»Warum seid Ihr gekommen?«
Der Wikinger zuckte die Achseln. »Ihr braucht mich hier. Ihr braucht jemanden, der vor Ort nach Euren Geschäften sieht.«
»Aber Ihr arbeitet doch für Sir Mathew ...?«
»Auch er sorgt sich um Euch. Sir Mathew wünscht, dass ich hier bei Euch bin.« Leif drängte es, zu fragen: »Und wünscht Ihr es auch?« Aber etwas hielt ihn davon ab. Selbstvertrauen. Es fehlte ihm einfach an Selbstvertrauen gegenüber Frauen.
Anne pflückte die nächste Quitte. Sie wusste genau, was ihm auf den Lippen lag. Sie waren in dem vernachlässigten Obstgarten, der sich außerhalb der Mauern ihres Guts befand. Sie sammelten Früchte ein und legten sie in Körbe aus Schilfgras. Der frühe, heiße Sommer hatte fast einen Monat früher als sonst das Obst zum Reifen gebracht, und die Äste brachen beinahe unter der Last der Früchte. Äpfel, Pfirsiche, Quitten und Mispeln. Deborah und Anne hatten mit dem Einmachen und Trocknen noch viel Arbeit vor sich - falls Anne hierbleiben würde.
Leif hielt die Leiter fest, und Anne kletterte vom Baum herab. Sie band die Riemen los, mit denen der Korb an ihrem Rücken befestigt war. Er befreite sie von ihrer Bürde, und sie seufzte erleichtert und dehnte ihre verspannten Schultern. Zufrieden betrachtete sie ihre Ausbeute.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ... Ich glaube, wir haben fast zwanzig Körbe voll, Leif. Und die Bäume im hinteren Garten haben wir noch gar nicht abgeerntet. So viele Äpfel müssen wir noch pflücken - wie schrecklich!«
Sie lachte. Früher hatte ihr schwere, körperliche Arbeit nichts ausgemacht, aber heute beschwerten sich ihre Muskeln. Und ihre Kehle war ausgetrocknet. Leif lächelte und hielt ihr eine Lederflasche hin.
»Hier. Trinkt.«
Das saftig-grüne Gras unter dem alten Birnbaum war sehr einladend, aber es gab noch so viel Arbeit. Für Fortuna und ihr Kälbchen war dies die ideale Weide - Gras und Fallobst. Sie durfte nicht vergessen, es Deborah zu sagen.
»Anne?«
»Ja?«
»Hört mit dem Grübeln auf. Setzt Euch. Das Obst läuft uns nicht davon. Wir haben noch den ganzen Tag vor uns.«
Sie lächelte und setzte sich neben ihn. Er war ein guter Kamerad und Freund, und er hatte natürlich recht. Sie brauchte seine Hilfe. Bei so vielen Dingen.
Anne kniff die Augen zu und trank einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Das erste eigene Bier, das sie hier gebraut hatten. Es schmeckte wie Nektar. Sie wischte mit der Hand über den Mund und gab ihm die Flasche zurück. »Könnt Ihr mir einen Rat geben, Leif?«
Er trank ebenfalls, und sie betrachtete seinen kräftigen, braunen Hals.
»Das ist gut, Lady. Ihr habt ein Händchen dafür. Für das Bierbrauen.« Er lächelte, und sie lächelte zurück. Aber ihre Frage blieb unbeantwortet.
Um die Verlegenheit zu überspielen, wickelte Anne einen von Deborahs Kuchen aus dem Leinenbeutel. Er war so groß, dass mehrere Männer davon hätten satt werden können. »Seid Ihr hungrig?« Sie hatte die falsche Frage gestellt und wurde rot. Was war nur über sie gekommen? Sie wusste, wie seine Antwort, seine ehrliche Antwort, lauten würde.
Leif griff mit einem schelmischen Lächeln an ihr vorbei und nahm sich das große Stück, das sie für ihn abgeschnitten hatte. »Natürlich«, sagte er, »ich bin immer hungrig.« Sie saßen so eng beieinander, dass sie seinen frischen Schweiß riechen konnte.
Anne senkte den Blick und schnitt sich ebenfalls ein Stück Kuchen ab. Die Gefühle, die sie für diesen Mann empfand, verwirrten sie, und Sprechen machte alles nur noch schlimmer. Sie räusperte sich und sagte in dem träge summenden, warmen Obstgarten unnötig laut: »Dann wollt Ihr mir keinen Rat geben?«
Leif schüttelte den Kopf. Er kaute langsam und sah sie dabei an. »Ihr würdet doch nicht akzeptieren, was ich Euch zu sagen hätte, Lady.«
Sie sah ihn von der Seite an. »Das ist gemein. Woher wollt Ihr das wissen?«
Er lächelte und biss vom Kuchen ab. »Weil ich Euch kenne, Lady.«
Anne wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie wischte sich die Kuchenkrümel vom Kleid und stand auf. Dann nahm sie das Tuch vom Kopf und wischte damit ihr erhitztes Gesicht ab. Am Rande des Obstgartens verlief ein kleiner Bach, deshalb waren hier auch die Bäume gepflanzt worden. Wasser bedeutete reiche Ernte.
»Gebt mir die Flasche, wenn Ihr ausgetrunken habt. Ich möchte frisches Wasser einfüllen.«
Leif lächelte träge und hielt ihr die Lederflasche hin. Sie beugte sich vor und wollte sie nehmen, aber dann, gerade als sie sie berührte, zog er sie schnell wieder zurück. Bei dem Versuch, sie zu erhaschen, verlor sie das Gleichgewicht und fiel in seinen Schoß. »Also, Lady, Ihr wollt, dass ich Euch sage, was ich denke?«
Anne war nun vollends verwirrt und außer Atem, sie lag quer auf ihm, ihre Brüste gegen seinen Leib gepresst.
»Das ist wirklich gemein, Leif.«
Er hielt ihre Hände fest, und sie wand sich und versuchte, sich zu befreien. Beide atmeten schnell.
»Lasst mich los!«
»Nur wenn Ihr mich anhört.«
Sie war geschickt und stark, aber er war ihr weit überlegen und hielt sie mühelos fest, drückte sie erbarmungslos an sich.
»Sag ja, Anne.«
»Zu was?« Ihr Herz wollte zerspringen, aber sie hatte keine Angst.
»Zur Wahrheit.« Und dann, weil die Gelegenheit so günstig war, küsste er sie.
Sie war nicht schockiert, aber die Wucht, mit der seine Lippen sie berührten, warf sie fast um. Während er sie küsste, lockerte sich sein Griff, und sie, ohne nachzudenken, machte eine Hand frei und schlug ihm hart gegen die Brust. »Nein!«
Er lachte. »Ja!« Und küsste sie wieder und fing ihre freie Hand ein. In ihrem Kopf drehte sich alles, Licht und Dunkel prallten aufeinander, und sie küsste ihn zurück. Und in diesem Augenblick, als alle Gewissheit bis auf die Grundfesten erschüttert wurde, fasste Anne de Bohun einen Entschluss. Sie musste nach London reisen. Sie musste Gewissheit erlangen.
»Ich muss von ihm Abschied nehmen. Ich kann unsere Beziehung nicht einfach so beenden.«
Deborah rührte gleichmäßig in einem Bottich mit Quitten und passte auf, dass die Früchte nicht zerfielen. »Warum? Hier könntest du in Frieden leben.« Leifist zurückgekommen. Bleib hier, um seinet- und um deinetwillen. Das war es eigentlich, was Deborah sagen wollte.
Anne wich ihrem Blick aus und spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Kopfschüttelnd erwiderte sie: »Hier finde ich keinen Frieden. Nicht, solange der König es mir nicht erlaubt. Ich bin ohne sein Einverständnis zurückgekommen, und er könnte mich wieder in die Verbannung zwingen.«
Deborah wandte sich den köchelnden Früchten zu. »Das hätte er doch längst getan, wenn er gewollt hätte.«
Mit einem langen Löffel holte Anne die Musselinsäckchen mit den kostbaren Gewürzen, Muskatnüssen, Nelken und Zimtstangen aus dem Topf heraus und legte sie vorsichtig zur Seite, wo sie für weiteren Gebrauch trocknen sollten. »Er ist immer noch der König. Ich habe seinen Willen missachtet, indem ich nach England zurückgekehrt bin.«
Aus dem Kochtopfstieg köstlich duftender Dampfauf. Noch einmal umrühren, dann klopfte Deborah den Löffel am Rand des Kochkessels ab. »Damals war er noch nicht auf dem Thron. Jetzt ist er wieder König, aber sie ist auch noch Königin. Egal, ob sie nun einen Sohn haben oder nicht. In London droht dir Gefahr. Von beiden.«
»Ich werde mit dem König eine Vereinbarung treffen und versuchen, mit Elizabeth zu einer Verständigung zu kommen. Das ist die einzige Möglichkeit, unsere Zukunft hier zu sichern.« Anne fing an, aus dem Korb mit den ungeschälten Früchten die guten, die keine Druckstellen hatten, herauszusuchen. Deborah setzte sich neben sie und nahm ihr Schälmesser zur Hand.
»Leif könnte dir dabei helfen, Tochter. Er kann dir helfen, eine friedliche, sichere Zukunft zu schaffen.«
Anne drehte sich um und sah ihrer Ziehmutter direkt in die Augen. Sie wusste die Antwort, bevor sie die Frage ausgesprochen hatte. »Warum sagst du so etwas?«
Deborah hob eine gelbe Frucht hoch, wog sie in ihrer Hand und begann sie zu schälen. »Wenn Leif und du heiraten würdet, hättest du den Schutz, den du brauchst. Hier, auf deinem eigenen Land.«
Anne wollte etwas erwidern, aber dann zog sie es doch vor zu schweigen. Deborah konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Lange, lockige Schalenringe kringelten sich unter der Klinge und fielen zu Boden.
»Das wäre für euch beide eine gute Partie. Gemeinsam könntet ihr etwas aufbauen. Er ist ein guter und tüchtiger Mann. Er würde gut zu dir passen, und er liebt dich von ganzem Herzen. Der Junge hätte einen richtigen Vater, und du könntest ihm noch Geschwister schenken. Für dich würde Leif Molnar sogar die See aufgeben. Er mag außer seinem starken Rücken und seiner ruhigen Wesensart vielleicht nichts mitbringen, aber du bist begütert genug, um eine Familie zu gründen. Und dieser Mann wird dich niemals in Stich lassen.«
»Im Gegensatz zu Edward, meinst du wohl?« Annes Stimme klang harsch vor Enttäuschung.
