Kapitel 50

Herrard Great Hall. Bis jetzt war das nur ein Name gewesen, geschrieben auf Pergament. Doch nun, als die Zinnen hinter den Bäumen auftauchten, da begriff sie. Anne de Bohun war nach Hause gekommen, wirklich nach Hause. Zum Haus ihrer Mutter. Dem Haus, das sie noch nie gesehen hatte.

Es war Ende Februar im Jahr des Herrn 1471, und es war bitterkalt. Doch an diesem Nachmittag, als die Sonne sich zum

Westen hin neigte, warfen die langen, bleichen Strahlen einen silbrigen Glanz auf die dunklen Bäume, und die Straßen glitzerten. Es war Eis, aber es sah aus wie Diamanten.

Anne hatte nicht gewusst, nicht begriffen, wie sehr sie die Wälder im Landesinneren vermisst hatte, doch als sie im Wagen hinter den angejochten Ochsen saß und die reine Luft des Winterwalds einatmete, da lebte ihre Kindheit wieder auf.

»Edward! Wach auf. Schau. Wir sind zu Hause. Wir sind wirklich zu Hause.«

Anne de Bohuns Sohn, von den Aufregungen der langen Reise von London hierher erschöpft, lag schlafend in einem Nest aus Decken hinter Annes Bank. Er hatte keinen Moment der Reise verpassen wollen, denn hinter jeder Wegbiegung tauchten neue Ausblicke und Geräusche auf. Doch am späten Nachmittag war er schläfrig geworden. Aber er war im Nu wieder munter. »Was?« Mit schlafroten Wangen setzte er sich aufrecht hin, als der Wagen zum Stehen kam.

Anne stieg ab und stellte sich vorn neben die Ochsen auf die festgefrorene Straße. Sie drehte sich um und sah ihren kleinen Edward an. »Komm mit. Das müssen wir uns gemeinsam ansehen. Nur wir drei. Deborah?«

Auf der langen Fahrt - sie waren seit dem Morgengrauen unterwegs - war auch Deborah eingenickt. Sie lehnte an den Koffern und Truhen, mit denen der zweite Karren beladen war. Erschreckt wachte sie auf, ihr Hennin war über das eine Auge gerutscht, und der Schleier verdeckte ihr die Sicht.

Der kleine Junge kletterte in die Arme seiner Mutter und lachte. »Deborah sieht aber komisch aus!«

»Man lacht nicht über alte Damen, Edward. Das gibt großen Ärger und bringt sieben Jahre Unglück. Sagt ihm das, Mistress.« Aber Deborahs Lächeln straften ihre Worte Lügen. Anne half ihr vom Karren. Die drei Männer, die Mathew Cuttifer ihnen zum Schutz mitgegeben hatte, machten es sich bequem.

Edward kicherte, solche Drohungen hatte er schon öfter gehört. »Sieben Jahre? Pah! Wenn ich sieben bin, bin ich schon groß, und dann jage ich das Unglück davon!« Das siegesgewisse Schwenken des Holzschwerts ließ keinen Zweifel an der Entschlossenheit des kleinen, mannhaften Kriegers. Sogar die beiden schwerfälligen Ochsentreiber Wat und Crispin fielen in das Gelächter der Londoner ein. Die Männer sahen den Knaben glücklich zwischen den beiden Frauen dahinhüpfen, als diese dem Weg zur Lichtung folgten.

Wat Anderson rutschte mit seinen schmerzenden Hinterbacken auf der Sitzbank hin und her und reckte Arme und Schultern. Er stieg gähnend vom Karren und rieb sich die Augen. Crispin stieg ebenfalls von seinem Wagen und stellte sich neben seinen Leitochsen Davey. Ob er die Tiere losmachen sollte, wenn sie hier eine Weile warten mussten? Er kraulte das gleichmütige Tier zwischen den Ohren. »Hungrig, Davey-boy? Ich auch. Gibt's noch was zu essen, Ned?«

Ned war einer der Diener aus Blessing House. Seufzend schwang er ein Bein über den Sattelknauf, sprang ab und stellte sich neben seine Kameraden. »Es gibt noch Bier, aber der Haferkuchen ist schon aufgegessen.«

Er schnürte eine Lederflasche von seinem Zwiesel und drehte sich, die Flasche schwenkend, zu den anderen um. Bier, auch wenn sie sich nur noch eine kleine Flasche teilen konnten, war zum Abschluss der anstrengenden, kalten Reise ein rechtes Vergnügen. Ein ordentlicher Schluck für jeden, mehr war nicht da. Aber im Winter sind die Menschen guten Mutes. In dem großen, alten Haus am Ende der Straße gab es bestimmt noch mehr Bier, viel mehr, ganze Fässer voll. Selbst gebrautes Bier. Und wenn sie Glück hatten, gab es dort auch ein hübsches Schankmädchen. Ein gutes Bier, ein hübsches Gesicht, saubere Hände, die das Bier ausschenkten, und eine gemütliche Küche - mehr verlangten die Männer nicht. Sie stampften mit ihren

Füßen auf, um ihre kalten Zehen aufzuwärmen. Wo blieb die Mistress so lange?

»Es ist niemand da. Alles ist leer. Und so groß.«

Die beiden Frauen und der Knabe starrten eingeschüchtert auf das Haus. Die hohen Mauern waren aus Sandstein gebaut, aber sie waren sehr hoch und mit Türmen und Zinnen versehen. Das Haus war von einem ausgetrockneten Burggraben umgeben - kaum mehr als eine breite Vertiefung mit ein paar Pfützen -, und auf der fensterlosen Vorderseite gab es nur ein paar Schießscharten und zwei mächtige Torflügel.

»Ich dachte, es sei ein Jagdhaus?«

Anne nickte langsam. Deborah hatte recht. Der König hatte ihr erzählt, Herrard Great Hall sei einst ein königliches Jagdschlösschen mit eigenem Revier gewesen. »Ja, das stimmt. Aber ich glaube, früher war es einmal eine Burg.«

Deborah streckte dem Knaben ihre Hand hin. »Dicke Wände sind in diesen Zeiten nicht zu verachten. Komm, Edward, wir machen einen Erkundungsgang.«

Laut schwatzend, um die Stille zu übertönen, nahmen die Frauen Edward an die Hand, rafften ihre Röcke und marschierten über die Zugbrücke, die über den Graben führte. Durch die Ritzen in den Bohlen rankten sich Kletterpflanzen und verrieten, dass die Brücke schon seit langer Zeit nicht mehr bewegt worden war. Unter ihnen hallten ihre Schritte wider.

Anne spürte ein kräftiges Zupfen an ihrem Rock. Sie sah hinunter zu ihrem Sohn. »Wie kommen wir hinein, Wissy?«, fragte er.

Anne lachte nervös, das war eine merkwürdige Art, nach Hause zu kommen. »Aber wir haben doch einen Schlüssel, mein Schatz.«

Sie griff in ihre Gürteltasche und zog den größten Schlüssel hervor, den Edward jemals gesehen hatte. Verwundert riss er die Augen auf. »Zeig her.« Sie legte den Schlüssel in seine

Hände, der Schaft war größer als beide Handflächen zusammen. Es war ein alter, schwarzer und kalter Schlüssel.

»Komm, mal sehen, ob er passt.«

Fast fanden sie das Schlüsselloch nicht, denn das Tor war mit breiten Eisenbändern beschlagen und mit schwarzen Bolzen in einem unübersichtlichen Muster bespickt. Aber dann lächelte Anne erleichtert, denn in einer der beiden großen Torflügel hatte sie die schwachen Umrisse einer kleineren Tür entdeckt, das schräg einfallende Licht des Nachmittags hatte sie ihr gezeigt. »Oh, schau nur - da in der großen Tür ist noch eine kleine Tür. Und da ist auch das Schlüsselloch. Siehst du?«

Es war geschickt verborgen, denn auf den ersten Blick sah es aus wie ein Teil der Verzierung - wie das spitz zulaufende Ende eines langen, verschlungenen Eisenblatts. Der schwere, kalte Schlüssel ließ sich ohne Schwierigkeiten ins Schloss stecken, aber sie konnte ihn nicht umdrehen. Sie drehte und rüttelte an dem Schlüssel, zog ihn wieder heraus und versuchte es noch einmal. Endlich wurde sie für ihre Mühe belohnt. Ein sattes Klicken bestätigte ihr, dass sich der Schlüsselbart mit dem Schloss verbunden hatte. Durch raren Gebrauch und Mangel an Öl hätte er sich fast festgefressen, aber dann drehte er sich doch.

»Wir wollen sehen, was es auf der anderen Seite gibt, ja?« Anne sprach bewusst laut. Sie wollte, dass das alte Haus ihre Stimme hörte. Sie benutzte den Schlüssel als Türklinke, erst drückte sie, dann zog sie und schließlich öffnete sich die Tür quietschend nach außen. Die neue Herrin von Herrard Great Hall nickte zufrieden. Es machte Sinn, dass eine Tür nicht nach innen, sondern nach außen aufging. Für Eindringlinge ist es so schwieriger hereinzukommen ... was sind das nur für Gedanken? Anne schüttelte den Kopf. Das lag an der eigenartigen Atmosphäre dieses Ortes. Sie zog ihren Kopf ein und schritt durch die Öffnung.

»Was siehst du, Wissy?« Der kleine Edward fragte mit einem so durchdringenden Flüstern, dass Anne lachen musste.

»Komm und schau!«

Sie verschwand durch die Tür, und der Knabe verzog zweifelnd das Gesicht. Als er aber Deborahs aufmunterndes Lächeln sah, lächelte er auch. »Ich komme!«, rief er und hüpfte über die niedrige Schwelle der kleinen Tür, bereit, eine neue Welt zu erobern. Aber dann blieb er stehen, sein Mund zu einem staunenden O geformt.

Anne stand unter einer kahlen Eiche in der Mitte eines großen, gepflasterten Platzes. Es war ein uralter, ein riesiger Baum und seine Äste streckten sich wie tröstende Arme aus, den müden Wanderer zu empfangen.

»Hast du schon einmal einen so tollen Kletterbaum gesehen?«

Johlend warf sich der Knabe in Annes Arme. »Hilf mir, Wissy. Hilf mir hinauf!«

Als Deborah sie eingeholt hatte, schob Anne den Kleinen bis zu einem dicken Astknoten hinauf. Von dort kletterte Edward zu einem natürlichen Aussichtspunkt weiter, von wo aus er sein neues Reich überblicken konnte: eine Gabelung aus zwei dicken Ästen, die aus dem Hauptstamm herauswuchsen.

»Du darfst eine Weile hierbleiben. Aber bitte nicht höher klettern.«

Edward schmollte. »Aber das ist doch leicht. Und ganz sicher, bestimmt.« Er nickte ernst.

Anne lächelte über seine Überredungsversuche. »Du darfst klettern, wenn ich oder Deborah dabei sind. Und wenn du größer bist, darfst du klettern, so viel du willst, aber jetzt noch nicht. Aber von heute an ist das dein eigener Baum. Und damit das jeder weiß, soll er >Edwards Baum< heißen.«

»Meiner? Meiner ganz allein?« Edward strahlte vor Glück.

