Anne zitterte. Es war die stille Stunde vor Tagesanbruch, und es war dunkel und kalt. Sie kniete auf ihrem Betschemel und flehte um Hilfe und Führung.
Fast jeder Silberpenny und jeder Engelstaler, die sie aus ihren Handelsgeschäften in Brügge beiseitegelegt hatte, waren in den Erwerb und den Ausbau ihres kleinen Bauernhofs geflossen. Sie besaß noch einige kostbare Möbelstücke, darunter auch ihr Bett, und das große, fromme Gemälde mit ihrem Porträt, das sie bei dem deutschen Maler Hans Memling in Auftrag gegeben hatte. Alles andere hatte sie verkaufen müssen, um Ackerpferde, Saatgut, den teuren Räderpflug und die für die Bestellung des Bodens nötigen Arbeitskräfte zu bezahlen. Sie hatte Pläne gehabt, große Pläne, wie sie ihre Landwirtschaft entwickeln und ihrem Sohn eine behütete Kindheit sichern wollte. All dies schien nun seinen Sinn verloren zu haben.
Am Abend zuvor hatte sie von Herzogin Margaret die Bestätigung erhalten, dass Edward am Leben war, dass aber Karl von Burgund ihm nicht erlaube, nach Brügge zu kommen. Ja, er hatte sogar seiner Gemahlin verboten, ihren Bruder zu besuchen und ihm auf irgendeine Art zu helfen.
Anne schlug die Augen auf. Kerzen flackerten in der Dunkelheit. Warum? Warum hatte sich Karl gegen Edward, seinen Schwager und Freund, gewendet? Und was sollte sie tun - was konnte sie tun -, um Edward zu helfen? Sollte sie mit ihrem Sohn nach London ziehen, da der König abgesetzt worden war? Elizabeth Wydeville war nicht länger Königin, vielleicht verfolgte sie sie nun auch nicht länger in ihren Albträumen, war nicht länger eine ständig lauernde Bedrohung für das Kind, das sie als ihren Neffen ausgab.
Aber wenn Margaret von Anjou nach England zurückkehren und Annes leiblicher Vater, Henry VI., wieder eingesetzt werden würde, wäre sie dann in ihrem Heimatland überhaupt willkommen? Dann würde ihr Halbbruder, auch ein Edward, regieren. Würde Margaret das uneheliche Kind ihres Gatten, die Enkelin von Henry V., in ihrem wiedererrichteten Königreich überhaupt dulden? Anne wusste, dass Margaret ihre Mutter Alyce hatte töten lassen wollen. Damals, als sie erfahren hatte, dass Alyce ein Kind von ihrem Gemahl erwartete. Und nun hatte Anne selbst ein Kind von einem König.
Es war alles so kompliziert. Anne schloss ihre schmerzenden Augen. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?
»Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür.« Anne zuckte zusammen und drehte sich um. Deborah stand in der offenen Tür und hielt eine Lampe hoch.
»Wie kommst du darauf?«
Deborah sah sich um, dann schloss sie die Tür. Sie ging zur Feuerstelle und begann, Späne über das Stroh zu schichten. »Politik. Und die Nachrichten über den König gestern Abend. Du musst warten, bis du noch mehr erfährst. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Entscheidungen zu treffen.« Sie schlug Funken aus dem Feuerstein.
»Aber ich brauche einen Rat, Deborah. Dringend. Es ist alles so kompliziert.«
Deborah lächelte. »Also, ich gebe dir folgenden Rat. Erst ziehen wir uns an. Dann wird gegessen. Das sind einfache Dinge. Und dann? Dann denken wir nach.«
Annes winziges Arbeitszimmer war der einzige Raum in dem geschäftigen Haus, in dem sie wirklich für sich sein konnte. Die Sonne mühte sich redlich, die Welt mit ihrem fahlen Licht zu erhellen, und Deborah richtete das Frühstück auf dem niedrigen Tischchen her, das vor dem zischenden Feuer stand. Auf dem Tisch war gerade genug Platz für eine Schale mit frischem Ziegenquark, ein Stück Hartkäse, einen Steinkrug mit eingelegten Walnüssen aus eigener Ernte und einen warmen Brotfladen, der in dem Steinofen, den Leif Molnar im Hof gebaut hatte, gebacken worden war.
Anne zog einen Hocker heran und hielt ihre Hände vor die Flammen. Jeden Morgen wurde es jetzt ein bisschen kälter, und sie war froh über die Wärme. »Ich denke die ganze Zeit an Edward, Deborah. Er braucht Truppen und Geld. Und wenn der Herzog ihm nicht helfen will, muss ich es tun.«
Hätte ein Fremder diese Worte gehört, wäre er entsetzt gewesen. Eine unverheiratete Frau, die sich nach ihrem Liebsten sehnt. Ihrem verheirateten Liebsten. Denn Edward war unleug-bar verheiratet, verheiratet mit Elizabeth Wydeville, der Königin von England, die einige Jahre zuvor Anne hatte ermorden lassen wollen. Das war fast schon Tradition bei den englischen Königinnen, zumindest was die Mätressen ihrer Ehemänner betraf. Deborah streckte die Hand nach ihrer Ziehtochter aus. Anne hatte endlich ihr Schweigen gebrochen. »Truppen und Geld? Das sind Dinge, die mich nichts angehen, und dich auch nicht. Die Liebe, das ist etwas anderes.«
»Aber, Deborah, Edward braucht vor allem Geld, und zwar bald, wenn er Warwick zurückjagen möchte. Er hat mir den Boten geschickt, du weißt doch. Ich fühle mich so schuldig, dass der Mann sterben musste, bevor er mir sagen konnte, was der König wollte. Trotzdem, Edward verlässt sich auf mich. Ich muss endlich einen klaren Gedanken fassen. Ich werde ihn nicht im Stich lassen.« Anne drehte sich zu ihrer Ziehmutter um. »Ich muss den Hof verkaufen.«
Deborah war damit beschäftigt, zwei Hornbecher mit gewürztem, heißem Bier zu füllen. Der Honig dafür kam von den Bienenkörben, die im alten Obstgarten standen. Sie hörte nur halb hin. »Was hast du gesagt?«
Anne füllte Quark in Deborahs Schale und reichte sie ihr, vermied aber, ihr dabei in die Augen zu sehen. »Ich sagte, ich muss den Hof verkaufen.« Deborah war erschüttert. Der Gegenwert für einen kleinen Hof konnte kaum etwas ausmachen, um Edwards Sache zu unterstützen. »Aber deine ganz Arbeit? Und der Knabe? Was soll aus dem kleinen Edward werden -oder aus dir -, wenn du den Hof verkaufst?«
»Deborah, der König wird siegen, und wir werden das Geld mannigfach zurückbekommen, wenn er wieder auf dem Thron sitzt. Es muss sein. Wir müssen ihm das Geld bringen.«
»Madame?« Ein leises Husten war vor der Tür des Arbeitszimmers zu hören, dann ein schüchternes Klopfen.
»Ja, Vania?«
Vania war Edwards Kinderfrau und half Deborah auch mit der Hauswirtschaft. Sie war ein ruhiges, einfaches Mädchen mit kräftigen Armen und freundlichen Augen. Sie wusste alles über Kühe und Ziegen, denn sie war die Tochter eines Milchbauern. Jetzt klang sie sehr aufgeregt. »Eine Besucherin, Madame. Sie wartet in der Diele.«
Anne wunderte sich und stand auf. Das war in der Tat eine merkwürdige Zeit für einen Besuch. »Bitte iss zu Ende, Deborah. Ich komme gleich wieder.« Als Anne die wenigen Schritte zur Diele eilte, hörte sie Lisotte in der Küche singen. Sie lächelte trotz ihrer Sorgen, als sie hörte, wie Edward in ihr Lied mit einstimmte. Es war ein Lied über Lämmer, die erst ihre Mutter verloren und sie dann wiederfanden. Wäre das wirkliche Leben doch nur auch so einfach, dachte die Herrin von Riverstead Farm. Sie hatte ihrem typisch flämischen Anwesen einen typisch englischen Namen gegeben.
Sie zog den schweren Vorhang zur Diele beiseite und begrüßte die fremde Frau, die neben der Feuerstelle Platz genommen hatte. »Willkommen in meinem Haus.«
Die Dame trug einen Mantel mit Kapuze, so dass ihr Gesicht im Schatten lag, doch als Anne sie ansprach, zuckte sie zusammen, und die Kapuze rutschte ihr vom Kopf.
»Euer Gnaden!«
Margaret, die Herzogin von Burgund, erhob sich und eilte zu Anne. »Nein! Nennt mich nicht so, Anne. Niemand weiß, dass ich hier bin. Nicht einmal Karl. Er glaubt, ich sei in der Kapelle, um für einen Sohn zu bitten.« Die Herzogin lächelte angestrengt, sie war sehr bleich. »Ich bin gekommen, weil ich Euch um einen Gefallen bitten möchte. Einen sehr großen Gefallen, den nur Ihr mir erfüllen könnt.«
Anne war verwirrt. »Gerade heute hatte ich mich entschlossen, Euch um einen Gefallen zu bitten. Und jetzt seid Ihr hier.«
Die beiden Frauen setzten sich zusammen und flüsterten aufgeregt miteinander.
»Euer Gnaden, ich muss meinen Hof verkaufen, um an Geld zu kommen, und ich brauche Eure Hilfe, um einen Käufer zu finden. Vielleicht einen Vasallen des Herzogs?« Anne fasste Margarets Hände.
»Für meinen Bruder?«, fragte die Herzogin.
»Ja. Er wird jeden Silberling und jeden Penny gebrauchen können.« Margaret nickte. Sie begriff, dass diese Frau Edward Plantagenet immer noch liebte. »Natürlich. Aber der Hof kann niemals so viel abwerfen, wie er benötigt. Und er würde bestimmt nicht wollen, dass Ihr Euer Zuhause verliert. Ihr liegt ihm am Herzen und der Knabe auch. Aber wenn Ihr mir helfen wollt, können wir ihm eine viel größere Summe einbringen, als dieser Hof wert ist. Und auch Soldaten. Das ist es, was er braucht, um Warwick zu schlagen. Und ... George.« Es fiel ihr schwer, den Namen ihres Bruders, des Herzogs von Clarence, auszusprechen. Dieser Verräter. »Karl hat mir verboten, Edward zu helfen oder ihn auch nur zu treffen. Aber Ihr könntet das tun, Anne. Falls Ihr das wollt.«
Die Herzogin hielt einen bauchigen Lederbeutel hoch. »Das ist für ihn - Geld und ein Brief von mir. Er muss wissen, womit er zu rechnen hat. Karl wird ihm nicht helfen.«
Die Herzogin wurde bleich. In der Kathedrale von Damme hatte sie ihrem Gemahl Gehorsam geschworen, und nun brach sie ihren vor Gott geleisteten Eid. Sie hatte Schmuck verkauft, unter anderem auch die Krone, die sie bei ihrer Hochzeit getragen hatte - ein doppelter Verrat, denn sie war Teil ihrer Mitgift. Die Wahl war bitter - sollte sie ihrem Blut folgen oder dem Mann, den sie liebte? Doch schließlich hatte sie sich entschieden.
