Kapitel 21

Sie bewegten sich in einem gefährlichen Tempo durch die stille Winterlandschaft. Leif Molnar hatte recht gehabt. Eine Seereise, so tückisch sie in dieser Jahreszeit auch sein mochte, war einer Reise über Land allemal vorzuziehen. Pferde sind empfindliche Kreaturen, trotz ihrer Größe, und ein schneebedecktes Land barg mancherlei Hindernisse - Vertiefungen im Weg, gefrorene Pfützen oder Glatteis. Bei diesem Tempo riskierten die Reiter mitjedem Schritt ihr Leben. Doch an solche Dinge dachte Anne de Bohun nicht, als sie hinter Edward Plantagenet im Sattel saß. Ihre Sorge galt der Zukunft nach dieser eisigen Reise und auch der unmittelbaren Vergangenheit.

Noch keine zehn Tage war es her, dass sie zwischen die Hufe von Edwards Pferd geraten war, und obwohl sie stark war und schnell genesen war, fühlte sie sich immer noch schwach. Ihr Kopf pochte bei jedem Hufschlag, ebenso die fest bandagierten Rippen und ihr Finger. Hatte sie Schmerzen, weil ihre Wunden heilten oder weil sie ein schlechtes Gewissen hatte? Sie hatte Leif Molnar nicht freiwillig zurückgelassen. Warum war sie so traurig, wenn sie an den Kapitän dachte und sich sein Gesicht vorstellte?

Edward war mit seinen Männern und Anne drei Tage zuvor vom Binnenhof geflohen. Anne war nicht gefragt worden, ob sie mitkommen wollte. Edward war mitten in der Nacht in ihr Zimmer gekommen und hatte sie wachgeküsst - es war ihr vorgekommen wie ein Traum. Dann hatte er sie aus den warmen Decken gehoben und hatte ihren zitternden, nackten Körper angekleidet. Die ganze Zeit über hatte er kein Wort gesagt, sie nur noch einmal sehnsüchtig geküsst.

Gemeinsam waren sie Hand in Hand durch das schlafende Schloss geschlichen bis zu der Stelle unter freiem Sternenhimmel, wo die Pferde und die Männer sie stumm und unruhig erwarteten. Ihre Knie hatten plötzlich nachgegeben, aus Angst und aus körperlicher Schwäche, aber auch, weil sie wusste, dass ihre Zukunft begonnen hatte.

Bevor sie auf dem Boden aufschlug, fing Edward sie auf. Rasch schwang er sich in seinen Sattel, und sie wurde zu ihm hinaufgehoben. Er wollte ihr das Reiten nicht zumuten, solange er nicht sicher war, dass sie kräftig genug war, ein Pferd in Schach zu halten. Zusätzlich zu den vielen Kleiderschichten, die Edward ihr vor Verlassen des Zimmers übergezogen hatte - er hatte sogar darauf bestanden, dass sie zwei Paar Hosen anzog und sie mit seinen langgliedrigen Fingern eigenhändig unter den Knien geschnürt -, wurde ihr noch ein dicker Reitmantel umgelegt.

Nun, nachdem sie schon drei Tage unterwegs waren, pries Anne Edwards Weitblick und Fürsorge, obwohl es unmöglich war, sich wirklich warm zu halten, vor allem zu zweit auf einem Pferd. Sie presste sich an Edwards Rücken und nahm trotz seiner und ihrer Kleiderschichten vage die Hitze seines Körpers wahr. Er drehte sich lächelnd zu ihr um. »Mein tapferer Liebling. Bald werden wir rasten. Sobald es dunkel ist. Wie geht es deinem Kopf?«

Sein Rücken war sehr breit, und nach zwei Jahren der Ent-behrung hinter ihm zu sitzen und sich an ihn zu pressen, das nahm ihr fast den Atem. Annes Gefühle waren ein einziges Durcheinander, und durch seine Nähe wurde das nicht gerade besser. »Besser, glaube ich. Aber ... Majestät, bestimmt kann ich jetzt allein reiten. Wir kämen schneller voran.«

Der König lachte, und sie spürte die Schwingungen seines Lachens bis in ihre Brüste. Unwillkürlich fasste sie ihn fester um die Hüfte.

Edward spürte ihre Umarmung, ein heißes, schmerzhaftes Ziehen breitete sich in seinem Unterleib aus. Mit einer Hand bedeckte er ihre Hände und mit der anderen hielt er geübt das Pferd unter Kontrolle.

»Ich möchte gar nicht schneller vorankommen. Ich möchte jeden Moment mit dir genießen.«

Nur sie hörte sein Flüstern. Sie neigte den Kopf, die Kapuze rutschte vor und verbarg ihr Gesicht. Sie schwieg.

»Anne? Hast du mich gehört?«

Sie seufzte. »Ja, aber ich musste an Leif denken.«

Leif. Edward Plantagenet runzelte missbilligend die Stirn. Er hätte zu gern gewusst, ob Anne mit dem Dänen verheiratet war. Andererseits .

»Ob es ihm gut geht? Leif, meine ich.«

Die Frage schwebte zwischen ihnen in der eisigen Luft. Edward hörte die Scham und die Schuld in ihrer Stimme. Beides außer Acht lassend, log er.

»Natürlich. Warum sollte Louis ihm etwas antun? Bestimmt haben sie ihn schon freigelassen. Warum sollten sie ausgerechnet im Winter noch einen Esser durchfüttern, selbst wenn er dein Gemahl ist?« Bei den letzten Worten kam Edward beinahe ins Stolpern, so sehr hoffte er auf eine Antwort. Anne aber schwieg.

Vor, neben und hinter ihnen ritten die Männer aus Edwards Gefolge in einem harten Galopp über den gefrorenen Boden.

Die Erde war so fest, dass sie unter den Hufen wie Trommeln klang. Wenn Anne sich umsah, merkte sie, wie bitterkalt der Wind war. Es war viel besser, sich an Edwards Rücken zu pressen und den Kopf an ihn zu schmiegen. So konnte sie tun, als wäre ihr warm, als wäre alles nur ein Traum, als wäre Leif nicht im Kerker des Binnenhofs gefangen.

Das Schaukeln des Pferdes hatte etwas Verführerisches an sich. Sie war so müde, so müde. Fast schlief sie ein .

»Anne?«

»Ja, Herr?«, sagte sie verträumt an seinem Rücken.

Der Klang ihrer Stimme drang durch seinen ganzen Körper. Welch eine Wollust. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht dein Herr. Ich bin dein Geliebter. Hast du das vergessen?«

Sie zitterte. Davor hatte sie Angst gehabt, sie hatte gewusst, dass sie nicht stark genug sein würde, wenn die Zeit käme. Sie gab keine Antwort.

Edward kniff die Augen zusammen. Eine Hälfte von ihm tat, was sie immer tat - erkundete automatisch die Umgebung, um mögliche Verfolger oder Angreifer sofort auszumachen. Mit der anderen Hälfte jedoch litt er wie ein ausgehungerter Hund. Mit jeder Faser seines Seins war er sich der Gegenwart dieser jungen Frau bewusst, die er begehrte wie sonst nichts auf der Welt. Und nun ritten sie, wie aneinandergefesselt, zusammen durch die Welt. Er spürte das Heben und Senken ihrer Rippen, den Druck ihrer Brüste, die sich mit dem Schaukeln des Pferdes auf und nieder bewegten. Er spürte ihre Schenkel, ihre Knie, die hinter seinen lagen. Er musste nur eine Hand nach hinten strecken, um .

»Bist du seine Frau?«

Was sollte Anne sagen? Die Wahrheit würde ihn nicht schützen. Aber wenn sie log, vielleicht hätte sie dann die Kraft, zu .

»Sag, Anne. Hast du diesen Mann geheiratet?«

Sie sprach wieder in seinen Rücken, ihre Stimme klang gedämpft zwischen den vielen Kleiderschichten. Ihre Worte drangen summend durch seinen Körper direkt in sein Herz. »Ihr wart lange Zeit fort. Ist es also verwunderlich?«

Er kannte sie gut und musste sogar lachen. »Bei dir wird mich nie etwas wundern.«

Der König zog die Zügel straffer, das Pferd reagierte und beschleunigte seinen Gang. Der Boden war gut. Sie konnten jetzt schneller vorwärtskommen.

»Du weichst mir aus. Sag mir die Wahrheit.«

Anne seufzte. »Ich werde Euch die Wahrheit sagen. Aber nicht jetzt.« Sie verzog das Gesicht. Was für eine dumme Antwort. Nur die Erschöpfung konnte ihr diese Worte in den Mund gelegt haben.

Sie ritten nach Süden und trafen kaum einen Menschen. Die Weihnachtszeit stand bevor, es wurde kälter, und auf den Feldern gab es nichts mehr zu tun. Der Winter war die Zeit für häusliche Arbeiten: Da wurde repariert, gesponnen und gewebt und am Feuer Geschichten erzählt. Die Frauen stillten die im Spätsommer geborenen Kinder, und jede Mutter hoffte auf ausreichend Nahrung und genug Milch, damit ihr Kleines das nächste Frühjahr erlebte. Edward und Anne waren aus dieser warmen Welt, dem Dunst von Familie und Herdfeuer, ausgeschlossen. Sie waren Ausgestoßene, Flüchtlinge. Welch eine Ironie des Schicksals: Edward erlitt dasselbe Schicksal, das Anne einst erlitten hatte, als er sie, die mit seinem Sohn schwanger gewesen war, aus England verbannt hatte. Das war beinahe fünf Jahre her.

Richard von Gloucester galoppierte voraus und passte sein Tempo dem seines Bruders an. Er lächelte kurz zu Anne hinüber - er mochte diese Frau, mochte ihren Mut. Sie forderte nicht mehr als die Männer und lehnte jede Bevorzugung ab, wenn sie nachts ihr Lager aufschlugen. Und sie aß weniger als die anderen. Ja, er bewunderte ihre Haltung. Aber er hatte jetzt andere Sorgen als das Wohlergehen einer Frau, die sich in den Geschicken eines Mannes verstrickt hatte.

»Edward, dort vorn ist ein Hof. Ein großer Bauernhof.«

Es war später Nachmittag, die Helligkeit ließ rasch nach. Edward fiel von einem leichten Galopp in einen Trab. Anne spannte ihre Schenkel an, um das Gleichgewicht zu halten. Richard hatte recht. Vor ihnen im Dämmerlicht waren mehrere Gebäude zu sehen: ein großes Wohnhaus sowie Scheunen und Ställe. Aus einem der schmalen Fenster fiel Licht.

»Halt«, rief Edward leise. Richard nahm den Befehl auf und gab ihn an die Männer weiter. Die walisischen Bogenschützen und die Söldner, die mit Margarets Geld als Geleitschutz angeworben worden waren, hielten vorsichtig ihre Tiere an. Der Weg wurde wenig genutzt und war nach der vergangenen Nacht noch vereist. Wurden die Pferde zu schnell zum Halten gebracht, drohte eine Katastrophe.

»Aufstellung nehmen.«

Die Männer gehorchten unverzüglich und stellten sich mit ihren Pferden in einer Zweierreihe auf. Die Adligen - William Hastings, Lord Rivers, Richard von Gloucester - hatten früher schon zu Edwards »Reitergarde« in England gehört. Sie folgten seinen Befehlen ohne zu fragen, denn sie vertrauten seinem Urteil. Die Bogenschützen hatten auf der wilden Jagd nach Lynn die Erfahrung gemacht, dass Edwards angeborene Führerschaft ihr Überleben sicherte. Und die Söldner gehorchten jedem, der sie bezahlte. Keiner stellte seinen Befehl in Frage.

»Heute Nacht werden wir ausnahmsweise einmal im Warmen schlafen, meine Freunde.« Die Zähne des Königs blitzten, und sein Lachen steckte die anderen an. Seine Zuversicht war ermutigend. Als Soldaten waren sie an ein raues Leben im Freien gewöhnt, auch im Winter. Aber einmal eine Nacht nicht in Eiseskälte schlafen zu müssen, war für alle ein verlockendes Angebot.

»Unser Gastgeber scheint uns schon zu erwarten. Wie freundlich von ihm.«

Vor ihnen blinkte noch ein weiteres Licht auf, vielleicht eine Laterne. Sie erleuchtete die Außentreppe, die von den Wirtschaftsräumen zum Wohngeschoss führte. Offensichtlich erwarteten die Bauersleute Besucher, wenn auch andere als diejenigen, die gerade kamen.