»Ja, deiner ganz allein.«

»Was hältst du von dem Haus, Anne?« Anne wandte ihre Aufmerksamkeit ihrer Ziehmutter zu. »Ich weiß nicht recht. Es ist sehr ruhig hier. Aber vielleicht ist das gar nicht schlecht, nach allem, was wir erlebt haben. Nur seltsam, dass niemand hier ist.«

Deborah zitterte. Die Sonne senkte sich hinter den Mauern gen Westen und warf kalte Schatten über den Hof. »Ich glaube, hier hat schon lange niemand mehr gewohnt.«

Anne warf einen prüfenden Blick auf ihr neues Heim. Es gab viel zu sehen. Die abweisenden Mauern zeigten der Außenwelt eine nichtssagende Fassade, doch wenn man in dem zentralen Innenhof stand, sah man auf allen vier Seiten, dass Herrard Great Hall ein altes, wehrhaftes Haus war. Im winterlichen Abendlicht wirkte es in seiner wuchtigen Art sogar direkt schön. Sie würden einige Zeit brauchen, bis sie es erkundet hatten, denn in den drei und vier Stockwerke hohen Gebäuden gab es offenbar viele Zimmer.

»Hallo? Ist da jemand?« Annes Stimme wurde von den Wänden ihres neuen Zuhauses zurückgeworfen.

Niemand antwortete.

Anne und Deborah sahen sich an. Beide unterdrückten ihre wahren Gefühle.

»Nun gut. Wenn wir es heute Nacht warm haben wollen, gibt es noch viel zu tun. Wir können das Haus erst morgen richtig erforschen. Deborah, würdest du bitte zu den Männern gehen und Wat und Crispin bitten, die Ochsenkarren in den Hof zu schaffen? Ich öffne in der Zwischenzeit das große Tor, um alle hereinzulassen. Edward, bitte komm herunter. Es gibt Arbeit.«

Ausnahmsweise gab es keine Widerworte von Edward. Er kletterte, eine Hand vor die andere setzend, am Baumstamm hinab, ließ sich in Annes Arme plumpsen und rannte dann hinter Deborah her. »Warte, Deborah, warte auf mich!«, rief er aufgeregt. Anne folgte ihnen zum großen Tor. Auf der Hofseite gab es kein Fallgatter, und die Torflügel ließen sich auch leicht entriegeln. Man musste nur den eisernen Querbalken, der armdick war und sich über beide Torflügel erstreckte, aus seiner Halterung stemmen und dann den riesigen Eisenring drehen, der das eigentliche Schloss betätigte. Anne hatte erwartet, dass die Torflügel schwer zu bewegen seien, aber als sie Schwung nahm, um den ersten aufzuziehen, war sie überrascht, wie leicht er sich bewegen ließ. Obwohl der Ort so verlassen wirkte, waren die Türangeln des Eingangstors von Herrard Great Hall gut geschmiert. Hatte das etwas zu bedeuten?

Und dann war Anne de Bohun über sich selbst erstaunt, denn sie war glücklich, richtig glücklich, und das hatte sie schon sehr lange nicht mehr erlebt. Fragen und Zweifel waren etwas für den nächsten Tag. Jetzt stand sie im offenen Tor des Hauses ihrer Mutter, ihres Hauses, und winkte die Männer und die Ochsenkarren an sich vorbei in den Hof. Die Männer froren und waren müde, genau wie sie, aber wenn die Welt so vielversprechend aussah, fiel es nicht schwer, fröhlich zu sein.

»Bring die Karren dorthin, Wat. Ich glaube, das sind Ställe. Wir laden nur ab, was wir heute noch brauchen. Bestimmt werden wir uns im Nu eingerichtet haben.«

Auf jeder Seite des Gebäudes gab es mehrere große und kleine Türen. Anne zeigte auf die nächstliegende und eilte den Männern voran.

Die Tür war nicht verschlossen und ließ sich ebenfalls leicht öffnen. Dahinter erstreckten sich mehrere ineinander übergehende Räume, die überwiegend leer waren bis auf ein paar Holzgestelle mit prall gefüllten, ordentlich zugenähten Säcken.

»Lagerräume. Hervorragend. Sind das eigene Erzeugnisse? Wat, Ned, könntet ihr Deborah und den anderen helfen, die notwendigsten Sachen erst einmal hier hereinzuräumen? Ich werde mir mal die Küche ansehen.«

Anne überließ es Deborah, das Abladen zu überwachen, die dabei von dem kleinen, aufgeregten Edward lautstark unterstützt wurde. Sie selbst ging von einem leeren Raum zum nächsten. In einem befand sich ein großer, steinerner Ausguss. Die Spülküche, dachte Anne. Dann wird die Küche nicht mehr weit weg sein. Ein gefliester Korridor führte sie zu einer weiteren Tür, die ungewöhnlich breit und mit Eisenstiften beschlagen war. Sie hob die Klinke an, drückte die Tür auf und fand, wonach sie gesucht hatte.

Die Küche war sehr geräumig - viel größer als die Küche ihres Bauernhofs in Brügge und fast so groß wie die Küche im Blessing House in London. Drei Feueröffnungen säumten die eine Wand. Die kleinste war so gebaut, dass sie als Backofen diente, die beiden anderen waren so groß, dass man einen ganzen Ochsen darin hätte braten können. Anne zitterte. Die Küche war kalt und roch nach altem Rauch. Es war an der Zeit, wieder Leben und menschliche Geräusche in dieses leere Gemäuer zu bringen.

»Es ist beinahe dunkel. Hier, nimm. Ich habe mir gedacht, für unseren Umzug ist es gerade recht.« Deborah hatte Licht gebracht - eine kostbare Wachskerze für Anne und eine Öllampe für sich selbst.

»Deborah, ich glaube, wir sollten heute Nacht alle hier in der Küche bleiben. Wir können am Feuer schlafen, außerdem können alle hier essen, und es ist warm.« Annes Ziehmutter nickte, eilte geschäftig wieder hinaus und rief: »Wat, Crispin, Ned, meine Herrin möchte die Tischplatte hier drin in der Küche haben. Und wenn ihr schon dabei seid, bringt mir auch noch die große Truhe herein, dort sind unsere Pfannen und mein großer Kochkessel. Ja, die schwarze ...«

Das Brummen der Männer - in diesem verlassenen Nest gab es wohl weder ein Schankmädchen noch selbst gebrautes Bier - und die aufgeregten Schreie des Knaben drangen von fern an Annes Ohr. Sie hatte so viele Fragen, die der Erschöpfung entsprangen.

Sie schloss einen Augenblick die Augen und fing unwillkürlich an zu beten. »Ihr, die ihr hier wart, ihr, die ihr jetzt hier seid, helft mir. Dies ist das Haus meiner Mutter, aber es ist jetzt auch mein Zuhause und das Zuhause meines Sohnes. Gebt uns euren Segen. Bewahrt uns in Sicherheit. Behütet uns und schenkt uns Ruhe in dieser Nacht. Ich bitte euch im Namen unser aller Mutter.«

Sie öffnete ihre Augen und hielt die Kerze nach oben. Dort war ein kleines Fenster, tief eingelassen in die dicken Mauern. Anne stellte die Kerze auf den Sims. Im kostbaren, grünen Fensterglas spiegelte sich die Flamme. Sie fühlte sich bereits besser und zündete ein Strohbüschel an der Kerze an, das sie auf das rasch aufgeschichtete Eichenreisig im Kamin warf. Schon hatte es Feuer gefangen und verbreitete ein freundliches Licht. Als Deborah und die Männer mit dem Gepäck in die Küche kamen, hatten sich die Schatten in die hintersten Winkel verzogen.

»Es könnte schlimmer sein, Mistress. Wenigstens ist hier regelmäßig ausgefegt worden, und ich glaube, das Dach ist dicht. Ich rieche auch keinen Schimmel.« Deborah sprach bewusst laut und fröhlich, um die Männer nicht zu entmutigen.

»Ja, das Haus macht wirklich einen soliden Eindruck. Essen, Wärme und Schlaf, das ist es, was wir jetzt brauchen, und dann werden wir weitersehen ...«

»Was sehen, Wissy?«

Anne lächelte ihren Kleinen an, der unter der Last seiner Habseligkeiten stolz in die Küche wankte.

»Nun, wir werden sehen, wo die ganzen Leute sind, Edward. Sehr weit können sie nicht sein.«

Anne und Deborah tauschten über dem Kopf des kleinen Edward einen Blick aus.

Hoffentlich waren die Nachbarn ihnen freundlich gesinnt.

Kapitel 51

Es war bitterkalt, als Edward Plantagenet bei Ravenspur die Küste von York ansteuerte. In dem heulenden Sturmwind waren seine Schiffe auseinandergetrieben worden.

Es war Mitte März, und in diesem trostlosen Winkel der Welt - dem Meerarm hinter der gekrümmten Landspitze an der Mündung des Humber - gab es nicht viele Menschen, die die Rückkehr des einstigen Königs bemerkten. Als Erstes hörten die Nonnen des kleinen, wohlhabenden Klosters Unserer Lieben Frau vom Sand die Nachricht, aber nur, weil der geistesschwache Fuhrmann Beck sein armes Pferd mit Peitschenhieben durch das Klostertor trieb und brüllte: »Männer! Pferde und Männer! Und Boote. Flieht, Schwestern, flieht. Die Wikinger, die Wikinger sind im Anmarsch!«

Beck brachte mit seinem Geschrei sämtliche Gänse in Aufruhr, und die Mesnerin war so verängstigt, dass sie nach der Morgenandacht mit aller Kraft eine Stunde lang die Glocke läutete, in der vergeblichen Hoffnung, die Menschen in den umliegenden Dörfern zu warnen. Der Schrecken, vom Glockengeläut geschürt, trieb die anderen Schwestern des Klosters in einem ungeordneten Haufen zur Mutter Oberin, die in der Kapelle im Gebet versunken war. Das aufgeregte Geschnatter der Schwestern störte ihre heilige Ruhe.

»Mutter, Mutter, was sollen wir tun? Ob es wirklich die Wikinger sind?«

Mutter Elinor, die Äbtissin des Klosters, war nicht weniger beunruhigt als ihre Schwestern, wollte sich aber ihre Besorgnis nicht anmerken lassen.

»Was wir tun sollen? Beten natürlich. Aber erst versperrt die Pforte mit allem, was ihr an schweren Gegenständen finden könnt!«

Edward hörte das wilde Läuten der fernen Glocke und sah, woher es kam - von einer Gruppe grauer Häuser, die von einer dicken Mauer umgeben waren. Er und William Hastings wurden von der Anthony, seinem ausgeliehenen Flaggschiff, das in der breiten Flussmündung festgemacht war, an Land gerudert. Der Wind hatte sich gelegt und das Schiff lag ruhig vor Anker. Die Überfahrt bei der trügerischen Sandbank nahe Spurn Point war im Gegensatz dazu sehr unruhig gewesen und war ihnen auf den Magen geschlagen.

»Zu Hause, William. Wir sind zu Hause.«

Noch bevor das Boot das Ufer berührte, sprang Edward Plantagenet in das eiskalte Wasser, watete an Land, fiel auf die Knie und küsste den tangbedeckten Schlick. Die Geste hätte lächerlich wirken können, doch Hastings, der erfahrene Höfling und Zyniker, war wider Willen gerührt, als er es seinem Herrn gleichtat.

»Ja, Euer Majestät. Zu Hause.«

»Und jetzt, Hastings? Sollen wir warten?«

Hastings, dem es um seine feuchten Stiefel leidtat - bei diesem gottverdammten Wetter würden sie mindestens ein oder zwei Tage zum Trocknen brauchen -, brachte ein fröhliches Nicken zustande. »Ich glaube, das wäre das Beste, mein König. Der Wind dreht sich und wird die anderen rasch hierherbringen.« Die beiden Männer wandten sich zu der turbulenten See hinter der Flussmündung um. In der Ferne sahen sie da und dort Segel aufblitzen, es waren nicht wenige, auch wenn der Sturm viele ihrer Schiffe weiter nach Norden getrieben hatte.