»Mein Gemahl möchte Edward in s'Gravenhage festhalten, bis er weiß, wie es weitergehen soll. Möglicherweise wird der Herzog meinen Bruder den Franzosen ausliefern.«
»Nein! So etwas würde er doch niemals tun.«
Margaret ergriff bewegt die Hand ihrer Freundin. »Hört gut zu, Anne. Mit diesem Geld kann der König sich eine ordentliche Garde beschaffen: Waffen, Männer und Pferde. Mein Gemahl wird einer Begegnung mit Edward aus dem Weg gehen. Er sagt, er müsse sich neutral verhalten - gegenüber den Franzosen wie auch den Engländern. Aber England hält einen weiteren Bürgerkrieg nicht durch, und dieser ist sicher, wenn Margaret von Anjou den englischen Thron zurückerobert. Karl hat eine Schlüsselrolle inne. Er muss sich mit Edward treffen und ihn unterstützen, damit wenigstens die Menschen in England verschont werden. Und deshalb muss der König hierherkommen. Bestimmt kann ich dann ein Treffen arrangieren. Aber ich kann Brügge nicht verlassen, im Gegensatz zu Euch.«
Margaret wusste, was ihr Ansinnen bedeutete. Wenn Karl erfuhr, dass Anne seinem ausdrücklichen Befehl zuwiderhandelte, würde sie seinen Zorn zu spüren bekommen. Außerdem war die Reise durch die von ständigen Kämpfen zwischen Burgund und Frankreich aufgeriebenen Provinzen lang und gefährlich, besonders jetzt vor dem Wintereinbruch. »Ich kann niemand anderem trauen. Und auch Edward würde keinem anderen trauen. Ihr werdet ihn niemals verraten. Das weiß er, und ich weiß es auch.«
Anne nickte und spürte ein Flattern in ihrem Bauch, nicht weil sie zustimmte, sondern weil die Herzogin recht hatte. Sie war als Botin am besten geeignet.
Eine Hand berührte sie in der Dunkelheit, ein Mann lachte. Er. Er war es. Sie drehte ihren Kopf und sah ihn. Wie verliebt er sie anschaute. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Sie spürte seinen innigen Kuss. Sie sah, wie seine Finger an ihren Bändern nestelten und .
»Werdet Ihr gehen, Anne?« Anne ballte ihre Hände zu Fäusten, ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen. Das Bild des
Königs war so lebendig gewesen, sie hatte ihn sogar riechen können: Veilchenwurz, Sandelholz und sein eigener Duft nach Leder, frischem Schweiß und dem Leinöl der Zügel, die er täglich anfasste .
Anne seufzte und schüttelte den Kopf. »Wir haben uns gegenseitig beinahe zerstört, Euer Bruder und ich. Ich möchte ihm helfen, lieber Gott, das möchte ich, und wenn ich alles verkaufen muss, was ich besitze. Mehr kann ich nicht tun. Ich werde mein Geld zu dem Euren dazutun. Aber Ihr müsst einen anderen Boten finden, Herzogin, und ich werde ein anderes Zuhause finden müssen.« Die Vorstellung, ihren Hof zu verkaufen, schmerzte sie unendlich, aber letztendlich war es der bessere Weg, die aufrichtigere Antwort auf das Ansinnen der Herzogin. Und sie konnte so der Versuchung widerstehen, den König wiederzusehen.
»Aber, Anne, der König muss wissen, was ich ihm zu sagen habe. Er muss von den Plänen meines Mannes erfahren, sonst ist England verloren. Mein Mann und mein Bruder müssen sich treffen, sie müssen ihre Freundschaft erneuern. Edward hat keine anderen Verbündeten. Ihr müsst gehen, Ihr müsst. Bitte überlegt es Euch noch einmal.«
Anne de Bohun senkte den Blick. In den Augen der Herzogin von Burgund, Margaret von England, standen Tränen. Anne ertrug es nicht, sie weinen zu sehen.
Nach einem langen Augenblick des Schweigens atmete Anne gequält aus. »Herzogin, ich werde um eine Antwort beten. Wenn Gott mir sagt, dass ich gehen muss, dann werde ich gehen. Wenn nicht, dann werde ich Eure Botschaft nicht überbringen, werde aber meinen Hof verkaufen.«
Die Herzogin erhob sich. Anne sah, wie traurig sie war, wie verloren. Margaret von Burgund war es nicht gewöhnt, zu bitten.
»Dann werde auch ich beten«, sagte sie, »für Euch und für mich. Und für ihn. Möget Ihr einen Rat erhören, mit dem Ihr leben könnt.«
Anne machte einen Knicks. Sie zitterte, als die Herzogin das Haus verließ. Im Dämmerlicht des frühen Morgens sah Anne, wie Margaret ihr Pferd bestieg. Es wurde von Aseef gehalten, einem taubstummen Mohren, der ein vertrauter Diener des Herzogs war. Als sie in die aufgehende Sonne ritten, machte Anne die Haustür zu und lehnte sich dagegen. Ihr Herz hämmerte wie das eines gefangenen Tieres.
Ja, sie musste um Führung beten, denn sie selbst wusste sich keinen Rat. Diesmal würde sie die Antwort vielleicht bei anderen Göttern finden. Anne schlang sich ihr Tuch fest um den Leib und eilte davon. Leif Molnar hatte geduldig vor der Tür zu Annes Arbeitszimmer gewartet, um mit ihr zu sprechen. Doch als sie nun geistesabwesend an ihm vorübereilte, trat er nicht vor, sondern sah sie nachdenklich an. Er hatte jedes Wort zwischen den beiden Frauen gehört und machte sich um Anne große Sorgen.
Sein Herr hatte ihn mit einer Aufgabe betraut, die er erst zum Teil erfüllt hatte. Sicher, er besaß nun wichtige Informationen über die Pläne des Herzogs bezüglich Edward, und er würde dafür sorgen, dass Mathew Cuttifer sie auf schnellstem Wege erführe. Aber er wusste auch, dass der König unbedingt die Nachricht der Herzogin bekommen musste, denn dies würde mit Sicherheit den Verlauf des zu erwartenden Krieges in England beeinflussen. Das Leben einer Frau war in Zeiten wie diesen nebensächlich. Aber das Leben von Anne de Bohun, ihre Sicherheit und ihr Glück waren für Leif Molnar nicht nebensächlich.
In den vergangenen Tagen hatte er begriffen, dass sie für ihn immer die Hauptsache sein würden.
Mijnheer Lodewijk de Gruuthuse, Gouverneur des burgundi-schen Herzogs für die Provinz Holland, lächelte seinen »Gast«, den einstigen König von England, entschuldigend an und zuckte die Achseln.
»Majestät, natürlich wusstet Ihr die Hilfe dieser Männer zu schätzen. Aber Ihr müsst auch meinen Standpunkt und den meines Herrn, des Herzogs, verstehen. Er vertraut mir, dass ich diese Provinz in seinem Sinne regiere. Ich sorge für Ruhe und Ordnung, das geht aber nur, wenn die Leute sich auf die Gesetze verlassen können. Was würden sie von mir denken, wenn ich Euch zugestände, um was Ihr mich bittet?«
Edwards Verhandlungsposition war schwach, das wusste er. Doch auch wenn er seinen Thron verloren hatte, er war immer noch ein Ritter. Das Rittertum verlangte auch in unruhigen Zeiten wie diesen gewisse Verhaltensregeln - sofern sie angemessen waren. »Gouverneur, eigentlich sind das anständige Männer, die durch diese gewalttätigen Zeiten vom rechten Weg abgekommen sind. Der Franzose, ihr Anführer, ist ein tapferer Mann, der einen ehrbaren Namen trägt. Seine einzige Dummheit war, dass er Louis von Frankreich vertraut hat. Der eine König hat ihn um seinen Platz in der Gesellschaft betrogen, der andere König hier würde sein Ansehen gerne wiederherstellen.«
Mijnheer de Gruuthuse verbeugte sich ernst. Edward erwiderte die Verbeugung ebenso ernst. Die beiden waren alte Freunde. Lodewijk de Gruuthuse, meist einfach Louis genannt, war in den vergangenen zwanzig Jahren mehrmals burgundi-scher Gesandter in England gewesen. Er kannte Edward schon als Knaben, als dieser noch der Earl of March gewesen war. Er hatte ihn damals schon gemocht und mochte ihn auch heute als erwachsenen Mann, ob er nun König war oder nicht. Allerdings bürdete ihm Edwards gegenwärtige Situation nicht wenige Probleme auf. Außerdem trug er an einem Geheimnis, das er mit seinem Gast nicht teilen durfte. Edward seinerseits war aufrichtig froh, dass Louis als Gouverneur von Holland ein Vertrauter seines Schwagers, des Herzogs von Burgund, war. Die englischen Adligen hatten den vornehmen Louis oft scheel angesehen. Er sehe aus wie ein Edelmann, sagten sie, sein unermesslicher Reichtum jedoch stamme vom Bierbrauen. Er habe sich seinen Adelstitel gekauft und nicht auf dem Schlachtfeld erworben. Edward jedoch, der sich für den Handel und die Kaufleute mit ihrem faszinierenden Erfindungsreichtum interessierte, war der Meinung gewesen, dass er von Louis de Gruuthuse einiges über das Leben und die Welt lernen konnte. Im Gegensatz zu vielen englischen Adligen hatte Bildung für Louis durchaus einen eigenen Wert. Er sammelte Bücher und Gemälde, und sein Haus in Brügge war prächtiger, besser geheizt und luxuriöser ausgestattet als die meisten Paläste Englands. Er lebte aufwändig wie ein König, und Edward hatte bei seinen verschiedenen Besuchen in der Handelsmetropole viel über kultivierte Lebensart gelernt. Er hatte Vorlieben ausgebildet, die er mit nach London gebracht hatte und die sich im Lauf der Zeit in der Gestaltung seiner zahlreichen Häuser und auch in seiner Persönlichkeit widerspiegelten. Und nun sahen sich die beiden alten Freunde in einen Zank über das Schicksal einer Bande französischer und flämischer Banditen verstrickt.
»Euer Gnaden, ich bin sicher, dieser Mann und seine Leute wären eine vorzügliche Bereicherung Eurer Leibwache. Sie haben mir, sogar zu ihrem eigenen Nachteil, ihre Dienste erwiesen, und ich möchte sie damit belohnen, dass ihr Leben wieder einen Nutzen bekommt.« Edward verzog beim Sprechen leicht das Gesicht. Die Wunde an seinem linken Unterarm schmerzte. Sie erinnerte ihn an das Handgemenge, in das er und seine Männer am frühen Morgen verwickelt worden waren. Der kleine Franzose hatte sich dabei als tapferer Kämpfer erwiesen.
Julian de Plassy und seine Männer hatten sich bereit erklärt, die Engländer bis zum Gevangenpoort, dem äußeren Tor des Binnenhofs, zu geleiten, damit sie auch wirklich sicher beim Mijnheer de Gruuthuse ankommen würden. Aber die Soldaten von Louis waren zufällig nur ein paar Meilen vor den Toren der Stadt auf die Engländer und ihre Begleiter gestoßen, hatten sie im Zwielicht des Morgens allesamt für Gesetzlose gehalten und

Es war ein kurzer, aber heftiger Kampf, in dem Julian de Plassy, Lord Hastings und Edward Seite an Seite gegen die Soldaten von de Gruuthuse kämpften. Dann rief Edward laut auf Englisch: »Ein York, ein York, zu mir, zu mir«, woraufhin die verdutzten Flamen stockten und die Engländer, ihren Vorteil ausnutzend, sie beinahe in die Flucht schlugen, bis der Hauptmann der Flamen auf Französisch rief. »Lord König? Wir sind Eure Freunde.« Das war angesichts der vielen stöhnenden, blutenden Männer eigentlich eine recht seltsame Wortwahl, dachte Edward später.
Nun befand er sich in den Privatgemächern von Louis de Gruuthuse. Er war frisch gebadet und parfümiert und hatte geliehene, doch standesgemäße Kleider an - einen ausladenden Umhang aus schwarzem Damast, der mit einem mit Edelstein besetzten Gürtel zusammengehalten wurde, darunter zwei farbige Hosen, das eine Hosenbein rot, das andere blau, außerdem schwarze, goldbestickte Stiefel aus weichem Ziegenleder.