»Ganz still jetzt. Richard? William?«

Er bedeutete seinem Bruder und seinem Kämmerer, die Führung zu übernehmen. Er selbst ließ sich in die Reihen seiner Männer zurückfallen, denn er wollte Anne keinem unnötigen Risiko aussetzen.

Als sie am Fuß der kleinen Erhebung ankamen, auf der der Hof lag, sahen sie, dass er größer war, als sie von Weitem erkennen konnten. Derjenige, der den Hof ursprünglich dorthin gebaut hatte, hatte ein gutes Auge für eine günstige Verteidigungsposition gehabt. Das Haupthaus und die Wirtschaftsgebäude, die es umgaben, standen in einem Viereck. Und sie waren nicht aus Backsteinen, sondern aus massiven Natursteinen gebaut. Bei näherem Hinsehen entdeckten sie im Halbdunkel unterhalb des Ziegeldaches richtige Schießscharten. Es gab nur einen Zugang zum Wohnhaus, nämlich das eisenbeschlagene Tor zum Innenhof des Anwesens. Und dieses Tor war so in die Mauer eingelassen, dass es von den darüberliegenden Schießscharten direkt einsehbar war.

Edward stieß einen Schrei wie eine Schleiereule aus, woraufhin sich der Herzog von Gloucester im Sattel umdrehte und eilig zu seinem Bruder ritt.

»Nun, Richard?«

»Für einen Bauernhof erstaunlich gut gesichert.«

Edward drehte sich zu Anne um. Er spielte mit dem Gedanken weiterzuziehen, denn Einlass zu fordern konnte sehr wohl in einen Kampf ausarten, und er konnte es sich nicht leisten, auch nur einen einzigen Mann zu verlieren. Er merkte aber auch, dass Anne sehr erschöpft war. Er spürte, wie sehr sie sich anstrengte, aufrecht im Sattel zu sitzen.

»Also gut, dann sollten wir vielleicht versuchen, die Mauer zu stürmen, aber auf sanfte Art.«

Richard sah seinen Bruder verdutzt an. »Sanft?«

Anne sprach, aber so leise, dass nur der König und sein Bruder sie hören konnten. »Lasst mich um Einlass bitten. Eine Frauenstimme macht ihnen nicht so viel Angst .«

Sie hatte recht, aber der Herzog sah, dass der König sich Sorgen machte. »Bruder, das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, wenn wir >sanft< hineinkommen wollen. Und wenn wir heute Nacht ein Dach über dem Kopf haben wollen.«

Edward wandte sich zu Anne um. »Ich möchte dich keiner Gefahr aussetzen.«

Sie lächelte ihn an. »Das weiß ich, mein König. Aber ich glaube, es muss sein. Uns allen zuliebe.«

Kapitel 22

Die Bewohner des Rothofs - so genannt nach den alten Ziegeldächern der Scheunen - hörten ein eigenartiges Geräusch. Es war die Stimme einer Frau, die das Läuten der Kuhglocke übertönte, die am Tor angebracht war.

»Ist jemand daheim? Hört ihr mich?«

Dame Philomena war alt - sie hatte schon siebenundvierzig Winter und Sommer gesehen, alle eingeritzt auf einem Elfenbeinstab, den sie in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte. Aber dumm war sie nicht. Was hatte eine Frau vor ihrem Tor zu schaffen?

Außer .

Die Herrin des Rothofs versuchte, nicht auf ihr wild schlagendes Herz zu hören. Wie jeden Abend hatte sie eine Laterne anzünden lassen, damit der Eingang beleuchtet wäre. Aber sie hatte schon lange jede Hoffnung aufgegeben.

Doch nun ... ja, da war die Stimme wieder.

»Hallo? Mir ist sehr kalt, und ich bin hungrig.«

Die Stimme eines Mädchens. Wäre das möglich?

»Mark, schnell! Das Tor. Lasst das Tor öffnen!«

Aber Mark, der Gutsverwalter, der seit dem Tod des Herrn der alten Frau die Wirtschaft führte, hatte Angst.

»Dame, das ist gefährlich. Welche Frau treibt sich schon nachts allein herum?«

»Hört ihr mich nicht?« Die Stimme des Mädchens war schwächer geworden. Erschöpft.

Dame Philomena war sich jetzt ganz sicher. Das musste ihre Tochter sein. Ysabelle!

»Ich komme, mein Kind. Ich komme.«

Sie schob die Bedenken von Mark und den vier oder fünf anderen Knechten und Mägden, die sich gerade vor dem Feuer zum Essen niedergelassen hatten, beiseite und rannte los. Sie rannte zum ersten Mal seit Jahren und ließ sich von den anderen nicht aufhalten.

»Ysabelle! Ich komme. Mama kommt.«

Gleichzeitig weinend und lachend, kam sie zum Tor, schloss es auf, schob den Riegel zurück und öffnete. »Ach, mein Kind, ich habe gewartet und gewartet. Aber jetzt bist du endlich wieder daheim .«

Doch die Frau am Tor war nicht ihre verlorene Tochter. Das sah Dame Philomena zu spät, erst als das Mädchen ihr sanft die wild hin- und herschaukelnde Laterne aus der Hand nahm und die Torflügel noch weiter aufdrückte.

»Ich heiße Anne. Und ich danke Euch. Meine Freunde und

ich frieren und bitten um Herberge, nur für diese Nacht. Wir tun Euch nichts.«

Die Worte prallten bedeutungslos an Dame Philomena ab. Sie spürte ihr Herz brechen wie einen Knochen, der plötzlich einem unermesslichem Druck nachgibt. Und sie rang nach Luft. Dies war nicht ihr Kind.

Die Laterne, die ihrer Ysabelle den Weg nach Hause zeigen sollte, hatte ein anderes Mädchen aus der Dunkelheit hervorgebracht. Eine Fremde, die von bewaffneten Reitern umringt war.

»Mark!«, rief die alte Dame.

Aber der Verwalter war ein praktisch denkender Mensch. Als er seine Herrin zum Tor laufen und es öffnen sah, war er argwöhnisch zurückgeblieben. Und dann hatte er das Mädchen und ihre Begleiter gesehen. Was konnten vier oder fünf Knechte gegen diese Männer ausrichten? Er zog sich die Kappe vom Kopf und kniete im Schmutz des Hofes nieder. Mit klirrenden Waffen ritten die Männer an ihm vorüber. Die beschlagenen Hufe ihrer Pferde klapperten auf dem vereisten Pflaster. Aber er hatte noch sein Messer vom Abendessen in der Hand. Schnell verbarg er es. Die Männer sollten es nicht sehen, sonst meinten sie noch, er wollte Widerstand leisten. Aber das wollte er nicht. Keiner von ihnen wollte das. Vielleicht würden sie so mit dem Leben davonkommen. Er neigte den Kopf so tief, dass er den kalten Boden berührte.

Anne stand immer noch am Hoftor. Sie war verzweifelt, denn die Frau, die sie eingelassen hatte, schluchzte so herzzerreißend, dass sie kaum Luft bekam. Sie war auf die Knie gesunken und hätte ihren Kopf auf den Boden geschlagen, hätte Anne sie nicht davon abgehalten.

»Dame! Lady! Wir tun Euch nichts.«

Der König deutete zum Wohnhaus und den Scheunen, woraufhin sein Bruder mit ein paar Männern loszog und mit gezogenen Schwertern jedes einzelne Gebäude nach versteckten Angreifern durchsuchte, so unwahrscheinlich es auch sein mochte, dass sie welche fanden. Edward glitt vom Pferd, ließ es stehen, wo es war, und eilte zu Anne zurück, die immer und immer wieder sagte: »Nun, nun, Dame. Alles ist gut, alles ist gut, das verspreche ich.« Anne musste selbst beinahe weinen, so groß war der Kummer der Frau. Edward war beunruhigt und wunderte sich über das seltsame Verhalten der Frau, die anscheinend keine Angst vor ihnen hatte. Sie war krank vor Gram und beachtete nichts und niemanden.

»Kommt, Lady, es ist kalt. Lasst Euch helfen.«

Der König bückte sich und zog die Frau möglichst sanft auf die Füße. Sie war schlaff und schwer wie ein Sack Gerste. Gemeinsam führten Edward und Anne Dame Philomena an dem erschreckten Verwalter vorbei, der wieder aufgestanden war und auf die unerwarteten Besucher in einer Sprache einsprach, die keiner von ihnen verstand. Immerhin gelang es ihm, ihnen verständlich zu machen, dass sie sie über die Außentreppe ins Wohnhaus bringen sollten.

William Hastings war schon dort und hatte die wenigen Knechte und die eine Magd, die noch beim Essen gesessen hatten, zusammengetrieben. Jetzt drängten sich die Diener stumm und mit weit aufgerissenen Augen in eine Ecke und beobachteten, wie Edwards Männer das Haus nach weiteren Bewohnern absuchten.

In dem ganzen Aufruhr schob Anne eine Bank vor das Feuer. »Majestät, bringt sie hier herüber.«

Edward Plantagenet war recht unbehaglich zu Mute. Es war eigentlich nicht üblich, den Besitzern überfallener Häuser behilflich zu sein oder gar ihre Tränen zu trocknen. Trotzdem bemühte er sich um einen aufmunternden und freundlichen Ton. Er hoffte, die verzweifelte Frau würde dadurch endlich zu weinen aufhören. »Hier, meine Dame, setzt Euch ans Feuer. Hier ist es warm!« Er sah hilflos zu Anne, als er die schluchzende Frau auf die Bank setzte, wo sie, von Gefühlen übermannt, wie ein Hefeteigkloß in sich zusammenfiel. Anne wusste, was nötig war. Sie setzte sich neben die Frau, legte einen Arm um ihre Schulter und bot ihr den Saum ihres Hemds an, um die Tränen zu trocknen, die dick wie Blutstropfen aus ihren Augen kullerten.

Edward eilte erleichtert zu Hastings hinüber. Weinende Frauen waren ihm schon immer unangenehm gewesen. »Sind noch mehr im Haus, William?« Hastings machte sich wegen der Knechte oder des Verwalters, der von einem der Bogenschützen gerade zu den anderen Hausbewohnern gescheucht wurde, keine großen Sorgen. Er befürchtete eher, dass in den Nebengebäuden eines so großen Anwesens noch Knechte sein könnten, die vielleicht schon bei Sonnenuntergang zu Bett gegangen waren.

»Das werden wir bald wissen, Majestät.« Er warf ihrer unfreiwilligen Gastgeberin einen neugierigen Blick zu. »Was ist mit ihr los?«

Edward zuckte die Achseln. »Nun, ich nehme nicht an, dass sie über unser Eintreffen erfreut ist. Aber diese Reaktion erscheint mir doch etwas übertrieben.«

William nickte. Er konnte schwören, dass keiner seiner Männer die alte Frau angerührt hatte. Im Gegenteil, sie waren besonders freundlich zu ihr gewesen. Er schüttelte den Kopf. Wo sollte das noch hinführen? Es war Annes Idee gewesen, hierherzukommen. Sie hatte den ganzen Aufruhr verursacht. Es war ihm unangenehm.

»Was befehlt Ihr, Majestät?«

Edward reagierte prompt. »Schließt das Tor. Jetzt sofort. Und dann sollten wir sie« - er nickte zu den Knechten hinüber, die sich erschreckt zusammendrängten - »in die Küche schicken. Warmes Essen. Wie gefällt Euch das?«

William Hastings grinste, wobei seine gesunden Zähne in seinem sonnengebräunten Gesicht weiß aufblitzten - etwas, das besonders zu seinem guten Aussehen beitrug. »Gewiss, Majestät. Ich denke, das sollte kein Problem sein. Malken!«

Einer der Bogenschützen, der die Diener zu bewachen hatte, eilte zum Großkämmerer und salutierte. William befahl: »Essen! Sie sollen kochen. Und zwar sofort. Ihr passt auf sie auf. Und treibt Bier für die Männer auf.«

Edward stand mitten in dem geschäftigen Treiben und sah zu Anne hinüber, die der Dame Philomena tröstende Worte zuflüsterte. Sein Herz machte einen Satz, er spürte es regelrecht zwischen seinen Rippen. Keine der Frauen, die er jemals besessen hatte, keine, die er meinte, geliebt zu haben, hatte solche Gefühle bei ihm ausgelöst. Seine Sehnsucht nach ihr - sein kaum stillbares Verlangen - regte sich. Sie sah hoch, fing seinen Blick auf, errötete und drehte den Kopf zur Seite.