»Das ist Richard, glaube ich. Und Rivers. Die beiden großen, beflaggten Schiffe.«

Hastings zählte laut. »Drei, vier, fünf, sechs ... zehn. Fünfzehn, sechzehn ...« Er drehte sich zum König um und bekreuzigte sich. »Über zwanzig sind angekommen, Euer Majestät.

Und die anderen werden es auch schaffen, wenn Wind und Gezeiten uns weiter freundlich gesinnt sind.«

Edward kniete noch einmal nieder und reckte den Griff seines Schwerts in die Höhe. Gegen den bedeckten Himmel stach es ab wie ein Kreuz aus Silber. Der Wind, der vom Meer her wehte, riss ihm fast die Worte aus dem Mund, aber Hastings verstand das Wichtigste, als er neben seinen Freund und Herrn niederkniete.

»Wir schwören auf dieses, unseres Vaters Schwert, dass wir das Königreich zurückerobern und unserem Volk wieder Ordnung und Wohlstand bringen werden. Und diesmal, mit deiner Hilfe, himmlischer König, soll uns keiner vertreiben. Wir danken dir, Herr Jesus, für die Hilfe und Unterstützung, die Karl, der Herzog von Burgund, und seine Gemahlin, unsere Schwester, uns gewährt haben. Und wir danken für die Hilfe der englischen Kaufleute von Brügge. Wir verneigen uns vor dem Mut der englischen Kapitäne John Lyster und Stephen Driver, die ihre Schiffe für uns nach Vlissingen gebracht haben. Segne, Herr, auch Henry von Borselle, den Herrn von Veere, der uns sein großes Schiff, die Anthony, zur Verfügung gestellt hat, damit wir in unser Königreich zurückkehren können. Und wir sagen allen Dank, die unserer Sache in diesen vergangenen Monaten zugetan waren, nicht zuletzt Lady Anne de Bohun. All jene sollen Grund zur Dankbarkeit haben, wenn wir als Euer gesalbter Diener wieder in Amt und Würden stehen. So hilf uns, Herr und Vater.«

»Amen.« Bei der Erwähnung von Anne de Bohun zog William Hastings missbilligend die Augenbrauen hoch, doch dann bekreuzigte er sich in guter Zuversicht. Gott war auf ihrer Seite.

Mutter Elinor stand auf dem Glockenboden der Kapelle, dem höchsten Aussichtspunkt im ganzen Kloster, und starrte angestrengt in die Ferne. Sie konnte vage zwei kniende Gestalten erkennen und ein Blitzen, als das Schwert nach oben gestreckt wurde.

»Schwester Bertha?«

»Ja, Mutter?« Die Mesnerin stand auf der Leiter und hielt die Äbtissin an den Knöcheln fest.

»Wenigstens keine Heiden! Gelobt und gedankt sei Maria. Aber sie haben eine ganze Flotte mitgebracht. Das ist mit Sicherheit eine Invasion! Wir müssen die Glocke weiter läuten, Schwester.«

Die beiden Nonnen tauschten mit Mühe ihre Plätze auf der Leiter, und Schwester Bertha machte sich wieder ans Läuten. Der erste, mächtige Glockenschlag dröhnte beinahe schmerzhaft in ihren Köpfen. Bertha wusste, dass sie in den folgenden Tagen taub und benommen sein würde, aber sie nahm ihr Leid mit fröhlichem Herzen hin. Für Euch und für meine Schwestern, Herr, erfülle ich diese Aufgabe. Für Euch und für meine Schwestern .

Auch Mutter Elinor wusste, was von ihr erwartet wurde. Sie eilte in den aufgeweichten Hof vor der Kapelle. Dort hatten sich, hilflos wie die Schafe, ihre Nonnen versammelt. Und sie, die Schäferin, rief: »Schwestern, in die Kapelle mit euch. Und auf die Knie. Dankt Gott für seine Güte.«

Hastings klopfte sich missmutig den Sand von den Knien. Der Klang der fernen Glocke kam und ging mit dem Wind. Wen auch immer dieses Geläut erreichen sollte, es tat seinen Dienst. »Wenn es in diesem verlassenen Nest Menschen gibt, dann sind sie jetzt von unserer Ankunft unterrichtet. Sollen wir die Glocke zum Schweigen bringen, Herr?«

Edward schüttelte den Kopf. »Alle sollen von unserer Rückkehr erfahren. Aber ich will nicht, dass meine Männer auch nur eine einzige Scheune, einen einzigen Stall oder gar eine Kirche plündern. Wir kehren in Frieden zurück. Jedenfalls im Moment.« Der König steckte sein Schwert in die Scheide, das schrille Kratzen von Eisen strafte seinen frommen Wunsch Lügen. Er schirmte seine Augen ab und sah in die Ferne. »Erst der Norden. Und dann London. Es gibt viel zu tun.«

Edward breitete seine Arme aus. Eine neue Kraft strömte durch seinen Körper wie starker Wein. Er ging auf das Ufer zu und schwenkte seine Kappe zur Begrüßung, als ein Schiff nach dem andern die Sandbank umschiffte und in die ruhigeren Gewässer einlief. Das Schiff seines Bruders ging als erstes vor Anker. Im Heckaufbau sah er Richard, umringt von einer Schar von Männern. Einer von ihnen schwenkte ebenfalls seinen Hut mit ausholender Geste, als wollte er die Aufmerksamkeit des Königs auf sich ziehen. Edward schmunzelte. Julian de Plassy! Der Mann war unverwüstlich. Welch eine Ironie, dass ein französischer Bandit mit seiner Mörderbande sich daran beteiligte, den englischen Thron aus den Händen einer französischen Königin zurückzuerobern. Die Glocke hörte auf zu läuten. Kurz darauf vernahmen sie von Weitem Frauenstimmen, die das Miserere sangen. Edward hörte aufmerksam zu. Die Frauen hinter diesen hohen Mauern waren wahrscheinlich entsetzt von der Ankunft der vielen Schiffe.

»Hastings, ich will, dass dieses Kloster in Frieden gelassen wird. Wenn sich auch nur einer gegen diesen Ort vergeht, werdet Ihr ihn sofort hängen lassen. Vor aller Augen. Schärft das allen ein, die jetzt an Land kommen. Wir kommen mit Gottes Hilfe hierher, und alle Diener Gottes in diesem Land sollen unter meiner Herrschaft in Sicherheit leben können.« Bis London war es noch ein weiter Weg, aber er wollte ihn hier und heute beginnen. Er war mit zwanzig Mann aus dem Land geflüchtet. Er kam mit zweitausend Mann wieder, von denen die Hälfte Flamen waren, plus einer Handvoll französischer Abenteurer.

Aber das war genug. Das musste reichen.

Kapitel 52

»Wir haben eine Kuh.«

Anne setzte sich in ihrem großen Bett auf. Es gehörte zu den wenigen Möbelstücken, die sie von ihrem Hofmitgebracht hatte, und sie teilte es im Moment noch mit Edward und Deborah. Sie rieb sich energisch die Augen, um die letzten Traumfetzen zu vertreiben. »Wie herrlich! Woher?«

Deborah wischte sich die Hände an ihrer Sackleinenschürze ab und setzte sich. Sie war schon seit dem Morgengrauen auf den Beinen, und ihr Gesicht war von der kalten Luft und der harten Arbeit gerötet.

»Sie stand einfach im alten Obstgarten herum. Ich hörte sie muhen, es klang ziemlich verzweifelt. Ihr Euter war prall gefüllt, die Arme.« Deborah breitete ihre Hände aus und schüttelte den Kopf. »Aber jetzt habe ich sie gemolken. Und weißt du, was das Beste ist?«

Anne lachte fröhlich. »Ja, bitte.«

»Sie hat eimerweise Milch geliefert. Es ist alles schon in der Milchstube, und es reicht, um Butter zu machen!«

Anne schloss verträumt ihre Augen. Butter! Wie lange war es her, dass sie richtige, selbst gemachte Butter gegessen hatte? Doch dann verzog sie misstrauisch das Gesicht. »Das verstehe ich nicht. Sie hätte doch schon längst trocken sein müssen. Und woher kommt sie überhaupt?«

Deborah erhob sich energisch. »Ich für meinen Teil frage nicht nach diesem Gottesgeschenk. Aufjeden Fall ist sie nicht verwildert - sie folgte mir sofort, als ich sie rief, und wollte gemolken werden. Und das Allerbeste ist, dass unsere hübsche, neue Freundin wahrscheinlich trächtig ist. Oder sie hat die schlimmste Blähsucht, die ich je gesehen habe. Ich denke, dass sie bald kalben wird. Haben wir nicht ein riesiges Glück? Und so habe ich sie auch genannt: Fortuna. Sie ist ein gutes Omen, das uns sagt, dass wir hierbleiben sollen.«

Anne schlug die Bettdecken zurück und suchte zitternd ihre Arbeitskleidung zusammen. »Daran habe ich keinen Zweifel, liebe Mutter. Aber es gibt so viel zu tun. Ich glaube, wir müssen die Männer bald wieder zu Sir Mathew zurückschicken. Sie waren uns in diesen ersten Tagen wirklich eine große Hilfe, aber jetzt müssen wir eigene Helfer anstellen. Es ist an der Zeit, dass wir das Dorf besuchen.«

Deborah band ihrer Tochter das Kleid im Rücken zu. Normalerweise ließ Anne es sich nicht nehmen, sich morgens zu waschen, aber das musste an diesem Tag warten.

»Ich schaue kurz nach dem Essen in der Küche. Ich sterbe vor Hunger, und ich denke, den Männern geht es genauso.«

Anne schlüpfte in die Pantinen aus Weidenholz. »Ich bin froh, dass Fortuna in unser Leben getreten ist, aber wir sollten uns trotzdem im Dorf erkundigen. Irgendjemandem muss sie doch gehören?«

Wincanton the Less war ein sehr kleiner Ort. Eigentlich eher ein Weiler als ein Dorf, und selbst diese Bezeichnung war eine Schmeichelei.

Aber es ist mein Weiler, dachte Anne unwillkürlich, als sie und Deborah unangemeldet die breite Straße zum Dorfanger hinuntergingen, um den sich die Mehrzahl der vernachlässigten Häuschen gruppierte. Edward rannte voraus und spielte dabei mit einem Stöckchen, das er immer wieder nach vorn warf, um ihm dann schreiend nachzurennen. Wenigstens einer von ihnen war ohne Sorge. Was man von Anne nicht behaupten konnte. Sie hatte mehr erwartet. Dieser Ort sah richtig heruntergekommen und arm aus, und sie trug nun die Verantwortung für ihn. Ihr gehörten diese kleine Ansammlung von Häusern und, soviel sie wusste, auch ihre Bewohner.

»Wissy, Wissy, schau doch! Enten. Komm schnell!« Edward war am Dorfanger angekommen, an dessen Ende sich der Dorfteich befand. Er lag bäuchlings am Ufer und lockte mit ausgestreckter Hand ein Entchen an.

»Vorsicht, Kind!« Deborah eilte zu ihm, als sie sah, wie Edward immer näher zum Wasser robbte. Sie kam gerade noch rechtzeitig. Nur ein Hemdzipfel verhütete, dass Annes Sohn zu enge Bekanntschaft mit dem Entchen machte.