Deborah nickte unbarmherzig. »Er hat keine andere Wahl. Du wirst nie mehr als seine Mätresse sein. Er hat eine Frau. Meinst du wirklich, du kannst seine Geliebte werden, die von aller Welt verachtet wird? Du? Und was wird dein Sohn von dir denken, wenn er älter ist? Er wird dich dafür hassen.«
Anne nahm eine besonders große Frucht zur Hand und drehte Deborah den Rücken zu. Sie konnte das Beben in ihrer Stimme aber nicht verbergen. »Du bist grausam.«
Die alte Frau griff nach Annes Hand. »Bist du dir sicher, dass du die Stärke hast, zu ihm zu gehen und dann wieder fortzugehen und zu wissen, dass du ihn wirklich nie mehr, nie mehr wiedersehen wirst? Nie mehr wiedersehen darfst?«
Anne fragte zornig: »Wieso zweifelst du an mir? Das ist Vergangenheit. Ich bin nicht freiwillig nach s'Gravenhage gegangen.«
Die Alte nickte, ließ aber nicht locker. »Aber jetzt ist die Situation eine andere. Es wäre so leicht, wieder ins höfische Leben einzutauchen. Du würdest es am Anfang wahrscheinlich sogar genießen, würdest Macht und Einfluss gewinnen. Und vielleicht würde man sogar deine Herkunft anerkennen. Ja, bestimmt wäre das ganz im Sinne des Königs, um dich gesellschaftlich aufzuwerten. Und das würde auch die Qualen, die du erlitten hast, etwas mildern. Aber nur für eine Weile. Es würde nie ausreichen. Ich zweifle nicht an deiner Stärke, aber ich weiß auch, was du für diesen Mann empfindest. Du hast dich ihm ausgeliefert. Du hast zugelassen, dass der König zum Magnetstein deines Lebens geworden ist. Wirst du wirklich die Freiheit haben, wenn du ihn besuchst, auch wieder zu gehen?«
Anne widersprach mit bebender Stimme. »Du hast meine Herkunft erwähnt. Ich habe einen Vater, den ich nie kennengelernt habe. Vielleicht wäre es auch an der Zeit, dies nachzuholen.«
Liebevoll strich Deborah Anne über die Wange und wischte einen kleinen Rußfleck fort. »Das meiste, dem wir im Leben begegnen, können wir verändern. Aber nicht alles. Zum Beispiel nicht die Liebe. Man kann nicht lieben, wenn man keine Zuneigung empfindet. Und man kann die Liebe auch nicht mit Gewalt vertreiben. Es geht hier nicht um deinen Vater. Es geht um deinen Geliebten.«
Anne schüttelte den Kopf. »Ich muss gehen, Deborah. Ich muss für mich Klarheit schaffen. Und ich muss für mich und meinen Sohn meine Stellung in diesem Land sichern. Dafür könnte es nützlich sein, meinen Vater zu treffen. Und danach . nun, das Schicksal wird uns die Antwort geben.«
Bei schönem Wetter und auf trockenen Wegen dauerte die Reise von Somerset nach London eigentlich nicht lange. Trotzdem kam sie Anne de Bohun wie die längste Reise ihres Lebens vor, obwohl Tag für Tag die Sonne schien und England einen herrlichen Sommer bescherte. Um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, hatte Anne sich gegen das Reiten entschieden und in
Taunton eine geschlossene Kutsche gemietet. Die Kutsche war ein klobiges Gefährt auf hohen Rädern, mit schmalen, vergitterten Fenstern und dicken Polstersitzen, doch schon eine Meile hinter der Stadt wusste Anne, dass sie einen schrecklichen Fehler gemacht hatte.
Sobald die Pferde etwas schneller gingen, begann die Kutsche auf den harten, ausgetrockneten Wegen in den ledernen Halteriemen wild hin- und herzuschaukeln. Bald wurde es Anne übel und schwindelig, fast wie damals auf der Lady Margaret. Und die Polster waren so hart, dass sie jedes Loch und jede Furche in der Straße spürte. Doch selbst bei der größten Benommenheit war sie sicher, dass sie richtig entschieden hatte, als sie Leif Molnar gebeten hatte, bei Deborah und dem kleinen Edward auf dem Gut zu bleiben. Natürlich hatte er sie begleiten wollen, aber der Schutz des Kindes war Annes größte Sorge. Schließlich hatte sie ihn überzeugen können.
Zu ihrem eigenen Schutz hatte sie Wat mitgenommen. Er ritt neben der Kutsche her. Und Ralph von Dunster, ein großer, schweigsamer Mann, den Leif ausgesucht und als Wachmann für tauglich befunden hatte, saß aufdem Kutschbock. Jane Alles-white, Meggans Nichte aus dem Dorf, war von Deborah als Zofe angelernt worden und vervollständigte die kleine Reisegesellschaft.
Jene Jane nun saß Anne in der Kutsche gegenüber, war bleich und schwach und schämte sich fürchterlich, denn sie hatte sich über ihr neues Leinenkleid erbrochen. Der Geruch in dem engen, stickigen Wagen war unerträglich, aber Anne war der Meinung, dass sie nicht bei jeder Übelkeit anhalten konnten, denn sonst würden sie erst Tage später in der Hauptstadt ankommen, und so viel Zeit hatte sie nicht.
»Wenn dir wieder übel wird, Mädchen, häng dich aus dem Fenster. Mir wäre lieber, du kotzt auf die Straße.« Die arme Jane hob ihr schweißnasses, grünes Gesicht und stöhnte. Anne sprach schnell weiter: »Wir müssen stark sein, Jane. Komm, wir zählen, bis die Übelkeit von allein verschwindet. Eins, zwei, drei ...«
Jane jammerte: »Ich kann nicht zählen.« Dann stürzte sie zum Fenster und riss gerade noch rechtzeitig den Verschlag auf.
»Oje!« Wat ritt seitlich hinter der Kutsche, und sein empörter Aufschrei erschreckte die Pferde so, dass Ralph sie mit kräftigen Flüchen wieder beruhigen musste.
So ging die Reise weiter, und mit jedem Tag - insgesamt waren es drei Tage - verschlimmerte sich der Zustand der Reisenden. Sogar auf langen Seereisen lernen die Matrosen mit der Seekrankheit fertig zu werden. Aber das war mit dieser Reise nicht zu vergleichen. Die Frauen hörten auf zu essen, denn die ständige Übelkeit hatte ihnen jeglichen Appetit genommen. Und selbst das Trinken schränkten sie ein, denn sie erbrachen sogar das Wasser. Dann, am Nachmittag des dritten Tages, nahm Anne einen vertrauten Geruch im böigen Wind wahr. Der typische, sommerliche Gestank Londons zog ihr in die Nase, und sie hörte die Stimmen der großen Stadt. Eisenbeschlagene Räder auf Kopfsteinpflaster, das Brüllen der Tiere, die zur Schlachtbank geführt wurden, die Stimmen der Menschen, die riefen, schrien, lachten und fluchten ... Kurz darauf waren sie mit ihrer Kutsche inmitten der Massen von Tieren und Menschen, die sich über die Straße The Strand wälzten.
Wie viele Jahre waren vergangen, seit Anne wie benommen auf just dieser Straße hinter Deborah entlanggestolpert war? Ein Mädchen vom Land im handgewebten Kleid, die ihr einfaches Leben in den Wäldern für immer hinter sich ließ, eingeschüchtert von den fremden Eindrücken, dem Lärm und dem Gestank. Und den Männern, die ihr lüsterne Blicke zuwarfen.
Und nun fuhr Lady Anne de Bohun, vor Blicken geschützt und in Kleidern, die mehr kosteten als manches Haus, das die alte Straße säumte, denselben Weg wie damals. In der fest verriegelten Kutsche stank es in der Tat, aber der Gestank draußen war schlimmer. Grollend wichen die Menschen auf der Straße der Kutsche aus, sie drängten einander unter die Überhänge der Häuser genau wie sie und Deborah einst auf der London Bridge. Und sie schrien empört, wenn das vergitterte Gefährt an ihnen vorüberrollte und der Dreck von den Rädern aufspritzte. Anne hörte ihre Buhrufe und Pfiffe, hörte, wie sie riefen: »Seid Ihr zu stolz oder zu hässlich, dass Ihr Euch nicht zeigt, Lady? Zeigt uns Euer Gesicht, dann seht Ihr selbst, was Ihr angerichtet habt!« Doch Anne öffnete die Läden nicht. Sie war einmal ein Bauernmädchen gewesen, aber das war Vergangenheit. Das Schicksal war viel zu kompliziert, als dass man es je begreifen könnte.
Noch ein, zwei Stunden in der stickigen Kutsche auf Londons überfüllten Straßen, dann war die Reise zu Ende, und Anne de Bohun kam am Tor eines großen, dunklen Hauses an. Blessing House. Und dort brach sie schließlich zusammen.
Louis de Valois erwachte mitten in der Nacht aus einem Traum, der wahrhaftig eine göttliche Eingebung war. Ihm war, als wäre er geflogen, und als er herabblickte, da sah er unter sich zwischen seinen Flügelspitzen das ganze englische Königreich. Er war ein Vogel. Nicht einfach ein Vogel, ein Adler. Und dann kam von der Sonne her ein anderer Adler auf ihn zu - riesig, zornig und kreischend. Aber er hatte den Adler besiegt. Er hatte beinahe tödliche Verletzungen davongetragen, aber dann hatte er den Schwachpunkt seines Gegners entdeckt. Mit einem letzten Schnabelhieb hatte er die Brust seines Feindes aufgerissen, so dass das Blut bis hinunter auf die Erde tropfte. Mit einem letz-ten zornigen Schrei war sein Gegner hinabgestürzt, hinabgetaumelt, und im Fallen verlosch sein Leben ...
»Licht! Licht!«
Alaunce Levaux rappelte sich von seinem Lager auf, das sich quer vor der Tür des königlichen Schlafgemachs befand. Er hatte lange nicht einschlafen können, weil die Binsen, die man viel zu nah an seinem Gesicht aufgeschüttet hatte, stanken und von den Hunden des Königs voller Flöhe waren. Und nun, nachdem er endlich in süßes Vergessen gesunken war .
»Hier bin ich, Herr.«
Levaux schlief immer vollständig angezogen. Aus langer Erfahrung wusste er, dass sein Herr oft aus unruhigen Träumen erwachte, und er scheute die Peinlichkeit - und die Kälte -, wenn er dem König in nächtlicher Blöße aufwarten musste. Es dauerte nur einen Moment, dann hatte er die Kerze angezündet, die er in einer silbernen Schale neben dem Bett des Königs aufbewahrte.
Der König schnaubte ungeduldig. Levaux wurde alt. Und langsam. Genau wie sein Herr,
»Schaff mir den Mönch herbei.«
Levaux kämpfte noch mit dem Schlaf. »Der Mönch, Euer Majestät? Welcher ...?«
Der König brüllte: »Den Mönch! Agonistes. Ich möchte Bruder Agonistes sprechen. Sofort!«
Dieser Ton konnte vieles bedeuten: Tod, Zerstörung, schlechte Verdauung. Wie ein Geist flüchtete Levaux aus dem Zimmer, aber Louis schrie hinter ihm her: »Er soll an den Hof dieses Thronräubers. Sag ihm das! Ich brauche Informationen, hast du gehört? Informationen! Es muss einen Weg geben, diesen Königsmörder zu verwunden, ihn an einer Stelle zu verletzen, wo er es am wenigsten erwartet. Der Mönch wird einen Weg finden. Er soll noch heute Nacht aufbrechen. Unverzüglich. Geh!
Befolge meine Anweisungen, sonst droht dir der Käfig, Levaux. Denk an den Käfig!«
Levaux hastete hinaus. Natürlich würde er den Befehlen seines Herrn Folge leisten, auch wenn der König sich zu seiner eigenen Beruhigung an Wahnvorstellungen klammerte. In Frankreich war Hochsommer, doch für Louis hatte die Welt sich verdunkelt, das wusste der ganze Hof. Sicher, mit Burgund war ein brüchiger, dreimonatiger Waffenstillstand geschlossen worden, aber nur, weil Louis' Traum, in die Geschicke Englands eingreifen zu können, sich mit dem Tod Warwicks und dem Sieg über seine Cousine Margaret zerschlagen hatte. Louis war ein pragmatisch denkender Herrscher.