Er lächelte. Heute Nacht würden sie endlich allein sein, dafür würde er sorgen. Und dann würden sie herausfinden, Ehemann hin oder her, was es zwischen ihnen noch gab.

Kapitel 23

Margaret von Burgund fror. In den Niederlanden waren die Winternächte oft besonders kalt, neblig und feucht, vor all em in den Städten, wo der Rauch der Herdfeuer die eisige Finsternis noch undurchdringlicher machte. Zugegeben, manche Bereiche des Schlafzimmers waren warm, aber nur ganz nah am großen Kamin, wo ein hoch aufgeschichtetes Feuer prasselte. Sonst aber herrschte in dem großen Zimmer eine klirrende Kälte, trotz der glühenden Kohlebecken, die überall aufgestellt waren, die aber kaum für mehr Wärme sorgten.

»Beeilt Euch! Der Herzog wird gleich kommen, dann möchte ich fertig sein.«

Margaret meinte damit die umfangreichen Vorbereitungen zum Zubettgehen, auf denen ihre Zofen bestanden. Zuerst mussten die Haare gelöst und einhundert Mal vom Ansatz bis zur Spitze mit einer Rosshaarbürste gestriegelt werden, dann erst wurden sie für die Nacht neu geflochten. Dann wurden Gesicht, Hände und Füße mit parfümiertem warmem Wasser gewaschen. Warm war das Wasser eigentlich nicht, denn bis es von der weit entfernten Küche bei ihr ankam, war es oft schon wieder kalt wie Quellwasser.

Zum Schluss reinigte die Herzogin energisch ihre Zähne, wofür sie ihre eigenen Finger zu Hilfe nahm. Zu feinem Pulver gemahlener Bimsstein mit süßem Mandelöl und Zitronensaft -ein rarer Luxus in dieser Zeit - wurde zu einer Paste vermischt und auf Zähne und Zahnfleisch gerieben.

Als sie fertig war, spuckte Margaret die Überreste aus dem Fenster und spülte sich den Mund mit Rosenwasser aus.

An diesem Abend gab es eine Neuerung. Margaret hatte nur deshalb zugestimmt, weil sie des Drängens ihrer Hofdamen überdrüssig war. Bis zu diesem Tag hatte Margaret ihr ganzes Leben lang nackt geschlafen - wie allgemein üblich. Der Schicklichkeit gehorchend, trug man in Gegenwart von Verwandten und Dienern einen Schlafrock, wie man ihn auch morgens überzog. Der letzte Modeschrei aber war ein leichtes Schlafgewand, das aus großen Bahnen halb durchsichtiger Seide gefertigt wurde. Diese Torheit war von den Höfen Italiens nach Norden geschwappt und wurde von jenen, die jeder neuen Mode nacheiferten, begierig aufgegriffen, gleichgültig, wie unpassend solche Gewänder in der burgundischen Winterkälte waren.

In warmen Sommernächten in Perugia, Venedig, Florenz oder Rom mochten solche Gewänder perfekt sein. Und sehr verführerisch. Bis zu diesem Abend hatte sich die Herzogin dieser neuen und in ihren Augen törichten Mode entziehen können, aber nun hatte sie dem Flehen ihrer Damen nachgegeben. Als diese sie in ein zartes Schlafgewand aus einem maisgelben Seidengespinst kleideten, das mit grünen, weißen und blauen Blumen verziert war, dachte die Herzogin nur, wie dumm so ein Kleidungsstück doch sei, auch wenn es hübsch war, und dass es sie auf keinen Fall warm halten konnte. Außerdem konnte man von niemandem verlangen, in solche Stoffmengen gehüllt zu schlafen. Bestimmt würden sie sich zwischen den Beinen verheddern und nach oben rutschen, wenn sie unruhig schlief.

»Ah, Madame, Ihr seht bezaubernd aus. Der Herzog wird entzückt sein. Entzückt!«

»Wird er das? Macht Platz, damit er es selbst sehen kann.«

Niemand hatte gesehen oder gehört, wie Karl von Burgund das Zimmer seiner Gemahlin betreten hatte. Er klatschte in die Hände, woraufhin sich die Frauen lachend in die Ecken verzogen. Sie wussten, dass sie gehen sollten, aber alle wollten sehen, wie der Herzog reagierte, wenn er seine Frau erblickte. Sie wurden nicht enttäuscht.

»Nun, also ...« Er blieb mitten in dem flackernden Licht stehen, das von den Messingleuchtern herabstrahlte. Margaret, die sich ihm lächelnd zuwandte, merkte nicht, dass das Nachtgewand im Schein des Feuers fast durchsichtig wirkte. Der Herzog zog scharf die Luft ein. »Ja, eine sehr hübsche Wirkung. Sehr anziehend.« Seine Stimme war ein oder zwei Töne tiefer als sonst, fast ein Knurren. Margaret spürte ein Prickeln im Rückgrat und merkte, dass sie leicht zitterte.

»Ist Euch kalt, meine Liebe?« Der Herzog hauchte die Worte, nur für sie. Er ging auf seine Herzogin zu, zögerte jeden Schritt ein wenig hinaus, bis er, endlich, dicht vor ihr stand.

Die Herzogin schüttelte den Kopf, dann nickte sie. »Nein. Ja! Dieses dumme Gewand ... es wärmt überhaupt nicht.«

Sie lächelte aufreizend und hielt ihm den Stoff zur Begutachtung hin, wobei sie das zarte Gewebe wie Wasser durch ihre Finger gleiten ließ. Karl starrte sie an, ihr Gesicht, ihren Hals, dann wanderten seine Augen nach unten und tasteten ihren Körper ab, als würde er sie mit seinen Fingern berühren. Sie errötete und murmelte: »Halt, Karl. Ihr bringt mich in Verlegenheit.«

»Schickt sie hinaus.«

Ein kluger Mann gab seiner Frau keine Befehle. Aber Margaret war ihm deshalb nicht böse. Sie gehorchte ihm zitternd, auch wenn ihr fast die Stimme versagte.

Die Frauen verließen kichernd das Zimmer und wünschten eine »gute Nacht«. Mit einem Mal war es sehr still im Zimmer, und der Herzogin war gar nicht mehr kalt.

»Dieses Gewand ist sehr schön.« Er hatte sie immer noch nicht berührt, obwohl er jetzt ganz dicht vor ihr stand.

»Es freut mich, dass es Euch gefällt, Karl.« Die Herzogin bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, aber das war nicht leicht, denn ihr Atem, und auch sein Atem, ging unregelmäßig.

»Ja. Vor allem, weil . « Und dann berührte er sie. Mit einem Finger fuhr er an dem bestickten Ausschnitt entlang, der zu einem locker geschnürten Band zwischen ihren Brüsten führte, das fast ein Zeichen, eine Aufforderung war. Er nestelte es auf und schob suchend eine Hand unter das lockere Gewand. ». weil es durchsichtig ist.«

Seine Gemahlin hielt entsetzt die Luft an. »Oh, das ist aber ...« Der Rest des Satzes und ihre Verlegenheit wurden von seinen Küssen erstickt. Sie mit beiden Händen umfassend, zog er sie hart an sich und presste ihre Hüften gegen die seinen.

»Hmmm. Du riechst köstlich. Und du schmeckst . göttlich.«

Wie eifrig seine Zunge sie neckte, die Innenseite ihrer Lippen leckte. Er knabberte an ihren Ohren, an ihrem schlanken Hals und dann, dann weiter unten an ihren Brustwarzen.

Ihr stockte der Atem, als er das Kleid von ihren Schultern streifte und sie nackt, mit geschlossenen Augen, in einem Meer aus Seide stand. Ihr schmachtendes Verlangen trieb ihr Tränen in die Augen. Sie begehrte ihn, Gott und Maria, wie sehr sie ihn

»Leg dich hin.«

Auf dem Boden lagen duftende, frische Binsen. Eine Margaret von Burgund musste sich nicht auf Steinböden betten. Anmutig und nackt kniete sie vor ihm nieder und dann legte sie sich vor seinen Augen nach hinten, das verschmähte Nachtgewand so unter sich ziehend, dass es wie eine goldene Decke auf den Binsen ausgebreitet lag. Vor ihrem inneren Auge sah sie, was er sehen musste, und wunderte sich, dass sie keine Scham empfand.

Das Feuer beleuchtete flackernd ihre samtene Haut, ihren jungfräulichen Körper, der unversehrt war von Alter oder Geburten. Karl war geblendet. »Eine Maid auf einer Blumenwiese.«

Der Herzog war ein sinnlicher Mann und ein Kenner der Frauen. Vor seiner Hochzeit mit Margaret hatte er gedacht, diese Ehe, die zum Erhalt der Dynastie und aus politischen Gründen geschlossen worden war, würde im besten Fall angenehm werden. Er war schon zweimal verheiratet gewesen, aus ähnlichen Gründen, und aus einer Ehe war seine Tochter Maria hervorgegangen, die jetzt eine Heranwachsende war. Keine seiner Frauen hatte er sonderlich begehrt, auch wenn er natürlich sorgfältig darauf geachtet hatte, sie in Ehren zu halten, indem er dann und wann ihr Lager geteilt hatte. Bei Margaret von England jedoch standen die Dinge anders, ganz anders, denn er hatte sich in Lady Margaret verliebt und begehrte sie seit dem Augenblick, als ihr Bruder, Edward Plantagenet, ihre Hand in die seine gelegt hatte. Das war vor zweieinhalb Jahren in der

Kathedrale von Damme gewesen. Und er liebte und begehrte sie immer noch. Das war außerordentlich für einen Mann, der bis dahin seine Lust außerhalb des Ehelagers gestillt hatte.

Karl blickte zu seiner reizenden Frau hinab, die sich jetzt anmutig wie ein Kätzchen räkelte und gähnte. Er lachte und knöpfte seine Jacke auf. »Müde, Herzogin? Wollt Ihr schlafen?«

Seine Jacke fiel nach hinten auf den Boden, dann folgte das Hemd. Mit nacktem Oberkörper stand er über ihr. Dann öffnete er seine Gürtelschnalle. Er hatte nur noch seine schwarze Samthose an. Sie sah jeden Muskel unter dem glänzenden, straff sitzenden Stoff. Ihr Mund war so trocken, dass sie schlucken musste. Sie wollte sprechen, brachte aber keinen Ton hervor.

Der Herzog lächelte. Er war in erotischen Dingen viel erfahrener als sie - sie kannte keinen Mann außer ihn -, trotzdem oder gerade deshalb verzauberte sie ihn. Sie reagierte spontan und ungekünstelt. Sie begehrte ihn genauso, wie er sie begehrte, und das war ein Geschenk Gottes.

Margaret beobachtete die Muskeln seiner Schenkel, die sich streckten und zusammenzogen, als er sich seiner Hosen entledigte. Dann stand er vor ihr, wie Gott ihn geschaffen hatte. Ein herrlicher Mann. Ihr Mann. »Friert meine Gemahlin, dass sie so zittert?«

Karl kniete lächelnd vor ihr nieder, seine Hände strichen über die Innenseite ihrer Füße, ihrer Knie, ihrer Schenkel und noch höher. Sie keuchte, als er plötzlich breitbeinig über ihr kniete und sich dann, mit größter Geschicklichkeit, der Länge nach auf sie legte und mit seinen Knien ihre Schenkel auseinanderdrückte. »Sag etwas. Ich möchte deine Stimme hören«, flüsterte er ihr ins Ohr, als er in sie eindrang. Der Stoß ging mitten durch sie hindurch, bebend schmolz sie dahin und öffnete sich ihm ganz.

»Oh, Karl, ich vergehe. Ich breche auf wie eine Weidengerte.«

Ihre Wollust steigerte sich, sie schien darin zu zerfließen, dann ballte sich ihre Lust zu einem heißen, dunklen Verlangen. Er wurde schneller und schneller, hielt ihre Arme fest und stützte sich auf ihre Handgelenke, sein ganzes Gewicht auf sein Becken konzentrierend. Er war hart wie eine Eiche, und sie war so weich, so butterweich.