»Du hast es verjagt!«, rief Edward empört. »Das ist gemein!«

»Scht, Kind. Die Leute sollen doch nicht denken, Lady Anne hätte einen Grobian zum Neffen.«

»Ich bin doch kein Grobian. Ich bin nur glücklich!«

Das mit Entengrütze verzierte Gesicht tat Edwards Würde einen deutlichen Abbruch, aber seine aufsässige Miene sah so reizend aus, dass Anne nicht anders konnte, als laut zu lachen. Deborah wollte sich zurückhalten, aber das Lachen war einfach zu ansteckend, und bald musste auch Edward kichern, da halfen weder Entengrütze noch verletzter Stolz.

Das Lachen tat ihnen gut nach der Anspannung der vergangenen Tage und Monate. Anne schloss einen Moment die Augen. Sie war aus Brügge geflohen und dann mit Mathew Cut-tifers Hilfe aus London geflüchtet, und nun war sie hier in diesem gottverlassenen Nest gelandet. Waren sie weit genug fort von allem? Konnten sie hier ein neues Leben beginnen?

Anne spürte die Nähe eines Menschen und öffnete die Augen. Vor ihr stand ein kleines Mädchen in einem geflickten Kittel, der so alt und zerschlissen war, dass alle Farbe aus ihm gewichen war und er nur noch schmutzig braun aussah. Die nackten, blau gefrorenen Füße, die Schürze aus Sackleinen und die steckendünnen Beinchen sagten viel über diesen Ort.

»Wer bist du, Kind?«, fragte Anne, bekam aber nur Schweigen zur Antwort. »Nun, wenn du mir deinen Namen nicht sagen willst, dann sollst du meinen erfahren. Ich heiße Anne. Anne de Bohun.«

Vor Schreck riss das Mädchen Mund und Augen auf, und dann rannte es schreiend davon. »Mama, Mama, sie ist da! Mama! Mama!« Das Kind hatte das nächstgelegene Haus erreicht und drückte die Tür auf. Anne erhob sich.

»Sie wissen von uns?«

Deborah trat zu ihr und klopfte sich Staub vom Kleid. »In so einem kleinen Ort spricht sich das schnell herum. Wir sind ja schon seit Tagen hier.«

Die beiden Frauen sahen sich an, und Anne reichte Edward die Hand, um ihm aufzuhelfen. »Komm, wir müssen uns fein machen, wenn wir unsere Nachbarn treffen wollen, Edward.« Automatisch klopfte sie Grassamen und Zweige von Edwards Hemd, zog seine Kniehosen hoch und knöpfte ein paar Knöpfe zu, die aufgegangen waren. Sie war eigenartig ruhig, die Nervosität, die ihr an diesem Morgen beim Aufwachen das Herz zugeschnürt hatte, war verschwunden. Angst. Wenn große Veränderungen in ihrem Leben anstanden, verspürte sie immer Angst. So wie alte Menschen mit arthritischen Knochen einen aufziehenden Sturm spürten, spürte sie bevorstehende Veränderungen. Sie hatte gelernt, auf dieses Gefühl zu achten, auch wenn es ihr oft Angst machte. Jetzt aber empfand sie keine Angst, und das war ein Trost.

Anne strich ihre Röcke glatt und beobachtete aus den Augenwinkeln eine kleine Gruppe von Menschen, die sich vor der Hütte, zu der das Kind gerannt war, versammelten. Sie drehte sich zu ihnen um und lächelte zuversichtlich.

»Sollen wir hingehen?«, fragte Deborah kaum hörbar.

Anne verneinte kopfschüttelnd und fasste die Hand ihres Sohnes fester. »Sie sollen zu uns kommen.«

Instinktiv verstand Anne de Bohun, wie wichtig diese ersten Augenblicke waren. Dies war ihr Dorf, dies waren ihre Leute.

Sie wollte nicht unbedingt herrisch erscheinen, aber es war ihre Aufgabe, den Leuten Vertrauen zu geben, und dafür musste sie die Rolle der Gutsherrin einnehmen. Aus diesem Grund hatte sie sich an diesem Morgen besonders sorgfältig gekleidet: Sie trug ihr drittbestes Kleid aus einem tiefblau gefärbten, leichten Wollstoff. Die Kleidung einer Lady, auch wenn sie ins Dorf nicht zu Pferd, sondern zu Fuß gekommen war.

Eine Weile hielten die Leute sich unsicher zurück, und es erforderte Annes ganze Kraft, geduldig zu warten. Aber dann wagte sich das Häuflein aus Frauen, Kindern und zwei alten Männern endlich näher. Sie erinnerten Anne an halb gezähmte Vögel, die erst nach einigem Zögern auf die ausgestreckte Hand hüpfen, die ihnen hingestreckt wird.

»Mistress?« Einer der alten Männer hatte sich nach vorn geschoben und zog nun, als er sprach, seine schmierige Lederkappe vom Kopf.

Anne neigte würdevoll den Kopf und lächelte. »Ich bin Anne de Bohun. Und ja, ich wohne jetzt in Herrard Great Hall. Und ich bin glücklich, dass ich endlich zu Hause bin.«

Ein Seufzen ging durch die kleine Schar. Weiter hinten schrie ein Kind. Es war das Wimmern eines Neugeborenen. Anne lächelte. »Dürfte ich das Kleine sehen?«

Alle Köpfe wandten sich dem Mädchen zu, das hinten in der Gruppe stand. Sie errötete und wandte sich ab, damit Anne der Anblick des Säuglings, der nun eifrig an ihrer Brust nuckelte, erspart bliebe.

»Zeig es ihr. Zeig der Lady den Jungen.«

Die Menschen traten zur Seite, und dann stand das Mädchen vor Anne. Anne war gerührt von der Angst, die sie auf seinem Gesicht sah, als es ihr zitternd das Kind zur Begutachtung entgegenstreckte. Anne brachte es irgendwie fertig, zu lächeln und die Tränen zurückzuhalten, die ihr beim Anblick des halb verhungerten Kindes in die Augen schossen.

»Ein hübsches Knäblein, dein Sohn.«

Riesige Augen in einem schrumpeligen Gesichtchen musterten Anne. Wenn es überlebte, würde es vielleicht zu einem stattlichen Mann heranreifen. Die junge Mutter errötete und neigte ihren Kopf ruckartig zu ihrem Säugling hinunter. Sie war verlegen, aber sie freute sich. Sie reichte Anne kaum bis zur Schulter und war so dünn, dass unter ihrem zerlumpten Kleid die Rippen hervorstachen. Ihre schmächtige Gestalt zeugte von langen, harten Zeiten.

»Werdet Ihr länger hierbleiben, Mistress?«

Diesmal fragte jemand aus der Mitte der Gruppe. Anne suchte die Sprecherin mit den Augen - eine magere Frau mit wenigen Zähnen und einem verhärmten Gesicht. Ihr Ton klang frech, beinahe höhnisch.

Anne erwiderte ruhig: »Ich weiß Euren Namen nicht, meine Dame.«

»Meggan heiße ich. Aber Namen, weder der Eure noch meiner, beantworten meine Frage nicht.«

Die anderen zogen hörbar die Luft ein und traten von einem Bein auf das andere. Der alte Mann sah verlegen drein. »Also Meggan, es geht dich gar nichts an, was die Lady vorhat.«

Anne lächelte. »Ich beantworte die Frage gern, Master ...?« Sie benutzte diesen Ehrentitel und nickte ermutigend, als er antwortete.

»Will. Früher auch Long Will.« Er richtete sich beim Sprechen auf, und Anne sah, dass er einst ein groß gewachsener Mann gewesen war. Schlechte Zeiten und das Alter hatten ihm manches genommen, unter anderem auch die Zähne.

»Master Will und auch Ihr, Meggan und alle anderen. Bitte informiert eure Familien, dass ich in das Haus meiner Mutter zurückgekehrt bin. Sie hat niemals hier gelebt, aber für mich ist das ihr Zuhause. Und jetzt ist es unser Zuhause.« Anne legte ihren Arm um Edward und nickte Deborah zu.

»Das ist mein Neffe Edward und das ist Dame Deborah, meine Haushälterin. Wir sind dabei, uns einzurichten, aber ich brauche Hilfe. Hilfe von euch allen.«

»Ach ja?« Das war wieder die streitsüchtige Stimme von Meggan, doch diesmal wurde sie von den anderen zum Schweigen gebracht, und alle beugten sich vor, um jedes Wort von Anne zu verstehen. »Und werdet Ihr uns auch bezahlen?«

Long Will runzelte missbilligend die Stirn über Meggans Aufsässigkeit. »Verzeiht, Lady, aber die letzten zwei Jahre waren sehr hart für uns. Die Ernte war schlecht und ... nun, wir brauchen Geld, um dafür aufzukommen.«

Anne nickte und dachte über die Worte des Mannes nach. Dann lächelte sie. »Jetzt am Sonntag möchte ich einen Gottesdienst zum Dank für unsere sichere Ankunft abhalten lassen. Haben wir hier im Dorf unseren eigenen Pfarrer?« Die Antwort war Schweigen, dann sprach das kleine Mädchen, das sie zuerst gesehen hatten. Sie hatte genau wie die anderen dieses »unseren eigenen Pfarrer« gehört, und dass Anne sich bei diesen Worten mit einschloss machte sie mutig. »Der Pfarrer ist gestorben. Im letzten Sommer.«

»Nun, dann kann mir vielleichtjemand sagen, wo der nächste Pfarrer wohnt? Er könnte uns im Gutshaus seinen Segen erteilen. Dann würde ich euch bitten, dazuzukommen. Ich möchte euch alle kennen lernen, weil .«

Meggan schrie zornig: »Weil Ihr uns besitzt! Deshalb. Für Euch und Euresgleichen sind wir doch nur Vieh. Ochsen! Pferde! Esel! Das sind wir. Und mehr nicht.« Der Zorn ging in Schluchzen über, und eine der Frauen legte ihren Arm um Meg-gans knochige Schultern und flüsterte beruhigend auf sie ein. Meggan schlug eine Hand vor den Mund, als wollte sie ihn verschließen und das Schluchzen stoppen. Eine magere Hand, ein mageres Gesicht. Diese Frau war mehr als erschöpft, diese Frau war am Verhungern. Ohne nachzudenken, ging Anne zu Meg-gan und ergriff ihre andere Hand. Deren Haut war rau, und der Schmutz hatte sich in jede Pore gegraben.

»Das wird sich ändern, Meggan. Dafür werde ich sorgen. Und zwar ab heute.« Anne meinte, was sie sagte, und in diesem Augenblick gab es nur sie und Meggan auf der Welt.

Anne, die die Hand der älteren Frau mit beiden Händen umschlossen hielt, wandte sich zu ihren Leuten um und sagte: »Heute Abend soll es für alle ein Festmahl in Herrard Great Hall geben. Bitte sagt allen Bescheid. Kommt, bevor es dunkel wird. Für alle wird reichlich gedeckt sein.« Anne sah Meggan in die Augen. »Reichlich für alle, Meggan. Das verspreche ich Euch.«

Deborah fing Annes Blick auf und zuckte die Achseln. Das Essen würde knapp reichen dank der Vorräte, die sie aus London mitgebracht hatten, und dem, was sie vorgefunden hatten. Und sie beide allein würden es zubereiten müssen.