Aber was sollte der Mönch dabei für eine Rolle spielen? Wieso sollte er an den Hof von König Edward gehen? Levaux schüttelte ratlos den Kopf und stolperte durch den dunklen Palast. Er hasste Nächte wie diese. Er würde le Dain aufwecken müssen, und der Barbier ließ sich nachts gar nicht gern aufwecken - das machte ihm Angst. Und Angst machte den Vertrauten des Königs unberechenbar und wütend.
Ein böses Omen. Überall gab es böse Omen. Vor allem da er, er allein, wusste, dass le Dain ein Geheimnis vor dem König verbarg. Bestimmt würde es irgendwann herauskommen und dann ... dann beschütze der Himmel uns alle. Bis dahin wollte er möglichst unauffällig seinen Dienst verrichten. Gehorsam konnte ihn vielleicht noch eine Weile schützen. So Gott will.
»Sie ist fort. Schon seit ein paar Tagen, Mylord.«
William Hastings, Großkämmerer von England, verspürte einen verrückten Drang zu lachen, als er aufDeborahs gebeugtes Haupt sah. Er streckte seine Hand aus und half ihr hoch.
»Fürchtet Euch nicht, Mistress. Sagt mir einfach, wohin Lady Anne gegangen ist.«
Deborah fasste sich wieder. Eigentlich mochte sie William Hastings, aber das plötzliche Gefühl von Angst war ihr eine Warnung. »Das ist allein die Angelegenheit der Lady, Sir.« Der Kämmerer des Königs war einer der mächtigsten Männer des Reichs. Er stand in Annes Diele und draußen, im Innenhof, wartete eine beträchtliche Anzahl bewaffneter Männer. Deborah hatte tapfer gesprochen. Um Williams Lippen zuckte es. Er mochte mutige Menschen.
»Trotzdem, ich vertrete die Angelegenheit des Königs und bin hier auf seinen Befehl, Mistress Deborah. Er erwartet Gehorsam von seinen Untertanen. Ich frage Euch noch einmal: Wo ist Eure Lady?«
»Sie ist nach London gereist.«
William drehte sich rasch nach der Männerstimme um. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich kenne Euch.«
Leif Molnar ging durch den Raum und stellte sich neben Deborah. Er war beinahe doppelt so groß wie die Alte, aber er bückte sich, griff nach ihrer kleinen Hand und tätschelte sie beruhigend, bevor er weitersprach. »Ja, Ihr kennt mich. Euch habe ich einige lichtlose Wintermonate im Binnenhof zu verdanken. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, dem König so viele dunkle Tage zu schenken.«
Hastings betrachtete den riesigen Wikinger und zog die Augenbrauen hoch. Dann lächelte er, nicht unfreundlich, und sagte sanft: »Es gibt schlimmere Kerker als die Verliese des Binnenhofs, mein Freund. Was macht Ihr hier in diesem Haus?«
Leif hätte diese Worte als Provokation auffassen können, doch er entschied sich dagegen. »Ich schütze die Interessen meiner Lady. Gegenüber allen, die ihr Probleme bereiten wollen.«
»Aha. Das ist eine gute Antwort. Und sie bedeutet, dass wir Freunde sein können. Denn auch ich bin hier, um Eure Lady zu schützen. Ihre Interessen sind die des Königs. Und die des Königs sind auch meine Interessen.«
Leif war nicht dumm, er verstand die Betonung, mit der Hastings das Wort »Lady« ausgesprochen hatte. »Lord Kämmerer, meine Lady wird dankbar sein für die Fürsorge, die Ihr ihren Interessen entgegenbringt, wenn sie davon erfährt. Doch da Ihr zu spät gekommen seid, um sie persönlich zu sprechen, befürchte ich, dass sie nie ganz verstehen wird, warum Ihr ihr Eure Unterstützung und Hilfe anbietet. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass ich Euch als ihr treuer Diener in ihrem Namen Dank aussprechen darf.« Leif machte eine knappe, elegante Verbeugung.
Deborah staunte, denn Leif, der normalerweise so wenig wie möglich sprach, hatte eine perfekte Rede gehalten und ein geschliffenes Benehmen gezeigt.
Der Kämmerer reagierte unwillkürlich ebenfalls mit einer Verbeugung und war darüber verwirrt. Er hatte gedacht, dieser Mann, der sich einst als Annes Ehemann ausgegeben hatte, sei ein einfacher Seemann. »Und dürfte ich auch den Namen von Lady Annes hervorragendem Diener erfahren?«
»Ich heiße Leif Molnar und bin Kapitän auf der Lady Margaret, ein Handelsschiff von Sir Mathew Cuttifer. Mein Herr hat mich beauftragt, sein Mündel, Lady de Bohun, zu beschützen. Es ist mir Pflicht, Ehre und Vergnügen, dieser Aufgabe nach zukommen.«
»Und doch ist sie ohne Euch nach London gereist?«
Eine winzige Spur von Spott war aus den Worten des Kämmerers zu hören. Deborah sah schnell zu dem Dänen auf. Er bemerkte ihre Besorgnis und lächelte. Dann schob er ihr einen Stuhl hin, damit sie sich setzen konnte. Sollte sie? Der Kämmerer hatte keine Erlaubnis signalisiert.
»Mistress, wollt Ihr Euch nicht setzen? Ihr seid sicher müde.« Die Luft knisterte vor Spannung ob dieses Verstoßes gegen die Konvention, denn Leif hatte Deborah direkt angesprochen.
Die alte Frau setzte sich auf den einfachen Stuhl. William Hastings schlug seine Reithandschuhe gegeneinander. »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet, Master Molnar.«
Der Däne lächelte gelassen. »Meine Lady istjetzt immer wohlbehütet, Mylord. Dafür habe ich gesorgt.«
Hastings knirschte leise mit den Zähnen. Er war voll des Staubes und musste sich nun unverrichteter Dinge auf den langen Ritt zurück nach London machen. Noch einmal drei Tage. Gott allein wusste, was bei Hof durchgesickert war, bis er zurückkäme.
»Nun gut. Doch da das Wohl Eurer Herrin« - wieder betonte er dieses Wort - »unserem König sehr am Herzen liegt, muss ich Euch fragen, wo sie in London logiert.«
In diesem Augenblick erklang eine fröhliche Kinderstimme. »Deborah, Deborah, wo bist du?«
Die Spannung zwischen den beiden Männern löste sich, als die alte Frau rief: »Hier drin, in der Diele, mein Kind.«
Ein kleiner Wirbelwind stob in den Raum, der sich, kaum dass er auf Deborahs Schoß gehüpft war, als Edward entpuppte. »Schau nur, schau! Ein grüner Frosch. Richtig grün!«
»Genau! Pass auf, Edward. Wir haben Besuch bekommen. Das ist Lord Hastings. Du musst ihn im Namen deiner Tante begrüßen, Kind.«
Edward drehte sich um und bemerkte Hastings, der ihn neu-gierig anstarrte. »Hallo. Ich erinnere mich an Euch. Ihr habt in unserem alten Haus gewohnt. Ihr seid auch in unserem neuen Haus willkommen. Mögt Ihr Frösche, Sir?«
Das sagte der Kleine mit einer solchen Selbstsicherheit, dass Hastings, der selbst Vater von Söhnen war, regelrecht entzückt war. »Ich freue mich, dass Ihr Euch an mich erinnert. Darf ich Euren Frosch mal sehen, kleiner Mann?«
Leif Molnar trat ein Stückchen näher zu der Frau mit dem Kind, als der Kämmerer auf sie zuging. Die Blicke der beiden Männer trafen sich.
»Ah ja. Ein sehr schöner und bestimmt ein sehr seltener und großer, grüner Frosch. Ihr habt wirklich Glück, Edward.«
Das Kind nickte eifrig. »Es wird ihm bestimmt gefallen, hier bei uns zu wohnen. Meint Ihr nicht auch, Sir?«
Eine bezaubernde Wesensart, stellte der Kämmerer fest. Genau wie sein Vater.
»Nun, ich glaube, dazu wird Mistress Deborah noch ein Wörtchen zu sagen haben. Nach meiner Erfahrung mögen Frösche lieber in Tümpeln leben als in Häusern.«
Edward schüttelte den Kopf. »Nein, nicht alle Frösche. Das hier ist ein Häuserfrosch. Er mag es hier. Seht nur.« Edward ließ sich von Deborahs Knien gleiten und setzte den Frosch vorsichtig auf die Binsen. Dort saß er, pumpte kräftig, aber rührte sich nicht vom Fleck.
»Wir mögen die Freiheit, Edward. Das ist für uns das kostbarste Gut. Darin sind sich Frösche und Menschen gleich.«
Leif Molnar sah William Hastings an, als er das sagte. Edward lag bäuchlings am Boden und betrachtete ernst seinen Frosch. Der Kämmerer beugte sich hinab und streckte seine Hand aus. Nach einer Weile hüpfte der Frosch darauf. Es sah eigenartig aus. Edward setzte sich auf und streckte die Hand aus. »Nein! Er gehört mir!«
»Wir leben in einer großen und gefährlichen Welt, Edward.
Manche können mit Freiheit besser umgehen als andere. Dieser Frosch zum Beispiel .«
Edward stand auf den Zehenspitzen und streckte seine Arme nach oben. »Gib ihn mir. Gib ihn mir!«
Deborah rief erschrocken: »Aber Edward!«
Der Kleine beachtete sie nicht. »Bitte, Sir. Ich habe ihn gefunden. Er gehört mir!« Seine Unterlippe bebte, und William Hastings sah ihn mitfühlend an.
»Du kannst ihn wiederbekommen, aber« - Edward reckte ihm sein tränenverschmiertes Gesicht entgegen - »aber du musst einen Preis dafür bezahlen. Wo ist deine Tante?«
Der Knabe lächelte froh. »Oh, das ist leicht. Sie ist bei Sir Mathew. Kann ich jetzt meinen Frosch wiederhaben?«
Es war später Nachmittag. Edward Plantagenet hielt die kleine Schriftrolle in seinen Händen und strich sanft über das Siegel. Ein Siegel, das er persönlich verliehen hatte - die drei angevinischen Leoparden über zwei Blutstropfen. Annes Siegel.
»Wünschen Euer Majestät noch einen Schluck .«
»Geh!« Der König blickte den Küchenjungen verärgert an. Vor Schreck ließ das Kind beinahe den Bierkrug fallen und flüchtete rückwärtsgehend hinaus.
Erst kurz zuvor war der König noch heiter gewesen. Er war vom königlichen Marstall zurückgekommen, wo er zusammen mit Freunden seine Jagdfalken inspiziert hatte. Der Spätnachmittag war mild und schön. Die Sonne neigte sich gen Westen, und sogar die Mücken hatten sich in der sanften Brise verzogen. Unter fröhlichem Lachen und Scherzen war die Hofgesellschaft hereingekommen, um sich bei einem Schluck Bier zu erfrischen.
Aber dann war der Bote mit der kleinen Schriftrolle gekommen. Nun standen die Höflinge schweigend und unentschlos-sen herum. Sollten sie dem Küchenjungen folgen? Der König sah einen Augenblick hoch und riss den Brief auf. »Ja! Ihr alle. Geht!« Er machte eine abwehrende Geste und drehte ihnen den Rücken zu.