Voll leidenschaftlichem Verlangen starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an, schob ihre Hüften nach oben, höher, höher, und passte sich seinem Rhythmus an. Die Intensität ihrer Empfindungen war für ihn schier unerträglich, und als sie schrie, begrub er ihren Mund unter seinen Küssen, verschlang ihren Lustschrei, ließ ihn tief in seinen Leib, in sein Herz, in seine Lenden hinab ... und dann kam die Erlösung, für ihn und für sie.

Die Befriedigung, die sie in dieser kalten Nacht einander schenkten, war unendlich stark und süß und würde in ihnen wohnen, solange sie atmeten. Nackt wie Kinder lagen sie vor dem Kamin. Schützend drückte er sich an sie, und dann dösten beide für kurze Zeit ein.

Aber als das Feuer heruntergebrannt war, schlich sich die Kälte aus den Mauern und erfasste sie. Zitternd richtete Karl sich auf und küsste Margaret auf die Schulter. »Komm, mein Herzblatt. Zeit, ins Bett zu gehen, sonst erfrieren wir noch!«

Margaret richtete sich gähnend auf, sie war völlig entspannt. Aus Schicklichkeit raffte sie das seidene Nachtgewand zusammen und bedeckte damit ihre Blöße. Karl lachte darüber und legte neues Holz nach.

»Karl, meint Ihr, wir haben heute Nacht ein Kind gemacht?«

Er hörte ihren beherzten, bewusst leichten Ton und streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. »Nun, wenn nicht, kann es nicht daran liegen, dass wir es nicht ernsthaft versucht hätten, Frau.«

Sie lachten beide, und er zog sie an sich und küsste sie auf die Augenbrauen. Dann nahm er ihre Hand und führte sie zu dem Himmelbett, das an der einen Wand des Zimmers stand. »Steig hinauf, mein Liebling. Vielleicht sind die Betttücher noch warm.«

Margarets Miene, als sie unter die Decke schlüpfte, sagte etwas anderes. Zitternd vor Kälte zog sie Laken und Decken bis zum Kinn hinauf und versuchte, ihr Zähneklappern zu unterdrücken. »Von den Wärmepfannen ist nichts mehr zu merken. Vielleicht hätte ich doch mein neues Nachtgewand anziehen sollen.«

Karl ging rasch zum Fußende des Bettes, dann sprang er beherzt hinauf und vergrub sich unter den Betttüchern. Er tastete sich zum warmen Körper seiner Frau vor. Dann schmiegte er sich an sie. »Wir wärmen uns gegenseitig, keine Angst, mein Schatz.«

Margaret lachte. Ihr Hinterteil gegen seinen Bauch gepresst, spürte sie ihn wieder hart werden. »Und wie will Euer Gnaden diesen gesegneten Zustand herbeiführen?«

Sie zierte sich, und das stachelte seine Lust erneut an, obwohl er müde war, unendlich müde. Er konnte nicht anders, er musste gähnen. »Ach, Frau, ich fürchte, ich muss schlafen.« Im Dunkeln lächelte sie, als er sich an sie kuschelte, eine Hand auf ihrer Brust, die andere auf ihrer Hüfte.

Sie war selbst nahe daran einzuschlafen, doch da fiel ihr ein, was sie ihn fragen wollte. »Karl, habt Ihr irgendetwas von Edward gehört? Karl?«

Zu spät. Tiefe, gleichmäßige Atemzüge verrieten ihr, dass der Herzog von Burgund schon in Morpheus' Armen lag. Die Herzogin seufzte und machte die Augen zu. Zuvor aber sprach sie noch kurz ein Gebet, in dem sie darum bat, dass ihr Bruder und Anne sich gefunden hatten. Und dass es beiden gut ging und sie in Sicherheit waren.

Bald darauf schlief Margaret von Burgund, die einstige Lady Margaret von England. Ihr Ehemann aber, der Herzog, schlief nicht. Er hatte die Frage wohl gehört, und er wusste auch eine Antwort darauf. Aber das musste warten bis zum Morgen.

Zu Tode erschrocken zwang er sich dazu aufzuwachen, aber er fand keinen Trost, als er wach war, nur neue Verzweiflung. Er hatte wieder geträumt, hatte ihr blutüberströmtes Gesicht gesehen, die klaffende Wunde an ihrem Kopf. Er hatte wieder ihr Schreien gehört, als sie zwischen die eisenbeschlagenen Hufe des Pferdes stürzte. Jede Nacht von Neuem, wieder und wieder. Er konnte sie nicht mehr retten. Sie starb, weil er sie nicht gut genug geschützt hatte. Es war seine Schuld.

Langsam beruhigte sich sein hämmerndes Herz, und fahle Schatten schälten sich aus der fürchterlichen Dunkelheit. Er war durstig, und ihm war so kalt, dass ihm jeder Knochen wehtat. Sie hatten ihm Wasser hingestellt - er musste nur den Arm ausstrecken, dann spürten seine Finger den Rand des Holzkübels -, aber er weigerte sich zu trinken. Er wartete lieber auf das Dünnbier am Morgen. Wenn er in diesem dreckigen Verlies Wasser tränke, würde er am Kerkerfieber sterben, das war sicher wie das Amen in der Kirche.

Anne. War sie noch am Leben, oder war sie tatsächlich gestorben, nachdem man sie hierhergebracht hatte?

Ein metallisches Kratzen. Der Däne setzte sich auf. Jemand drehte den Schlüssel im Schloss!

»He! Seid Ihr da drin?« Leif kannte die Stimme, es war der einzige menschliche Laut, den er in all den Tagen gehört hatte.

»Seid Ihr gekommen, mich zu foltern, Kerkermeister?«

Der Mann lachte und riss die Zellentür weit auf. Das Licht blendete Leif nach der langen Zeit im Dunkeln. »Wenn es eine Folter für Euch ist, in ein besseres Quartier umzuziehen, ja, dann bin ich Euer Mann.«

Leif richtete sich mühsam auf, Schmerz schoss in seine verkrampften Glieder, als das Blut wieder zu strömen begann. »Ein besseres Quartier? Ihr meint wohl den Himmel?« Er schluckte seine Angst hinunter. Vielleicht war nun seine Zeit gekommen. Er hoffte auf einen raschen Tod.

Der Mann lachte wieder und schloss die Fesseln an Leifs Füßen auf, eiserne Ringe, mit denen er an die Wand gekettet war. »Mann, Ihr seid ein Tor. Kommt schon.« Er schubste Leif vor sich her die Stufen hinauf und aus dem Verlies hinaus.

»Sagt mir, ob sie lebt«, bettelte der Kapitän. »Hat meine Frau überlebt? Sagt es mir.«

»Lauft weiter, mein Freund. Lauft einfach weiter. Das werdet Ihr noch früh genug erfahren. Früh genug.«

Und das war alles, was Leif Molnar in dieser Nacht erfuhr, als er mit seinem Kerkermeister durch die ächzende, eisige Finsternis unter dem Binnenhof ging.

Kapitel 24

Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich Edward Plantagenet entspannt, satt und warm. Er saß in Dame Philomenas Stube am Feuer und kämpfte mit dem Schlaf. Seine Männer lagen auf dem mit Stroh bedeckten Boden und zuckten im Traum wie die Jagdhunde.

Der König gähnte und streckte sich. Dann stieß er Hastings an, der neben ihm zusammengesunken am Esstisch saß.

»Anne. Habt Ihr sie gesehen?«

Der Kämmerer schreckte hoch, die Hand schon am Schwertgriff. Noch halb im Schlaf, aber todesmutig, rief er: »Was? Wo?«

Der König lachte belustigt über die Reaktion seines Gefähr-ten. »Respekt, mein Freund. Aber das Schwert ist nicht nötig. Anne - wisst Ihr, wo sie ist?«

Der Kämmerer zuckte die Achseln und blinzelte. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die vom tagelangen Reiten verfilzt waren.

»Vielleicht bei unserer Gastgeberin. In der Küche.«

Die beiden Männer verzogen leicht das Gesicht. »Ach ja. Unsere Trösterin. Nun gut, ich werde sie schon finden .«

William Hastings schwieg, was hätte er schon sagen sollen. Es ging allein den König etwas an, wenn er Lady Anne de Bohun suchen wollte, ob bei der Dame Philomena oder anderswo.

Edward lächelte und erhob sich. »Schlaft nur weiter, William. Die Nacht ist noch lang. Es ist wichtig, dass wir uns ausruhen. Vor uns liegt mindestens noch ein anstrengender Tagesritt.«

Lord Hastings nickte und seufzte. Ausruhen. Schlafen. Das war Musik in seinen Ohren. Sein Kopf fiel wieder auf die Tischplatte, und er fing an zu schnarchen, noch bevor der König den Treppenabgang zur Küche erreicht hatte.

»Anne? Anne, bist du da?«

In der kalten Nacht strahlte das Haus Wärme und Stille aus. Die dicken Mauern und kleinen Räume speicherten die Wärme des Abends und der mit Asche bedeckten Glut. In der niedrigen Küche hingen noch die Gerüche vom Abendessen, das für die Engländer zubereitet worden war. Als Edward nach unten kam, wurde er von einer wohligen, häuslichen Stille empfangen. Und plötzlich überfiel ihn Heimweh. Der Duft von Gebratenem erinnerte ihn an Windsor und die ausschweifenden Weihnachtsfeste. Würde er das noch einmal erleben? Gewaltsam unterdrückte er seine Angst.

»Dame Philomena?«, rief er.

»Psst. Ich habe sie endlich zum Schlafen gebracht, die Arme. Sie hat ein schweres Schicksal. Ihre Tochter wurde von Banditen entführt, als sie von einem Markt nach Hause ging. Dame Philomena dachte, ich sei ihr Kind, das zu ihr zurückkäme.«

Als der König Annes Stimme hörte, drehte er sich schnell um. »Wo bist du gewesen? Ich habe dich vermisst.«

Anne stand in der dunklen Küche und hielt eine Lampe hoch, deren Schein ihr dunkelgoldenes Haar in ein sanftes, zauberhaftes Licht tauchte. Rasch war der König bei ihr, entwand ihr die Lampe und schlang die Arme um sie. »Ach, mein Liebling, mein geliebtes Mädchen.«

Er konnte nicht genug bekommen von ihren Lippen, und als sie etwas sagen wollte, erstickte er ihre Worte mit Küssen. Anne keuchte und schnappte wie eine Ertrinkende nach Luft, nach Worten, aber er hielt sie nur noch fester umschlungen.

»Nein! Es ist mir gleichgültig, ob du seine Frau bist!«

»Edward, bitte!« Sie zerrte an seinen Händen, seinen eisernen Armen. Aber er ließ sie nicht los - bis sie mit einem Schluchzen Atem holte. Da ließ er sie endlich los, und sie standen beieinander, ohne sich zu berühren, jeder erfüllt von der Gegenwart des anderen. Edward atmete schwer und rang um Selbstbeherrschung. Ein Betrachter hätte glauben müssen, er wäre krank und litte unerträgliche Schmerzen.

Und in dieser Situation, als Sprechen so wichtig gewesen wäre, fehlten Anne die Worte. Sie schüttelte den Kopf.

»Du liebst mich nicht mehr.«

Es war eine nüchterne, trostlose Feststellung. Der König rechnete mit allem, nur nicht mit Gelächter. Aber Anne, einmal angefangen, konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Bis sie zu weinen begann - und das war die Antwort, auf die er gewartet hatte. Seufzend legte Edward seine Arme um Annes Taille, diesmal sanft und zärtlich. Er hob sie hoch, setzte sie auf die hohe, derbe Tischplatte und stellte sich zwischen ihre Knie. Und dann küsste er sie sanft. Zärtlich und - beinahe - keusch.

Er schmiegte sich an ihren Hals und spürte ihr Zittern.