Deborah bekreuzigte sich und dankte der göttlichen Vorsehung, die ihnen die Kuh geschickt hatte. Fortuna und sie würden viel zu tun haben, wenn sie so viele Münder satt bekommen mussten. Gutsherrin schön und gut, aber die Leute hier von Wincanton the Less mussten erst vor dem Verhungern gerettet werden, bevor sie ihrer Herrin helfen konnten. Diese Herausforderung war Deborah durchaus willkommen, bedeutete sie doch, dass Anne weniger Zeit finden würde, über die Vergangenheit zu grübeln oder an den König zu denken.

Aber hoffentlich fragte Anne nicht nach, wem die Kuh gehörte .

Kapitel 53

»Siehst du ihn, Edward?«

Edward beschattete seine Augen mit seiner gepanzerten Hand. Die Strahlen der aufgehenden Sonne tanzten und blitzten auf dem glänzenden Eisen. Es war ein außergewöhnlich strahlender Morgen, ein hoffnungsvolles Zeichen nach vielen düsteren Tagen. »Noch nicht! Aber jetzt! Dort drüben!« Edward richtete sich in seinen Steigbügeln auf und winkte. Richard verzog finster sein Gesicht.

Die beiden Brüder befanden sich auf der Straße von Banbury. In ihrer Begleitung war eine beträchtliche Zahl ihrer Männer. An diesem Tag war es besonders wichtig, einen gut gerüsteten Eindruck zu machen. Der Rest der Yorker Truppen war vor der Stadtmauer von Coventry stationiert, hinter der sich Warwick verschanzt hielt und sich weigerte herauszukommen. Kaum zwei Wochen war es her, dass sie an der Küste angelandet waren, und nach einem zähen, schwierigen Beginn mit den Baronen des Nordens hatten sich ihnen, als sie weiter nach Süden zogen, Tausende von Männern angeschlossen, und es wurden täglich mehr.

»Sind es viele?«

Edward drehte sich zu seinem jüngeren Bruder um. »Ziemlich. Er möchte uns beeindrucken.«

Richard zuckte die Achseln und schwieg, sein Gesicht war zu einer drohenden Fratze verzerrt.

Edward lächelte. »Er ist unser Bruder, Richard. Er hat eine Dummheit gemacht, und das weiß er.«

»Eine Dummheit? Dieser Dummkopf!«

»Wir brauchen ihn, wenn wir .«

»Warwick besiegen wollen. Ich weiß, ich weiß. Das ist alles schön und gut, aber trotzdem .« Die Männer in der Ferne hielten ihre Pferde an. Das Morgenlicht stand in ihrem Rücken.

»Es ist wichtig, Richard. Sei freundlich zu ihm.«

»Freundlich? Er hat uns verraten. Dich verraten. Hast du die vergangenen sechs Monate schon vergessen, Edward?«

Der König drehte sich zu seinem Bruder um und sagte leise: »Sei nicht so bitter, Richard. Ich vergesse nichts.«

Edward Plantagenet lächelte und machte es sich im Sattel bequem. Er wartete. Der König wollte nicht den ersten Schritt tun. Diese Minuten würden in den nächsten Tagen auf beiden Seiten viel Gesprächsstoff geben. Hier kam es auf die richtigen Zeichen und Gesten an.

Einen Augenblick lang rührte sich nichts, dann löste sich eine Gestalt aus der dicht gedrängten Gruppe von Reitern und bewegte sich über die leere Fläche, bis sie nur noch drei Pferdelängen entfernt war. Sie hielt an und öffnete ihr Visier.

»Bruder! Und Richard! Wie schön, euch beide zu sehen. Willkommen daheim.« Er winkte, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.

Richard verschluckte sich fast, als er den unbekümmerten Tonfall hörte. »Edward! Du wirst doch nicht ...«

Aber der König reichte sein Schwert dem vor Wut kochenden Richard und trieb sein Streitross vorwärts, bis es Schulter an Schulter mit dem Pferd seines jüngeren Bruders stand. »George. Du siehst blendend aus. Die Ehe scheint dir gutzutun.« Edward lächelte und streckte die Hand aus, um seinem Bruder auf den Arm zu klopfen. Dabei lenkte er sein Pferd noch näher heran, so dass die Brüder nur noch eine Hand breit voneinander entfernt waren. Clarence zuckte mit keiner Wimper. Das hatten sie schon als Kinder gespielt. Wer brachte den anderen zuerst zum Blinzeln.

»Es könnte nicht besser gehen, vor allem jetzt, wo ihr zurück seid. Ich habe dich, euch beide vermisst.«

Das war atemberaubend! Edward fing an zu lachen. Er lachte lange und laut. Er lachte, bis er sich verschluckte und Clarence ihm kräftig auf den Rücken klopfte. Das brachte Edward erneut zum Lachen, und dann stimmte auch Clarence mit ein, und dann die Männer, die sie begleiteten. Aber nicht Richard. Richard war rot vor Wut.

»Richard, komm und begrüße deinen Bruder.« Der König hatte sich umgedreht und winkte Gloucester freundlich zu sich heran.

Richard hatte seine Gefühle noch nie gut verbergen können. Sein steifer Rücken und sein geschlossenes Visier sagten alles.

»Richard, komm und gib deinem Bruder einen Friedenskuss, so wie früher. Das ist ein Befehl.« Plötzlich hatte die Stimme des Königs einen eisernen Unterton, und Richard tat schmollend wie ihm geheißen. Er schob den eisernen Gesichtsschutz hoch, beugte sich vor und drückte zwei flüchtige Küsse auf seines Bruders Wangen. Dann wandte er sich mit einem Gesichtsausdruck ab, als müsste er ausspucken. Clarence lächelte Richard an, seine zuckenden Lippen erinnerten an einen Hund oder einen Wolf. Edward schlug seinen beiden Brüdern kräftig auf die gepanzerten Schultern.

»Die Familie ist wieder vereint, so wie es sein sollte. Nicht wahr, George?«

»Ja, es ist gut, dass wir uns wieder vertragen. Willkommen daheim, Richard, wie ich schon unserem Bruder, dem König, gesagt habe.«

Da war es heraus. Clarence hatte die Veränderung der Machtverhältnisse akzeptiert. Edward verbarg einen langen, tiefen Seufzer hinter einem strahlenden Lächeln.

»Nun, Bruder, erzähle mir von Warwick. Werden wir ihn hinter seinen Mauern hervorlocken können? Ihm gehen allmählich die Vorräte aus bei unserer Belagerung. Oder sollten wir uns lieber auf London werfen? Was meinst du, Bruder?«

»Ich habe da so einen Plan, Edward. Wenn du willst, versorge ich dich mit ein paar Informationen.«

Richard hörte mit mürrischer Miene zu, wie Edward fröhlich mit Clarence plauderte. Wenn man die beiden betrachtete, hätte man glauben können, dass diese Unterhaltung genauso belanglos war wie die Frage, auf welche Art die Franzosen in diesem Jahr ihre Falkenschnüre knüpften.

»Richard?«

»Ja, Euer Majestät?« Richard betonte bewusst den Ehrentitel, woraufhin Edward belustigt seine Lippen verzog.

»Dieses Treffen zwischen uns Brüdern ist wundervoll, aber ich gebe zu, dass mein Magen knurrt. Was haltet ihr von einem Feuer, gleich hier neben der Straße, damit wir mit einem Becher Glühwein anstoßen können, wie es sich für Brüder geziemt? Zur Erinnerung an alte Zeiten.«

Schon kurze Zeit darauf bot sich den umstehenden Männern ein Bild, das jemals noch zu sehen sie nicht geglaubt hatten. Die drei Söhne des alten Herzogs von York lagerten wie Gefährten an der Straße, als ob sie niemals getrennt gewesen wären.

»Was ist bei Honfleur geschehen, le Dain?«

»Der Wind, Sire. Der Gegenwind. Die Königin ist gut gerüstet in See gestochen, mit all ihren Schiffen und ihrem Sohn, dem Prinzen von Wales. Aber ein heftiger Sturm trieb sie immer und immer wieder zurück, und schließlich mussten sie in ziemlicher Unordnung wieder in den Hafen einlaufen. Dort sind sie jetzt und warten, dass das Wetter umschlägt.« Le Dain trat von einem Bein auf das andere. Der König schwieg, das machte ihm Sorgen.

»Und das Kind? Das Ungeheuer. Wie geht es ihm?«

»Der Säugling Louisa ist wohl auf, Euer Majestät«, log le Dain beherzt. »Sie wächst und gedeiht.«

Dies heiterte den König auf. »Sehr gut. Nur ein kleiner Rückschlag, wie mir scheint. Schickt eine Nachricht an Margaret von Anjou und lasst sie wissen, dass das Kind wohlauf ist und gedeiht. Es wird ihr ein Trost sein, wenn sie weiß, dass der Herr immer noch auf unserer Seite steht. Das Frühjahr ist immer eine sehr launische Jahreszeit.«

Le Dain verneigte sich, so tief er konnte. Er hatte alles dafür getan, damit König Louis einzig durch ihn, le Dain, von seinem kleinen Schützling Louisa zu hören bekam und dass diese Informationen immer hoffnungsvoll klangen. In Wirklichkeit kränkelte das kleine Ungeheuer. Es trank schlecht und schrie viel, und seine arme Mutter war verzweifelt. Das ließ le Dain unerklärlicherweise nicht gleichgültig. Er hatte sie beide ins Herz geschlossen, besonders das Mädchen. Das war seltsam. Sonst empfand er kaum Zuneigung für andere Menschen, nur für Hunde.

Er hatte schreckliche Angst, was mit Frankreich - und mit ihm - geschehen würde, wenn das Kind stürbe.

»Le Dain!« Der Barbier wurde aus seinen furchtsamen Gedanken gerissen. Höflich kniete er nieder. »Sire?«

»Was gibt es sonst für Neuigkeiten? Zum Beispiel vom Grafen von March. Haben die Engländer ihn endlich aus dem Land getrieben?«

Le Dain schluckte. Das würde schwierig werden.

»Nun, Euer Majestät, nicht unbedingt .«

Kapitel 54

Die Nachrichten aus dem Norden waren nicht gut für Margaret von Anjou und ihren Mitstreiter, den Grafen Warwick.

Die Unterstützer, die Warwick geblieben waren, marschierten mit dem alten König Henry VI. durch die Straßen von London. Es sollte eine machtvolle Zurschaustellung von Stärke und Selbstvertrauen werden, aber die verzweifelten Anhänger Warwicks erreichten genau das Gegenteil.

George Neville, der Erzbischof von York und Bruder des Grafen Warwick, spürte beinahe körperlich, wie die Stimmung gegen die Lancasters umschlug, als er neben Henry durch die Straßen ritt. Er sah es in den dumpfen, verschlossenen Gesichtern der Londoner, die sich aus ihren Fenstern lehnten und auf den höfischen Umzug hinabblickten. Niemand rief den Namen des alten Königs und niemand jubelte »Gott segne König Henry«. Nein, sie blickten stumm beiseite, als der seltsame alte Mann, der seit seiner frühsten Kindheit König von England gewesen war, an Sankt Peter vorüber und an den dicht an dicht stehenden, schiefen Häusern vorbei nach Chepe ritt. George Neville ritt neben dem König, er hielt die Hand des alten Mannes - eine anrührende Geste der Ergebenheit, wie er dachte. Sie wurde von scharfen, unfreundlichen Blicken sehr wohl bemerkt, aber nicht als Ergebenheit interpretiert, sondern als das, was es wirklich war: die einzige Möglichkeit, den tatterigen, alten König einigermaßen sicher im Sattel zu halten.