»Ich kann sie nicht freilassen«, sagte Louis. »Das würde einen Aufschrei geben, Lord König. Vieles kann ich gewähren, dies jedoch nicht.«
Edward ließ sich gegen die hohe Lehne seines mit Schnitzereien verzierten Stuhls sinken. Louis saß in einem Stuhl der gleichen Art. Beide Stühle waren mit einem Baldachin versehen und standen so zueinander, dass der Stuhl von Louis auf einem ein wenig niedrigeren Podest stand als der von Edward. Eine taktvolle Geste, fand der König, vor allem, wenn man seine gegenwärtige Situation bedachte.
»Dann überlasst sie mir. Alle, die ich jetzt um mich schare, sollen reich belohnt werden - später.« Er lachte, aber es war kein frohes Lachen.
»Nun gut, so sei es. Wenn Ihr nach England zurückkehrt, sollen sie Euch begleiten dürfen, und ich werde dafür sorgen, dass sie dann Eure Uniform tragen. Doch um meine Leute ruhig zu halten, müssen sie erst einmal im Kerker bleiben.«
Edward nickte. Das war ein annehmbarer Kompromiss. Er wollte dafür sorgen, dass der Franzose und seine Männer gut zu essen und eine passable Unterkunft bekamen. Männer, die vom Kerkerfieber darniederlagen, konnte er nicht brauchen.
»Erlaubt mir, Majestät, dass ich Euch bitte, mir zu erklären, wie sich die Situation in England entwickelt hat.«
Edward verzog sein Gesicht. Waren wirklich erst zehn Tage vergangen? Zehn Tage, seitdem er den Thron verloren hatte? »Warwick und mein ...« - er hatte »mein Bruder« sagen wollen, brachte es aber nicht übers Herz - »Warwick und Clarence -Ihr müsst wissen, dass es schon seit drei Jahren ein ständiges Hin und Her zwischen uns gegeben hat. Clarence ... also, der hat sich für Warwick und seine Pläne als der Willfährigere erwiesen, nachdem der Graf begriffen hatte, dass er mich nicht kontrollieren konnte. Warwick hat Clarence jetzt mit seiner Tochter verheiratet. Etwas, womit ich niemals einverstanden gewesen wäre, aus naheliegenden Gründen.«
Eheschließungen des Hochadels waren immer von dynastischen Überlegungen bestimmt. Hatte sich Graf Warwick nicht ebenfalls vor den Kopf gestoßen gefühlt, als sein Schützling Edward heimlich die englische Lady Elizabeth Gray, geborene Wydeville, Witwe eines Ritters aus Lancaster, geheiratet hatte? Louis konnte sich gut daran erinnern, dass der Graf damals eine hochkarätige, französische Verbindung für den jungen König geplant hatte. Vor Wut, vor den Augen ganz Europas zum Narren gehalten worden zu sein, hatte Warwick seine Aufmerksamkeit rasch einem ergiebigeren Gebiet zugewandt. Angeblich hatte er dem Herzog George of Clarence, Edwards missgünstigem, jüngerem Bruder versprochen, an Edwards Thron zu rütteln. Die Heirat zwischen Isabel und Clarence hatte diesen ehrgeizigen Plan noch gefestigt.
»Diesmal sind sie zu weit gegangen, Louis. Und Clarence wird nicht bekommen, was er will.«
Louis de Gruuthuse dachte genauso. »Es heißt, Graf Warwick wolle die einstige Königsfamilie wieder auf den englischen Thron bringen. Stimmt das?«
Edward schwenkte den Burgunderwein in seinem venezianischen Glaskelch. Der Wein sah darin eher schwarz als rot aus.
»Ja. Warwick hat Henry wieder eingesetzt, und Margarets Sohn ist der Nächste in der Thronfolge. Ebenfalls ein Edward.« Er verzog das Gesicht und überlegte einen Augenblick sogar, Anne de Bohun zu erwähnen, die ebenfalls ein Kind von Henry war. Aber dann schwieg er doch lieber. Kaum jemand wusste von Annes königlicher Herkunft oder von seinen Gefühlen für sie. Er wollte jetzt nicht darüber reden. Leise lächelnd sah er seinen Gastgeber an.
»Könnt Ihr Euch das vorstellen, Louis? Warwick tut sich ausgerechnet mit jener Frau zusammen, deren Mann wir beide bei Mortimer's Cross und Towton töten wollten. Und mein Bruder George ...« Er lachte heiser. »Welche Chancen auf den Thron bleiben ihm jetzt noch, da Warwick die alte Königin unterstützt? Und außerdem ist da noch ihr Sohn Edward, dieser Knabe von Gottes Gnaden.«
Beide Männer schmunzelten. Schon seit jeher war geredet worden, dass die ehelichen Beziehungen zwischen dem einstigen und jetzt wieder eingesetzten Lancaster-König Henry VI. und seiner französischen Königin Margaret alles andere als herzlich gewesen seien. Ihr Verhältnis war sogar so weit abgekühlt, dass der König, als ihm Margarets Sohn zum ersten Mal in die Arme gelegt wurde, scheinheilig verkündete, das Kind müsse vom Heiligen Geist empfangen worden sein, denn er könne sich nicht vorstellen, wie er der Vater dieses Knaben geworden sei. Aber just jener Knabe - sei er nun seines Vaters Sohn oder nicht - war nun Prinz von Wales, und Warwick, der der alten Königin Treue geschworen hatte, musste nun zwangsläufig Clarence' Wunsch auf den englischen Thron hintangestellt haben.
»Wird Euer Herr, Karl von Burgund, mir helfen, Louis?«
Louis de Gruuthuse war ein erfahrener Diplomat, und entsprechend gewandt fiel auch seine Antwort aus. »Euer Gnaden, ich bin davon überzeugt, dass mein Herr von Eurer misslichen Lage aufs Höchste betroffen ist, vor allem wenn man die familiären Bindungen berücksichtigt. Ich bin autorisiert, Euch in jeder erdenklichen Weise zu helfen und Euch standesgemäß zu beherbergen, solange Ihr über Eure Zukunft nachdenkt.« Die Antwort war elegant, aber nicht eindeutig.
Edward runzelte verärgert die Stirn. Er war müde und hatte seine Mimik nicht so gut unter Kontrolle wie gewöhnlich, sonst hätte er bestimmt feinfühliger reagiert. »Nun, dann wollen wir mal sehen, wie Eure Hilfe aussieht. Trotzdem ist es für mich unerlässlich, mit Karl persönlich zu sprechen. Wir müssen rasch reagieren, wenn wir die Franzosen schlagen wollen, solange sie mit Warwick gemeinsame Sache machen. König Louis möchte mich isolieren, aber auch für Euren Herrn steht viel auf dem Spiel. Ich muss mein Königreich zurückerhalten, damit England wieder zum starken Verbündeten des Herzogs gegen die Franzosen werden kann. Das wird er auch so sehen.«
Mijnheer de Gruuthuse stand auf und verneigte sich. »Ich bin sicher, dass mein Herr das genauso sieht, Euer Gnaden. Aber über diese Dinge sollten wir sprechen, wenn Ihr wieder ganz bei Kräften seid. Kommt, ich habe ein Begrüßungsmahl mit festlicher Unterhaltung für Euch und Eure Männer vorbereiten lassen. Ein wenig Musik und ein guter Wein, dann sieht die Welt schon wieder besser aus.«
Edward zog eine halbwegs fröhliche Grimasse. »Ein Festmahl? Wie reizend! Tanz, Musik und hübsche Damen - damit geht es uns gleich wieder besser. Ich könnte in der Tat den elenden Wallach verspeisen, den ich in den vergangenen Tagen reiten musste, wenn Ihr ihn mir vorsetzen würdet! Kommt, mein Freund, geht voran.«
Louis klatschte laut in die Hände, woraufhin sogleich die zwei bronzebeschlagenen Türen mit den allegorischen Darstellungen der Taten des Herkules aufgingen und der Haushofmeister des Palasts einschließlich eines Gefolges von mindestens fünfzig weiteren Herren, darunter auch die englischen Edelleute, auf ein Knie sanken und ihre Häupter neigten, um dem Gouverneur und seinem hohen Gast die Ehre zu erweisen. Louis und Edward passten ihre Schritte aneinander an wie bei einem höfischen Tanz und betraten den weitläufigen Rittersaal. Dieser schöne, hohe Saal war von dem berühmten Grafen Florens V. als Erweiterung des vor zweihundert Jahren ursprünglich als Jagdhaus genutzten Schlosses gebaut worden. Eine schmucke Kulisse für höfische Feste, geeignet, den Reichtum und die Macht des jetzigen Besitzers zur Schau zu stellen. Doch an diesem Abend stand der englische König im Mittelpunkt. Alle sahen, wie er lachte, die Tänzer und Komödianten auszeichnete und, bevor er sich für die Nacht zurückzog, großzügige Gaben verteilte (Geld, das ihm der Gouverneur diskret zugesteckt hatte), und niemand zweifelte auch nur einen Augenblick daran, dass die Lage in England nur vorübergehend unsicher war. Das Herrschergeschlecht, das Edward Plantagenet verkörperte, würde seinen rechtmäßigen Platz bald wieder einnehmen.
Edward jedoch, als er im Schlafgemach seine schmerzenden Lider schloss, ließ alle seine angebliche Herrschaftlichkeit von sich abfallen. »Hat mein Bote dich gefunden, Anne? Wird Karl mir helfen? Was soll ich tun?«
William Hastings hörte das Murmeln seines Herrn durch die offene Tür zu seinem Schlafzimmer. Auch er wünschte sich eine Antwort auf diese Fragen.
Es war unwahrscheinlich, dass Karl Edward ohne einen besonderen Anreiz helfen würde. Die europäischen Länder und Burgund befanden sich in einem heiklen Gleichgewicht. Herzog Karl hatte eine Einstellung der Feindseligkeiten zwischen Burgund und den Franzosen erreicht. Ein zerbrechlicher Friede, der im Augenblick jedoch Bestand hatte. Eine aktive Unterstützung seines Schwagers würde wahrscheinlich zur Folge haben, dass Warwick und Louis von Frankreich gemeinsam über burgundisches Territorium in den wohlhabenden Niederlanden herfallen würden - womöglich sogar über die Burg, in der er diese Nacht verbrachte. Das Machtgleichgewicht in Europa, das ein paar wenige Jahre lang relativ stabil gewesen war, begann zu wanken, was eine Katastrophe zur Folge haben musste.
Ja, auch Hastings hoffte, dass der Bote des Königs Anne de Bohun in Brügge erreicht hatte. Sie hatte enge Verbindungen zum Hof des Herzogs und zum Herzog persönlich. Karl würde Anne vielleicht eher als Mittlerin akzeptieren als seine Ehefrau, der er als Edwards Schwester wahrscheinlich Voreingenommenheit unterstellte. Großer Gott, mach, dass der Bote sie gefunden hat. Mach, dass sie eingewilligt hat, sich beim Herzog für den König zu verwenden.
Anne de Bohun wusste doch bestimmt, was ihre Pflicht ist, egal, was früher einmal war! Sie musste Edward Plantagenet helfen!
Annes Anwesen barg mancherlei Geheimnisse, eines davon in dem auf einer leichten Erhebung befindlichen Eichenwäldchen nahe dem Fluss.