Dann strich er ihr die Haare aus dem Gesicht und rief überrascht: »Dein Haar ist nass. Und du hast den Verband abgenommen.«

Er klang so alarmiert, dass Anne ihn unwillkürlich tröstete. »Es ist gut verheilt, aber ich war so schmutzig vom Reiten, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Ich habe mich gewaschen, auch die Haare. Dame Philomena ist eine gute Hausfrau. Sie hat getrocknetes Seifenkraut und Rosmarinwasser da.«

Edward fragte besorgt: »Aber die Nachtluft? Das ist gefährlich!« Er berührte sie vorsichtig am Kopf und tastete nach den Stichen. Im Halbdunkel war die Wunde unter den Haaren kaum zu erkennen. »Tut es dir weh, mein Liebling?«

Anne schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt nicht mehr. Es juckt ein bisschen, aber das ist ein gutes Zeichen.«

Sie gähnte und lehnte sich mit geschlossenen Augen an seine Brust. Sie war müde, so müde. Alles tat ihr weh vom tagelangen Reiten. »Ich muss dir so viel erzählen«, murmelte sie. »Wichtige Dinge. Aber das muss bis morgen warten.« Sie gähnte ausgiebig und steckte den König mit ihrem Gähnen an. »Lass es für heute Nacht gut sein«, sagte der König und legte seinen Arm um sie. Er wiegte Anne hin und her, und Anne kuschelte sich vertrauensvoll an ihn wie ein Kind. »Komm. Wir brauchen beide Schlaf.« Edward wusste, dass es außer der Stube noch andere Zimmer geben musste. Bestimmt stand irgendwo auch ein Bett.

Anne öffnete ihre Augen und lächelte. »Können wir zusammen schlafen, Edward?«

Er wusste, was sie meinte. »Ja, mein Liebling. Wie Bruder und Schwester.« Und so schlichen der entthronte König von England und die ehemalige Dienerin und einstige Kauffrau von Brügge Hand in Hand durch die Küche, dann durch die Stube mit den schnarchenden Männern und eine steile Treppe hinauf bis in eine Kammer unter dem ziegelgedeckten Dach.

Dort duftete es nach Äpfeln und nach dem Stroh, in dem sie gelagert waren, und dort gab es auch ein Bett. Nicht breit und auch nicht lang, aber mit einer dicken, weichen, mit Wolle gefüllten Matratze, auf der sie friedlich und ungestört schlafen konnten. Als Decke diente ihnen Edwards pelzgefütterter Mantel. Sie schliefen Arm in Arm fest aneinandergekuschelt wie zwei Kinder. Morgen war ein neuer Tag, doch daran wollten sie jetzt nicht denken.

»Gibt es Neuigkeiten, Mann? Jassy sagte mir,jemand sei gekommen.«

Mathew Cuttifer sah müde auf, als seine Frau das Arbeitszimmer betrat. Er stand an seinem Tisch vor einem Stapel von Kontobüchern, eine Kerze spendete unstetes Licht. Er war zu unruhig, um im Sitzen zu arbeiten, obwohl er maßlos erschöpft war. Seit drei Tagen hatte er nicht mehr geschlafen - nicht schlafen können, denn namenloses Entsetzen quälte ihn, sobald er die Augen schloss -, sein käsiges Gesicht gab beredt Zeugnis davon.

»Nein, Frau. Nichts Wichtiges. Nachrichten von unseren Ländereien im Norden. Dort scheint alles gut zu gehen mit meiner Tochter und ihrem Mann, Gott sei Dank. Von Leifkeine Nachricht.«

Margaret ging rasch zu ihrem Mann und nahm seine Hand. »Mein liebster Mathew, Ihr tut alles, was Euch möglich ist.«

Die Andeutung eines Lächelns zeigte sich auf seinen Lippen. »Aber ist das genug? Wir wissen nur, dass Leif verschwunden ist und die Lady Margaret ebenfalls. Freibeuter? Wer weiß?«

Die Frau nickte ernst. »Kommt, setzt Euch zu mir.« Sie streckte ihre Arme aus, und mit einem Seufzen folgte er ihr gehorsam zu einer Bank neben der Feuerstelle. Das Feuer war mit Asche bedeckt, die zu einem weißlichen Hügel aufgehäuft war, dessen roter Kern die Illusion von Wärme verbreitete. Margaret zitterte. In Wirklichkeit herrschte in dem Zimmer eine Grabeskälte.

»Was hat Leif in seinem letzten Brief geschrieben? Sag es mir noch mal.«

Mathews Kopf dröhnte vor Schmerzen. Er konnte sich kaum konzentrieren. Das Sprechen fiel ihm schwer. »Er hat Anne besucht und sich auf ihrem Hof aufgehalten. Sie hat uns ausrichten lassen, dass Karl von Burgund zögert und den König offenbar nicht unterstützen will. Seither - nichts. Von beiden keine neuen Nachrichten.«

Margaret versuchte, sich und ihm Mut zu machen. »Leif ist ein so tüchtiger Mann, Mathew. Und Anne wird Gründe für ihr Schweigen haben. Ich bin sicher, wir werden bald etwas hören. Und wir müssen Pläne machen, Mann, denn wir werden gute Nachrichten erhalten. Bestimmt!« Energisch tätschelte sie Mathews Hand. »Und wenn Ihr für kommende Änderungen gewappnet sein wollt, müsst Ihr ausgeruht sein, mein Lieber. Zu wenig Schlaf lässt alles in einem düsteren Licht erscheinen. Kommt, ich habe das Bett vorwärmen und einen Kamillentrank für Euch zubereiten lassen. Heute werdet Ihr bestimmt traumlos schlafen.«

Mathew bekreuzigte sich und stand auf. Vielleicht hatte seine Frau recht. Vielleicht würde er diese Nacht ohne Albträume überstehen. Das gebe Gott.

Kapitel 25

Wie war es möglich, dass Nachrichten schneller waren als Reiter, selbst wenn die Wege gut passierbar waren?

Zwei Tage, nachdem sie das Haus von Dame Philomena verlassen hatten, erreichten der König und sein Gefolge das Anwesen von Anne am Ufer des Zwin. Obwohl es erst kurz nach Morgengrauen war, wartete eine Frau am Tor zur Uferstraße.

»Anne!« Die alte Frau stürzte durch das Zwielicht, in ihren Augen leuchtete Dankbarkeit. Anne glitt von ihrem Pferd, einem Pferd, das so schwarz war, dass es in einem bestimmten Licht fast blau aussah. Die beiden Frauen umarmten sich, Tränen des Glücks rannen über ihre Wangen.

Richard sah den König von der Seite an, seine Stimme klang kühl. »Ein glückliches Wiedersehen, Bruder?«

Edward erwiderte ruhig: »Glücklich, ja, aber ...« Er fing den Blick seines Bruders auf und gab ihm mit einer Hand ein Zeichen.

Richard nickte und machte mit dem gepanzerten Arm eine ausholende Bewegung, wobei er drei Finger nach oben streckte. Trotz ihrer Müdigkeit bildeten die Männer auf ihren Pferden unverzüglich eine Dreierreihe, mit der sie die Straße absperrten und einen Schutzring um den König und seinen Bruder zogen. Die Bogenschützen legten ihre Pfeile an.

Deborah wurde plötzlich steif in Annes Umarmung. Das Mädchen wirbelte herum und sah sich einer massiven Wand von Männern gegenüber und Pfeilen, die auf Deborahs Herz gerichtet waren.

»Mein Herr? Was hat das zu bedeuten?« Anne hätte lachen können, wenn sie nicht so zornig gewesen wäre.

Edward zuckte verlegen die Achseln. »Lady Anne, diese Frau hat uns anscheinend erwartet. Wie ist das möglich?«

Deborah brachte einen würdigen Knicks zustande.

»Majestät, ich heiße Deborah. Ich komme jeden Morgen hier ans Tor, und zwar seit meine Herrin, Lady Anne, in Euren Diensten verreisen musste.« Das Wort »Diensten« sprach sie mit einer winzigen Verzögerung aus. »Wir haben keinerlei Nachricht bezüglich Eures Eintreffens erhalten, das schwöre ich.« Deborah dachte an die Schwertmutter, die Göttin aus dem Westen, die Göttin des Krieges. Mutter, beschütze uns, betete sie. Die Runen hatten ihr gesagt, dass diese Männer kommen und Gefahr und Veränderung mitbringen würden. Die Runen sprachen nicht in Worten, sie sprachen in Träumen und in Bildern zu denen, die sie lesen konnten. Und sie logen niemals.

Edward brummte verlegen. Beim zunehmenden Tageslicht sah er Deborah genauer und erkannte sie. Er war ihr früher schon begegnet. Annes Gesicht war völlig ausdruckslos, aber Edward kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie zornig war. Und verletzt.

William Hastings löste die Anspannung, indem er sagte: »Ja, der Krieg - im Krieg werden Lügen zur Wahrheit. Und die Wahrheit? Die Wahrheit ist etwas Eigenartiges. Lady, ich muss Euch um Verzeihung bitten für diesen Augenblick der Ungewissheit, doch ich weiß, dass Ihr versteht. Ebenso wie mein Herr, der König.«

Der Kämmerer wurde von einem gellenden Schrei unterbrochen, der so laut war, dass er ihn dem kleinen strohblonden Knaben nicht zugetraut hätte, der nun aufsie zustürzte. »Wissy! Wissy! Du bist wieder da. Meine Wissy ist wieder da!«

Wie eine kleine Kanonenkugel warf er sich - immer noch schreiend - aus zehn Schritten Entfernung zu Annes Füßen. Diese fing ihn gerade noch rechtzeitig auf, bevor er unter die Hufe ihres erschrockenen Pferdes geriet. So geschwind und geschickt reagierte sie, dass sie einem Jongleur auf dem Jahrmarkt alle Ehre gemacht hätte und die Bogenschützen sich später bewundernd darüber äußerten. Und obwohl sie zierlich und er für sein Alter recht kräftig war, warf sie den Knaben wie einen Ball in die Luft.

»Edward! Mein Goldschatz, ich habe dich so vermisst! Schau nur, da ist dein blaues Pferd.«

»Wo ?« Der kleine Edward reckte den Kopf und schaute um sich, die Augen weit aufgerissen. Er hatte noch nie ein blaues Pferd gesehen. Auch die Bogenschützen nicht, und ein paar von ihnen bekreuzigten sich, nur für den Fall, dass ein Fabeltier in

der Gegend sein Unwesen trieb. Man konnte nicht vorsichtig genug sein im Ausland.

»Hier ist es!« Anne legte eine Hand auf das Pferd, mit dem sie gekommen war.

Der kleine Junge sah verdutzt drein. »Aber es ist doch braun. Braun wie Lehm!«

Anne lachte. »Nein, warte nur. Wenn es geputzt und gestriegelt ist, ist es so schwarz, dass es blau aussieht.«

Edward Plantagenet sah lächelnd auf seinen Sohn hinab und sagte sanft: »Ja, Edward, richtig blau. Das richtige Pferd für einen Prinzen. Willst du darauf nach Hause reiten? Du darfst es behalten.«

Anne fing den Blick des Königs auf. Ein Lächeln löste den letzten Rest von Anspannung zwischen den beiden. »Euer Majestät ist sehr großzügig. Mein Neffe ist Euch sehr dankbar.«

Der kleine Edward nickte eifrig. »Sehr dankbar! Und darf ich jetzt reiten? Bitte, Wissy!«

Und so zogen die Besucher mit Gelächter, nicht mit Tränen, in die Riverstead Farm ein. Und als Anne nach Hause kam, war sie froh, dass Edward Plantagenet sah, was sie sah: ihre Geborgenheit, das Heim, das sie sich ohne fremde Hilfe errichtet hatte.

Und er hatte ihren Sohn wiedergesehen.

Ihren gemeinsamen Sohn.

Kapitel 26

»Ich will ihn nicht sehen. Das kommt nicht in Frage. Euer Bruder ist gegen meinen ausdrücklichen Wunsch und Befehl hier.« Karl von Burgund hatte seine Gemahlin bitter enttäuscht. Aber er zeigte keinerlei Bedauern. »Nein! Das geht nicht. Louis de

Valois wird es schon bald erfahren - wenn er es nicht bereits weiß -, dass Edward nach Brügge gekommen ist. Es könnte schreckliche Folgen haben für Burgund und auch für uns beide, wenn er erführe, dass wir uns getroffen haben.«

»Aber Karl, Ihr müsst Edward anhören. Er braucht ...«

»Muss! Was heißt hier >muss<? Ihr gehört jetzt zu Burgund, Frau, nicht zu England. Muss ich Euch an Eure Pflicht erinnern? Oder ist es dafür schon zu spät? Habt Ihr Eurem Bruder geholfen, Madame?«

Margarets Augen füllten sich mit Tränen. Sie und Karl hatten selten eine Meinungsverschiedenheit, aber über Edward und seine Rückeroberung des englischen Throns zu streiten war für sie unerträglich. Sie ignorierte die Frage und sprach überstürzt weiter.