Die Männer unterhielten sich leise, als sie zu zweit und zu dritt hinausgingen. War der König zornig oder traurig? Oder . ?
»Die Franzosen, was meint Ihr? Ob Louis wieder etwas im Schilde führt?« Weises Kopfnicken.
»Er sah erschrocken aus. Schlechte Nachrichten?«
Hinter ihnen ertönte plötzlich ein lautes Lachen, und ein paar von ihnen wagten einen Blick zurück. Das Gesicht des Königs war freudig erregt, und er warf seinen Samthut hoch in die Luft, ohne sich darum zu kümmern, wohin er fiel. Die Höflinge sahen sich erstaunt an, und einer bückte sich und hob die Kopfbedeckung des Königs auf, die auf einem Haufen Pferdeäpfel gelandet war.
»Sollen wir auch ...?«
». mit ihm gehen? Nein. Er hat uns nicht darum gebeten.«
Der Mann mit des Königs Hut versuchte mit kräftigem Schütteln den tierischen Zierrat von dem modischen Stück zu entfernen. Der wattierte Samt würde sorgfältig getrocknet und ausgebürstet werden müssen. Der braune Fleck auf der roten Krempe war wahrscheinlich kaum noch zu sehen, wenn er getrocknet war. Er hielt den Hut gegen das Licht.
Sein Freund schüttelte den Kopf. »Zu spät.«
Für den Hut? Oder um den König einzuholen?
»Was meint Ihr, wohin er so schnell gegangen ist?«
Der Freund zuckte die Achseln. »Dahin, wo er uns nicht brauchen kann.«
Sie saß allein im Sonnenzimmer von Lady Margaret, als sie eine ferne Unruhe vernahm. Stimmen, Männerstimmen. Die eine Stimme wurde plötzlich lauter und schrie. Die dicken Mauern dämpften das Geräusch. Kurz darauf ertönte ein heftiges Klopfen an der Tür, und dann tauchte das hochrote Gesicht des glücklosen Walter auf.
»Lady, ich kann meinen Herrn und meine Herrin nicht finden, aber der König ...«
Anne erhob sich, das Blut schoss ihr ins Herz, sie rang nach Luft und ihr wurde schwindelig. Der arme Walter. Er trat vor und streckte seine Hand aus, voll Sorge, die Lady könnte in Ohnmacht fallen. Sie war kreidebleich geworden.
»Es tut mir leid, Mistress, ich meine, Lady Anne, aber der ... er hat gesagt, ich soll Euch holen.«
Anne legte ihren Stickrahmen so vorsichtig ab, als wäre er eine Reliquie.
»Geh!« Walter drehte sich rasch zu der Stimme um und hielt den Atem an. Edward Plantagenet war mit einem einzigen großen Schritt im Sonnenzimmer und verriegelte hinter sich die Tür, bevor Anne auch nur einmal Luft holen konnte.
Der Mann und die Frau starrten sich an. Sie nahmen kaum das Getrappel von Walters Füßen wahr, der sich eilig entfernte.
»Nun, Lady?«
Anne schwieg. Edward Plantagenet überwand den kurzen Abstand zwischen ihnen. Seine Stimme bebte. »Ein halbes Jahr. Ein ganzes Leben.« Er stand greifbar nah, aber noch immer schwieg sie.
»Habt Ihr mir nichts zu sagen?« Seine Stimme klang gequält, flehend.
Ein Beben erfasste Annes ganzen Körper. Sie streckte eine Hand, einen Finger aus und strich zögernd über seine Wange. Deborah hatte recht. Sie hatte nicht die Kraft.
Edward schloss seine Augen. Dort, wo sie ihn berührt hatte, prickelte seine Haut.
»Sechs Monate. Wirklich, ein ganzes Leben.« Anne ließ ihre Hand sinken, und als der König seine Augen aufschlug, sah er Tränen auf ihren Wangen glitzern. Er fing eine Träne auf und drückte sie auf seine Lippen.
»Keine Tränen mehr.«
Er breitete seine Arme aus, und sie ließ sich hineinfallen. Seufzend schmiegte sie sich an ihn, sein Hals war so nah, dass sie ihn hätte küssen können. Sein Geruch war unverwechselbar. Hinter dem Duft von Veilchenwurzel und Sandelholz nahm sie seine männliche, nach Moschus duftende Haut wahr, warm und lebendig. Sie kannte diese Haut.
»Komm mit mir.« Mit seiner freien Hand hob er ihr Kinn an. Er beugte sich hinab, seine Lippen berührten ihren Mund, der sich leicht öffnete. »Ja ...« Er hauchte das Wort in sie hinein. »Sag ja, Anne.«
Er drückte sie an sich, der eine Arm stützte sie, der andere umschlang sie fester und fester. Widerstandslos, als hätte sich ihr Rückgrat aufgelöst, schmolz sie dahin.
Mit einem Mal sah sie ihren Sohn: Er lächelte und spielte im Obstgarten von Herrard Great Hall. Hinter ihm war, ebenfalls lachend, Leif.
»Warte! Ich muss nachdenken.« Sie wand sich, und er ließ sie los. Sie drehte ihm den Rücken zu und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»Ich möchte Wiedergutmachung leisten, mein Herz. Hilfmir, damit uns beiden geholfen ist.« Ungewollt klang seine Stimme wie die eines kleinen Kindes, das um sein Lieblingsspielzeug bettelt.
Anne ließ ihre Hände sinken und drehte sich zu ihm hin. »Nun gut. Gib mir Frieden. Ich will nichts weiter von dir als meine Freiheit. Ich möchte auf meinem eigenen Land in Frieden mit meinem Sohn leben. Keine neugierigen Blicke, keine Fragen mehr. Von niemandem.«
Sie hatte leise gesprochen und einen bewusst neutralen Ton gewählt. Was empfand sie wirklich? Edward wusste es nicht. Er streckte flehend seine Hand nach ihr aus. »Das sei dir gewährt. Ich werde dir ein ehrbares und friedliches Leben ermöglichen.« Er trat einen Schritt näher, dann noch einen. »Ich habe ein Geschenk für dich, Anne. Ein Geheimnis, nur für uns beide. Ich möchte es dir zeigen, darf ich? Wenn du es erst gesehen hast, wirst du verstehen, das verspreche ich.«
Anne de Bohun kannte Edward Plantagenet gut. In seinen Augen sah sie, dass er es aufrichtig meinte. Wollte sie sein Geschenk annehmen?
»Diesmal musst du mir vertrauen, Anne. Gott hat uns eine letzte Chance gegeben.« Edward beugte sich vor und ergriff Anne bei den Händen. »Komm mit mir, mein Herz, sonst wirst du immer rätseln, was mein Geheimnis ist.« Ihr Schweigen als Einverständnis wertend, zog Edward sie langsam und ohne auch nur einen Moment die Augen von ihr lassend zur Tür des Sonnenzimmers. Ihre Röcke schleiften leise raschelnd über den Steinboden.
Er hob den Riegel hoch, nahm ihren Arm und hakte sie unter. Dann sah er ihr tief in die Augen.
»Du bist die große Liebe meines Lebens, Anne. Die Zukunft kann unser sein, wenn du es willst.« Edward stieß die Tür auf. Er und die schweigende junge Frau schritten gemeinsam über die Schwelle.
Da wurden sie unerwartet von einem Licht geblendet. Jemand hatte eine große Laterne aufgestellt, um in der hereinbrechenden Dunkelheit den Flur zu beleuchten. Der König er-haschte einen Blick auf Annes Gesicht. Sie sah gleichzeitig erschrocken und freudig erregt aus.
Zusammen rannten sie die Stufen hinunter. Und da tasteten Annes Finger endlich nach denen des Königs. Er verstärkte seinen Griff, und gemeinsam verließen sie Blessing House.
Unbemerkt beobachtete Margaret Cuttifer ihre Flucht. Sie stand mit ihrem Gemahl in einem Flur, der auf die Empfangshalle mündete. Sämtliche Diener waren in die Küche verbannt worden, damit der König jederzeit gehen konnte, allein oder in

»War es richtig, ihren Brief zum Palast zu schicken?« In Mathews Stimme lag Angst.
Margaret war genauso hilflos wie er. »Sie hat uns darum gebeten. Hätten wir uns denn weigern können?«
Unter ihnen ging das große Tor von Blessing House auf und wieder zu. Anne und der König waren fort.
Mathew seufzte, und dann machte er etwas ganz Ungewöhnliches, denn er war normalerweise ein sehr zurückhaltender Mann. Er zog seine Frau an sich und küsste sie auf den Mund. »Ich bin dankbar, dass es dich gibt. Dankbar, dass du meine Frau bist. Mögen dem König und Anne dasselbe Glück beschert sein, das ich mit dir erfahren durfte.«
Zärtlich erwiderte Margaret Cuttifer seinen Kuss. »Und ich mit dir, Mann. Ich auch mit dir.«
Von draußen hörten sie das Schlagen von Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster, hörten, wie ein Pferd davongaloppierte.
»Die Mutter Maria möge sie behüten und vor Unglück bewahren, so wie die Mutter Gottes auch uns in unserer Ehe behütet hat, Weib.«
Margaret lehnte sich an die Schulter ihres Mannes und sah ernst zu der großen, verschlossenen Tür hinunter.
»Das gebe Gott, Mann. Amen.«
Im Westen hatte sich der Himmel rosa und silbern verfärbt, die Dämmerung brach herein. Bald würden die Brücke geschlossen und die Straßen gesperrt werden, doch jetzt noch nicht, jetzt noch nicht.
Anne de Bohun hatte ihre Arme um Edwards Hüfte geschlungen. Sie ritten durch die Straßen von Westminster. Sie spürte den lauen Wind, der sanft über den Fluss strich. Sie hörte die Stimmen von Männern und Frauen aus den großen und kleinen Häusern, an denen sie vorüberkamen. Sie sah die Schatten der Menschen, die sich in erleuchteten Zimmern bewegten. Aber dies alles hatte keine Bedeutung für sie. Die Hufe des Pferdes schlugen rhythmisch auf das Pflaster, und sie träumte wieder. Gleich würde die Wölfin sie anspringen, und das Blut würde über den Schnee spritzen.
»Was hast du gesagt, mein Herz? Schnee?« Edward lachte, und in ihren Armen, die ihn umfingen, spürte sie das Beben seiner Stimme. »Viel zu warm für Schnee. Außer .«
»Außer was?«
Er fasste die Zügel enger und trieb sein Pferd an. »Außer William hat seinen Auftrag besser erfüllt, als ich dachte.«
Ganz in der Nähe bellte plötzlich ein Hund. Das Pferd des Königs scheute. Anne verstärkte ihren Griff und presste sich an seinen Rücken, um nicht herunterzufallen.
»Wir sind fast da, mein Herz, keine Angst. Halte dich gut fest.« Der König legte eine Hand über ihre Hände, und ihre Finger verschränkten sich miteinander. Seine Stimme klang plötzlich belegt, als er sagte: »Daran kann ich mich erinnern. Deine Brüste an meinem Rücken, als wir ritten.« Anne schwieg. Auch sie erinnerte sich. Das Pferd fand wieder in seinen Rhythmus, und er sprach ruhig weiter: »Ich wollte, dass diese Reise niemals enden sollte, obwohl wir froren und hungrig waren. Ich dachte, ich hätte alles verloren, außer dich.«
»Und ich wollte für immer so weiterreiten.« Anne sprach so leise, dass ihre Worte im Getrappel der Hufe untergingen. Da brachte der König das Pferd zum Stehen. Anne meinte, ein schmiedeeisernes Tor und eine Fackel zu sehen.