Flandern und die umliegenden Länder wurden nicht umsonst die Niederlande genannt. Das Land, das einst vom Meer bedeckt gewesen war, wie die Muscheln bewiesen, die immer wieder im Erdreich gefunden wurden, war nahezu vollständig flach. Es war vor langer Zeit vom Wasser eingeebnet worden, wahrscheinlich von der Sintflut, wie die Leute sich erzählten. Doch unweit von Brügge gab es dennoch die eine oder andere Erhebung, und der kleine Hügel auf Annes Anwesen war eine davon. Es war spät in der Nacht, der Wind wurde stärker, die Sichel des zunehmenden Mondes stand hoch am Himmel, und im Bauernhaus waren alle Lichter gelöscht. Selbst die sorgsam aufgeschichteten Glutstücke im Küchenfeuer flackerten nicht mehr, wenn auch dann und wann die Asche aufglühte, wenn die Nachtluft seufzend durch den Schlund des Kamins entwich.
Stunde um Stunde stieg der Mond am Himmel empor, und zur dunkelsten Zeit der Nacht, als er seinen langsamen Abstieg begann, stahlen sich zwei Gestalten aus der Hintertür des Gehöfts und bewegten sich lautlos wie Schatten über den Hof und am Winterstall mit dem schlafenden Vieh vorbei. So sachte traten sie auf, dass nicht einmal die Gänse aufwachten und auch der Hirte nicht, der die Kühe zum Melken von den Weiden hereintrieb. Er schlief friedlich vor dem Küchenherd, Lisotte hatte es ihm erlaubt, weil die Nächte so kalt waren.
Als der Wind nachließ, machte sich der Frost bemerkbar. Den beiden Frauen wurde das Gehen dadurch leichter, denn der Lehm auf den gepflügten Feldern wurde mit zunehmender Kälte härter. Sie eilten, so schnell sie konnten, auf den fernen Fluss zu, der das Anwesen begrenzte. Wenn sie sich anstrengten, konnten sie ihr Ziel erkennen - die Umrisse des Hügels mit den fast kahlen Bäumen, die ihre Äste gen Himmel reckten.
»Hast du es wirklich dabei?«
»Aber ja, Deborah. Natürlich.«
Anne und ihre Ziehmutter erreichten den Rand des Ackers und kamen zu dem Durchlass in der den Hügel begrenzenden Weißdornhecke. Das fahle Licht der letzten Sterne reichte gerade aus, damit sie den Pfad vor sich erkennen konnten, der sich um ihren kleinen Hügel bis ganz hinauf zu den uralten Eichen wand.
Deborah hatte als Erste die Bedeutung dieses Pfades erkannt: ein uralter Weg, der von der Vorderseite des Hügels spiralförmig direkt bis in das Herz des Eichenwäldchens führte. Diese Entdeckung war für Anne das entscheidende Omen gewesen, sich für den Kauf des Hofs zu entschließen. Die Leute aus der Gegend erzählten sich, der Hügel sei nicht von Gott, sondern vor langer, langer Zeit von Menschenhand geschaffen worden. Er könnte sogar das Grab eines Königs gewesen sein. Deborah und Anne zweifelten nicht an dieser Legende, als sie den überwucherten Pfad sahen, der sich den Hügel hinaufwand.
Dieser Ort hatte mancherlei gesehen in seiner langen Vergangenheit, die bis weit vor die Gründung der Stadt Brügge zurückreichte, wie Deborah glaubte. Die Frauen hatten nichts unternommen, um den Pfad oder den Hügel auszulichten - niemand sollte erfahren, dass sie hierherkamen. Der Ort war für sie zur Kirche geworden.
Leise eilten sie nun den geschlängelten Pfad entlang, bis die Dunkelheit der Bäume sie verschluckte. Von Weitem war nicht zu erkennen, dass die beiden diesen Weg eingeschlagen hatten. Doch dann erhob sich der Wind von Neuem und seufzte, als wüsste er etwas. Vielleicht war es aber auch die Erde.
»Was war das?«
Deborah fürchtete sich eigentlich nicht vor der Dunkelheit, aber einen Augenblick lang war es ihr vorgekommen, als hätte sich in den Tiefen des Eichenhains der Boden unter ihren Füßen

»Ich habe es auch gespürt.«
Anne hatte ein unbehagliches Gefühl. Sie nahm einen fremden Geruch wahr. Ein Sturm zog auf - war es das? Aber der Himmel war ganz klar, so klar, dass sie die untergehende Mondsichel und im Osten den aufgehenden Morgenstern sehen konnte. Sie mussten sich beeilen.
Mit klammen Fingern nestelte Anne an dem kleinen Beutel, der an ihrem Gürtel befestigt war. »Hier ist es, Mutter.« Sie nannte Deborah nur in Augenblicken wie diesem »Mutter«, denn dann war die Verbundenheit zwischen den beiden besonders stark. Wenn ein Suchender allein in die Welt der Nacht aufbrach, musste ein anderer zurückbleiben, um den Reisenden wieder zurückzuholen. Mutter und Tochter, Tochter und Mutter - so war es seit vielen Generationen. Und so war es auch in dieser Nacht.
»Gut. Zuerst müssen wir den Kreis aufdecken, dann können wir unseren Weg beleuchten.«
Anne und Deborah huschten zwischen die Bäume und suchten die Steine, die sie zu einem früheren Zeitpunkt kreisförmig ausgelegt und dann mit Laub zugedeckt hatten. Es waren hauptsächlich runde, weiße Quarzsteine, vom Wasser geglättet, die sie im Lauf des Sommers in mühsamer Arbeit vom Fluss heraufgeschafft hatten.
»Hilf mir, Kind.« Deborah versuchte, den größten Stein in die Mitte des Kreises zu schleppen. Er hatte etwa die Größe eines halben Frauenkörpers und war auch ebenso geformt mit Andeutungen von Armen, Beinen und Vulva und oben eine Art Gesicht mit einer Linie für die Nase und einem Schlitz für den Mund. Dieser Stein war schwarz und viel zu schwer, um ihn allein tragen zu können.
Keuchend vor Anstrengung setzten Anne und Deborah den Frauenstein aufrecht in die Mitte ihres kleinen Kreises. Auf dem Kopf der Steinsäule waren Wachsspuren zu erkennen, die sich wie Haare nach unten zogen. Anne berührte sie mit bebenden Fingern. Sie betteten den Frauenstein in eine hastig gegrabene Vertiefung, dann entzündete Deborah eine Kerze. Das Schlagen des Feuersteins klang in der Dunkelheit ungewöhnlich laut. Sie reichte die brennende Kerze ihrer Tochter, die sorgfältig frisches Wachs über die alten Wachsspuren tröpfeln ließ. Ihr Licht sollte in dieser Nacht darin Halt finden.
Anne schloss die Augen und legte schützend ihre hohlen Hände um die zitternde Flamme, die langsam größer wurde. Sie spürte die Wärme auf ihren Handflächen. Ein dünner Rauchfaden zog durch die eisige Luft. Der Honigduft des Wachses erinnerte fern an den Sommer.
»Bist du bereit, meine Tochter?«
Anne nickte. »Ich bin bereit, Mutter.«
Deborah beugte sich vor und öffnete die Nadel, die Annes Mantel am Hals zusammenhielt. Sie war aus Gold und stellte einen kleinen Drachen dar, dessen blinde Perlenaugen dieselbe Farbe wie die verblassenden Sterne hatten. Mit einer raschen Bewegung schüttelte Anne den Umhang von sich. Darunter war sie nackt. Die kalte Nachtluft berührte ihre Haut, und wie ein Schwimmer, der in eiskaltes Wasser taucht, schnappte sie kurz nach Luft.
Deborah spürte die Kälte in ihren eigenen Knochen, unterdrückte aber jegliche Regung von Angst oder Mitleid. Dies war wichtig, denn das Opfer musste freudig gegeben werden. »Nun?«, sagte sie.
Anne nickte. Die Frauen knieten zu beiden Seiten der Steinsäule nieder und fassten sich an den Händen, so dass ihre Arme den Stein vollständig umfingen. »Das Opfer.«
Zitternd streckte Anne eine Hand zur Kerze aus, und Deborah zog eine Ahle aus ihrer Gürteltasche. Mit einer raschen Bewegung stach sie in den ausgestreckten Zeigefinger der jungen Frau, so dass erst einer, dann noch ein Blutstropfen in das durchscheinende Herz der Flamme tropfte. Ein Fauchen wie von einer Katze, dann der Geruch von brennendem Eisen, dann flammte die Kerze wieder auf und brannte, ohne zu flackern, als reine, blassblaue Flamme.
Deborah fing mit flüsternder Stimme an zu singen: »Mutter, Mutter aller Menschen, höre uns, höre deine Kinder.«
Anne biss die Zähne zusammen, um die beißende Kälte abzuwehren, und versuchte, sich in die Dunkelheit zu versenken. Ihre Augen fixierten die Umrisse der Flamme, ihre Lippen wiederholten Deborahs Worte. Ihre Hände waren taub vor Kälte und ihre Lippen starr. Die Flamme, konzentriere dich auf die Flamme. »Bei den vier Winden und den sieben Meeren, höre uns. Bei der Sonne, beim Mond, bei den Sternen, höre uns. Wir sind deine Kinder, und wir können in der Dunkelheit nicht sehen. Wir bitten dich, bringe uns Licht, damit wir erkennen, was zu tun ist, damit wir verstehen, was wir tun dürfen. Mutter aller Menschen, Mutter aller Menschen ...«
Nichts. Gar nichts. Anne hatte aufgehört zu zittern. Hinter ihren geschlossenen Lidern sah sie die roten Umrisse der Flamme. Vielleicht wurde sie selbst zu Stein, verwandelte sich in einen Felsen und bliebe auf alle Ewigkeit hier? Wie traurig. Als kleines Mädchen hatten ihr die Statuen im Winter immer so leidgetan. Sie hatte sich um sie gesorgt, wenn sie im dunklen Eisregen, in Schnee und Frost ausharren mussten ...
Nun war alles um sie schwarz, eine undurchdringliche Finsternis. Nichts war zu sehen, keine Flamme, nicht einmal eine Ahnung von einer Flamme. Aber sie fühlte sich wohl in der samtenen Dunkelheit. War ihr denn nicht mehr kalt? Ja, ihre Hände, ihre Finger, sogar ihr Gesicht fühlten sich wärmer an, als würde sie an einem Feuer sitzen. Aber das wäre seltsam, denn auch ihr Rücken war warm. Anne kicherte. Erstaunlich! Wenn man sich normalerweise im Winter vorn wärmte, musste man sich ständig drehen, sonst wurde der vom Feuer abgewandte Teil des Körpers eiskalt.
Lady Anne? Eine Männerstimme. Wie eigenartig, sie hatten doch die große Mutter angerufen.
Lady Anne? Die Stimme klang gequält.
»Ja, hier bin ich. Wer bist du?«
Ich bin jetzt ein Namenloser, aber ich bin ein Diener Thors auf alle Ewigkeit. Doch einst war ich ein Bote des Königs.
Anne hatte plötzlich Angst. »Ein Diener Thors? Aber ... du bist gestorben.«
Es gibt Dinge, die gesagt werden müssen. Ich bin gekommen, sie zu sagen. Fragt mich. Dies ist Eure Pflicht.
Fast blind im verschwommenen Dunkel drehte sich Anne zu der Stimme um. Sie erkannte eine schwarze Silhouette vor schwarzem Hintergrund und eine blassgelbe Lichtspur, die sich kriechend ausbreitete und langsam einen Kopf, eine Schulter, einen Arm sichtbar werden ließ. Das Entsetzen kroch aus der Dunkelheit auf sie zu wie ein lebendiges Ungeheuer. Anne wusste, wenn die Lichtspur heller wurde, sich schneller verbreitete, dann würde sie das Gesicht des Mannes erkennen, die klaffende Wunde in seinem Kopf.