»Aber Karl, Ihr habt doch immer gesagt, dass Burgund England als Verbündeten gegen Frankreich braucht. Ihr braucht doch Edwards Unterstützung als König von England, wenn Ihr, was Euch zustünde, ebenfalls König werden wollt. England aber wird unser Feind werden - unser Feind, mein Herr, nicht nur Euer Feind -, wenn Warwick sich mit Margaret von Anjou verbündet. Bald schon wird sie mit ihren Truppen landen -das habt Ihr mir selbst erzählt -, Truppen, die Louis de Valois ihr zur Verfügung gestellt hat. Edward ist Eure und auch meine letzte Hoffnung, dass England wieder ein Gegengewicht zu Frankreich bilden kann. Ich sage Euch die Wahrheit, mein Gemahl, auch wenn sich das kein anderer traut. Auch das ist meine Pflicht.«

Karl antwortete mit eisiger Ruhe. »Frauen haben sich in Staatsgeschäfte nicht einzumischen und auch kein Recht, sich den Wünschen und Befehlen ihres Gatten in irgendeiner Form zu widersetzen. Beherzigt die Worte des heiligen Paul, Frau: >Die Frau möge schweigen, wenn der Gemahl spricht.< Es steht Euch nicht zu, mich zu belehren, wie ich mein Herzogtum zu regieren habe. Auch habt Ihr mir nicht meine Herrschaft über diesen Haushalt und über Euch streitig zu machen. Muss ich Euch schlagen, damit Ihr das begreift?«

Margaret schluckte betroffen ihre Tränen hinunter. Er meinte es ernst. Er wollte sie schlagen, wenn sie weiter in ihn drang. Und das war sein gutes Recht, denn er war ihr Gemahl. Die Nachricht über diese Demütigung würde sich wie ein Lauffeuer durch den Prinzenhof verbreiten. Zwar waren sie allein im Zimmer, doch vor der Tür warteten mindestens fünfzig sensationslüsterne Höflinge, von den Wachen ihres Gemahls und ihren eigenen Wachen ganz zu schweigen. Soldaten waren die schlimmsten Schwätzer von allen. Verachtete Karl sie jetzt, weil sie Engländerin war? Liebte er sie nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern nur noch für das, was sie einst gewesen war: eine englische Prinzessin, die nicht mehr als eine nützliche Schachfigur war? Das waren schreckliche Gedanken, aber vielleicht war es die Wahrheit. Die wenigsten Ehen zwischen Königshäusern wurden aus Liebe oder auch nur Zuneigung geschlossen, sondern aus Pflicht gegenüber der Dynastie. Und wenn ihre Ehe nicht besser wäre? Würde er sie verbannen, weil sie nicht schwanger wurde und deshalb nutzlos für ihn geworden war? Oder wollte er sie in ein Kloster sperren, wo sie, ein abscheuliches Weib, das ihrem Gatten nicht gehorchen wollte, zur Strafe verhungern musste?

Die Herzogin von Burgund verschränkte ihre bebenden Finger vor ihrem Leib, sank in einen tiefen Knicks und neigte ihren Kopf. Wenn sie diese schreckliche Wut, diese Ungerechtigkeit ertragen musste, um ihrem Bruder und dem Land ihrer Geburt zu helfen, dann war sie dazu bereit. In bemüht sanftem Ton sagte sie: »Verzeiht mir, mein Gemahl und Gebieter. Ich wollte Euch mit der Nachricht erfreuen, dass sich König Edward, mein Bruder, in Eurem Herrschaftsgebiet aufhält. Ich weiß, dass Ihr ihn mögt und achtet. Doch es war falsch von mir, Euer Urteil in dieser Angelegenheit anzuzweifeln. Berichtigt mich, und ich werde Eure Strafe mit Freuden ertragen.«

Karl ging aufgeregt auf und ab. Er sah seine Frau nicht an. »Habt Ihr ihn getroffen?«

»Lady de Bohun hat mir Nachricht von ihm übermittelt.«

Der Herzog sah seine Frau argwöhnisch an. »Lady de Bohun? Wieso weiß sie etwas darüber? Und wo ist sie gewesen? Ich habe sie seit Wochen nicht mehr gesehen.«

Die Herzogin schluckte. »Wie Ihr wisst, haben Lady de Bohun und mein Bruder eine« - sie unterbrach sich und suchte nach einem angemessenen Ausdruck - »eine Verbindung gehabt. Sie stehen sich immer noch nahe.«

Der Herzog unterbrach sie. »Woher wisst Ihr das? Wieso stehen sie sich nach so langer Zeit immer noch nahe?«

Das war zu viel. Die englische Lady sprach nun, ohne an die Folgen zu denken. »Weil Liebe andauert, Karl. Wahre Liebe wird nicht einfach fortgeworfen. Wenigstens nicht von meinem Bruder. Und auch nicht von Anne de Bohun.« Sie funkelte ihn böse an.

Einen Augenblick lang herrschte eisiges Schweigen, dann brach der Herzog in Gelächter aus. »Das ist besser. Ich habe mich schon gefragt, wo meine wahre Frau geblieben ist. Ich dachte bereits, eine Fremde stecke in ihren Kleidern.«

Margaret stockte der Atem vor Wut. Dann trat ein Ausdruck von Erleichterung in ihre Augen, und Tränen rannen über ihre Wangen. »Oh, Karl.«

Sie rannte zu ihm, und er zog sie an sich. Er zitterte ein wenig, aber allmählich wurde sein Atem wieder ruhiger. Er nahm sie bei der Hand und führte sie, einen Finger an die Lippen gelegt, zu einer Fensterbank. Dabei schüttelte er den Kopf und zeigte mit der anderen Hand zur Tür des Sonnenzimmers. Margaret wusste erst nicht, was er meinte. Doch dann begriff sie. Er fürchtete, belauscht zu werden. Natürlich!

»Haben Euer Gnaden Hunger? Oder vielleicht Durst?« Das war das Erste, was ihr einfiel, und sie kam sich recht dumm dabei vor. Aber sie sprach so laut und deutlich, dass man sie vor der Tür verstehen musste. »Hier, mein Herr, vielleicht mögt Ihr diese in Honig gedünsteten Pflaumen und die Mandelplätzchen. Beides zusammen schmeckt köstlich, vor allem mit ...«

Derweil flüsterte Herzog Karl ihr ins Ohr: »Nicht hier. Und nicht jetzt. Später - sag ihm das. Es ist für uns alle zu gefährlich, solange ich nicht mehr über Louis' Pläne weiß.« Konnte er seine Frau noch länger hinhalten? Vielleicht, nur vielleicht.

»Sehr wohl, mein Herr. Ich werde aus der Küche andere Speisen kommen lassen, die Euch besser munden mögen.«

Herzogin und Herzog erhoben sich, und er sagte lächelnd: »Ja, Frau. Das wäre schön.« Er machte eine wegwerfende Geste in Richtung Tür und nickte.

Margaret, Herzogin von Burgund, drehte sich forsch auf dem Absatz um und ging entschlossen zur Tür des Sonnenzimmers. Edward und Karl mussten sich treffen, dafür würde sie sorgen. Anne de Bohun würde ihren Willen bekommen.

Karl sah seine Frau hinausgehen, und sein Lächeln erstarb. Durfte er seiner Herzogin erlauben, ihren Willen durchzusetzen? Sollte er sich mit Edward treffen?

Und wenn ja, was dann?

Kapitel 27

»Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?«

Edward von England und Anne de Bohun waren dem überfüllten Haus entflohen und hatten sich in die große Scheune ins Heu zurückgezogen.

»Das haben wir doch schon besprochen, Edward.«

Der König drehte sich lachend auf den Rücken. »Vielleicht. Aber sag es noch einmal, Anne. Mir zuliebe.«

Anne saugte nachdenklich an einem Strohhalm und schwieg. Er sah sie an.

»Also gut, wenn du so ein Sturkopf bist, dann sage ich dir eben, was ich will. Mit einem einzigen Wort. Dich. Dich will ich, Mylady. Keine Trennung mehr. Nie mehr.« Edward sprach ernst, ohne Übertreibungen, aber er bekam keine Antwort.

»Und an dieser Stelle sagst du: >Edward, genau das möchte ich auch.<« Der König stützte seinen Kopf in die Hand und sah Anne in die Augen. »Oder besser noch, du sagst, dass du mich willst. Dass ich dein sehnlichster Wunsch bin, auf immer und ewig.«

Anne schloss ihre Augen. Er war ihr viel zu nah, sein männlicher Duft wetteiferte mit dem Duft von Heu und Stroh. »Ich muss gar nichts sagen, denn du weißt doch, was ich denke.«

»Wirklich, Anne? Weiß ich wirklich, was du denkst ...« Seine Hand legte sich langsam um ihr Handgelenk, und er zog sie zu sich, so dass sie dicht beieinanderlagen. »... so gut, wie ich deinen Körper kenne?«

Anne versuchte sich aufzurichten. »Ihr seid gefährlich, Edward Plantagenet. Sehr gefährlich.«

Er ließ sie los. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du dich in der Zeit unserer Trennung in eine Art von Quälgeist verwandelt hast, Anne. Sag, dass du nichts mehr für mich empfindest!«

»Quäle mich nicht, Edward!« Sie war plötzlich wütend, und dann kam das Entsetzen, denn das staubflimmernde Licht in der Scheune war plötzlich verschwunden. Dunkelheit schwarz wie Tinte umfing sie. »Edward?« War das ihre Stimme? Oder die Stimme einer anderen? »Edward!« Nein, sie war das, die da rief. Aber sie bekam keine Antwort. Und dann spürte sie eine

Bewegung ganz dicht bei ihr. Es überlief sie kalt, und obwohl sie nichts, aber auch gar nichts sehen konnte, stand sie taumelnd auf und versuchte wegzurennen, weg von diesem Geräusch, von diesem trockenen, aufdringlichen Rascheln, das sich in der Dunkelheit auf sie zubewegte. Aber ihre Beine, ihre Füße waren bleischwer, sie kam keinen Schritt vorwärts.

Mit all ihren Sinnen versuchte sie zu verstehen, was mit ihr geschah. Dann berührte sie etwas an der Wange, leicht wie eine Feder. Es war weich und roch nach Staub, irgendwie süßlich. Und da begriff sie endlich. Ein Totengewand - das war es, was sie auf ihrer Haut spürte. Sie konnte es nicht sehen, aber sie hatte eine genaue Vorstellung davon: ein blasses, fein gesponnenes Tuch gefüllt mit einem Haufen Staub. Dem Staub der Toten.

Sie wollte schreien, aber da wischte etwas über ihren Hals, und sie brachte keinen Ton heraus.

Schau.

Das war keine Stimme, aber ein Licht erschien in der Dunkelheit, und Anne sah, was es war. Eine geisterhafte Hand, deren Fingerspitzen in Flammen standen.

Sieh.

Die brennende Hand winkte sie zu sich, einmal, zweimal und dann ein drittes Mal. Anne fühlte sich zu der Hand hingezogen, und ihre Beine zuckten, als wollten sie aus eigenem Antrieb laufen. Sie wollte diesem flackernden, nach Schwefel stinkenden Ding nicht nahe kommen. Trotzdem ging sie immer näher darauf zu. Die Hand winkte, winkte sie zu sich. Jetzt konnte sie die brennenden, qualmenden Finger riechen. Wie ein Ferkel auf dem Spieß, wie Schweinefleisch rochen sie.

Anne wurde übel, und ihr Mund füllte sich mit Erbrochenem. Sie stolperte und stürzte beinahe. Sie wollte stehen bleiben, aber ihr Beine gehorchten ihr nicht. Die Hand knisterte, vor ihren Augen verbrannten die Finger. Sie spürte die Hitze in ihrem Gesicht. Und dann bestand die Hand nur noch aus Knochen, die mit schwarzglänzenden Sehnensträngen zusammengehalten wurden. Dann brannten auch die Knochen wie ein Reisigbündel, sie zerbarsten und platzten.