Die Leute tauschten leise ihre Meinungen aus. Ihr einstiger König war kreidebleich, und einzelne Strähnen seines weißen Haars flatterten lose in der frischen Brise, die vom Fluss heraufwehte. Den hat man irgendwo weggesperrt, ins Dunkle, sagten die Leute. Schaut nur, wie bleich er ist, wie ein Gespenst!

Henryjedoch lächelte seinem Volk freundlich zu, ja, er winkte wie ein gütiger Großvater, und das verfehlte nicht seine Wirkung, denn es erinnerte ein wenig an frühere Zeiten. Seine Augen aber wanderten hierhin und dorthin, ruhelos und leer wie die eines Säuglings. Er war armselig gekleidet und trug nur einen verschlissenen, fleckigen Umhang aus blauem Samt ohne jeden Pelzbesatz, der wenigstens seinen dünnen Hals hätte warm halten können. Auch dies wurde registriert. Misslungenen Pomp konnten die Londoner nicht ausstehen.

George Neville musste an sich halten, um bei Henrys Anblick nicht zu erschrecken. Eile hatte die Absicht dieser Prozession zunichtegemacht, und er hoffte, dass sie bald überstanden wäre. Man hätte sich mehr Zeit nehmen müssen, um den alten König sorgfältiger einzukleiden. Man hätte mehr Schmuck aus der Kammer der Pyx holen sollen, um die Massen zu blenden. Man hätte aus dem armen Henry einen richtigen König machen sollen. Man hätte ... man hätte ... zu spät. Neville sah Enttäuschung und Beschämung in den Blicken der Londoner. Henry von Lancaster sah nicht aus wie ein Monarch, und mochten noch so viele Männer vor ihm herreiten, seinen Namen und seine Titel ausrufen und in silberne Posaunen blasen. »Macht Platz für Henry, König von Gottes Gnaden von England, Frankreich, Irland und Wales. Herr von ...«

Ehrenvolle Titel waren das, doch die Zeit dieses alten Mannes war bald abgelaufen, das wussten alle, die an diesem Tag die Straßen säumten, und auch George Neville wusste es, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Die Londoner wussten ebenfalls, dass Edward Plantagenet nicht mehr fern war, und allein dieses Wissen machte die armselige Parade verflossener Macht peinlich. Alle hatten davon gehört, wie Edward von York aus nach Süden gezogen war und auf seinem Weg Tausende von Anhängern um sich scharen konnte. In dieser Situation hofften viele, dass er vor der alten Königin in London eintreffen würde. Margaret von Anjou steckte immer noch auf der anderen Seite des Kanals fest. Endlich gab es etwas, worauf sich die Londoner freuen konnten, denn Edward, ihr junger König, würde sie vor der alten Königin und ihren wilden Horden schützen. In diesen Zeiten, wo alles drunter und drüber ging, gab es nicht viel, worauf sie sich verlassen konnten, aber dessen waren sie sich wohl gewiss.

Dann kam der Augenblick, den George Neville am meisten fürchtete. Die Londoner wandten sich einer nach dem anderen ab und sperrten ihre Fenster und Türen zu. Bald waren die Straßen nahezu menschenleer. Dem alten König schien das nicht aufzufallen, wohl aber dem Erzbischof, dessen Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Das Schicksalsrad drehte sich wieder, er hörte das Knirschen seiner eisernen Felge .

Der lehmbespritzte Herold kam so schnell in das Jerusalemzimmer gerannt, dass er über die Steinfliesen schlitterte. Er achtete nicht auf die Spuren, die seine Stiefel und Sporen auf dem Boden hinterließen, sondern kniete vor Elizabeth Wydeville nieder. Der Schmutz tropfte auf ihre Rockschöße, aber das focht sie in diesem Moment nicht an.

»Was gibt es Neues? Wo ist der König?«

Der Mann war wie betäubt, aber er jubelte. »Keine zehn Leagues von der Stadt entfernt, Lady. Und mit ihm ein riesiges Heer. Viele, sehr viele Anhänger.«

»Clarence?«

»Auch Clarence.«

»Gott sei Dank. Gepriesen seist du, o Herr!«

Es war ein schriller Jubelschrei, und Elizabeth Wydeville, die einstige Königin, die bald wieder Königin sein sollte, fiel neben dem Herold auf die Knie, unbeachtet des Schmutzes und der Nässe. Sie bekreuzigte sich mit solcher Inbrunst, dass man das Glück auf ihrem Gesicht beinahe als Qual hätte deuten können. Ihr neugeborener Sohn Edward war darüber so erschrocken, dass er in den Armen seiner Großmutter zu wimmern begann und hinausgebracht werden musste.

»Heilige Mutter Maria, Mutter der Betrübten, Mutter Gottes mein, erhöre mich. Hilf dem König auf seinem Weg, ich flehe dich an. Bring ihn hierher zu mir, auf dass er endlich unseren Sohn, den Prinzen, sehen möge.«

»Amen«, stimmte Elizabeths Beichtvater ein, der eben eingetreten war. Bruder Peter, ein Dominikanermönch, wurde wegen seiner unangenehmen, schmierigen Art hinter seinem Rücken auch Bruder Entenschiss genannt. Seit dem vergangenen Oktober war er nicht mehr gesehen worden, er hatte »Rückzug gehalten«, wie er es ausdrückte. Aber vor kurzem war er wieder in der Abtei aufgetaucht, Gott habe ihn aus der Wildnis gerufen, um der Königin beizustehen, erklärte er.

Elizabeth äußerte sich nicht dazu. Sie begrüßte ihn, als wäre er Tage, nicht Monate fort gewesen. Der Wind drehte sich, und dieser Zugvogel war der Beweis dafür. Sie verabscheute ihn, sie hasste seinen Opportunismus, und trotzdem versetzte ihr seine Gegenwart einen Freudenstich. Mit Bruder Peter wollte sie sich später befassen.

Andächtig bekreuzigte sich die Königin ein letztes Mal, und dann brach in der heiligen Stätte der Westminster Abbey ein Sturm der Betriebsamkeit los.

»Ich muss angekleidet werden! Mutter, wo bist du?«

Dem Beichtvater kamen die Frauen wie schnatternde Gänse vor, als sich der vornehme Salon des Abts mit zwitschernder Aufregung füllte und Elizabeth Wydeville sich ungeachtet der priesterlichen Gegenwart das schlichte Gewand aus erdigem Samt vom Leibe riss, das sie bei ihren morgendlichen Gebeten im Kreis ihrer wenigen Hofdamen zu tragen pflegte. Bruder Peter, ein erfahrener Höfling, erkannte, dass er im Moment nicht mehr benötigt wurde. An diesem Tag würden die Damen nicht mehr beten wollen. Nun galt es, dem Mammon zu dienen, und dafür mussten Frisur und Gestalt verschönert werden, was keinem rechtschaffenen Geistlichen zu beobachten anstand. Daher beeilte er sich, sich zurückzuziehen und Gott nicht mit dem Anblick weltlicher Pracht zu beleidigen. Schweigend verbeugte sich der Mönch vor der Königin und ging. Elizabeth Wydeville bemerkte es kaum.

Arme Frau, dachte der Mönch, als er das Durcheinander des Jerusalemzimmers hinter sich gelassen hatte. Arme, treue Gemahlin! Eine Penelope für Odysseus. Der Herr habe Erbarmen und vereinige sie mit ihrem edlen Gemahl, dem von Gott gesalbten König. Aber als Bruder Peter durch die Abtei ging und sich in gesetzter Manier vor befreundeten Mitbrüdern verneigte, die paarweise einherschritten und über den klösterlichen Himmel sinnierten, da kam ihm der Gedanke, dass es in Kürze womöglich zwei gesalbte Könige in London geben würde. Konnte, wollte Gott dies zulassen? Bruder Peter schüttelte den Kopf. Dies konnte nur Teil eines göttlichen Plans sein, sonst würde es nicht geschehen. Und es war nicht an ihm, einem demütigen Mönch, Gottes Wille und Wege abzuwägen oder in Frage zu stellen.

»Das goldene Kleid, Euer Majestät, oder das Rote?«

Elizabeth Wydeville war bis auf ihr seidenes Unterkleid ausgezogen. Ihre Damen drängten sich um sie, bürsteten ihr Haar, tupften ihre Achselhöhlen mit einem in Rosenwasser getränkten Schwamm ab, frischten ihre Lippen mit einer Mischung aus zerstoßenen roten Geranienblüten, Wollfett und Mandelöl auf.

»Das weiße. Ich möchte das weiße Damastkleid tragen! Keusch und fromm, so soll er mich sehen.«

Elizabeth Wydeville hatte nach der Geburt des Knaben, ihres sechsten Kindes, hart an ihrer Figur gearbeitet. Sie hatte gehungert und sogar auf das geliebte Veilchenkonfekt verzichtet. Sie war von der Natur begünstigt und ihr Körper für Kinder wie geschaffen. Er war zart und immer noch eine Augenweide - das musste übernatürliche Ursachen haben, wurde geflüstert.

Nun aber war Elizabeth ernsthaft beunruhigt, denn das feine Kleid aus glänzendem, weißem Damast entpuppte sich als zu eng um Busen und Taille. Sie hatte zugenommen. Schrecklich! Eine Katastrophe! Wie sollte der König jemals wieder in

Leidenschaft für sie entflammen, wenn sie dick geworden war? »Ich habe es gewusst! Ich hätte nie mit dem Stillen anfangen dürfen! Was soll ich bloß tun?« Die Königin steigerte sich in einen Wutanfall hinein, als ob sie von einem Moment zum anderen alt und hässlich geworden wäre.

Jacquetta beging den Fehler, sie beruhigen zu wollen. »Tochter, im Allgemeinen nimmt man eher ab durch das Stillen. Überlegt Euch doch, ob ...«

»Nein! Ich bin eine Königin und keine Kuh! Ich habe den Kleinen nur an meine Brüste gelassen, weil er eines Tages König sein wird und ich gedacht habe, er habe ein Recht darauf, wenigstens für eine Weile Muttermilch zu kosten. Aber jetzt, oh, was soll ich nur tun .« Tränen und Wut waren bei Elizabeth Wydeville ein machtvolles und furchteinflößendes Zweigespann. Am besten, man wartete das Ende des Sturms einfach ab, was in diesem Fall ungewöhnlich schnell ging, weil Jacquetta durch einen kühnen Einfall allen Anwesenden weitere Schreckensstunden ersparte.

»Ich glaube, es ist eingegangen, Euer Majestät. Seht hier und hier. Ja, von der Taille bis zum Boden ist es viel kürzer geworden. Und das erklärt auch die Enge um Brust und Taille.« Das war eine kühne Logik, aber sie verfehlte ihre tröstende Wirkung nicht. »Diese dummen Waschfrauen - sie haben beim Waschen nicht aufgepasst, und das Kleid ist eingegangen. Man muss sie ausfindig machen und aus Eurem Dienst entfernen! So etwas kann unmöglich geduldet werden.«

Elizabeth Wydeville sah ihre Mutter aus einem tränenverschmierten, puterroten Gesicht an - das stand selbst einer Schönheit wie ihr nicht gut an. »Ja. Ja! Ihr habt recht, Mutter.« Sämtliche Frauen im Jerusalemzimmer wandten sich ab und bekreuzigten sich verstohlen. »Aber trotzdem. Der König muss in mir seine Königin sehen. Was gibt es denn noch Passendes und Sauberes anzuziehen nach diesen langen, trübseligen Monaten?«

»Euer Majestät?« Ein unscheinbares Mädchen trat hinter den anderen Frauen hervor. Eine richtige graue Maus war sie, aber der Blick aus ihren dunkelbraunen Augen in ihrem schmalen Gesicht war beunruhigend direkt.