»Was hatte der König Euch aufgetragen?«
Euch um Hilfe zu bitten.
»Ich habe gesagt, ich werde alles tun, was ich kann.«
Das ist nicht genug. Ihr müsst bereit sein, ohne Hoffnung zu helfen, ohne an die Kosten zu denken oder Dank zu erwarten. Ihr müsst sehen, wo er nicht sehen kann, hören, wo er nicht hören kann, sprechen, wo er nur Schweigen und Verrat begegnet.
»Aber es war richtig, mich von ihm abzuwenden. Das war von höherem Wert.«
Ihr müsst Euch aufs Neue von ihm abwenden. Ihr kennt nicht die Schrittfolge noch das Tempo des Tanzes, und doch seid Ihr Teil davon. Ihr müsst meinen Platz einnehmen.
Kälte packte sie, wanderte von den Füßen bis hinauf zu ihrem Herzen, während das Licht immer heller wurde. Der Diener Thors, bekleidet mit einem roten Kettenpanzer, glühte so hell und heiß, dass die Eisenstücke, die er in seinen Händen hielt, zu schmelzen begannen. Und sie dachte: Welch eine Verschwendung, dieses Eisen könnte doch umgeschmiedet werden. Vielleicht in ein Schwert?
»Bin ich aus Stein, dass ich dieser Bitte widerstehen könnte?«
Die Antwort war ohne Worte, sie verstand, fürchtete sich aber, überhaupt daran zu denken.
Ihr müsst alles annehmen. Erdulden.
Die Kälte erreichte ihr Herz, und mit letzter Kraft schrie Anne. Doch kein Ton zerriss die Stille. Sie lag auf dem gefrorenen Erdboden des Eichenhains, der pelzgefütterte Mantel hüllte sie wieder ein, ihre Augen waren fest geschlossen.
Deborah massierte ihre Hände, umarmte sie, schüttelte sie und rief: »Kind! Höre mich!«
Anne ahnte die Worte, doch weder hörte noch sah sie etwas. Sie empfand nur Schmerz. Und Angst.
»Anne!«
Deborahs Stimme dröhnte in ihrem Ohr wie der Knall einer Bombarde. Die junge Frau fuhr erschreckt auf, ihr war übel. Erbrochenes ergoss sich auf das Laub am Boden. Sie würgte so heftig und laut, dass die Vögel in den Zweigen erwachten und mit empörtem Kreischen in die heraufziehende Dämmerung flogen.
Weinend hielt Deborah Annes zitternden Körper, die bittere Galle erbrach.
»Genug! Das ist genug. Du bist beinahe gestorben!«
»Aber nur beinahe.« Erschöpft schüttelte Anne den Kopf. »Ich muss zum König.« Es war geschehen, was sie beide so sehr gefürchtet hatten.
»Kannst du aufstehen?«
Anne richtete sich auf und tätschelte abwesend die Hand ihrer Ziehmutter. Arme Deborah. Sie hatte ihr ganzes Leben lang solche Rituale abgehalten, und doch hatte sie Angst vor den Folgen, die ihr Wissen für die Menschen haben könnte. Anne zog den Mantel enger um sich und wandte sich zitternd gen Osten, der aufgehenden Sonne zu.
»Wir müssen gehen, sonst ist das Haus wach, bevor wir zurück sind.«
Die beiden Frauen schleppten den Mittelstein in sein Versteck in einem hohlen Baum zurück, dann bedeckten sie den Quarzkreis mit Laub und trockenem Ginster. Anne sah Deborah an. »Ich werde der Bitte der Herzogin nachkommen. Ich werde ihre Botschaft überbringen und einen Weg finden, wie ich den König zu Herzog Karl führen kann. Ich kann dem Schicksal nicht ausweichen.«
Manchmal, wenn man schließlich genau das tut, wovor man Angst hat, erscheint es plötzlich nicht mehr so schlimm. Deborah hörte sich selbst sprechen - sie klang ruhig, und sie war auch ruhig. »Und dann?«
»Ich weiß nicht.«
War es ein neuer Anfang oder ein Ende? Anne wusste es nicht. War ihre Unwissenheit Segen oder Fluch?
»Mutter? Mutter!«
Jacquetta schreckte aus dem Schlaf auf und griff nach der brennenden Kerze neben ihrem Bett. »Ich komme, Tochter, ich komme.«
Schon seit vielen Jahren war sie nicht mehr nachts von einer verängstigten Stimme aufgeweckt worden, und nun, in der ungewohnten Umgebung, stieß sich die Herzogin einen nackten großen Zeh an einer Truhe an. Vor Schmerz zog sie zischend die Luft durch die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen ein und wurde nun vollends wach. Sie warf sich den Mantel über und suchte tastend nach dem Türriegel zum Zimmer ihrer Tochter.
Die Königin wälzte ihren prallen Leib mühsam in eine aufrechte Position, als sie ihre Mutter kommen hörte. Sie lag auf einem schmalen Bett in einem schmalen Zimmer - der Privatzelle des Abts -, und die Matratze war dünn und klumpig, als sei sie mit Eicheln gefüllt. Als sie noch eine arme Witwe aus Lancaster war, hatte sie schon auf schlechterer Bettstatt geschlafen, aber das war sehr lange her. Jetzt litt die entthronte Königin von England unter Ängsten. Sollte das alles sein, was ihr blieb? Sollte der Rest ihres Lebens so unbequem und trüb aussehen? So hoffnungslos?
»Mutter, wo bist du? Ich kann dich nicht sehen. Ich habe Angst!«
»Nun, nun, mein Kind, alles ist gut. Ich bin hier.«
Elizabeth streckte ihre Hand aus und klammerte sich an die Hand ihrer Mutter. Jacquetta stöhnte vor Schmerzen auf. Die Gicht in ihren Fingern war in der kalten Jahreszeit eine einzige Qual. Plötzlich wimmerte die Königin und schlug die Hände vors Gesicht, Tränen quollen zwischen ihren ringlosen Fingern hervor. »Das Baby ... das sind die Wehen. Er will auf die Welt kommen, aber ich werde sterben, und er wird auch sterben, und der König wird seinen Sohn nie sehen.«
Die Herzogin hörte die Panik in der Stimme ihrer Tochter, aber um diese Zeit waren keine Hofdamen zur Stelle, die sie mit ihrem Schnattern beschwichtigen konnten. Jacquetta hielt ihre Kerze in die Höhe. »Schau mich an, Elizabeth!«
Jacquettas Stimme klang hart und erschreckte die Königin. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und fragte mit bebender Stimme: »Warum seid Ihr nicht freundlicher zu mir, Mutter?«
Jacquettas Verärgerung über ihre schwierige Tochter verebbte. Einst war sie ein bezauberndes kleines Mädchen gewesen, ein Kind, das viel lachte und ihrer Mutter entzückende Küsschen gab. Manchmal, wie auch jetzt, blitzte aus den Augen der erwachsenen Frau die Verletzlichkeit des kleinen Mädchens von einst. Jacquetta seufzte und kauerte sich neben ihre Tochter.
»Weil das weder dir noch mir etwas hilft, und auch dem Baby nicht. Komm, ich helfe dir beim Einschlafen. Du brauchst Kraft für das, was kommt. Erinnerst du dich daran, was ich dir beigebracht habe? Konzentriere dich ... hier, schau auf die Flamme, schau genau hin, wie sie sich bewegt.«
Die Königin zog fahrig eine geflickte Decke um die kalten Schultern und tat schniefend wie ihr geheißen. Im Dunkeln wurden ihre Pupillen übergroß, so groß, dass das Blau der Iris in ihrem Schwarz fast ertrank und das Flackern der Kerze sich in ihren Tiefen widerspiegelte.
»Ja, so ist es gut, Tochter. Sehr gut. Und jetzt hörst du mir zu und wiederholst, was ich sage.«
»Wiederhole, was du sagst.«
Jacquetta lächelte. »Gut, sehr gut. Schau in die Flamme, schau immer in die Flamme. Dem Baby geht es gut, und mir geht es auch gut .«
»Dem Baby geht es gut, und mir geht es auch gut ...«
»Für die Geburt ist noch Zeit, ich kann jetzt schlafen ...«
»Für die Geburt ist noch Zeit, ich kann jetzt schlafen ...«
Die Königin, deren Augen starr auf die kleine Flamme gerichtet waren, gähnte, und ihre Augenlider flatterten. Ihre Züge entspannten sich.
»Ich weiß, dass alles gut wird ...«
»Ich weiß, dass alles gut ...«
Elizabeth Wydeville seufzte und schlief bei den letzten Worten ein, die eine Hand schützend über ihren Leib gelegt.
Jacquetta sah auf ihre Tochter hinab und atmete erleichtert aus. Jedes beschwerliche Lebensjahr hatte seine Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen, aber einst war sie so schön wie die Königin gewesen. Schönheit konnte nützlich, aber auch gefährlich sein. Zärtlich schob sie Elizabeths Hand unter die Decke.
»Alles wird gut, meine Tochter.«
Die Herzogin sah zu dem schmucklosen Betstuhl des Abts hinüber, der in einer Ecke des Zimmers stand. Sie widerstand dem Wunsch, sich hinzuknien und um Hilfe und Ermutigung zu beten. In solch freudlosen Zeiten, wenn der Feind durch die Straßen der Hauptstadt zog und man fast allein auf der Welt war, war es schwer, überhaupt an einen Gott zu glauben.
Ein ketzerischer Gedanke. Und das in der Zelle des Abts. Diese Sünde würde sie bitter büßen müssen.
Ängstlich zerrte Jacquetta an der Kette um ihren Hals und zog das Kruzifix hervor. Sie küsste den Leib Christi, kniete am Bett ihrer Tochter nieder und betete zu einem Gott, an den sie nicht glaubte. Sie bat ihn um Trost und Hilfe, etwas, das sie zeit ihres Lebens nie wirklich hatte erfahren dürfen. Als selbst auferlegte Buße beschloss sie, auf die Wärme ihres Bettes zu verzichten. Ihr Entschluss war von Schuldgefühlen geleitet und sollte ihre Ängste in Schach halten. Den Rest dieser schweren Nacht betete sie den Rosenkranz und lauschte dem Stöhnen ihrer schlafenden Tochter, der entthronten Königin. Wenn es einen Gott gab, so würde er ihre Gebete vielleicht erhören. Was hatte sie zu verlieren? Was hatten sie alle zu verlieren, was nicht schon längst verloren war?
Louis XI., König von Frankreich, war von Höflingen umgeben, die schworen, er sei der schönste Mann auf Erden. Er wusste, dass sie logen, und manchmal, wenn er guter Stimmung war, belustigte es ihn, wie weit ihrer Unterwürfigkeit reichte, wenn sie seine Gunst gewinnen wollten. Und da sie die ganze Zeit um seine Gunst buhlten, übertrafen sie sich gegenseitig darin, wann immer er sie bat, sein Aussehen zu beschreiben, ihn einen Adonis, einen wahrhaften Apollo zu nennen. Unglücklicherweise verlor das Spiel schnell seinen Reiz, denn Louis ergötzte sich zwar an der menschlichen Dummheit, zeigte sie doch seine Überlegenheit, aber er ärgerte sich über die darin enthaltene Verachtung. Begriffen diese Narren denn nicht, dass er genau wusste, wie er aussah? Er mochte sein eigenes Gesicht nicht anblicken und vermied es deshalb, in Spiegel zu sehen. Vor allem die Länge und Form seiner Nase beleidigten sein Auge, aber dagegen konnte man eben nichts machen. Die Nase, mit der er geboren wurde, würde ihn begleiten bis ins Grab - außer Lepra fräße sie ihm weg. Er hatte eine krankhafte Angst vor Lepra und anderen schrecklichen Krankheiten. Bei diesem Gedanken schlug der König ein Kreuz und berührte das Fingerknöchelchen des heiligen Louis, einer seiner Vorfahrn, das in einem mit Golddraht umwickelten, kleinen Malachitschrein an seinem Hals hing. Im Gegensatz zu anderen Männern - Edward Plantagenet, zum Beispiel - wurde Louis kaum von sexueller Be-gierde geplagt, trotzdem, auch er war ein Mann. Und da seine Ehefrau ihn nicht sonderlich anzog, nahm er wie die meisten Männer die Gefahr der Ansteckung auf sich und vergnügte sich gelegentlich mit anderen Frauen.
