erschöpft, dass sie dem Gespräch kaum noch folgen konnte. Sie blinzelte und rieb sich die Augen, die sich anfühlten, als ob Sandkörner darin wären.

»Verzeiht, Sir Mathew, aber ich weiß nur, dass der Herzog sich am Tag nach Weihnachten mit dem König getroffen hat. Und Ed ... der König war zuversichtlich, dass er bekommen würde, was er brauchte. Wir sind überstürzt aufgebrochen, müsst Ihr wissen und .« Die junge Frau versuchte vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken.

Lady Margaret stand entschlossen auf. »Mathew, wir können dieses Gespräch morgen fortsetzen. Anne ist erschöpft. Sie ist seit Tagen auf diesem Boot gewesen, noch dazu bei Gegenwind.«

»Schiff, meine Liebe. Dein Schiff.« Mathew war immer sehr genau.

Margaret warf ihm einen kurzen Blick zu. »Anne braucht jetzt eher Schlaf als ein korrektes Wort, Mathew. Wir können morgen weitersprechen. Wenigstens ist sie in Sicherheit und der kleine Edward auch. Alles andere ist von nachrangiger Bedeutung.«

»Und Leif.« Anne stand schwerfällig auf. Sie sehnte sich danach, ihre Glieder zu strecken, glaubte aber, diesem Bedürfnis nicht nachgeben zu dürfen. Seltsam, der Respekt, den sie für ihre einstigen Herrschaften empfand, ließ sie in ihre alte Rolle als Dienstmädchen zurückfallen, als sie in just jenem Zimmer noch Kammerzofe gewesen war. Wie müde musste sie sein, um auf solche Gedanken zu verfallen.

»Leif?« Mathew sah sie verwirrt an.

»Leif ist auch in Sicherheit. Und ebenfalls die Lady Margaret. Gott sei Dank!«

Margaret legte ihren Arm um Anne. »Leif hat Euch gute Dienste erwiesen, meine Liebe. Und er hat auch dem Haus Cut-tifer treu gedient.«

»Es wird langsam Zeit, dass er wieder richtig arbeitet!«, murmelte Mathew. Doch dann fing er den Blick seiner Frau auf und klappte seinen Mund mit einem hörbaren Schnappen zu. Er beurteilte Leifs Dienste für Anne etwas anders als seine Frau.

»Seid nicht böse mit Leif, Sir Mathew. Er war hin- und hergerissen zwischen seinem Pflichtgefühl gegenüber Euch und seinem Bemühen, den kleinen Edward, Deborah und mich sicher nach London zu bringen.« Es hätte noch viel mehr darüber zu sagen gegeben, aber Anne zog es vor zu schweigen.

»Und wir sind sehr froh, dass er das getan hat, aber jetzt ist es Zeit zum Schlafen. Ich werde Jassy suchen - sie hat Euch das neueste Zimmer hergerichtet. Es wird Euch gefallen. Es ist geräumig und hat sogar einen Kamin. Keine qualmenden Kohlepfannen mehr! Deborah und das Kind sind, glaube ich, schon dort. Wartet hier, Anne, ich bin gleich wieder zurück.«

Lady Margaret eilte aus dem Sonnenzimmer, zuvor aber warf sie ihrem Gemahl noch einen warnenden Blick zu. Sei nett, sagte dieser Blick. Sei freundlich.

Mathew räusperte sich. »Leif hat es letztlich doch sehr gut gemacht. Und ich bin froh, dass er wieder hier ist. Hier wartet Arbeit auf ihn, und wir haben nicht viel Zeit. Ich möchte alle meine Schiffe nach Bristol bringen lassen. Sollten die Aufständischen bis London kommen - ob auf dem Land- oder auf dem Seeweg -, werden sie alles plündern und niederbrennen.«

Anne schwieg. Leif hatte sich am frühen Abend eilig von ihr verabschiedet, um Sir Mathews Befehlen nachzukommen. Er hatte mit Anne nur einen kurzen Blick tauschen können, bevor er ging, und sie hatte, betroffen von der Intensität seines Blicks, ihre Augen niedergeschlagen. Und nun war er fort, und sie fühlte sich leer.

Mathew unterbrach ihre Gedanken. »Seid Ihr denn gar nicht hungrig, Lady Anne? Ihr müsst etwas essen.« Auf einer Truhe waren Speisen aufgetischt, aber Anne hatte den ganzen Abend fast nichts angerührt. »Es ist nicht gut, mit leerem Magen ins Bett zu gehen. Darf ich Euch wenigstens etwas von der Eierspeise auftun? Ihr werdet danach gut schlafen.«

Er war fürsorglich wie ein alte Glucke. Das war jedes Mal so, wenn Anne da war. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie vor vielen Jahren als Dienstmädchen in sein Haus gekommen war, ein ganz normales Mädchen, aber mit einem außergewöhnlichen Lächeln und diesem etwas anderen Auftreten. Anders, ja, aber wer hätte jemals daran gedacht, dass sie eine Prinzessin unter ihrem Dach beherbergten, zwar keine eheliche, aber trotzdem die leibliche Tochter eines Königs. Und sie war einmal ihre Dienerin gewesen!