»Mach die Augen zu. Bitte. Mir zu Gefallen.«
Sie hörte die Aufregung in seiner Stimme. »Also gut, ich kann nichts mehr sehen, versprochen.« Mit geschlossenen Augen waren Annes übrige Sinne geschärft, besonders ihr Gehör und ihr Geruchssinn. Als der König sich vorbeugte, um an das Tor zu klopfen, hörte sie das Knirschen seines Lederwamses. Sie spürte die Vibrationen seiner Stimme, als er die Wachen rief, sie hörte, wie daraufhin das Tor aufging - ein metallisches, unmelodisches, kratzendes Geräusch -, und sie spürte auch die Vibrationen, als die Hufe des Pferdes auf den Erdboden trafen.
Sie war sich sicher, dass sie sich jetzt in einem Garten befanden. Sie konnte wilden Wein und Rosen riechen, den Nelkenduft von Levkojen und den süßlichen Duft von spät blühendem Jasmin. In einer warmen Nacht wie dieser blieben die Düfte noch lange nach Sonnenuntergang bestehen. Nun hörte sie auch nicht mehr das Hufeklappern, sie ritten auf einem weichen Untergrund. Rasen?
Edward sagte sanft: »Du darfst jetzt deine Hände lösen, mein Herz, aber halte die Augen noch geschlossen. Geht das?«
»Was, und wenn ich herunterfalle? Nur weil ich nichts sehen kann?«, spottete Anne. Natürlich würde er sie nicht fallen lassen!
Der König löste vorsichtig Annes Hände von seinen Hüften und richtete sich in den Steigbügeln auf. Mit etwas Mühe gelang es ihm, sich vorn über den Hals des Tieres abzusitzen. Anne geriet für einen Augenblick in Panik, denn sie rutschte zur Seite!
»Lass dich fallen - ich fange dich auf.« Die ganze Welt wird einem fremd, wenn etwas so Verlässliches wie das Augenlicht nicht mehr da ist. Trotzdem zögerte Anne nicht - sie ließ sich fallen, und er fing sie auf. Sie spürte seine Arme, ein Arm unter ihren Knien und einer um ihren Rücken direkt unter ihren Schulterblättern. Und dann lag sie an seiner Brust, und ihr Kopf schmiegte sich in die Kuhle an seinem Schlüsselbein.
»Ich werde dir Wunder zeigen .« Sie hörte seine Schritte, erst weich auf einem Rasen, dann hart auf einem Steinboden. Quietschend öffnete sich eine Tür und dann kamen sie in einen duftenden Raum. Sie hörte, wie sich die Tür schloss, dann ging er über etwas Weiches, Raschelndes. Der natürliche Duft von frisch gepflückten, gebrochenen Binsen stieg in ihre Nase. Er blieb stehen. Er ließ sie zu Boden gleiten, und eine seiner Hände glitt zu ihrer Taille und hielt sie fest.
»Öffne deine Augen, meine süße Anne. Sieh, was ich für dich habe richten lassen.«
Anne blinzelte und musste sich erst an das gedämpfte Licht gewöhnen, doch dann verschlug es ihr den Atem.
Sie befanden sich in einem kreisrunden Zimmer, in dessen Mitte ein wuchtiger Tisch aus purem Gold stand, der in einen See aus sanftem Licht getaucht war. An der Wand waren in regelmäßigen Abständen Leuchter angebracht, die wie riesige Handschalen geformt waren und in denen Kerzen von der Größe eines Kleinkindes brannten. Auf dem Tisch standen Teller und silberne Schalen mit einfachem Essen: Quark, Brot, Obst und Marzipankonfekt. Und daneben stand ein rotes Marmorbecken mit mehreren Weinflaschen.
»Ist das Schnee zum Kühlen des Weins? Mitten im Sommer?«, fragte Anne ehrfürchtig.
Der König nickte. »Ja. Ich muss meinen Kämmerer unbedingt beglückwünschen.« Er streckte Anne seine Hand hin. »Willkommen, meine Lady, in diesem bezaubernden Boudoir, das extra für dich gebaut worden ist.«
Anne raffte mit einer Hand ihr Röcke und schritt langsam durch den Raum. Alles, was sie sah, alles, was sie roch oder be-rührte, entzückte sie gleichermaßen, denn es war schlicht, erlesen und harmonisch. Statt Teppichen hingen luftige Seidenvorhänge an den Wänden. Goldene und silberne Stoffbahnen wechselten einander ab und bauschten sich sanft in der vom Garten hereinwehenden Brise. Außer dem goldenen Tisch gab es nur wenige Möbelstücke. Ein paar Hocker aus schwarzem Holz - Ebenholz? -, die unter den Tisch geschoben waren, und eine große Truhe, die neben der Tür stand, durch die sie eingetreten waren.
Das gewichtige Stück war aus Bronze gemacht und auf beiden Seiten mit einem heiteren Fries herumtollender Amoretten versehen, die sich in einem unendlichen Kreis zu fangen suchten. Und überall, wohin sie auch schaute, waren Blumen: Rosen, Waldreben und Pfingstrosen, mit Efeu und Jasmin zu Girlanden verflochten, hingen in anmutigen Gebinden an den Wänden und unter den Deckenbalken.
Anne war tief betroffen. Mit diesem Zimmer sagte ihr Edward, dass er sie besser kannte als sie sich selbst. »Das ist das schönste Zimmer, das ich je gesehen habe.«
Edwards Freude war unübersehbar. »Aber sieh nur, ich habe noch etwas für dich ...«
Der König ging zu der bronzenen Truhe und stemmte mit einiger Mühe den schweren Deckel auf. Dann bückte er sich und zog etwas hervor, etwas Schimmerndes. Er schüttelte es sanft. Ein glänzender, weißer Stoff, zart wie Nebel, glitt durch seine Finger. Mit angehaltenem Atem sah Anne, dass er über und über mit winzigen Perlen bestickt war, die aussahen wie zahllose Tröpfchen aus Milch.
»Ich weiß noch, dass du in Brügge einmal so ein Kleid getragen hast. Am zweiten Abend der Hochzeit meiner Schwester. Machst du mir die Freude, es heute Abend anzuziehen?«
Anne war wie geblendet. Ein Kleid, nicht nur aus Seide, sondern auch mit Hunderten und Aberhunderten von Perlen besetzt? Ein prachtvolles, ein königliches Geschenk. »Euer Majestät, mit Perlen werden keusche Ehefrauen beschenkt.« Sie versuchte, sich die Trauer in ihrer Stimme nicht anmerken zu lassen.
Ehrerbietig trug der König von England das Kleid zu seiner Geliebten und hielt es vor sie hin. Er nickte. »Du hast mir einst Perlen geschenkt. Und du bist keusch, das weiß ich. Außer bei mir.« Er sah ihr tief in die Augen. »Außer bei mir, mein Herz.«
Er bückte sich und küsste sie, und dann glitt das kostbare Gewand auf die Binsen hinab.
Keiner von ihnen bemerkte es.
Nie hätte er geglaubt, dass er diesen Ort noch einmal in seinem Leben sehen würde. Aber wenn er jetzt den Kopf drehte, sah er in der Ferne die spitzen Türme der Abtei, die zu den Sternen des frühen Abendhimmels emporragten, und dort, direkt daneben, sah er den schwerfälligen Palast. War es Rauch, der aus den unzähligen Kaminen in die stille Luft aufstieg, oder war es die Anwesenheit der Sünde, die an diesem Ort des Bösen Gestalt annahm?
Der Mönch schloss schaudernd seine Augen und flüsterte die Worte aus dem uralten Psalm: »Ich erhebe meine Augen zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe ...?«
Hilfe, Kraft, Unterstützung. Dies alles brauchte er, wollte er den Sündenpfuhl meiden, der ihn im Palast erwartete, und wollte er die Aufgabe erfüllen, die ihm sein Bruder Louis, Gottes gesalbter Diener, übertragen hatte. Der König hatte von ihm Auskünfte über Edwards Hof haben wollen, aber Agonistes wusste, was Louis eigentlich wollte. Er wollte Gerechtigkeit, und er wollte Rache nehmen an dem Königsmörder, dem Earl von March. Dies war sein gutes Recht als König. Gott hatte Louis die Macht verliehen, seine Gegner zu vernichten.
»Du Hurensohn!« Ein Lastenträger, dem zwei schwere Gemüsekörbe vom Schulterjoch baumelten, schrie den Mönch an, der ihm unversehens in die Quere gekommen war.
Da erwachte der Höfling, der in dem Mönch noch schlummerte, und er schnauzte den Träger an: »Hüte deine Zunge, sonst wird sie dir herausgerissen!« Die Umstehenden, die ihn hörten, blieben überrascht stehen. Dieser Mönch, mochte er in seinen zerlumpten Kleidern auch schmutzig und verhärmt aussehen, sprach wie ein Herr. Der Träger erschrak über die Drohung und wollte eilends weiter, da fiel Agonistes weinend aufdie Knie, um für seine Worte zu büßen.
»Ach, Bruder, Bruder, vergebt mir. Das ist dieser Ort ... dieser verfluchte Ort, der aus mir spricht. Das bin nicht ich, der niedrigste und elendste Diener unter Gottes Himmel.«
Der Träger bekam es mit der Angst angesichts dieses merkwürdigen Verhaltens und wollte sich verdrücken, doch der heulende Mönch hatte ihn an den Beinen gepackt und ließ ihn nicht los. Er klebte an ihm wie eine Klette, schleppte sich weiter und riefweinend: »Strafe mich, Bruder, strafe mich, damit solch teuflischer Stolz bezwungen werde.«
Menschenmassen scharten sich um das merkwürdige Paar, und die Unruhe nahm zu, doch dann liefen die Menschen plötzlich schreiend auseinander, packten ihre Kinder, ihre Habseligkeiten und duckten sich unter die schützenden Hausvorsprünge. Eine Gruppe Soldaten war aus dem abendlichen Dämmerlicht über sie hergefallen und machte mit Peitschen und Fluchen den Weg für eine sehr wichtige Persönlichkeit frei.
»Platz! Platz da für den Großkämmerer des Königs. Aus dem Weg!«
Der Träger geriet in Panik. »Lasst mich los, Sir. Steht auf!« Agonistes aber hörte ihn nicht und klammerte sich wie ein Ertrinkender an die Beine des armen Mannes und flehte heulend um Vergebung.
»Nein!« Mit einer kräftigen Drehung schwang der Träger seine Körbe herum und schlug Agonistes nieder.
»Halt!«
William Hastings sah auf den Mönch hinab, der mit dem Gesicht in der mit Unrat gefüllten Gosse am Straßenrand lag. Und Agonistes hob sein Gesicht empor und war geblendet vom Bild des bewaffneten Reiters in der blau-rot-goldenen Uniform. Ein letzter Strahl der untergehenden Sonne fing sich in dem eisernen Helm und krönte das Haupt des Ritters wie mit einem Heiligenschein. Dies war ein Zeichen, Gott der Herr hatte ihm ein Zeichen geschickt - und einen Helfer für die Aufgabe, die vor ihm lag.