Hätte auch nur einer seiner Höflinge die Kühnheit besessen, ihm zu sagen, sein unstillbares Verlangen nach Vernichtung seiner beiden Erzfeinde - Edward Plantagenet und Karl von Burgund - rühre eigentlich daher, dass er sie um ihr blendendes Aussehen beneidete, und weniger, weil er ihr Land begehrte, wäre der König in lautes, zynisches Lachen ausgebrochen und hätte das Thema gewechselt. Diese Behauptung stimmte natürlich. Louis, der verschlagene, scheinheilige, schlaue Louis, war eifersüchtig auf seine Gegner, auf ihr Aussehen und auf ihre einnehmende Ausstrahlung. Und da er ein kaltes Herz hatte und von den Menschen, die ihn umgaben, kaum Aufrichtigkeit erwarten konnte, war es ein Leichtes, sich selbst, seinen Hof und seine Verbündeten davon zu überzeugen, dass Edward, der Thronräuber, und Karl, der verräterische Herzog und sein Cousin, die vollkommene Vernichtung verdienten. Die Begründung dafür war einfach: Sie stellten sich seinem Willen entgegen, dem Willen des geweihten Königs von Frankreich und der Franzosen. Und nie zuvor war die Gelegenheit so günstig gewesen, beide mit einem Streich zu erledigen. Edward war aus seinem Königreich vertrieben worden, und Karl war durch den Verlust seines wichtigsten Verbündeten gegen die Franzosen entscheidend geschwächt. Das war gut, sehr gut. Trotzdem konnte Louis an diesen Umständen keine richtige oder dauerhafte Freude empfinden, obwohl er selbst viel und seine Untergebenen noch mehr dafür getan hatten, diese Umstände herbeizuführen. Eigentlich konnte er sich fast nie über etwas freuen. Das Leben war beschwerlich und lästig wie immer.
»Das ist unerträglich! Ich habe Asche in meinem Auge!«
Es war November, und von Norden her wehte ein kalter
Wind. Louis wickelte sich seine Gewänder enger um den Leib und rief nach den Dienern, damit die das qualmende Feuer richteten. Louis, der das ganz Jahr hindurch rastlos sein Königreich zu bereisen pflegte, weilte zur Zeit in dem für Pariser Maßstäbe primitiven Schloss in der Provinzhauptstadt Reyns. Seine gelangweilten und missmutigen Höflinge waren es leid, jetzt, da der Winter durch das Land zog, selbst auf den einfachsten Komfort verzichten zu müssen. Sie gierten nach jeder Art von Ablenkung, die die endlose Eintönigkeit ihrer Tage durchbrechen konnte.
Und dann geschah wirklich etwas. Ein Gerücht streifte durch das zugige, alte Schloss: Ein berittener Bote sei gekommen und würde gerade, erschöpft wie er war, eine Audienz beim König erhalten. Vielleicht brachte er Nachrichten, die den König auf andere Gedanken bringen und seine Missstimmung zerstreuen würden. So hofften die Höflinge. Waren die Nachrichten gut, würde der König vielleicht Komödianten bestellen, die sie alle aufheiterten. Aber heitere Gedanken lagen nicht in Louis' Natur, und an diesem Tag war noch nichts geschehen, was seine pessimistische Grundstimmung hätte erschüttern können. Er schob seine lange Unterlippe hervor und schniefte. Vom Qualm des eigensinnigen Feuers tränten seine Augen, und sein Blick war getrübt, als er den Mann betrachtete, der vor ihm stand.
»Genug!«, herrschte er die Dienerschar an, die sich mit zunehmender Panik am Feuer zu schaffen machte. »Ich werde diese Audienz abhalten und danach dinieren. Wenn ich in dieses Zimmer zurückkomme, wird das Feuer brennen. Aber ordentlich. Und nun verschwindet!«
Es war wie ein Wunder, wirklich. Bei einem bestimmten Ton stoben die Menschen auseinander wie Blätter im Wind. Diese Wirkung hatte für Louis etwas Befriedigendes, selbst noch nach neun Jahren Herrschaft. Eigentlich seltsam, dass schon unbedeutende Worte aus seinem Mund so ernst genommen wurden.
Man lief leicht Gefahr, dies für selbstverständlich zu nehmen. Aber wenn man an das Schicksal anderer dachte - Edward Plantagenets, zum Beispiel, oder seines eigenen Vaters -, dann wusste man, dass auch die Mächtigen, sogar ein König, fallen konnten. Man musste allzeit vor Verrätern auf der Hut sein. Das war mühsam, aber notwendig.
Louis drehte sich zu den spärlichen Flammen im Kamin um und rieb sich die Hände in der dürftigen Wärme. »Sprecht, Mann. Was habt Ihr mir zu berichten?«
Der Bote, Riccard von Polignac, war von dem langen, eisigen Ritt bis auf die Knochen erschöpft. Als er nun vor den König geführt wurde, sickerte das Entsetzen über seinen Rücken bis hinab zu seinem zuckenden Schließmuskel. Seine Beine verwandelten sich in knochenlose Fleischwülste. Sein Herzschlag dröhnte in den Ohren, und er sehnte sich nach dem Augenblick, wo er der königlichen Gegenwart entkommen und sich in die Anonymität des Pariser Garderegiments zurückziehen könnte. Falls er die Nachrichten, die er überbringen musste, überhaupt überlebte.
»Sire, der Erfolg Eures Feldzugs in Picardy und Maconais ist unübertroffen. Eure Truppen sind an den Grenzen Burgunds zusammengezogen und erwarten Euren Befehl, um loszuschlagen. Doch ich habe wichtige Neuigkeiten, das Schicksal des ehemaligen Königs von England betreffend.«
Während der Mann berichtete, atmete Louis, um seine Anspannung zu verbergen, so tief ein, dass sich seine Lungen mit Qualm füllten. Einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen. Sein Gesicht wurde puterrot, Schweiß perlte auf seiner Stirn, und er rang nach frischer Luft.
Ohne zu überlegen, machte Riccard einen Satz nach vorn und klopfte den König beherzt auf den Rücken. Beide Männer waren starr vor Schreck und starrten einander entsetzt an. Der Bote hatte gegen die geweihte Person des Monarchen die Hand erhoben. Für diese Unverschämtheit konnte ihn ein qualvoller, langsamer Tod erwarten.
Riccard, der sofort die Schwere seines Vergehens begriff, warf sich zu Boden, raufte sich die Haare und blickte wild um sich. »Ach, Sire, verzeiht mir! Ich flehe Euch an, verzeiht mir!« Er schlug mit der Stirn so hart auf den Boden, dass auf dem Kalkstein ein blutiger Fleck zurückblieb.
Der König kam wieder zu Atem und staunte über die Absurdität des Geschehens. Natürlich war er zusammengezuckt, als der Bursche auf ihn zustürzte - er hätte ein Meuchelmörder sein können. Doch als sein hämmerndes Herz wieder ruhiger wurde, war er froh über die Hilfe des Boten, hatte doch die Angst seine Brust so zusammengepresst, dass der Qualm entwichen war.
»Steh auf. Steh auf, du Narr!«
Riccard, noch ganz benommen, erhob sich, stolperte und suchte Halt am Saum eines Wandteppichs. Mit einem ächzendes Geräusch löste sich der morsche Gobelin aus seiner Befestigung, und dann war der Bote vollständig von Moses, das Rote Meer teilend verhüllt. Zu des Königs Füßen lag ein keuchender, zuckender Haufen Torheit.
»Wie lautet die Botschaft?«, kreischte der König. »Sprich, oder ich schwöre, dass du deinen Vorfahren bald Gesellschaft leisten wirst in dem Schweinestall, in dem sie residieren. Sprich!«
Armer Riccard. Hätte der sofortige Tod ihn aus seiner Qual erlöst, hätte er der Drohung des Königs nur zu gern nachgegeben, aber das sollte nicht sein. Er klappte den Mund zu, um sich des Staubs von Jahrzehnten zu erwehren, der in dem Gewebe hauste, entdeckte einen schmalen Lichtspalt und rutschte bäuchlings unter dem Teppich hervor. Er richtete sich auf und sah die schrecklichen Augen des Königs auf sich gerichtet. Im ersten Moment wollte ihm die Stimme versagen, aber dann sprudelte die Nachricht wie ein Hagelschauer aus ihm hervor.
»Der englische König, Sire, oder Graf von March, wie er jetzt heißt - er wohnt im Rittersaal des Mijnheer de Gruuthuse, Gouverneur von Holland. Der Graf ist der Gefangene des Gouverneurs, aber er weiß es nicht.«
Louis besaß auch Mitgefühl, obwohl er es selten zeigte. Also sah er weiterhin mit pfeilspitzen Blicken auf das geneigte Haupt des Riccard von Polignac und nahm von dem Blut, das vor ihm auf den Boden tropfte, keine Notiz. »Und? Noch etwas?«
Die Stimme des Boten bebte. »Ja, Sire. Aber das steht in diesem Brief, der erst entschlüsselt werden muss. Ich kann nur die groben Fakten wiedergeben.«
Mit zitternder Hand hielt Riccard ein verschlossenes Messingröhrchen hoch. Der König beugte sich vor und entriss es ihm. »Das kann ich verstehen«, schnaubte er, »einem größeren Narren bin ich selten begegnet. Aus meinen Augen! Geht!«
Die gnädige Entlassung durch den König verwirrte den armen Riccard. Er hatte gehört, dass Louis ein sehr grausamer König war und seine Lieblingsbeschäftigung darin bestünde, Gefangene in eisernen Käfigen von den Zinnen seiner Schlösser baumeln zu lassen. Dort mussten sie in Wind und Wetter ausharren, ohne Essen und Trinken, bis sie endlich tot waren und ihre Gebeine im Wind klapperten, manchmal viele Jahre lang. Riccard entfernte sich hinkend und buckelnd aus dem Raum, bevor der König seine Meinung ändern könnte.
Der König sah den Trottel eilig verschwinden und gestattete sich ein kurzes, hämisches Lächeln. Er strich über den kleinen Behälter mit der verschlüsselten Botschaft. Vielleicht konnte er jetzt endlich seinen lieben Cousin Karl in die Enge treiben. Das Schicksal des einstigen englischen Königs spielte dabei eine wichtige Rolle. Teile und herrsche, teile und herrsche, dachte Louis. Eine vernünftige Maxime, die er einem anderen Herrscher zu verdanken hatte, allerdings einem römischen Herrscher längst vergangener Zeiten. Nun musste sein Doktor Allwissend ihm nur noch die Karten legen, vielleicht konnte er sogar die Zukunft Englands voraussagen. Ja, das sollte ihm helfen, eine Entscheidung zu treffen.
Sollten die Schicksalsgöttinnen, jene drei unversöhnlichen Schwestern, tatsächlich ihn, Louis de Valois, dazu bestimmt haben, den endgültigen Niedergang des Edward Plantagenet herbeizuführen?