»Lady Anne?«

Sie starrte in die Flammen und dachte gerade, genau wie er, an ihre erste Zeit in diesem Haus. Wenn sie zur Tür schaute, war ihr, als müsste sie sich jeden Moment öffnen und Piers, Mathews Sohn, hereinkommen. Sie zitterte, als die Erinnerungen Gestalt annahmen. Er hatte versucht, sie zu vergewaltigen, zu . sie schüttelte den Kopf, denn sie wollte nicht an jene schlimme Nacht denken.

Anne sah ihren einstigen Herrn an und lächelte herzlich. »Ich fände es schön, wenn Ihr mich nach all dieser Zeit mit dem Vornamen ansprechen würdet. So wie es früher alle hier im Haus getan haben.«

Mathew ergriff Annes Hand und küsste sie galant nach französischer Sitte. »Jeder Eurer Wünsche ist mir ein Vergnügen und ein Befehl.«

»Schön gesprochen, mein Herr, schön gesprochen.«

Mathew lächelte Anne mit leiser Wehmut an. »Weißt du, Kind, ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass ein Mann jemals wieder dein Herr sein wird. Auch der König nicht.«

Anne schwieg einen Augenblick und sah ihren guten und gütigen Freund an. Dann küsste sie ihn sanft auf die Wange. Ihr Atem war süß. Mathew widerstand dem Drang, die Stelle zu berühren, wo ihre Lippen ihn berührt hatten.

»Ich bin Euch so unendlich dankbar, Euch und Lady Margaret, Master Mathew. Ihr seid meine eigentliche Familie, Ihr und Deborah und der kleine Edward. Ich habe Euch so viel zu verdanken. So viel, dass ich wohl kaum einen Bruchteil davon vergelten kann. Und nun auch noch Asyl.«

Der alte Mann spürte Tränen in seinen Augen aufsteigen und wunderte sich über seinen plötzlichen Gefühlsausbruch. Er räusperte sich laut. »Ihr müsst nichts vergelten. Und selbstverständlich könnt Ihr so lange hierbleiben, wie Ihr möchtet. Es war der Wille des Herrn, mir Euer Wohlergehen teilweise zu überantworten, und ich fühle mich geehrt von diesem Vertrauen. Ihr seid wichtig für unseren König. Für mich und die meinen werdet Ihr immer wichtig sein.«

»Das gebe Gott, Gemahl. Und nun ist es Zeit, zu ruhen. Komm, Anne, Euer Bett ist aufgewärmt.« Bei Mathews letzten Worten war Lady Margaret ins Zimmer zurückgekommen und streckte Anne ihre Hand hin wie eine Mutter, die glücklich ist, dass es ihr Kind warm hat.

Nun war es Anne, die die Tränen zurückdrängen musste, als Mathew und Margaret sie anlächelten.

»Gute Nacht, Kind. Morgen werden wir über die Zukunft sprechen. Erst einmal aber bist du hier bei uns in Sicherheit. Wir wünschen dir einen traumlosen Schlaf.«

Als Anne in ihrem warmen, nach Lavendel duftenden Bett lag und dem Wind lauschte, der um die Pfeiler und Zinnen des alten Gemäuers strich, sprach sie, bevor sie vom Schlaf eingehüllt wurde, noch ein Gebet. Mach, dass auch er in Sicherheit ist, Mutter. Auch er ...

Aber in ihren Träumen in dieser Nacht sah sie zwei Männer.

Edward.

Und Leif.

»Und wo ist er jetzt?«

Elizabeth Wydeville ging im Jerusalemzimmer aufgeregt auf und ab. Es war die kälteste Stunde der Nacht, der Regen schlug hart gegen die dunklen Fenster, und sie konnte nicht schlafen. Manchmal meinte sie, nie mehr schlafen zu können.

»Beruhige dich, Tochter. Das ist nicht gut für den Milchfluss und auch nicht für das Kind, wenn du es stillst.«

Die Königin drehte sich zu ihrer Mutter um. »Beruhigen? Wie kann ich mich beruhigen? Mein Sohn braucht keine ruhige

Mutter, er braucht eine Mutter, die Königin von England ist, damit er als das anerkannt wird, was er ist, nämlich der rechtmäßige Prinz von Wales, und nicht dieser Bastard von Anjou. Seit Tagen haben wir nichts gehört, Mutter. Ich muss wissen, wo der König ist!«

Jacquetta zuckte zusammen und staunte wieder einmal darüber, dass eine so schlanke Frau ein solches Stimmvolumen haben konnte. Ein Seufzen unterdrückend, sah sie von ihrem Stickrahmen auf und massierte sich die Schläfen. Sie musste sich zwingen, ruhig zu sprechen. Wenigstens eine von ihnen musste die Ruhe bewahren. »Also gut, gehen wir noch einmal durch, was wir wissen.«

Elizabeth gab einen Ton von sich, der sich halb wie ein Bellen und halb wie ein Schluchzen anhörte, und ließ sich mit einer heftigen Bewegung auf einem der beiden Stühle nieder, die in dem riesigen Zimmer standen. Der Stuhl war eines jener altmodischen, unbarmherzigen Eichenmöbel mit sehr steiler Rückenlehne. Sie rutschte hin und her, um bequemer zu sitzen, und hob die Hand. War diese Geste eine Art Zustimmung?