»Ja, Lady Leonora?« Die Tochter des Grafen Shafton machte die Königin nervös, denn sie sprach kaum ein Wort und wirkte oft mürrisch. Immerhin war sie ihr in der Zeit des Asyls treu ergeben gewesen und verdiente einen höflichen Umgangston, auch wegen ihres mächtigen Vaters, der im Norden ein wichtiger Unterstützer des Königs war.

»Würde der Königin dies zusagen?« Lady Leonora breitete ein zwischen Violett und Purpur changierendes, zartes Kleid aus Seidensamt aus. Der Stoff glitzerte silbern, als das Mädchen ihn durch seine Finger gleiten ließ. Ein tiefes Seufzen ging durch den Raum.

»Oh, das hatte ich ganz vergessen. Wo habt Ihr es gefunden, Leonora?«

»Es hing im Vorraum zur Privatgarderobe des Abts, Euer Majestät. Dort hängen viele Eurer Kleider, schon von Anfang an.« Sie meinte, als die Frauen mit der hochschwangeren Königin in der Abtei Zuflucht gesucht hatten.

»Der arme Abt. Wir haben wirklich schon viel zu lange seine Räume in Beschlag genommen. Er wird froh sein, wenn wir endlich wieder in unserem rechtmäßigen Domizil weilen!«

Die Frauen lachten unbeschwert und aus ganzem Herzen, das erste Mal seit sehr langer Zeit. Ja, alle wären froh, den Abt Thomas Milling wieder allein zu lassen. Und er wäre bestimmt besonders froh, das Jerusalemzimmer wieder benützen zu können.

»Ob es mir passt?« Ängstlich musterte die Königin das herrliche Kleid, das Leonora zum Fenster hielt.

Jacquetta nickte energisch. »Natürlich, Euer Majestät. Wollen Majestät es anprobieren? Doch zuerst« - sie wandte sich zu den Frauen um - »geht. Geht alle hinaus. Sofort! Und bereitet euch auf die Rückkehr unseres rechtmäßigen Königs vor, wie es sich für Untertanen geziemt. Geht und betet!«

Elizabeth zog erleichtert die Luft ein und musste beinahe l ächeln, konnte sich im letzten Moment aber zurückhalten. Ihre Mutter sollte nicht glauben, sie hätte plötzlich irgendeinen Einfluss auf sie, nur weil sie instinktiv genau verstand, was Elizabeth wollte. In diesem Fall war sie ihr dankbar, dass sie das Kleid ohne die übliche Weiberschar anprobieren konnte. Auf diese Weise würden nur sie und ihre Mutter wissen, wenn dem herrlichen Kleid dasselbe Schicksal beschieden wäre wie dem weißen.

Jacquetta näherte sich ihrer Tochter mit ehrerbietiger Miene. Das Kleid lag über ihren Händen wie eine Opfergabe für die Heilige Jungfrau.

Mit königlicher Miene empfing Elizabeth die mütterliche Gabe. Sie wollte den Bauch einziehen, bis das Kleid passte - und es musste eng geschnürt werden. Und sie wollte nichts mehr essen, bis der König zu ihr zurückkehrte. Das half bestimmt, denn sie war die Königin, und wenn sie es wünschte, war sie dünn. Edward würde sie immer noch lieben, sie und ihre kleinen Prinzessinnen und seinen Sohn, ihren rechtmäßigen Erben. Bald würde die Welt wieder in Ordnung sein. Sie würde wieder Königin sein, und ihr rechtmäßiger Platz im Bett des Königs würde ihr sicher sein. Und auch in seinem Herzen. Sie würde den Platz in seinem Herzen wieder einnehmen, weil sie ihm diesen kostbaren Knaben geschenkt hatte.

Elizabeth Wydeville lächelte, als Jacquetta den geschmeidigen Samt über ihre Schultern, ihre Brüste, ihre Hüften gleiten ließ. Es passte wie eine Schlangenhaut. Die Königin jubelte innerlich.

Wo war Anne de Bohun jetzt? Verloren und vergessen, seit langem schon. Und sie, Elizabeth, hatte gewonnen.

Kapitel 55

Durch die Mithilfe einiger Frauen aus Wincanton the Less machte Herrard Great Hall schließlich einen wohnlichen Eindruck. Das heißt, jener Teil des Anwesens, in dem Anne wohnen wollte, war mit Asche und Flusssand geschrubbt und die Wände mit Kalkfarbe geweißt worden. Die Farbe hatten sie selbst aus zerstoßenen und gebrannten Muscheln (das Meer war nicht weit entfernt) und pulverisiertem, weißem Lehm vom Flussufer gemischt. Auch frische Binsen waren ausgelegt worden, und ihr zarter Duft zog wie eine Sommerbrise durch das Gebäude.

Ganz langsam entstand Ordnung auf Annes Anwesen, in ihrem Haus, ihrem Land. Als Erstes, nachdem sie die Bewohner von Wincanton the Less bewirtet hatte, suchte sie den Dorfältesten, Long Will, auf, um sich zu informieren, wer am dringendsten Nahrungsmittel benötigte. Und als sie bei dieser Gelegenheit von der jüngsten Vergangenheit des Dorfs erfuhr, wurde sie immer wütender.

Als sie ins Exil gegangen war, hatte Edward Plantagenet ihr versprochen, ihre Ländereien von Beauftragten der Krone weiterhin verwalten zu lassen. Dieses Versprechen war wohl in den ersten zwei Jahren eingehalten worden, aber als das Land immer mehr in Kriegswirren versank, hatten die Männer ihre Arbeit, für die sie schon lange keinen Lohn mehr bekommen hatten, im Stich gelassen und waren nach Hause gegangen. Der von Westminster benannte Vogt, der Annes Ländereien verwalten sollte, war an einem Sommermorgen plötzlich verschwunden. Gerüchten zufolge war er noch vor der Flucht des Königs zu seiner Familie nach London zurückgekehrt.

Mehr wussten die Leute von Wincanton nicht, außer den Gerüchten, die sich um den Krieg rankten. Und auch wenn die

Dörfler keine eigentlichen Kriegshandlungen erlebten, so hörten sie als fernen Donner das gelegentliche Tosen der Schlacht und die Schreie sterbender Männer und Pferde. Selbst die wandernden Kesselflicker, die jedes Jahr mit den Schwalben kamen und die neuesten Nachrichten mitbrachten, waren ausgeblieben. Das Dorf war von aller Welt verlassen.

Das vergangene Jahr war eine Katastrophe gewesen. Die Saatzeit war besonders kurz gewesen, weil nach einem langen Winter der Herbst vorzeitig mit Kälte und Nässe eingesetzt hatte. Dann wurden die Rinder von einer Viehseuche befallen, der auch die kostbaren Hausschweine zum Opfer fielen, bevor sie geschlachtet werden konnten. Auf diese Weise hatten die Leute kaum Vorräte für den ungewöhnlich harten Winter - nicht einmal ein Stückchen Salzfleisch oder einen Sack Rüben. Dann brach das Schweißfieber über das Dorf herein, dem die Säuglinge und die Alten erlagen. Und nun hatte noch eine Frühjahrsdürre den zarten Weizen verwelken lassen, der vor dem Wintereinbruch gepflanzt worden war. Das Dorf konnte kaum noch überleben.

Anne fasste einen Entschluss. Von dem Geld, das sie in Brügge gespart hatte, und von dem Erlös aus dem eiligen Verkauf einiger Vorräte ließ sie in der Stadt Taunton Weizen und fünfundzwanzig Fleischschafe kaufen, von denen einige sogar Lämmer hatten. Außerdem zwei schrecklich verwahrloste Milchkühe mit mächtigen Hörnern, die trächtig waren. Für sich selbst kaufte Anne ein Reitpferd, aber keinen Damenzelter, sondern ein richtiges Pferd, eine kräftige und lebhafte Stute mit breiter Brust und stämmigen Beinen. Sie gab ihr den Namen Morganne.

Wat, der einzige, der von den Männern aus Blessing House noch geblieben war, verschob seine Abreise zu seiner Herrschaft nach London. Er holte die Schafe ab und trieb sie ins Dorf, und er lieferte auch die Weizensäcke ab. Die Kühe sollten am nächsten Morgen von ihrem Vorbesitzer gebracht werden. »Eure Lady hat gesagt, ihr sollt so viele Schafe schlachten, wie ihr im Moment braucht, und den Rest für die Zucht nehmen. Die Kühe, die morgen kommen, sind für alle, aber besonders für die Kinder. Und wenn jemand von euch mir die Mühle zeigt, können wir noch das Getreide mahlen. Einen Teil davon soll ich zum Herrenhaus bringen, aber der Rest ist für euch.«

Stille folgte seiner Ankündigung. Aber dann begannen die Häusler, auch Meggan, zu tanzen, zu jubeln und zu schreien. An diesem Abend sollte es im Dorf wieder ein Festmahl geben -das erste seit vielen Jahren. Essen? Sie wollten essen, bis ihnen das Fett vom Kinn tropfte und die Bäuche wehtaten. Und so geschah es auch.

Anne lächelte. Der Wind wehte den Duft gebratenen Fleisches herüber. Sie stand auf den Zinnen ihres Gutshauses und sah unten im Tal, wo sich die Hütten drängten, den Rauch von den Feuern aufsteigen. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie die Leute sogar rufen hören. Ihre Leute. Glück, Verzückung und Schrecken hatten immer die gleiche Stimme, wenn sie im Übermaß vorhanden waren. Anne zog den Mantel fester um sich und wandte sich ab. Sie war froh, ihre Leute ernähren zu können, es war ihre Pflicht. Sie war glücklich, dass sie glücklich waren. Letzten Endes brauchte es nicht viel, das Leben eines Mannes oder einer Frau - oder eines Kindes - zu verändern.

Sie zitterte. Sie war überrascht, wie tief sie das Glück, das vom Tal zu ihr heraufschwappte, berührte. Wann hatte sie zuletzt solch ein Glück empfunden? Sie schloss ihre Augen und wollte das Wissen, die Wahrheit nicht zulassen. Aber wieso sollte sie sich selbst belügen? Edward Plantagenet war ihr Glück, trotz des Leids, das er in ihr Leben gebracht hatte. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Und, wenn sie wählen dürfte, was würde sie tun?

Dunkelheit hatte sich über das Tal gesenkt, und Anne konnte die Umrisse der Häuser nicht mehr erkennen. Die Schatten krochen über die Mauern ihres Guts. Bald wollte sie hinuntergehen in die erleuchtete Küche und sich zu ihrem Kind, ihrer Mutter und Wat setzen. Vielleicht würde sie am Feuer sticken oder spinnen.

Deborah hatte mit Wats Hilfe einen Webstuhl aufgestellt. Die beiden Frauen wollten bis zum nächsten Winter die Wände des Hauses mit bunten Wandteppichen schmücken und die Betten mit neuen Überdecken versehen. Arbeit war gut, es hielt sie vom Grübeln ab. Trotzdem war Anne manchmal ohne Hoffnung. Sollten ihre Tage und Nächte jetzt und in alle Zukunft so aussehen?

Vielleicht, und vielleicht war das auch das Beste. Ein ruhiges Leben im Kreis ihrer eigenen Leute. Den Knaben in ihrer Mutter Haus großziehen. Und weit, weit weg zu sein vom Lärm und den Gefahren der Welt. Der Welt der Höfe und der Intrigen und der Kriege. Und der Könige ...