Er hoffte es inständig.
In den kalten Novembertagen ritten Edward Plantagenet und sein Gastgeber, Louis de Gruuthuse, auf die Hirschjagd. Sie durchstreiften ein Jagdrevier, das Louis als Gouverneur der Niederlande zum privaten Gebrauch bekommen hatte und das früher Teil des riesigen Wildreservats der Grafen von Holland gewesen war. Doch Edward war unruhig.
»Irgendetwas stimmt nicht. Das weiß ich. Warum haben wir noch nichts von Karl gehört? Schon mehr als zehn Tage sind vergangen. Mein Bote müsste ihn längst erreicht haben und wieder zurück sein. Bei dieser Kälte sind die Wege hart und gut pas sierbar.«
Die beiden Männer warteten, dass die Hunde das Wild aufspürten. Edwards Pferd scheute nervös vor einem Schatten im Unterholz zurück.
»Oh, Majestät, ich dachte, Ihr hättet ein besseres Tier bekommen!«, sagte Louis verärgert. Es war ihm ein echtes Anliegen. Der König ritt einen grauen Hengst mit gestutztem Schweif, breiter Brust und langen, feingliedrigen Beinen. Das Pferd war eher für schnellen Galopp als für schwere Lasten gebaut. Womöglich hatte er die falsche Wahl getroffen.
»Nein, das Tier ist ausgezeichnet. Es hat ein starkes Herz, ich glaube, es ist nur noch ein bisschen jung und launisch. Ich werde ihm die überschüssige Kraft schon noch austreiben.«
Louis tätschelte den gestriegelten Nacken seines eigenen Pferdes, ein stattlicher Brauner, der ruhig auf den Fortgang der Jagd wartete. »Darf ich Euch mein Pferd überlassen, Euer Gnaden? Erlaubt, dass ich ihm selbst den Übermut austreibe. Das ist das Wenigste, was ich für Euch tun kann.«
»Nein, Louis, ich komme mit ihm schon zurecht. Und ich weiß es sehr zu schätzen, dass Ihr mir solch eine vorzügliche Zerstreuung bietet. Aber meine Männer sind genauso unruhig wie ich. Die Zeit verfliegt, und das Wetter wird schlechter. Warum hat Karl uns immer noch nicht über seine Pläne informiert?«
Weit drinnen im Revier schlugen die Hunde an, was Mijnheer de Gruuthuse eine Antwort ersparte, denn die ungeduldig tänzelnden Pferde erforderten die ganze Kraft und Aufmerksamkeit ihrer Reiter.
»Kommt, Majestät, vielleicht finden wir bei unserer Rückkehr Neuigkeiten vor. Doch jetzt ...« Die Jagd war anstrengend, sie dauerte ungewöhnlich lang, und letztendlich gingen die Jäger leer aus. Der Hirsch, ein prachtvolles Tier mit mindestens zwölf Enden, rettete sich in ein Flüsschen und entkam den Hunden und der Hofgesellschaft, die Edward und seinen Gastgeber begleiteten. Der König fühlte sich dafür verantwortlich, denn er hatte die Jagdgesellschaft angeführt. Sein übernervöses Pferd hatte sich plötzlich vom Hundegebell verwirren lassen und hatte beim Überspringen eines gefällten Baumstammes gescheut, was bei seinen Hintermännern ein Durcheinander ausgelöst hatte. Just in diesem Moment war der Hirsch entkommen.
Das war ein besonders schwerer Schlag für Edward, dem das Jagdglück immer hold gewesen war. Er war sehr enttäuscht, ließ sich beim abendlichen Festmahl aber nichts anmerken.
Lachend meinte er: »Ach, Louis, mein Jagdglück hat wohl etwas gelitten nach den Schrecken der vergangenen Wochen. Der Herrscher des Waldes, Euer Rothirsch, muss weiter mit Euren Hunden rechnen - das nehme ich als gutes Zeichen für meine eigene Sache!« Louis de Gruuthuse und die anderen Höflinge an der Ehrentafel des Rittersaals stimmten in das Lachen mit ein. Insgeheim aber graute Louis vor dem Ende des Mahls. Er hatte endlich Nachricht bekommen - Nachricht, die er dem König noch übermitteln musste. »Trink, trink nur ordentlich«, sagte er zu sich selbst, »denn er brauchte Mut für das Kommende.«
Edward schlenderte zum Feuer und stellte sich neben seinen Bruder Richard von Gloucester und neben William Hastings, die sich den Rücken wärmten und mit Honig gesüßten Wein tranken. Sie befanden sich in den Privatgemächern von Louis de Gruuthuse. Die Nacht war kalt, und vor den dick verglasten Fenstern fiel der erste richtige Schnee. Edward ließ sich von seinem Gastgeber noch einmal einschenken und stieß mit dem Fuß gegen einen mächtigen Holzscheit im Kamin. Wie als Antwort auf eine Ungehörigkeit wehte ein Windstoß Funken und Rußflocken durch den Abzug. Der König drehte sich um und wischte sich den Ruß aus den Augen.
»Verdammt, Louis. Weiß denn niemand in diesem Land, wie man einen ordentlichen Kamin baut? Alles ist voller Qualm!«
»Ich kann Euch nur beistimmen, Euer Gnaden! In diesem Land gibt es einfach nicht so gute Ofenbauer wie bei Euch. Ich habe mir einen Engländer nach Brügge kommen lassen, der sämtliche Öfen in meinem neuen Haus gesetzt hat.«
»Und hoffentlich stehen wir noch vor Ablauf der Advents-zeit an unserem eigenen Kamin in der großen Halle von Westminster, Bruder!«
Edward wandte sich lächelnd seinem Bruder zu. »Welch ein vorzüglicher Gedanke, Richard. Ja, das wollen wir! Kommt, Louis, darauf lasst uns trinken. Auf London und den größten Weihnachtsbaum, den man je gesehen!«
»Amen, Euer Majestät. Möge Euer Wunsch in Erfüllung gehen!«
Ein tiefer Schluck, dem ein kräftiges Rülpsen folgte, dann ein Lachen aller vier Männer. Alles schien in diesem Augenblick möglich. Doch nur in diesem Augenblick, denn als das Lachen verstummte, trat Louis vor und reichte dem König eine Schriftrolle.
»Ich denke, Ihr solltet das lesen, Euer Gnaden. Es kam heute Abend, als wir beim Essen saßen. Ich habe es bereits gelesen.«
Ein erfreutes Lächeln machte sich auf Edwards Gesicht breit, als er nach dem Schriftstück griff. Er drehte sich zum Feuer und beugte sich ein wenig nach vorn, um mehr Licht einzufangen.
Die anderen drei Männer waren still, wie unbeteiligt, nur Richard sah verstohlen zu seinem Bruder hin. Edward verzog in den wenigen Sekunden, die es brauchte, den Brief zu lesen, keine Miene. Als er fertig war, ließ er das Velin ins Feuer fallen und sah schweigend zu, wie es sich erst kräuselte, dann schwarz wurde und verbrannte. Dann sah er seinen Gastgeber an, seine Augen lagen tief in den Höhlen, unergründlich. »Ehrliche Worte von Karl, Louis. Aber nichts von Bedeutung, meint Ihr nicht auch?«
Louis de Gruuthuse zuckte unbehaglich die Achseln. Er hätte manches Beruhigende sagen können, aber es wäre nicht die Wahrheit gewesen. »Euer Majestät, Ihr müsst meinem Herrn noch ein bisschen mehr Zeit lassen. Wie Ihr wisst, befindet er sich in einer höchst schwierigen Lage. Der französische König klopft mit seinen Truppen an sämtliche Pforten Burgunds und ...«
»Zeit!« Nun verriet Edward doch etwas von seinen Gefühlen. »Zeit, mein lieber Louis, genau die habe ich nicht. Und das weiß Karl! Er ist ein Narr, wenn er glaubt, der König von Frankreich würde sich zurückziehen. Das wird erst geschehen, wenn ich England zurückerobert habe. Wenn Margaret und Warwick ihre Macht erst einmal konsolidiert haben, dann ist Burgund verloren. Louis wird sich eine Provinz nach der anderen einverleiben. Und Karl wird keinen starken Verbündeten wie England haben, der ihm zur Seite steht.«
Im Stillen musste Louis de Gruuthuse seinem Gast zustimmen, aber für solche Wahrheiten war jetzt nicht die Zeit. Seine Pflicht war, das Spiel so zu spielen, wie sein Herr, der Herzog von Burgund, es zu spielen wünschte - mit Vorsicht.
»Warum möchte Euer Herr mich nicht in Brügge empfangen?«
Louis lächelte leicht. »Ach, Majestät, ich vermute, er sorgt sich um Eure Sicherheit, da die Franzosen das ganze Land unsicher machen. Ihr wäret ein kostbares Beutestück.« Aber als er den skeptischen Gesichtsausdruck und den starren Blick des Königs wahrnahm, seufzte Louis und sagte wahrheitsgemäß: »Vielleicht möchte er auch nicht von Euch überwältigt werden. Ihr seid ein Gegner, der schwer zu bezwingen ist.«
Edward schnaubte und bleckte für einen Augenblick die Zähne, es sah fast aus wie ein Lächeln. Dann ließ er die Schultern sinken und starrte wieder in die Flammen. »Wir sind also nicht weitergekommen, aber auch nicht zurückgefallen. Noch ist nichts verloren. Noch besteht Hoffnung für unsere Sache.« Schweigen. Nur das Knistern des Feuers war zu hören, als der letzte Pergamentfetzen aufflammte und sich in einen dünnen Rauchfaden verwandelte.
»Wünschen Euer Majestät zu ruhen?«, fragte Louis de Gruuthuse und verneigte sich.
Die aufrichtige Achtung, die er Edward zuteil werden ließ, war für diesen nur ein schwacher Trost, denn er musste seinen Männern Mut machen. In der Schlacht war das einfacher - das Schwert oder die Streitaxt schwingend die Angst zu bezähmen, das war ein lange eingeübter Reflex. Da war keine Zeit, über richtig oder falsch nachzudenken, da hieß es handeln. Das zähe Ringen der Politik verlief nach ganz anderen Regeln. Nicht körperliche Überlegenheit zählte, der ganze Mensch wurde auf den Prüfstand gestellt. Edward hob den Kopf und lächelte seinen Gastgeber herzlich an, diesmal war sein Lächeln echt. »Aber sicher, mein lieber Freund«, antwortete er gähnend und hakte sich bei Louis de Gruuthuse unter. »Wisst Ihr, Louis, wenn Ihr uns einmal in London besucht, werdet Ihr eine hübsche Anekdote zu erzählen haben. Wie der König eines Abends zu Bett ging und am nächsten Morgen mit der Lösung seines kleinen Problems erwachte.« Edward lachte, und bei seinem unbeschwerten Ton mussten Richard, sein Bruder, und William, sein bester Freund, erleichtert kichern. Sie fassten neuen Mut. Es würde einen Ausweg geben, es gab immer einen Ausweg.
Doch später, als Edward allein in dem großen Bett lag und in die Dunkelheit starrte, drehte und wendete er die offenen, harten Worte seines Schwagers hin und her. Sah er denn nicht die Gefahr, in der er schwebte, wenn er Edwards Schicksal dem Zufall überließ? Oder wollte er sie nicht sehen? Und seine Schwester, die Herzogin, stand sie auf der Seite ihrer Familie, oder hatte ihre leidenschaftliche Liebe für ihren Gemahl sie ihre Herkunft vergessen lassen? Edward dachte an die Hochzeit, die noch nicht lange zurücklag, und erinnerte sich bitter der zitternden Hand seiner Schwester, die er nach dem Trauungsgottesdienst in der Kathedrale von Damme in die Hand ihres frisch angetrauten Gemahls gelegt hatte.