Ihr Mutter streckte einen Finger in die Höhe. »Erstens: Wir wissen, dass Karl dem König Geld gegeben hat.«

»Ja, aber wie viel - und was ist mit den Schiffen und ...«

»Unterbrich mich nicht! Ich wiederhole. Erstens: Edward hat Geld, eine bedeutende Summe, genug, um Männer und Waffen anzuschaffen. Zweitens: Karl lässt in Veere Schiffe für ihn aufrüsten. Drittens: Die englischen Kaufleute in Brügge unterstützen ihn. Das ist sicher - dein Bruder Rivers hat es uns selbst erzählt. Viertens: Nun scheint es klar, dass sich der Wind dreht und die Fürsten hier im Land ihre Meinung ändern. Und Clarence ebenso.«

»Clarence! Ich schwöre dir, wenn ich diesem Mann noch einmal begegne, dann werde ich ihn in Stücke reißen lassen und . «

Jacquetta blieb unbeeindruckt. »Das wäre das Dümmste, was du tun kannst. Edward braucht Clarence. Wenn der Herzog wieder zu deinem Gemahl zurückkehrt, wird er viele Männer mitbringen, die bisher Warwick unterstützt haben. Und diejenigen, die dann immer noch unschlüssig sind, werden sich eher zu unseren Gunsten entscheiden. Clarence sieht doch, was geschieht. Seine Hoffnung auf den Thron ist zerschlagen.«

Elizabeth starrte stumm ins Feuer und kaute an einem Finger. Jacquetta seufzte.

»Ach, Tochter, wir brauchen sie alle. Auch Clarence. Wenn Edward anlandet, dann ...«

»Falls Edward anlandet«, murmelte die Königin.

»Wenn der König zurückkommt, muss er das Land wieder zusammenbringen, muss die Fürsten und die Kriegsparteien einigen. Er ist der Einzige, der dazu in der Lage ist. Die Fürsten sind verunsichert. Sie wissen, dass der Waffenstillstand zwischen Warwick und Margaret von Anjou nicht von Dauer sein kann. Feindschaft, die so tief sitzt, kann nicht einfach verschwinden. Nein, glaube mir, sie warten ab. Sie werden Edward folgen, sobald er wieder im Land ist, und nicht Warwick und Margaret, allein schon wegen deines Sohnes. Denn mit ihm ist die Thronfolge gesichert. Und niemand will in Wirklichkeit die französische Königin zurückhaben. Sie haben alle viel zu viel Angst vor ihr.«

Elizabeth schauderte bei dem Wort »Königin«. »Aber Warwick hat seine Tochter mit ihrem Sohn verheiratet! Das weißt du doch. Vielleicht regiert eines Tages eine Anne Neville in diesem Land. Anne Neville!«

Jacquetta schüttelte den Kopf. »Wirklich, Elizabeth, ich habe dich doch nicht zu einem Kleingeist erzogen. Das ist eine reine Vernunftehe und bedeutet überhaupt nichts, wenn Edward zurückkommt. Das ist nicht einmal so viel wert.« Die Herzogin hielt einen Strang rote Stickseide hoch. »Teuer, dekorativ, aber letztendlich doch nur eine Stickerei, nichts wirklich Wertvolles. Du wirst schon sehen. Hab Vertrauen.«

Elizabeth beugte sich vor und stocherte wild im Feuer. Die Holzscheite fielen auseinander und drohten auf die Steinplatte vor dem Kamin zu rollen. Gerade noch rechtzeitig stieß die Königin sie mit dem Fuß zurück. Das Gesicht von der Anstrengung gerötet, ließ sie sich auf den Stuhl zurückplumpsen und starrte missmutig in die Flammen. Dann hellte sich ihr Gesicht auf.

»Ich frage mich, ob sie Anne de Bohun doch noch verbrannt haben. Das war endlich einmal eine gute Nachricht, dass der Mönch sie am Weihnachtstag denunziert hat. Rivers schrieb richtig wütend darüber in seinem Brief.« Sie kicherte und warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu. »Weißt du, ich habe schon immer geglaubt, dass sie eine Hexe ist.«

Jacquettas Tonfall war ätzend. »Im Gegensatz zu dir, meinst du? Oder zu mir?«

Elizabeth entgegnete erschrocken: »Mutter, wie kannst du nur so etwas sagen? Das ist gefährlich.« Und dann lachte sie, lachte laut und heftig. »Fort. Sie ist wirklich und wahrhaftig fort. Endlich. Für immer!«