Kapitel 56

Der Ostersonntag begann für Edward Plantagenet mit einem stillen Gebet in eisigem Nebel und endete damit, dass seine Rüstung schwarz war von getrocknetem Blut.

Nur drei Tage zuvor hatten die Straßen Londons gebrodelt von Menschen, die ihn willkommen hießen. Unter einem Regen von Blumen und lieblich duftenden Kräutern war er in seine Stadt eingeritten. Narzissen, Schneeglöckchen, Rosmarin und Salbei fielen vor die Hufe seines Pferdes, zarte Blüten und Blätter wurden im Morast der Straße zu Brei zertrampelt. Der Geruch von Pflanzensaft überlagerte sogar fast den Gestank in den Straßen, der im frühlingshaften Tauwetter einsetzte.

Drei Tage war es her, dass die Tore Londons für ihn aufgerissen worden waren. Hinter ihm waren seine Männer in die Stadt geströmt und hatten nach Rache geschrien wie Adler. Dieses furchterregende Gebrüll, das überall in der Kapitale von den Menschen nachgeahmt wurde, trieb George Neville und seine Anhänger in die Flucht. Den alten König ließen sie allein im Tower zurück. An diesem glücklichen Tag setzten die Bewohner von London ihren Sommerkönig wieder auf den Thron, ließen ihn, Edward Plantagenet, vor dem Hochaltar der Westminster Abbey weihen. Edward war noch in Halbrüstung und hatte das Schwert seines Vaters umgeschnallt, als der Erzbischof von Canterbury mit bebenden Händen die Krone vorsichtig und fest auf Edwards Haupt drückte.

Drei Tage war es her, dass er in der kirchlichen Zufluchtsstätte seine Gemahlin wiedergesehen und seinen neugeborenen Sohn betrachtet hatte. Ja, vor drei Tagen, nachdem er sechs Monate lang fort gewesen war. Er hatte vergessen, wie schön Elizabeth Wydeville war. An diesem Tag hatte sie in ihren purpurroten Gewändern ausgesehen wie eine Herrscherin. Mit Tränen in den Augen hatte sie vor ihm geknickst, und er hatte den schlafenden Säugling aus ihren Armen genommen, ihn geküsst und ihn in die Höhe gehalten, so dass alle seine Männer ihn sehen konnten. Dann hatte er ihn als seinen ehelichen Sohn anerkannt und zum Erben seines Königreichs erklärt. Und das Dröhnen der Abteiglocken hatte über die ganze Stadt geschallt und seinen Sohn aufgeweckt, der vor Angst zu schreien begonnen hatte. Der König aber, sein Vater, hatte ihn an seine Rüstung gedrückt, hatte beruhigend auf ihn eingeredet und ihn an-gelächelt, bis er wieder still war. Edward hatte schon immer gut mit Kindern umgehen können.

Und nun, am vierten Tag, war er nach Barnet gekommen. Hier, in diesem kleinen Ort, musste er sich sein Königreich wahrlich verdienen. Hier musste er den Preis mit dem Blut seiner und Warwicks Männer bezahlen. Sie waren alle Engländer, waren alle seine Untertanen. Um sich hörte er Jubeln und Schreien. Das Tosen der Schlacht.

Der Nebel hob sich nicht an diesem langen, vierten Tag. Im Gewirr der Schlacht kämpfte Edward wie eine mit Axt und Schwert ausgestattete Maschine, umgeben von Männern, die er kannte, von Männern, die sich ihm doch noch angeschlossen hatt en und die mit ihm töten oder im Tod vereint sterben würden. Wumm! Er spürte den Aufprall in seiner Schulter, als seine Axt Helm und Schädel eines Angreifers durchschlug. Blut spritzte. Er wischte es sich aus dem Gesicht und den Augen und stieß den auf ihn fallenden Leichnam von sich. Und wieder sauste seine Axt nach unten, diesmal traf sie ein Pferd, das schrie wie ein Mensch .

Er hörte sich brüllen, fiel in das Schreien seiner Männer mit ein, die sich in das blutige Gedränge stürzten und die Männer des Grafen von Oxford und den Grafen selbst hinter einer Wand aufgepflanzter Speere suchten.

Und dann das Wunder. Als Edward kaum noch Atem, kaum noch Kraft hatte, als seine Axt schwer wie ein Amboss in seiner Hand wog, hörte und sah er mit eigenen Augen, was geschah. Warwicks Soldaten schossen auf ihre eigenen Männer, auf die Männer von Oxford, bevor diese sie aufhalten konnten. Das Wappen! Sie hatten die Fahne von Oxford mit der von Edward verwechselt. Töteten sie tatsächlich ihre eigenen Leute?

Der König ließ seine stumpf gewordene Axt sinken und zog seines Vaters Schwert. Er trieb sein erschöpftes Pferd an und setzte über Leichen und sich windende, halbtote Männer. »Zu mir, heiliger Georg! Zu mir!«, schrie er. »Für Warwick! Für Warwick!«, wurde ihm geantwortet, aber jetzt machte er sie fertig .

Zustoßen und parieren und wieder zustoßen. Und schreien und töten und wieder zustoßen. Und wieder und wieder. Der schreckliche Rhythmus der Schlacht, die Melodie des Todes wollte und wollte an diesem nebelverhangenen Tag nicht enden.

Und plötzlich schälte sich eine berittene Schar aus dem Getümmel und setzte hinter einem fliehenden Ritter her. Edward sah sie, sah, wen sie jagten, erkannte das Schild mit dem gezackten Stab! Es war Warwick! Edward gab seinem Pferd die Sporen und jagte ihnen nach, aber sie erreichten ihn als Erste.

Warwick war allein, er war umzingelt, ein Schwert gegen viele Schwerter. »Nein!«, brüllte Edward, doch bevor das Wort über seine Lippen gekommen war, war es schon geschehen. Der König spornte sein Pferd an, schneller, immer schneller, er rief: »Lasst ihn. Lasst ihn!«, doch schon sah er Schwerter blitzen und hörte das Gebrüll von Warwick, der sein Leben so teuer verkaufte, wie er konnte.

Blut spritzte aus der Rüstung des Grafen, als ein Axthieb seine Schulter und seinen Schwertarm vom Körper trennte. Dann fiel er, als sei er nie da gewesen. Er hinterließ eine Leere. Wie Hunde auf der Jagd heulten seine Angreifer auf, sprangen von ihren Pferden, stachen auf ihn ein, hackten ihn in Stücke und schrien.

»HALT!«

Die donnernde Stimme gebot der Meute und ihrem blutigen Werk Einhalt. Verwirrt drehten sich die blutbespritzten Gesichter zum König um. Die Erregung ebbte ab. Der König sprang aus dem Sattel, und die Männer, die den Grafen Warwick getötet hatten, taumelten zurück. Sie hatten den Leichnam schon halb seiner kostbaren Rüstung beraubt, und einer der Männer hatte Warwicks Schwert in der Hand, das durch ein in den Griff eingearbeitetes Wappen zu erkennen war. Edward Plantagenet riss dem Mann wütend das Schwert aus der Hand, dann sah er auf den geschundenen Körper seines Feindes hinab, der ihn hatte vom Thron vertreiben wollen. Langsam, mit steifen Knien ließ er sich neben Warwicks gespaltenem Kopf nieder, hob ihn hoch, schob das Visier zurück und küsste die reine, weiße Stirn. Er hatte diesen Mann zeit seines Lebens gekannt, einst war er wie ein zweiter Vater für ihn gewesen, nachdem sein eigener Vater gefallen war.

Die Männer, die gedacht hatten, sie führten nur den Befehl des Königs aus, konnten ihr Lebtag nicht verstehen, warum Edward Plantagenet so wütend war über das Abschlachten seines Feindes. Sie begriffen nicht, warum er weinte, als er dort im blutigen Matsch neben dem verstümmelten Leichnam jenes Mannes kniete, der ihn aus seinem Königreich vertrieben hatte. Dann senkte sich die Nacht über den vierten Tag.

Louis, König der Franzosen, wurde von schrecklichen Nachrichten aus dem Schlaf gerissen. Keine fünf Tage waren seit dem Ende der Karwoche vergangen, und nun wagte man, ihm mitten in der Nacht so etwas mitzuteilen.

»Barnet? Wo ist das? Ist das sicher?«

Le Dain stand am Fuß der königlichen Bettstatt. Er zitterte vor Kälte und vor Angst. »Ja, Sire. Die Berichte entsprechen der Wahrheit. Graf Warwick ist zu unserem himmlischen Vater gegangen. Er wurde vom Grafen March, dem Thronräuber, am Ostersonntag ermordet.«

»Eigenhändig ermordet? Ihr meint, Edward hat ihn getötet?« Entsetzt richtete sich Louis im Bett auf.

Le Dain schüttelte verneinend den Kopf. »Nein, Sire. Seine Männer haben den Grafen getötet und dann den Leichnam geplündert. Abscheuliche Schweine, diese Engländer, jemanden aus dem eigenen Volk so zu behandeln. Es heißt, der König - ich meine, der Graf von March - habe Warwicks Leichnam und den von Lord Montague« - hier hüstelte le Dain nervös, denn es war allgemein bekannt, dass Montague der Liebhaber von Margaret von Anjou war - »in der Kathedrale von Sankt Paul in London aufbahren lassen. Diese Barbaren! Die Kathedrale liegt direkt bei der London Bridge, Sire, und .«

»Idiot! Was interessiert mich Eure Geografie? Wo ist meine Cousine, die Königin von England?«, schimpfte Louis.

Le Dain senkte seinen Blick und schluckte. Es gab noch mehr schlimme Nachrichten.

»Nun?« Die Stimme des Königs schnitt messerscharf durch den Raum.

Der Barbier fiel schwerfällig auf die Knie und rutschte nach vorn. Als er das Bett des Königs erreicht hatte, senkte er demütig den Kopf. »Königin Margaret von Anjou ist in ihrem Königreich gelandet, Euer Majestät. Sie befindet sich im Südwesten des Landes und schart ihre Anhänger um sich. Die Grafschaften dort waren der Sache der Lancasters immer treu ergeben. Und es gibt immer noch viele, die sich ihr zuwenden, auch jetzt, wo .« Le Dain hustete. Er brachte die Worte, die gesagt werden mussten, kaum über seine Lippen.

»Jetzt, wo der Graf tot ist, meint Ihr? Aber werden sie zu ihr halten, le Dain, werden sie bei der Stange bleiben?« Der König sprang mit ungewohnter Kraft aus dem Bett. Sein schlaffer Bauch wackelte wie ein Pudding, als er zu seinem Schreibtisch humpelte und im Vorübergehen le Dain die Kerze aus der Hand riss. Unbekleidet machte Louis keine heldenhafte Figur, vor allem, weil im Zwielicht die bläulichen Pockennarben auf seinen Beinen einen leprösen Eindruck erweckten.

»Bringt mir eine Feder. Und einen Kurier. Und einen Umhang. Jetzt!«

Le Dain suchte fieberhaft nach einem Umhang für den König. Schließlich legte er einen hermelingefütterten Morgenmantel um Louis' schmale Schultern und eilte hinaus, um den übrigen Befehlen Folge zu leisten. Er rannte durch den Palast, brüllte: »Licht! Feuer! Wachen!«, und er dachte bei sich, dass es zu spät war, Margaret von Anjou jetzt noch Ratschläge zu erteilen.

Mit dem Tod des Grafen von Warwick war das Spiel so gut wie verloren.

Ohne ihren Kriegsherrn musste die einstige Königin von England auf ein Wunder hoffen, wollte sie ihr Königreich zurück-