Übrig blieb nur ein Rauchfaden, der sich spiralförmig durch den Raum bewegte und auf sie zeigte. Sei gewarnt. Dann war der Spuk verschwunden, das Feuer gelöscht. Anne konnte aber immer noch den Gestank von verbranntem Fleisch riechen.

»Wieso gewarnt? Ich habe doch keine Angst vor dir, Anne.« Edward lag im Heu und wartete heiter und gelassen darauf, dass sie zu ihm käme. Anne sank auf seiner Brust zusammen, als ob ihre eigenen Knochen von Flammen verzehrt worden wären. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Rippen, sie atmete schwer. Aber sie war dankbar, so dankbar, dass sie aus dem Dunkel herausgefunden hatte. Sie konnte nicht sprechen.

»Sag, mein Schatz, wovor soll ich gewarnt werden? Davor?« Seine Hand glitt unter ihr Mieder und fand ihre Brüste. »Du verbrennst mich, Anne«, flüsterte er in ihre Halsbeuge. »Meine Hand verbrennt, wenn ich dich berühre.«

Sie erschrak über seine Worte, hörte sich aber sagen: »Oh, mein Geliebter.« Ihr Mund sprach aus, was sie fühlte.

»Wir werden das gemeinsam durchstehen. Karl wird uns helfen, weil er uns helfen muss. Und wenn alles vorüber ist, dann kommst du mit mir nach England. Für immer. Versprich mir das. Ich möchte dein Ehrenwort. Und keine Ausflüchte.« Edward hatte ihr Gesicht zärtlich in beide Hände genommen und sah sie an. Leise fuhr er fort: »Bin ich noch Euer König? Werdet Ihr mir gehorchen?«

Ein leises Pfeifen enthob sie einer Antwort. Dann eine Stimme: »Herr? Seid Ihr da?«

Edward legte einen Finger auf seine Lippen, gab Anne einen fordernden Kuss und ließ sie sanft wieder ins Heu gleiten.

»Euer Majestät?«

Edward schob sich an den Rand des Heubodens vor. »Ja, William. Ich höre Euch.« Die Scheune war sehr groß, und der Dreschboden lag ungefähr fünfzehn Fuß tiefer. Dort stand Edwards Großkämmerer und sah ziemlich zerzaust aus.

»Majestät, Ihr müsst sofort kommen. Eine wichtige Angelegenheit.«

»Das klingt aber geheimnisvoll, William. Doch zuerst, wisst Ihr eigentlich, wie schmutzig Ihr seid? Mein Kämmerer sieht aus wie ein Bauer.«

William sah auf seine schmutzigen Stiefel und seine lehmverschmierten Hosen hinab. Der König hatte recht. Etwas ratlos klopfte er sein Lederwams ab, Staub wirbelte auf. Edward kletterte währenddessen die Leiter hinunter, ließ sich dabei aber aufreizend viel Zeit.

»Habt Ihr Lady Anne heute Morgen schon gesehen, William? Ist ihre Anwesenheit bei dieser >wichtigen Angelegen-heit< ebenfalls erforderlich?« William, der scheinbar ganz davon in Anspruch genommen war, den Lehm von den Stiefeln zu stampfen, verzog keine Miene. »Gewiss, Euer Majestät. Mistress Deborah sucht sie schon überall.«

Anne oben im Heu war immer noch wie gelähmt von ihrer Vision der brennenden Hand, doch nun verblasste ihr Entsetzen vor Verlegenheit. Und dann musste sie plötzlich so heftig lachen, dass sie sich die Hand vor den Mund schlug, um nicht gehört zu werden. Wie sollte sie die Scheune nur verlassen, ohne gesehen zu werden?

»Also gehen wir, William. Außerdem stelle ich fest, dass meine Kritik an Eurer Aufmachung auf mich ebenso zutrifft. Ich muss mich umziehen.«

Als die beiden Männer eilig die Scheune verließen, trug die Morgenluft Williams Stimme an Annes Ohr. »Da wäre noch etwas, Majestät. In Euren Haaren ... das Stroh.«

Stille. Dann eine andere Stimme. Deborah.

»Anne? Anne, du musst sofort herunterkommen. Wir haben einen Besucher.«

Kapitel 28

Von der Herzogin von Burgund hieß es, sie habe ein Händchen für das einfache Volk. Wie wahr. Und diese Gabe, allen ein Gefühl von Wichtigkeit zu geben, zeigte sie besonders gut an diesem Tag in der Stube der Riverstead Farm, wo sie auf ihren Bruder und seine Gastgeberin wartete.

»Das ist einfach köstlich, Dame Lisotte! Diese Quarkspeise ist wunderbar sahnig. Und trotzdem so leicht und bekömmlich. Und dieser angenehme Geschmack. Was das wohl ist?«

Deborah hatte die Köchin angewiesen, die Herzogin mit allem, was Küche und Keller hergaben, zu bedienen, während Anne gesucht wurde. Und der König.

»Wir machen sie selbst, Euer Gnaden, aus unserer eigenen Milch. Ich würze sie mit kandierten Holunderblüten aus dem Küchengarten. Die mag meine Herrin besonders gern.«

»Und das ist die reine Wahrheit, Euer Gnaden!«

Anne betrat die Stube, ein Bild völliger Gelassenheit. Ihr hoch geschnittenes Kleid aus violettem Samt, dessen Ärmel mit einem zwischen Moosgrün und Smaragdgrün changierenden Damast gefüttert waren, strahlte in dem winterlichen Licht in stummer Pracht.

»Verzeiht, dass ich nicht hier war, Euch zu begrüßen. Ich war noch nicht fertig angekleidet.«

»Und ich ebenso, liebe Schwester. Auch ich wurde noch angekleidet, meine ich.«

Die drei Frauen sanken in einen tiefen Knicks, als Edward Plantagenet die Stube betrat. Er wechselte einen flüchtigen Blick mit Anne. Seine hochgezogenen Augenbrauen schienen zu fragen: »Wie ist es möglich, dass du dich umgezogen hast und vor mir da bist?« Anne lächelte sittsam und senkte ihren Blick, wie es der Anstand gebot, beobachtete dabei aber entzückt, dass Margaret und ihr Bruder sich liebevoll umarmten.

»Ach, liebste Schwester, Ihr seid richtig aufgeblüht in Eurer Ehe. Das ist eine große Freude für mich.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Euer Majestät.« Die Herzogin machte einen perfekten Hofknicks.

»Solche Förmlichkeiten für Euren lang vermissten Bruder? Nein. Das kann warten, bis ich meinen Königstitel wiedererlangt habe.« Edward verhielt sich aber nicht weniger förmlich. Er verneigte sich vor seiner Schwester, bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und setzte sich ihr zur Seite auf eine Bank am Kamin. Deborah, Lisotte und Anne blieben stehen. Das gehörte sich so.

Edward lächelte zu Anne hinüber. »Diese Lady, Euer Gnaden, hat sich als gute Freundin und Retterin erwiesen. Sie hat mich aufgespürt und mir Eure großzügige Botschaft mit Eurer Einladung nach Brügge überbracht. Und der bin ich gefolgt, kaum dass Lady Anne genesen war.«

Margaret sah ihre Freundin und dann wieder ihren Bruder an. »Genesen, Bruder?«

Anne errötete und studierte interessiert die Spitzen ihrer bestickten Pantoffeln. Ein gequälter Ausdruck flog über Edwards Gesicht, und er sagte: »Ja. Ich habe Lady Anne mit meinem Pferd niedergeritten und sie beinahe getötet.«

Margaret wusste nicht, wie sie auf diese Nachricht reagieren sollte. In der darauf folgenden, peinlichen Stille gab Anne Deborah und Lisotte ein Zeichen, die Stube zu verlassen. »Ich habe eine starke Konstitution, Euer Gnaden«, sagte sie. »Es war ein Unfall. Vielleicht war es Gottes Wille« - unwillkürlich bekreuzigten sich alle drei -, »dass wir uns auf diese Weise wieder begegnen sollten.«

Margaret streckte ihre Hand aus. »Setzt Euch zu uns, Lady Anne. Eure Reise war sicher lang, und es war sehr kalt. Louis de Gruuthuse, zuverlässig wie er ist, hat mir persönlich Nachricht von Eurer - Abreise - überbringen lassen. Ich habe sie erst vor kurzem erhalten. Den Unfall erwähnte er allerdings nicht.«

»Aber die wichtigste Frage istjetzt, Euer Gnaden, ob der Herzog bereit ist, den König zu empfangen.« Anne sprach für Edward. Es war vielleicht das Beste, das Thema direkt anzusprechen. Das hoffte sie jedenfalls.

Margaret sah sie unbehaglich an, durch ein leises Klopfen an der Tür wurde sie einer Antwort enthoben.

»Herein«, rief Anne in ungewöhnlich scharfem Ton. Deborah warf ihr einen besorgten Blick zu, als sie, von Lisotte gefolgt, das Zimmer betrat. Die beiden Frauen trugen Berge von Essen auf: frisches Brot, verschiedene weiße Käse, kleine Rosinenbrötchen aus safrangelbem Teig, eingemachte Pflaumen und Quitten in Honigsirup. Davon hätte ein ganzer Trupp hungriger Bogenschützen satt werden können, ganz zu schweigen von drei Personen, die andere Sorgen hatten als das Essen. Nachdem die beiden Frauen gegangen waren, sagte Margaret, ihre Aufregung gekonnt verbergend: »Mein Gemahl, der Herzog -Euer Schwager und Freund« - sie betonte die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Edward und Karl, um sich selbst Mut zu machen - »ist in der Tat sehr in Sorge, was Louis de Valois angeht. Aber ich bin sicher, dass der Herzog Euch sehen möchte.«

Unruhig durchmaß Edward die kleine Stube. Vor seiner Schwester blieb er stehen.

»Wirklich, Bruder. Er möchte Euch sehen, aber er muss den richtigen Zeitpunkt abpassen. Das versteht Ihr doch?«

Edward atmete so heftig, dass seine Nase bleich und spitz aus seinem Gesicht hervorragte. »Die ganzen vergangenen Wochen habe ich nichts anderes gehört. Wie wichtig es sei, den richtigen

Zeitpunkt abzupassen. Aber Karl ist ein Narr, Margaret, denn jeder Tag Aufschub bedeutet einen Tag mehr, den ich nicht in meinem Königreich bin. Er braucht mich als starken Verbündeten mit einer schlagkräftigen Armee, wenn er mit seinem Herzogtum gegen Louis de Valois bestehen will.«

Erregt sprang Margaret auf: »Das weiß ich. Und ich habe es ihm unzählige Male gesagt. Manchmal stimmt er mir zu und manchmal .«

Edward beendete den Satz für sie. »Und manchmal überlegt er sich, ob es nicht besser wäre, ein für alle Mal Frieden mit Louis zu schließen. Hinzunehmen, dass er der Schwächere ist, dass er sein Land niemals als König regieren wird. Er muss sehr verängstigt sein, wenn er sich so feig verhält.«

»Schwach? Nicht Angst oder Schwäche bestimmen sein Handeln!«, entgegnete Margaret gekränkt. »Er ist mutig, das wisst Ihr.« Edward hatte ihr den Rücken zugedreht. »Er ist kein Feigling. Er möchte nur herausfinden, was für sein Volk am besten ist. Und für Euch.«

Aufgebracht drehte sich Edward wieder zu ihr um. »Niemand hat darüber zu urteilen, was für den König von England am besten ist, außer der König selbst!«

Das aufbrausende Wesen der Plantagenets war beiden eigen, Bruder wie Schwester. Wenn sie sich als Kinder gestritten hatten, hatten beide rückhaltlos miteinander gekämpft, ohne Schonung vom anderen zu erwarten. In der Stube braute sich spürbar ein Sturm zusammen. Anne stand abrupt auf, ihre Gegenwart hielt Bruder und Schwester im Zaum.

»Bitte, Euer Majestät, hört, was Eure Schwester, die Herzogin, zu sagen hat. Sie liebt Euch innig.«

Edward schnaubte verächtlich.

Anne wandte sich an Margaret. »Herzogin, Euer Bruder ist erschöpft. Er mag der Zukunft furchtlos entgegenblicken, doch ich habe Angst. Es muss eine Lösung geben, und wir werden sie finden. Zuerst aber wollen wir gemeinsam das Brot brechen. Ich bin hungrig, und das Essen wird uns allen guttun.« Ihre Stimme war schrill vor Nervosität am Ende dieser kleinen Rede. Es erforderte viel Mut, zwischen streitenden Plantagenets zu vermitteln.