Der zerlumpte Mönch, Diener Gottes und Diener von Louis de Valois, rappelte sich auf und streckte seinen Zeigefinger in die Höhe. Diese zufällige Begegnung hatte alle seine Zweifel zum Verstummen gebracht. »Lord William Hastings. Ich kenne Euch. Der Herr kennt Euch. Ich bin gekommen, seinen Willen zu erfüllen. Ich, ein armseliger Sünder, kann den König vor sich selbst retten.« In diesem Augenblick erst verstand Agonistes die Aufgabe, die ihm auferlegt worden war, und auch denjenigen, der sie ihm aufgetragen hatte. Seine Seele hatte die Wahrheit gesprochen. Was immer Louis ihm auftrug, es diente einem höheren Zweck.
William kniff die Augen zusammen. Der Mann kam ihm i rgendwie bekannt vor. Wenn man sich den Dreck und die Lumpen wegdachte, blieb noch etwas anderes. Die Stimme, die Stimme war unverwechselbar. William hatte ein gutes Gedächtnis für Stimmen. Und für Gesichter.
»Moss? Seid Ihr das?«
Der Mönch straffte seine Schultern. »Der Mann, der einst Moss war, ist tot. An seine Stelle bin ich getreten. Ich bin der Hexenhammer, und ich bin zurückgekommen, um diesen Hof von Sünde zu säubern und die Seele des Königs vor Hexerei zu retten.«
William zog seine Brauen hoch und musste beinahe lachen über den Unsinn, den dieser zerlumpte Kerl von sich gab. »Aha. Und wie wollt Ihr das bewerkstelligen?«
Moss lächelte und entblößte dabei seinen unappetitlich zerlöcherten Kiefer. »Hier lebt eine Frau, die für ihre zahllosen Sünden schon längst verbrannt gehört. Sie heißt Anne de Bohun. Solange sie atmet, ist die Seele des Königs in Gefahr. Der Herr hat mich hierhergesandt, dies dem König zu sagen.«
Williams Hände verkrampften sich um die Zügel seines Pferdes. Anne de Bohun? »Sergeant!«
Der Sergeant der Wachmannschaft kämpfte sich durch die aufgebrachte Menge zu seinem Herrn durch. Er ärgerte sich, dass sie auf dem Nachhauseweg aufgehalten wurden. »Ja, Lord Großkämmerer?«
»Bringt diesen heiligen Bruder zum Palast.«
William Hastings deutete auf den Mönch, dann ritt er, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, weiter. Der Soldat starrte den Mönch angeekelt an. Er war schmutzig und stank, aber das war es nicht. Es war der eigenartige Ausdruck der Augen, was dem Sergeanten so unbehaglich war.
Heilig? Dieser Mann sah eher wie ein Mörder als wie ein Heiliger aus.
Auch im Palast von Westminster hielt sich an diesem Abend die Wärme. Eine ausgedehnte Abenddämmerung wich allmählich der Nacht, aber die Königin fand keine Ruhe. Sie hatte den König zuletzt gesehen, als er nach einer Hasenjagd auf dem Schlossgelände noch überprüfen wollte, wie seine geliebten Jagdfalken die sommerliche Hitze vertrugen.
Die Zeit verflog, die Abendandacht und das Abendessen rückten bedrohlich näher, und noch immer war der König nicht zurückgekehrt. Um bei den bevorstehenden öffentlichen Auftritten durch Edwards Abwesenheit nicht kompromittiert zu werden, wies die Königin ihre Hofdamen an, dem Großkämmerer des Königs, Lord Hastings - der jüngst erst von einer geheimnisvollen, sechstägigen Reise zurückgekehrt war -, auszurichten, dass sie plötzlich erkrankt sei. Der Hof konnte sich an diesem Abend auch ohne sie unterhalten. Sie wollte dem Trubel fernbleiben.
Hinter den verschlossenen Türen der weitläufigen Privatgemächer der Königin im Palast von Westminster machten die Kammerzofen und die königlichen Hofdamen Elizabeth Wyde-ville bettfertig. Als Erstes wurden die Nadeln aus ihrem silbergoldenen Haar entfernt, dann wurde das Haar gelöst und mit elfenbeinernen Rosshaarbürsten ausgekämmt. Dann teilten die Damen die fließende Pracht und polierten jede einzelne Strähne mit einem Seidentuch, bis sie glänzte. Danach wurde das Haar für die Nacht zu Zöpfen geflochten und zu einem Kranz hochgesteckt. Dieses Ritual wurde schweigend vollzogen, denn die Königin hatte den Damen das Sprechen untersagt.
Ehrerbietig entfernten die Frauen die Tageskleider der Königin und zogen ihr das Schlafgewand über. Modebewusst, wie sie war, hatte Elizabeth Wydeville diese neue Mode aus Italien übernommen. Zwar wusste sie, dass sie noch immer einen schönen Körper hatte - sie besaß den größten Spiegel in ganz England -, sorgte sich aber doch, was der König denken mochte, wenn er sie völlig nackt sähe. Seit Edwards Rückkehr und ihrer Versöhnung - anscheinend erinnerte nur sie sich der langen Monate bedrückender Entfremdung vor seiner Flucht - hätte sie am liebsten sämtliche Kerzen löschen lassen, bevor er zu ihr ins Bett kam. Aber das wäre langweilig gewesen und tötete jegliche Leidenschaft. Prüde Frauen waren nichts für Edward.
Das seidene, halb durchsichtige Schlafgewand war so kunstvoll arrangiert, dass man die Nacktheit darunter ahnen konnte. Ihm verdankte Elizabeth ihre Zuversicht, dass sie immer noch die Begierde ihres Mannes erwecken konnte. Sie meinte, dies zu ihrer und seiner Zufriedenheit schon mehrere Male bewiesen zu haben, seitdem er in sein Königreich zurückgekommen war. Aber jetzt war sie nicht mehr so sicher. War es nur Pflichtgefühl gewesen, das ihn zu ihr getrieben hatte?
»Geht!« Elizabeth Wydeville klatschte in die Hände, nachdem der letzte Ring abgezogen worden war. Er war mit einer übergroßen, von Diamanten eingefassten Perle geschmückt, ein verspätetes Geschenk des Königs zur Geburt ihres Sohnes. »Geht. Alle. Ich werde allein schlafen.«
Die sieben Hofdamen und die dreizehn Kammerzofen sanken auf die Knie und neigten ihre Köpfe. Und sie mussten mit ächzenden Gelenken verharren, bis die Königin ihnen erlaubte, sich zu erheben. Dieser kleinlichen Schikane frönte sie, wenn sie missgestimmt war - zum Beispiel, wenn es dem König beliebte, grundlos abwesend zu sein. Wie an diesem Abend.
In den ersten Jahren von Edwards Herrschaft hatte eine Handvoll Gesellschafterinnen und sechs oder sieben Kammerzofen gereicht, Elizabeth Tag und Nacht zu bedienen. Seitdem sich aber das Glück ihr wieder zugewendet hatte, waren dreizehn Kammerzofen das Mindeste, was sie erwartete. Dreizehn entspreche der Anzahl der Apostel plus dem Herrn, sagte sie. Sie sei die Eitelkeit in Person, munkelte man bei Hof. Ein alternder Körper, der besonderer Dienste bedurfte, um seine Schönheit unnatürlich strahlend erscheinen zu lassen.
»Ihr mögt Euch erheben.«
Was für eine Erleichterung, die zitternden Knie strecken und wieder stehen zu können. Selbst die Königinmutter, Herzogin Jacquetta, war nicht verschont geblieben, da sie an diesem Abend in den Gemächern der Königin zugegen war.
»Ihr nicht, Mutter. Bleibt bei mir, bis ich eingeschlafen bin.«
Die Herzogin seufzte leise auf, was an dem boshaften Glitzern in den Augen ihrer Tochter lag.
»Kommt, setzt Euch zu mir.«
Die neu eingesetzte Königin von England klopfte einladend auf ihre Überdecke. Diese Geste musste auf Außenstehende wie die unbekümmerte Vertrautheit zwischen Tochter und Mutter wirken. Jacquetta wusste aber, dass es so nicht gemeint war. Elizabeth wollte etwas von ihr.
Die Herzogin setzte sich behutsam auf eine Ecke des großen Betts, in einigem Abstand zu ihrer Tochter, der Königin.
»Näher. Wir können uns nicht richtig unterhalten, wenn Ihr so weit entfernt seid. Hier. Setzt Euch hierhin.« Die Königin klopfte wieder auf die bestickte Überdecke.
Die Herzogin erhob sich und unterdrückte ein Seufzen. Sie strich ihre wallenden, raschelnden Seidenröcke glatt, die von einem schmeichelhaften, tiefen Schwarz waren (aber nicht, weil sie in Trauer war, sondern weil ihr die Farbe stand), ging langsam zu ihrer Tochter und setzte sich an die bezeichnete Stelle. Einen Augenblick herrschte Schweigen zwischen den beiden Frauen, dann winkte die Königin ihre Mutter näher zu sich heran. »Was habt Ihr erfahren, Mutter? Erzählt.«
Ein eindeutiger Befehl. Unruhig sah sich die Herzogin in dem großen, leeren Zimmer um. Von den auf den Fluss hinausgehenden Fenstern stand nur ein einziges offen. Trotzdem regte sich am Bett, das ungefähr zwölf Ellen entfernt war, kein Lüftchen. Das Fenster war viel zu weit entfernt, als dass man sie hätte belauschen können, selbst wenn ein sportlicher Spion die vom Flussufer über dreißig Fuß hoch aufragende Mauer hätte erklettern können. Die Königin bemerkte den Blick ihrer Mutter und verengte ihre Augen. Sie nickte. »Natürlich könnt Ihr es schließen. Man kann nie vorsichtig genug sein.«
Die Herzogin fürchtete sich davor, von ihrer Tochter ins Vertrauen gezogen zu werden. Früher, als Elizabeth neu bei Hof war, ja, da hatte Jacquetta jeden Vertrauensbeweis begrüßt und gefördert, den sie von ihrer Tochter bekommen konnte, denn sie, die Wydevilles, hatten alle von der unglaublichen Heirat mit Edward Plantagenet profitiert. Im Lauf der Zeit aber, vor allem nach den jüngsten Unruhen, war die Königinmutter sehr beunruhigt darüber, dass Elizabeth immer mehr auf die persönliche Unterstützung durch ihre Mutter baute.
Zehn Monate waren vergangen, seitdem Edward seinen Thron verloren hatte, und beinahe sechs Monate, seitdem er ihn zurückgewonnen hatte. Während dieser Zeit hatte Elizabeth regelrechte Wahnvorstellungen entwickelt, was die Absichten der Menschen betraf, die sie umgaben. Einerseits sah sie die Mitglieder ihrer Familie als ihre eigentlichen Verbündeten an, andererseits lag darin auch eine Gefahr. Wer ständig in der Nähe der Königin war und zu den Hofdamen gehörte, die die Königin jeden Tag sah, wurde mit gemeinen Verdächtigungen belegt, denen niemand entgehen konnte.
Nach der lang ersehnten Rückkehr des Königs waren Elizabeths Wahnvorstellungen sogar noch schlimmer geworden. Sie war zu der Überzeugung gelangt, und das zu Recht, dass die meisten Hofdamen Edward Plantagenet verführen wollten. Deshalb hatte Elizabeth ihre Mutter gezwungen, sich heimlich bei Hofe umzusehen und ihr Informationen zu beschaffen, die sie als Gemahlin des Königs nicht bekommen konnte. Aber sie war nie zufrieden. Nie wusste und hörte Elizabeth Wydeville genug. Deshalb die Vertraulichkeit zwischen Mutter und Tochter an diesem Abend.