Und Anne. Seine Anne. Warum spürte er noch immer diese Sehnsucht nach ihr, nach ihrer Berührung, obwohl so viel auf dem Spiel stand?
Die Begierde des Fleisches war eine willkommene Ablenkung, und wenn er von Anne träumte, sich ihr Gesicht und ihren Körper vorstellte, dann geriet sein Blut in Wallung. Vielleicht war das eine Gnade Gottes, um ihn von der unendlichen Anspannung dieser Tage zu erlösen. Ein ketzerischer Gedanke! Die Geistlichen wären entsetzt, würden sie davon in der Beichte erfahren. Und doch, gerade so konnte es sein.
Ja. Gott war barmherzig, denn das Letzte, was Edward sah, bevor der Schlaf ihn übermannte, waren Bilder von Anne. Sie lachte, streckte ihre Hand nach ihm aus, küsste ihn auf den Mund. Die Schreckensbilder von Niederlagen und Demütigungen, die ihn in den vergangenen Tagen heimgesucht hatten, waren vergessen.
Leif legte ein Scheit in das Feuer, das er in Annes Arbeitszimmer entfacht hatte. Dann legte er noch ein zweites nach. Dabei hob er vorsichtig die darunterliegenden Späne an, damit Luft daran käme und die Flammen Nahrung fänden. Es war kalt in dem kleinen Zimmer, aber wenn er ordentlich anheizte, würde es schnell warm werden. Beim ersten Licht des Morgens hatte er Holz für sämtliche Feuerstellen im Haus gehackt. Wohin er auch sah auf dem Hof, überall waren halb angefangene Arbeiten für die Winterzeit. Anne brauchte mehr Männer und jemanden, der sie beaufsichtigte, sonst würde sie nur ausgenützt werden. Daran mochte er gar nicht denken. In den Tiefen seiner Seele wünschte er, dass die Herrin dieses Hauses in Wärme und Sicherheit lebte. Er schüttelte den Kopf, er machte sich etwas vor. Mochte er so viel Holz stapeln, wie er wollte, dieser Winter würde für Anne de Bohun weder warm noch sicher werden.
Anne, die unbemerkt unter der Tür stand, beobachtete Leif und musste unwillkürlich lächeln. Für einen so stattlichen Mann machte er seine Arbeit sehr gefällig, und er war stolz auf den sauberen Holzstapel, den er neben dem Kamin aufgeschichtet hatte.
»Danke für das Feuer, Leif, und für das ganze Holz, das Ihr gehackt habt. Wir werden es gut brauchen können.«
Der Seemann drehte sich überrascht um. Anne lächelte, setzte sich auf einen Stuhl und nahm den Krempelkamm zur Hand. Vor ihr in einem Korb lag ein riesiger Haufen unverspon-nener Wolle. Sie bückte sich und nahm einen Strang. »Jetzt steht wahrlich der Winter vor der Tür. Heute ist es kalt.«
Leif nickte und speiste weiter das Feuer. Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie, wie sie die Wolle in lange Strähnen zum Spinnen teilte. Anne sah von ihrer Arbeit hoch und fing seinen Blick auf.
»Und - über Land? Oder ist der Seeweg besser? Was meint Ihr?«
Der Seemann zuckte die Achseln, dabei spannte sich der Stoff an seinen gewaltigen Schultern. »Auf dem Wasserweg ist es einfacher, wenn man von der Jahreszeit absieht. Die Alternative wäre, nun ...« Viele Tage in Wind und Wetter auf halb befestigten Pfaden und überall Wegelagerer, das hatte er sagen wollen.
»Ihr habt recht«, sagte Anne. »Der Seeweg ist besser für uns. Wann seid Ihr bereit zum Aufbruch?« Ihr Ton klang geschäftsmäßig und ganz so, als sei alles längst entschieden, was aber keineswegs so war. Die Lady Margaret, die im Hafen von Sluis lag, dem Brügge am nächsten gelegenen Seehafen, stand unter Leifs
Kommando. Aber sie war ein wertvolles Handelsschiff, über das weder Anne noch Leif verfügen konnten. Sie gehörte Sir Mathew Cuttifer, Annes Gönner und ehemaligem Arbeitgeber, und das war beiden bewusst. Schweigend starrten sie eine Weile ins Feuer.
Leif beugte sich vor und legte noch ein weiteres Scheit in die Flammen, die ohnehin schon munter prasselten. »Wir sind fast bis oben hin mit Waren beladen, die mein Herr in London erwartet. Es fehlen nur noch die letzten Ballen Damast und einige Kisten Majolika.«
Er war hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht gegenüber Mathew Cuttifer und seinen uneingestandenen Ängsten um diese Frau. Und wenn er an den ehemaligen König dachte, loderte er innerlich vor Zorn. Edward Plantagenet hatte keine Ahnung, es interessierte ihn überhaupt nicht, wie viele Leben er mit seinem Ehrgeiz und seiner Leichtfertigkeit aufs Spiel setzte. Auch das Leben von Anne. Das Mädchen empfand etwas für den König, das spürte Leif. Immer, wenn sie von Edward Plantagenet sprachen, senkte sie ihren Blick. Die Gerüchte waren also wahr.
Leif betrachtete Annes Profil. Sie starrte in die Flammen, und ihre Hände lagen untätig in ihrem Schoß. Er seufzte. Wenn dieses Mädchen wirklich gehen wollte, dann würde er mitgehen, Feuerholz hin oder her. Seine Stimme klang rau vor Wut, als er sagte: »Um Eure Frage zu beantworten, ich glaube, der Seeweg ist etwas günstiger. Ich tue es nicht gern, aber ich bin einverstanden, dem König zu helfen. Mein Herr ist ein Freund von Edward Plantagenet, und Freunde sind diesem nur wenige geblieben. Dafür hat Graf Warwick gesorgt.«
Mit einem Mal tropften Tränen auf die Spindel in Annes Fingern. Ihr Stimme bebte, und sie atmete schwer.
»Ihr seid ein guter Mensch, Leif Molnar. Ich bin sehr dankbar für Eure Hilfe.« Unbewusst hatte sie »ich« gesagt, wo sie doch »wir« hätte sagen sollen. Verlegen ließ Anne die Spindel fallen und eilte hinaus. Es war nicht das erste Mal, dass sie das Gewissen quälte und sie dachte, wenn Edward nicht wäre, dann könnte dieser Mann, dieser gute Mensch, ihr mehr bedeuten. Sie mochte ihn, und manche sagten, mehr brauchte es nicht. Und Anne de Bohun wusste, wusste besser als Leif, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, und Leif würde sie ergreifen und nicht mehr loslassen. Nie mehr.
Sie schüttelte den Kopf und verscheuchte diese Gedanken. Das Bild eines geborgenen, glücklichen Heims und eines richtigen Vaters für ihren Sohn wollte sie gar nicht erst entstehen lassen, nicht einmal für einen kurzen Moment. Sie hatte in ihrem Leben schon zu viel Gefühlsaufruhr erlebt, sie brauchte nicht noch mehr davon.
Wenn Leif einmal sein Wort gegeben hatte, dann gab es für ihn nichts anderes mehr. Seitdem er Cuttifers Handelsschiff zur Unterstützung von Edward Plantagenet angeboten hatte, schuftete der Däne wie ein Sklave, um in Sluis genügend Lagerraum zu finden, wo er die Fracht seines Herrn zwischenlagern konnte. Er hatte zwar das Schiff zur Verfügung gestellt, wollte aber bei den Waren kein Risiko eingehen. Das war keine leichte Aufgabe. In den Lagerhäusern häuften sich die Handelsgüter aus Brügge und warteten darauf, im Frühjahr verschifft zu werden. Lagerraum war teuer und schwer zu finden. Außerdem musste Leif neue Fracht suchen und kaufen, um als Tarnung für die Reise den Laderaum zu füllen.
Schließlich wurde der Bauch der Lady Margaret mit Tuchballen aus Annes eigenen Vorräten gefüllt und mit Fässern aus Weidenholz voll guter, weißer Butter von der Riverstead Farm. Die Hafenarbeiter in Sluis staunten nicht schlecht, dass Butter und Wolltuch nach Norden in andere niederländische Provinzen verschifft werden sollten, besaßen diese doch selbst über-reichlich davon. Doch der Kapitän der Lady Margaret ließ sich von ihren Scherzen nicht irre machen. Er biss die Zähne zusammen und trieb sie zur Eile an. Er versprach ihnen sogar eine extra Portion Gruuthuse-Bier, wenn sie die Fracht bis zum Abend ver laden hätten.
An einem kalten, trüben Novembermorgen lief das kleine Schiff an den Wellenbrechern des Hafens von Sluis vorbei. Es war ein trauriger Abschied gewesen. Anne stand mit rot geweinten Augen an Deck. Sie hatte ihre Tränen zurückhalten können, bis sie sich von ihrem Sohn verabschiedet hatte, der bei Deborah in sicherer Obhut blieb. Trotz ihres mühsamen Lächelns und ihrer beruhigenden Worte hatte der kleine Knabe irgendwie begriffen, dass Anne für lange Zeit fortbleiben würde. »Geh nicht fort. Nein. Bleib hier!« Er hatte geweint, als sie ihn am Vorabend der Abreise in ihrem eigenen Schlafzimmer zu Bett gebracht hatte. Sie liebte ihn für diesen kurz aufflackernden Trotz, hatte ihm aber mit elterlicher Vernunft geantwortet.
»Aber du darfst hier in meinem großen Bett bei Deborah schlafen, bis ich zurückkomme. Das wird bestimmt herrlich, mein Liebling.«
»Nein. Bleib bei Edward. Bleib hier!« Sein Schluchzen brachte sie zum Wanken.
»Aber, aber, mein Schatz, nicht weinen. Ich bringe dir auch ein ganz besonderes Geschenk von der Reise mit.«
Bei diesen Worten hatte der Kleine sich etwas beruhigt. Er liebte Geschenke über alles. »Ich will ein blaues Pferd.« Das sagte er sehr bestimmt und sah sie dabei aus verweinten Augen an. »Ein riesiges, blaues Pferd. Ganz für mich allein. Ich bin jetzt ein großer Junge.«
»Ein blaues Pferd? Nun gut.«
Die Tränen lösten sich in Schluchzen auf. »Wirklich? Ein richtig blaues Pferd? Woher kriegst du das?«
»Ich habe sehr kluge Freunde. Wir werden dein Pferd schon finden. Wie soll es denn heißen?«
Edward gähnte und kuschelte sich unter die Bettdecke. »Ach, ich weiß noch nicht. Einen ganz besonderen Namen soll es haben.« Das sagte er sehr stolz, und gleichzeitig fielen ihm die Augen zu. Anne saß die ganze Nacht neben ihm und streichelte seine hohe, klare Stirn. Das Herz wollte ihr zerspringen. Vielleicht würde sie dieses Kind nie mehr wiedersehen.
Die Wellen klatschten gegen das Schiff. Anne dachte lächelnd an den Wunsch ihres Sohnes und schüttelte den Kopf. Ein blaues Pferd? Warum nicht? Wenn sie das Unmögliche möglich machen konnte, wenn sie Edward nach Brügge zum Herzog bringen konnte und das Ganze auch noch überlebte, dann sollte es ein Leichtes sein, ein blaues Pferd zu finden.
Ein stechender Schmerz in ihrer Brust nahm ihr plötzlich den Atem. Sie zitterte. Wenn ich auf dieser Reise sterbe, lass das Kind leben. Ach, Mutter aller Menschen und Dinge, bitte lass das Kind leben.