Margaret begann plötzlich zu kichern. »Was meint Ihr, Bruder? Wollt Ihr etwas essen? Das würde Euch vielleicht besänftigen!« Die letzten Worte stieß sie trotzig hervor, aber es war die Schwester, die zum Bruder sprach, nicht die Herzogin, die einen König anspricht.

»Wohl gesprochen, Schwester. Und mögen die Früchte auch Euch die Stimmung versüßen.«

Wenn Edward grinste, konnte man den Knaben erkennen, der er einst gewesen. Unverkennbar ein Lausejunge, dessen blondes Haar wirr in die Stirn fiel, dessen Hände und Füße zu groß für die noch im Wachsen begriffene, wuchtige Mannesgestalt waren, sein linkisches Lächeln und seine aufgeschürften Knie. Anne war beinahe zu Tränen gerührt, als sie ihn so neben seinem furchteinflößenden Zwilling stehen sah. Mochten die Plantagenets Nachfahren des Teufels oder seines Weibs Melusine sein, ihr Ahn musste von stattlicher Gestalt gewesen sein. Und da fiel es ihr wieder ein. Wenn Edward Plantagenet und seine Schwester Nachfahren des Teufels waren, dann galt das für sie ebenso. Auch sie war eine Plantagenet.

Ein seltsames Leuchten glitzerte in den Augen von Lady Anne de Bohun, als sie weißen Quark auf einen Brotkanten strich und sich dann ganz undamenhaft die Finger ableckte. »Also, wie können wir den Herzog dazu bringen, Euch zu treffen, Majestät?«

Edward zog seine Augenbrauen hoch. Anne war in Gegenwart Dritter immer ehrerbietig zu ihm gewesen. Ihr Verhalten jetzt war zwar nicht gerade impertinent, aber es war dreist. Auch Margaret hatte es bemerkt, sie warf ihrem Bruder einen spöttischen Blick zu.

Freundlich fragte Edward: »Pflegt der Herzog immer noch auf die Jagd zu gehen?«

Die Herzogin bemühte sich gerade darum, dass die Spitzen ihres Schleiers nicht in den Quittensirup gerieten, als sie sich über den reich gedeckten Tisch beugte. Zerstreut antwortete sie: »Gewiss, wenn er Zeit hat«, und leckte sich mit einem lächelnden Blick auf Anne ebenfalls die Finger ab. Der Sirup war einfach zu köstlich.

Anne sah erst den König, dann die Herzogin an. Sie lächelte. »Das sind gute Nachrichten, Herzogin. Die Jagd ist eine noble Beschäftigung.«

Edward knackte mit einer Hand eine Walnuss und verteilte den Kern gerecht an Margaret und Anne. »Und ich bin ein leidenschaftlicher Jäger«, sagte er grinsend.

Die Herzogin sagte bedächtig: »Jagen kann bekanntlich gefährlich werden, Bruder. Manchmal sehr gefährlich.«

Edward nickte. »Gewiss, Schwester. Aber das ist gerade der Reiz, nicht wahr?«

Ein Jagdausflug? Nicht Hirsche oder Keiler wurden gejagt. Edward Plantagenet machte Jagd auf den Thron von England.

Kapitel 29

»Pestbringer! Giftmischer! Verfluchter!« Der gespornte Stiefel flog durch die Luft und landete zielsicher auf dem gesenkten Kopf von Alaunce Levaux, Louis' oberstem Kammerdiener. »Ich habe dir vertraut, und so dankst du es mir!«

Armer Alaunce. Wollte er sich rechtfertigen, wäre er verdammt, und wenn er es nicht tat, wäre das sein sicherer Untergang. »Euer Majestät hat immer recht, aber ...« Weiter kam er nicht.

»Wage nicht, mir zu widersprechen!« Der andere Stiefel folgte und traf Levaux am Ohr. Der Sporn ritzte das Fleisch auf, das Blut troff auf seinen Hemdkragen.

»Vergiftet sind sie! Sieh doch! Sieh her, das Leder ist mit einem Gift verunreinigt.«

Es gab Befehle, die man befolgte, und Befehle, die man lieber nicht befolgte. Alaunce wusste, würde er auch nur ein klein wenig den Kopf heben, würde ihn ein weiteres Geschoss treffen. Leider hatte der König, der körperlich sonst eher ungeschickt war, einen sehr kräftigen Wurfarm. Und er konnte gut zielen.

Alaunce brachte es fertig, bis zum Stuhl des Königs zu rutschen. Dieser schlenkerte aufgeregt mit den Beinen, damit sein Kammerdiener sie sich ansehe. Louis' Gesicht war schweißnass und so voller Erregung, dass Levaux tief beunruhigt war, als er es wagte, den Blick zu heben. Stückchen für Stückchen rutschte er näher heran, bis er nah genug war, nach vorn zu sehen, ohne den Kopf anheben zu müssen. Da entdeckte er, weshalb der König so aufgeregt war.

Waden und Schienbeine von Louis de Valois, Herrscher aller Franzosen, waren mit nässenden Wunden übersät, auf der Haut waren große, entzündete Flächen, und die Zehen an den geschwollenen Füßen sahen aus wie violettfarbene Würstchen. Was auch immer es sein mochte, es musste äußerst schmerzhaft sein. Alaunce war so überrascht, dass er seine Angst vergaß. Er setzte sich auf und untersuchte neugierig die unteren Gliedmaßen des Königs. »Flöhe, Euer Majestät? Eiternde Flohstiche?« Er wusste, das klang nicht überzeugend, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

»Flöhe? Flöhe! Das sind keine Flohstiche - außer die Flöhe hätten sich in Schweine verwandelt und Zähne bekommen. Schaut doch her! Da sind Löcher in meinen Beinen. Löcher! Das ist heute passiert, heute Morgen. Wie konnte das so schnell geschehen, außer die Stiefel waren vergiftet? UND DU BIST DER STIEFELKNECHT UND VERANTWORTLICH DAFÜR!« Für einen Mann, der eher klein und schmächtig war, konnte der König, wenn er wollte, brüllen wie ein Stier, und im Moment war sein Brüllen so laut und so dicht am Ohr des Kammerdieners, dass diesem jeder vernünftige Gedanke abhandenkam.

Louis hatte recht. Levaux war unter anderem auch Stiefelknecht, und er schlief direkt gegenüber der Schlafzimmertür seines Herrn. Niemand kam oder ging, ohne dass er davon wusste. Und tagsüber war das Zimmer abgeschlossen, mit einem Schlüssel, den er persönlich bei sich trug.

Dies alles war höchst verwirrend. Der Tag hatte ganz normal begonnen.

Nach der Messe und einem Mahl am späten Vormittag war der König in seinen Lieblingsstiefeln zur Jagd geritten. Sie waren ihm wie gewöhnlich von Levaux angezogen worden. Der Kammerdiener hätte schwören können, dass die Stiefel in tadellosem Zustand gewesen waren, aber wenn der König recht hatte, wer hätte einen Anschlag auf ihn verüben können? Wann hätte das passiert sein sollen?

»Winter ist eine schwierigeJahreszeit, Euer Majestät. Könnte es vielleicht eine Unpässlichkeit der Beine sein oder ein Fieber, das die Körpersäfte befallen und die Schwellung verursacht hat?«

»Woher soll ich das wissen? Bin ich ein Arzt?«

Ein Arzt. Ja! Das war der Ausweg aus dem Schlamassel. Jemand, dem man die Schuld geben konnte. So dachte Alaunce, der auf dem Steinboden vor den übel riechenden, geschwollenen Füßen des Königs kauerte. »Soll ich den Leibarzt Euer Majestät rufen lassen?«

Entsetzen packte Louis de Valois. Einen Arzt? »Nein! Das wäre mein sicherer Tod! Diese Ärzte mit ihrem Schröpfen, den Tränken und Drogen kommen mir nicht in die Nähe! Ich kenne sie. Völlig gesunde Menschen werden krank und sterben. Nicht mit mir! O nein, nicht mit mir! Ich will einen Kräuterheiler. Einen fähigen Mann, der nicht zu meinem Hofstaat gehört. Suche mir einen solchen, aber sage keiner Seele etwas davon. Ich will nicht, dass die Leute sich erzählen, der König sei vergiftet worden. Das wäre für Frankreich eine Katastrophe. Geh jetzt!«

»Sehr wohl, Euer Majestät! Sofort!«

Sich wie eine Eidechse oder eine Schlange auf dem Bauch schlängelnd, machte sich Alaunce Levaux auf den Rückzug, vor Erleichterung tropfte ihm fast der Speichel aus dem Mund.

»Halt!« Der Kammerdiener erstarrte. Er hatte zu früh gehofft. Sein Herz füllte mit einem Mal seinen ganzen Brustkorb aus, es pumpte seine Beine voll Blut, damit er weglaufen konnte, wenn es vonnöten war.

»Verriegele diese Tür, wenn du gehst. Niemand, hörst du, niemand darf herein, bevor du nicht zurück bist. Spute dich! Meine Beine brennen vor Schmerzen!«

Der König stöhnte, als er das sagte, und Levaux wagte nicht zu antworten. Er wollte nicht riskieren, sich beim Sprechen vor Angst in die Hosen zu machen. Vor der Tür angelangt, rappelte er sich auf und klopfte sich den Staub von seinem blauen Wams. Er schärfte den Wachen ein, allen den Zutritt zu verweigern, und verriegelte dann eigenhändig die Tür - sämtliche Zimmer im königlichen Wohnflügel konnten von innen wie von außen verriegelt und abgeschlossen werden. Dann machte er sich eilig auf den Weg.

Er wusste von einem Mann, der genau den Wünschen des Königs entsprach: ein Dominikanermönch, der sich in der Stadt Paris um die Ärmsten der Armen kümmerte und ihre Krankheiten ausschließlich mit Heilkräutern behandelte. Er galt als ein Heiliger, zudem als ein Mann, dem Geld nichts bedeutete. Er war englischer Herkunft und hatte einen seltsamen griechi-schen Namen, Bruder Agonistes oder so ähnlich. Ja. Vielleicht wusste der Mönch, ob die Stiefel vergiftet worden waren oder ob etwas anderes die Körpersäfte des Königs in Unruhe brachte. Bitte, lieber Gott, mach, dass der Mönch einen Rat weiß, denn was würde passieren, wenn der König diesem neuen Gebrechen erläge? Was würde mit Frankreich geschehen? Louis wurde von seinem Volk nicht geliebt, aber er war mächtig - und gefürchtet. Wenn er stürbe, würde das ganze Königreich in Aufruhr geraten, ganz Europa. Levaux zitterte. Eigentlich interessierte Politik ihn nicht sonderlich, aber das Gerede im Schloss verfolgte er aufmerksam. Und das sagte, dass die finanziellen Mittel Frankreichs bald erschöpft seien, weil Louis den englischen Grafen Warwick unterstützte. Die Leute redeten auch, dass der Herzog von Burgund unerbittlich sei und jederzeit in Frankreich einmarschieren könne, wenn er seine Interessen in den Niederlanden nicht durchsetzte.

Alaunce Levaux spürte ein nervöses Prickeln im Rücken, als er durch den belebten Palast eilte, wo überall emsig die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest getroffen wurden. Bitte, lieber Gott, lass das nicht ein Vorzeichen für die Pest sein. Er mochte seinen Herrn nicht - natürlich nicht, wer mochte schon einen König? -, aber er verstand ihn. Als Kind war Louis von seinem Vater schlecht behandelt worden, und als Dauphin hatte der Vater ständig seine Autorität untergraben. Auch die Adligen hatten über ihn gelacht, weil er als Kind so unschön und schwächlich war und dann zu einem hässlichen jungen Mann heranwuchs. Niemand hatte angenommen, dass dieser schrumpelige Junge überleben, geschweige denn einmal regieren würde. Aber er hatte überlebt, und er regierte, und damit musste man sich eben abfinden.

Sie hatten immer Schwierigkeiten angezogen, dieser König und sein Königreich. Aber die Engländer und die Burgunder? Das wäre noch schlimmer, viel, viel schlimmer. Es war seine

Pflicht: Er, Alaunce Levaux, musste den König für Frankreich retten, sonst würden sich Anarchie und Zerstörung breitmachen.