Herzogin Jacquetta mühte sich mit dem schweren Fenster ab, und als sie es endlich geschlossen hatte, ging sie zum Bett der Königin zurück. Nüchtern betrachtete sie das Gesicht ihrer Tochter. Vielleicht waren die Befürchtungen der Königin gerechtfertigt. Selbst bei Kerzenlicht waren die feinen Linien an den Augenwinkeln nicht zu übersehen, und auf der Oberlippe zeigten sich die ersten Fältchen, die gefürchteten Schmollrun-zeln.
»Was schaut Ihr denn so?«, fragte die Königin ungehalten. Sie hatte den abschätzenden Blick ihrer Mutter bemerkt.
Ausnahmsweise sprach die Herzogin unverblümt und offen. »Ich habe darüber nachgedacht, dass Ihr Eure missmutigen Blicke besser im Zaum halten solltet. Ihr solltet mehr lächeln. Ganz sanft, natürlich. Ehrlich gesagt, Ihr verzieht zu heftig Euer Gesicht, und das in einer Art und Weise, die nicht gerade schmeichelhaft ist.«
Die Augen der Königin verdunkelten sich vor Angst. »Was meint Ihr damit?«
»Fältchen, liebe Tochter, auf Eurem Gesicht. Heute Abend sind sie deutlich zu sehen. Das sind die Spuren Eurer schlechten Laune, fürchte ich. Bald werden sie auch über Nacht nicht mehr glatt werden.«
»Ich muss nur Euer Gesicht anschauen, Mutter, dann weiß ich, was mir blüht.« Sanft wie vergiftete Sahne. Mutter und Tochter sahen sich lächelnd an, aber die Spannung zwischen ihnen knisterte hörbar. »Also, was habt Ihr gehört? Wo ist der König?«
Jacquetta überlegte einen Augenblick, ob sie wirklich erzählen sollte, was sie wusste, aber letztendlich machte es keinen Sinn, das Unvermeidliche hinauszuschieben. Außerdem würde Elizabeth sie zwingen, ihr alles zu sagen.
»Er ist beobachtet worden, seitdem er heute Abend aus dem Palast gegangen ist, aber das hatte ich Euch eigentlich ersparen wollen.«
Die Königin hätte beinahe die Stirn gerunzelt, aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie lächeln musste. Sie richtete sich auf. »Und?«
»Er war allein. Er holte sich am Spätnachmittag ein Pferd aus dem Stall, kurz nachdem er diese Nachricht erhalten hatte.« Auf den fragenden Blick ihrer Tochter hin hob die Herzogin eine Hand hoch. »Nein, ich weiß nicht, was darin stand. Er ritt aber direkt zum Haus dieses unangenehmen Tuchhändlers.«
Fleißige Nonnenfinger hatten monatelang daran gearbeitet, die neue, zarte Überdecke zu besticken, aber die Hände der Königin zerdrückten das kostbare Gewebe. »Mathew Cuttifer und seine scheinheilige Gemahlin. Und dann?«
Herzogin Jacquetta von Luxemburg holte tief Luft. »Nicht lange danach, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, kam er wieder heraus, in Begleitung einer Frau. Sie ritten zusammen auf seinem Pferd fort. Sie ritten hinunter zum Fluss zu einem privaten Anwesen. Das ist alles, was ich weiß.«
Das Gesicht der Königin war kreideweiß geworden. Ihre Stimme klang wie ein Peitschenschlag. »Nein. Du weißt noch mehr. Das sehe ich dir an. Was ist es?«
Jacquetta verzog das Gesicht. Die Königin war immerhin ihre eigene Tochter. Und sie litt. »Ach, mein Kind ...«
Wenn sie es irgendwie vermeiden konnte, wollte sie schweigen. Doch Elizabeth Wydeville sah ihre Mutter kühl an.
»Fahr fort, Mutter. Ihr müsst es mir sagen, wenn ich es Euch befehle. Ich bin die Königin.«
»Nun gut. Wenn Ihr es unbedingt wissen wollt. Der König und diese Frau sind immer noch dort in diesem Haus. Das Tor ist zugeschlossen, und die Lichter sind aus.«
Die Königin wiederholte diese Worte, als wollte sie sie auf der Zunge zergehen lassen. »Die Lichter sind aus.« Abrupt drehte sie sich zur Seite und begann zu schluchzen. Die Herzogin wurde von Mitleid und Angst überwältigt. Wenn die Königin verstoßen werden würde, wenn sie die Gunst des Königs verlöre, dann wäre auch das Haus Wydeville am Ende. Sie beugte sich vor und strich ihrer Tochter über die Augenbrauen.
»Nun, nun, meine Tochter. Das ist doch nicht so schlimm. Diese Frau ist doch nur eine Dirne. Hat er denn jemals mehr als ein oder zwei Tage mit so einem Mädchen verbracht? Du bist die Königin. Die Mutter seines Sohnes.«
So schnell wie eine zubeißende Schlange drehte sich Elizabeth zu ihrer Mutter um. Ihre Tränen waren Tränen der Wut, nicht der Verzweiflung.
»Sie ist es, sie muss es sein. Anne de Bohun. Sie ist die Mutter seines erstgeborenen Sohnes. Und er liebt sie, nicht mich.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Jacquetta wieder klar denken konnte. »Aber Kind, Könige haben immer uneheliche Kinder gehabt, und das wird auch immer so sein. Du bist Edwards rechtmäßige Frau. Diese Liebe, die dir Angst macht, ist nicht von Dauer. Im Gegensatz zu deiner Stellung.«
Die Königin drehte sich wieder zur Seite.
»Geht, Mutter. Ihr versteht das nicht. Ihr versteht das einfach nicht.«
»Wach auf, mein Herz. Die Glocken haben zur Terz geschlagen. Es ist Morgen.«
Und was für ein Morgen. Ein Morgen der Glückseligkeit. Anne streckte sich genüsslich in dem zerwühlten Bett. Durch ihre geschlossenen Lider sickerte Sonnenlicht. Dann setzte sie sich erschrocken auf. »Die Cuttifers!«
Der König, der gerade dabei war, die Schlaufen an seinen Kniehosen zuzubinden, unterbrach seine Tätigkeit und beugte sich lachend über die nackte junge Frau. Er küsste eine Haarsträhne, die über eine ihrer sanft geschwungenen Brüste gefallen war. Dann richtete er sich wieder auf und streckte sich. Seine Augen verschlangen die geliebte Frau, die sich anmutig in den zerwühlten Laken räkelte. Welch ein herrlicher Anblick! Unwillkürlich zog sich sein Unterleib zusammen. Bilder der vergangenen, langen Nacht heizten seine Begierde von Neuem an.
Sollte er sein Hemd anziehen? Nein. Halb angezogen setzte er sich auf die Bettkante.
»Alles in Ordnung, mein Liebling. Sie haben eine Nachricht erhalten.«
Anne war besorgt. Sie bedeckte ihren Körper, wollte wenigstens jetzt ein wenig Sittsamkeit zeigen. »Was für Nachrichten? Was hast du ihnen gesagt?«
»Dass du bei den guten Schwestern von Zion um Vergebung deiner Sünden beten wolltest und deshalb einige Tage fortbliebest.«
Anne kreischte: »Einige Tage? Edward, das ist eine schreckliche Lüge! Ich muss mich sofort ankleiden.« Sie schwang ihre Beine über die Bettkante. Aber sie war nicht schnell genug. Lässig beugte der König sich vor, drückte die junge Frau in die Kissen zurück und umschloss ihre Handgelenkte mit seinen Hän-den. Er war nicht besonders sanft. Anne protestierte, und in dem kleinen Handgemenge fiel auf höchst reizvolle Art die Decke zu Boden.
»Warum ankleiden? Ich mag dich so.«
Die Morgensonne goss honiggelbes Licht durch die offenen Fenster. Es war schon wieder warm geworden. Annes unbedeckter Körper war wie in Gold getaucht. Beide atmeten schneller.
»Ich finde, du solltest keine Kleider tragen, Anne. Nie mehr.«
Quälend langsam beugte er sich hinab und küsste sie. Sie stöhnte, als seine Zunge in ihren Mund eindrang. Sie wehrte sich, versuchte zu sprechen, seine emsigen Hände aufzuhalten, er aber erstickte jedes ihrer Worte mit seinem Mund. »Wir sind zusammen, das ist alles, was zählt. Du bist zu mir zurückgekommen.«
»Edward ... Ach, lass mich doch etwas sagen!«
Er hörte nicht zu. Er zog in Windeseile seine Kleider aus, achtete weder auf Bänder noch Schlaufen, wollte nur eins: seinen nackten Körper ganz an ihren pressen.
»Sag, dass du mich liebst. Jetzt. Sag es! Oder .«
Sie genossen es beide. Er hatte sie auf seinen Schoß gehoben, sie kniete mit gespreizten Beinen über ihm, ohne ihn jedoch direkt zu berühren. Der Geruch ihrer Körper, der Geruch nach Sex und Begehren war berauschend.
»Oder was?« Sie neckte ihn, wand sich leicht, saß mit kreisenden Hüften über ihm, ließ ihre Brüste einen Augenblick lang über seinen Leib streichen, Haut an Haut. Aber bis auf einige quälende Momente berührte sie sein Geschlecht nicht.
»Jesus!« Er keuchte, stöhnte fast, er griff an ihre Hinterbacken und spreizte mit seinen Knien ihre Beine weiter auseinander. Sie atmete in seinen Mund, ihre Hüften bewegten sich langsam vor und zurück, vor und zurück, sanken tiefer und tiefer.
»So? Was wollt Ihr tun, mein Herrscher?«
»Das!« Er zog sie hinab, drückte ihre Hüften auf sich und stieß im selben Moment tief in sie hinein und passte seine Bewegungen den ihren an. Sie keuchte.
Jedes Mal war es wieder neu und anders.
Jetzt lag sie auf dem Rücken, der Körper schweißnass. Er stieß zu und wartete und stieß zu und wartete und stieß zu. Immer tiefer, immer härter, immer schneller, die Pausen wurden jedes Mal kürzer. Sein Mund verschlang ihren Mund, seine Hände waren überall, auf ihren Brüsten, zwischen ihren Beinen, streichelten suchend ihren ganzen Körper.
»Sag es!« Es war mehr ein Knurren als ein Sprechen.
»Ja! Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich!« Es klang wie ein Singsang. Sie hob ihre Hüften empor, hob sie ihm entgegen, ein Geschenk. Ihre Hände umklammerten hilflos die Bettpfosten, und er plünderte ihren willigen Körper.
»Noch mal! Wie liebst du mich?«
»Mit meinen Brüsten und mit meinem Mund und mit .«
Ihre Worte erstickten in seinen Küssen: zwei Seelen in einem gemeinsamen, köstlichen Kerker der Begierde. Sie fühlte sich ganz eins mit ihm. Sie war berauscht, benebelt von einer ekstatischen Hitze. Sie wollte jede Pore ihres Körpers diesem Mann öffnen. Ihrem Liebhaber. Er war so wild, so stark, und was er mit ihr tat - und sie mit ihm -, das war kostbarer als alles andere. Sie gehörte ihm. Er gehörte ihr.
»Ja, jetzt. Und jetzt!« Er sang diese Worte und wurde wie ein junger Gott von eine Welle der Ekstase erfasst. Sein Blick brannte sich in Annes Antlitz, als ob dort der Sinn allen Seins geschrieben stünde. Dann steigerte sich ihre Empfindung ins Unermessliche, und gemeinsam kamen sie zum Höhepunkt, tauchten vom Licht ins Dunkel. Sie zerflossen in Seligkeit, und ihre Körper erholten sich langsam vom Aufruhr der Sinne.
Der König rollte sich keuchend neben der schweigenden
Anne zusammen. Ihr Körper kühlte ab, und die Rötung ihrer Wangen ließ wieder nach, aber auch sie atmete schwer.
Plötzlich kicherte Edward.
»Was ist?«, fragte Anne schläfrig und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken.
»Jetzt würden sie dich bestimmt nicht mehr nehmen.«
»Wer?«
»Die Nonnen. Ich habe den Eindruck, dass du für andere Dinge gebetet hast. Und auch auf eine ziemlich andere Art und Weise.«
Anne schlug ein Auge auf und kicherte. »Du aber auch, o katholischster aller heiligen Könige.«
»Ganz der deine, mein Herz. Dieser König ist ganz der deine.« Zärtlich und sanft küsste er sie, und genauso küsste sie ihn wieder. Sie hatte sich entschieden.
»Wo seid Ihr, Mutter?«
Die Königin blieb hinter den zugezogenen Vorhängen ihres Bettes. Das war höchst ungewöhnlich, denn es war schon spät am Morgen, die Zeit für die Morgenandacht war längst vorüber. Die Frauen, die sich um das Bett scharten, wagten nicht, zu sprechen, und sahen die Herzogin Jacquetta stumm flehend an.
Die Herzogin räusperte sich nervös und sagte: »Ich bin hier, Euer Majestät. Guten Morgen. Habt Ihr wohl geruht?«
»Nein. Ich bin krank. Sehr krank.«
Die Damen blickten zu Boden, und die Kammerzofen tauschten ängstliche Blicke aus. Und wieder sahen sie flehend zur Herzogin. Diese seufzte. Also gut, sie würde die Verantwortung übernehmen.
»Sollen wir einen Arzt rufen, Tochter?«
»Nein! Keinen Arzt. Das würde es nur schlimmer machen. Ich will Euch. Kommt her!«
Herrisch und nörglerisch. Zwei schlechte Anzeichen, zwei
sehr schlechte Anzeichen. Herzogin Jacquetta ging mit anmutigen Schrittchen zum Bett. Ihr Gesicht wirkte ruhig, doch denen, die sie besser kannten, entging nicht, dass sie krampfartig ihre Hände ineinander verschlungen hatte.
Zögernd schob die Königinmutter den bestickten Vorhang ein Stückchen zur Seite. Drinnen war es dunkel wie in einer Höhle.
»Tochter? Ich kann Euch nicht sehen.«
»Bin ich ein wildes Tier im Käfig, dass Ihr mich so anstarrt? Ein Bär? Oder ein Löwe vielleicht?«
Die Herzogin duckte sich. Ein Kissen flog an ihrer Schulter vorbei und landete auf dem Boden. Die Hofdamen und die Zofen hielten den Atem an und wichen zurück.
»Nun?«
»Nun, mein Kind, beruhigt Euch.« Das war falsch. Die Herzogin wusste es, kaum dass sie es ausgesprochen hatte.
»Beruhigen? Mich beruhigen!« Noch ein Kissen flog vorbei, dann folgte ein blaugrauer Nachttopf, dessen Inhalt sich überall ergoss. Diesmal hatte die Königinmutter sich nicht schnell genug geduckt.
»Was habt Ihr gesagt?« Das bleiche Gesicht der Königin erschien zwischen den Vorhängen. Dunkle Augenränder, aufgesprungene Lippen, wirres Haar. Wo war die schöne Elizabeth Wydeville geblieben?
»Ihr stinkt. Geht!«
Herzogin Jacquetta war an Höfen erzogen worden. Sie stammte vom französischen Hochadel ab und hatte in ihrem relativ langen Leben schon einiges gesehen und erlebt. Es gab kaum etwas, das sie noch schockieren konnte. Aber solch eine unkontrollierte Brutalität war ihr fremd, und dieses Ungeheuer dort im Bett hatte sie selbst aufgezogen, hatte ihm das Leben geschenkt. Die Königinmutter brach in Tränen aus und
rannte, betroffenes Schweigen hinterlassend, aus dem Schlaf-
»Nun? Was starrt ihr mich so an? Wischt diesen Dreck weg. Ich habe meine Meinung geändert.« Die Stimme von Elizabeth Wydeville war ein unheilvolles Knurren. Angst machte sich im Zimmer breit.

»Ja, Euer Majestät«, sagte die Herzogin von Portland mit einem leichten Beben in ihrer Stimme. Von den verbliebenen Hofdamen war sie die ranghöchste. Es war ihre Pflicht, der Königin zu gehorchen.
»Ja, ja, immer nur ja. Ich will angekleidet werden. Sofort. Auch wenn ich krank bin. Und dann schafft mir William Hastings herbei. Unverzüglich. Habt Ihr verstanden?«
Stumm knicksten die entsetzten Frauen und trippelten mit klopfenden Herzen zum Bett. Die einen, die Kammerzofen, um sauber zu machen, die anderen, die Hofdamen, um der Gemahlin des Königs ihre Kleider vorzulegen. Die Königin ankleiden! Die Königin ankleiden! Beeilung! Sucht den Großkämmerer, sucht den Großkämmerer! Schnell! Schnell! Schnell!
Im Zentrum diese Sturms hektischer Aktivitäten saß die Königin und brütete stumm vor sich hin. Ihr Zorn war verflogen, ihr Herz war zu Stein geworden. Der König war nicht gekommen. Die ganze Nacht nicht.
Schuld daran war allein Anne de Bohun.
»Euer Majestät?« William Hastings ging zwei Schritte auf den Thron zu, dann machte er eine ausladende Verbeugung. Noch einmal zwei Schritte, wieder eine Verbeugung.
»Halt!«
William sah überrascht auf. »Hört auf damit! Ihr werdet den ganzen Vormittag brauchen, bis Ihr hier seid.«
Einen Augenblick lang dachte der Großkämmerer, die Königin hätte einen Scherz gemacht. Aber ein kurzer Blick auf Elizabeth Wydevilles düstere Miene, und er wusste, dass er sich geirrt hatte. In den Augen der Königin lag ein gefährliches Glitzern. William erkannte die Zeichen und wusste, was er zu tun hatte. Rasch und möglichst würdevoll ging er nach vorn und beugte vor dem Thronpodest das Knie.
»Euer Majestät sieht heute Morgen strahlend aus.« Eine galante Lüge. Aber galante Lügen waren nützlich. Ob die Königin seinen Ausspruch honorierte? Nein. Jetzt aus der Nähe sah er, dass Elizabeth den Tränen nahe war.
»Sagt ihnen, sie sollen gehen. Alle.«
William erhob sich und betrachtete den überfüllten Audienzsaal. Die Menschenmenge hatte aus dem Gesichtsausdruck der Königin längst geschlossen, dass etwas in der Luft lag. Und ohne dass William es direkt sehen konnte, spürte er, wie die Masse sich wie ein Körper näher zum Thron schob, um nicht ein einziges Wort von dem zu verpassen, was zwischen dem Großkämmerer und der Königin gesprochen wurde. William klatschte scharf in die Hände. Ein hörbares Murmeln entstand. Entlassen! Ausgerechnet dann, wenn es interessant wurde.
Der Großkämmerer ignorierte das Geflüster und die gedämpften Seufzer der Enttäuschung. Er wartete geduldig, bis es der Königin gefiel zu sprechen. Die großen Türflügel schlossen sich hinter dem letzten Höfling. Elizabeth winkte Hastings zu sich.
»Habt Ihr sie gefunden?«
Hastings hatte sich auf dieses Gespräch vorbereitet. Er hatte genau überlegt, was er sagen musste, um aus dieser verfahrenen Situation ohne Blessuren wieder herauszukommen.
»Nein, Euer Majestät. Lady Anne de Bohun war bereits abgereist.«
Die Königin schien das nicht zu überraschen. Sie nickte und sackte ein wenig in ihrem Stuhl zusammen, ein Verhalten, das William einen Augenblick lang verwirrte. Waren die Neuigkeiten so schnell von Somerset nach London gedrungen?
»Und? Was gibt es sonst noch?«
Der Großkämmerer lächelte zuversichtlich. »Euer Majestät, ich weiß, wo sie sich aufhält.« Die Königin starrte William unverwandt an und winkte ihn näher. Er stand auf der untersten Stufe des Thronaufbaus, aber sie winkte ihn noch näher zu sich heran, bis er neben ihrem Thron stand.
»Ich auch«, flüsterte sie direkt in sein Ohr. William unterdrückte den Drang, sich am Ohr zu kratzen, und war deshalb völlig unvorbereitet und erschrocken, als Elizabeth kreischte: »Er ist gerade bei ihr. Er ist die ganze Nacht bei ihr gewesen!«
Allein schon die Lautstärke ihres Schreis riss den Großkämmerer fast von den Füßen. Automatisch streckte er eine Hand aus, um sich festzuhalten, und bekam dabei eine Armlehne des Throns zu fassen. Ausgerechnet jene Armlehne, auf die die Königin sich stützte.
»Rührt mich nicht an. Wie könnt Ihr es wagen!«
Elizabeth raste vor Zorn, und William war völlig aus der Fassung. Und er schämte sich. Die Königin war heilig und durfte von ungeweihten Händen nicht berührt werden.
»Vergebt mir, Euer Majestät!«
William kniete taumelnd nieder und senkte sein Haupt, um sein puterrotes Gesicht zu verbergen. Stille war eingetreten, trotzdem kam es Hastings so vor, als ob sein Herz in seinen Mund gewandert wäre und die Königin das aufgeregte Pochen hören musste, wenn er ihn öffnete.
»Was soll ich nur tun, William? Der König liebt diese Frau. Er wird mich verlassen. Er wird mich ins Kloster schicken.«
Sonst nannte sie ihn nie William. Vorsichtig schaute der Großkämmerer hoch und sah etwas Außerordentliches. Die Königin weinte vor seinen Augen, und es war ihr anscheinend egal, wie sie dabei aussah. Er hatte sie nie zuvor weinen sehen. Die Tränen flossen wie ein Sturzbach aus ihren Augen, tropften auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß rang, und liefen über ihre Nasenspitze und über ihr Kinn herab. Das waren keinesfalls Ziertränen, das waren echte Tränen.
William hielt die Luft an. Dies war möglicherweise der Beginn einer ersten, großen Neuordnung von Macht und Einfluss seit der Rückkehr des Königs. Der Großkämmerer von England erkannte seine Chance und ergriff sie. »Euer Majestät, ich stimme mit Euch überein, dass Lady Anne de Bohun ein Problem darstellt. Ein Problem für den König und möglicherweise auch für das Königreich. Aber verzweifelt nicht. Ich möchte Euch noch heute jemanden vorstellen, der für Euch interessant sein könnte. Jemand, der viel über die Lady Anne de Bohun zu erzählen weiß ...«