Kapitel 57

Der Maifeiertag war ein einziges großes Fest im Dorf. Die Tage wurden länger, und es war endlich etwas wärmer. Blühende Weißdornzweige zierten den Eingang zu der kleinen, normannischen Kirche. Bienen ließen sich laut summend in die welkende Blütenpracht fallen und kamen mit Pollen beladenen Beinchen wieder hervor. Vielleicht stand ihnen ja doch ein fruchtbares Jahr bevor.

Es war ein gutes Omen für die Zukunft, dass Anne die Mönche von Appleforth, die früheren Besitzer von Wincanton the Less, dazu hatte bewegen können, ihnen jeden Sonntag einen Pfarrer zu schicken, bis die Pfarrstelle wieder besetzt sein würde. Anne hatte entdeckt, dass sie als Gutsherrin auch die Pfründe für das Kirchspiel besaß. Allerdings war es zeitaufwändig, einen geeigneten Pfarrer zu finden, und sie hatte den Mönchen zu verstehen gegeben, dass gegen ihren Willen niemand dem Dorfauf-gezwungen werden würde. Die Mönche waren entsetzt, als sie erfuhren, wie vernachlässigt die Gemeinde seit dem Tod des alten Pfarrers war. Es gab manche Unregelmäßigkeiten, die der Korrektur bedurften: Mehrere Paare lebten ohne den Segen der Kirche zusammen, und auch uneheliche Kinder waren zur Welt

An diesem Maimorgen zogen daher alle Dörfler zu der gedrungenen Kirche mit dem massiven Turm. Zuvorderst drei junge Paare, zwei von ihnen mit Säuglingen. Und dort unter dem niedrigen Kirchenportal sprachen die Männer der drei Paare ihr Ehegelübde. Sorgfältig wiederholten sie die Worte, die der Pfarrer ihnen vorsagte. Die Mütter pressten ihre Säuglinge eng an sich, damit sie zur selben Zeit, da die Eltern zu rechtmäßigen Eheleuten erklärt wurden, ebenfalls ehelich wurden.

Anne lächelte wehmütig angesichts ihres Glücks. Ob ihr Sohn jemals seinen Vater kennen würde, so wie diese Kinder den ihren? Sie schüttelte den Kopf, um den unerwünschten Gedanken zu verscheuchen, und fing Deborahs Blick auf. Ihre Ziehmutter beugte sich zu ihrer Tochter hinüber, und als der Pfarrer den Segen sprach, streute sie Maiblüten in Annes Haar, so wie die Dörfler es bei den Jungvermählten taten.

»Irgendwann wirst du an der Reihe sein, mein liebes Kind. Es wird ein gutes Jahr werden, für uns und für alle hier am Ort. Das spüre ich.«

Tränen glitzerten in Annes langen Wimpern. Sie beugte sich hinab und küsste ihren Sohn. Sie gab ihm die Blütenblätter, die sie so sorgfältig gesammelt hatte. »Hier, Edward, du kannst meine werfen.« Ihr Sohn lief davon, und mit der ganzen Kraft, die in seinem kleinen Körper steckte, warf er die Blüten in die Luft und rief begeistert: »Gott segne euch! Gott segne euch!«

Die Dörfler blickten den Knaben lächelnd an, als er wieder zu Anne zurückrannte. »Und Gott segne auch dich, mein Kind. Und Euch auch, Lady Anne. Ihr seid unsere Maikönigin.«

Maikönigin? Anne stockte plötzlich der Atem vor Angst. Ein schwarzer Nebel senkte sich herab, und die Kirche, die lachenden Menschen und die Kinder verschwanden.

Schreien, nichts als Schreien hörte sie, und alles war in roten Nebel gehüllt. Nebel, aus dem das Blitzen und das Klirren von Schwertern erscholl. Entsetzt blickte sie an sich hinab. Ihr Kleid war fast bis zu den Knien mit Blut getränkt. Neben ihr ragten Männer auf, aus deren schwarzen Mündern Schreie kamen, de-ren Augen aus ihren Höhlen gerissen waren. Bald, bald würde sie von diesem Grauen, von dieser tosenden Woge aus Tod, Schrecken und Leid überflutet und verschlungen werden.

Ein Wort nur verstand sie unter all den Schreien. Ein Name, ein Name, den sie nie zuvor gehört hatte. Tooksberry. Hieß er so? Turksbury? Tewkesbury, ja, das war der Name. Und dann sah sie ihn und rang nach Luft. Es war Edward, umgeben von Männern, die beinahe so groß waren wie er. Sein Gesicht war blutüberströmt, aber sie erkannte ihn. Er trug ein goldenes Diadem auf seinem Helm, und er schrie wie ein Hengst, wie ein Adler, und seine Axt hob und senkte sich in einem schrecklichen, erbarmungslosen Rhythmus. Sie wollte nicht hinsehen, konnte es nicht ertragen, wie er auf den Knaben einschlug, einen Jüngling, der aufFranzösisch seinen Anhängern zurief: »Ich bin der Prinz von Wales, zu mir, zu mir!«

»Hat er den Knaben getötet? O Gott, bitte nicht!« Anne gewann das Bewusstsein wieder, aber sie war so abgrundtief traurig, dass unter ihren geschlossenen Lidern die Tränen hervorquollen. Sie nahm den Duft von Rosenwasser wahr, aber das machte es nur noch schlimmer. Rosenwasser und der feuchte Eisengeruch von Blut war eine übelkeiterregende Mischung. Sie versuchte sich aufzusetzen, hatte aber nicht die Kraft dazu. Kühle Hände streichelten sie und drückten sie sanft gegen ein Kissen. Seufzend ließ Anne sie gewähren. Deborah tupfte ihre Schläfen mit einem ausgewrungenen Leintuch ab. Annes Augenlider flatterten.

»Das ist die Hitze, Meggan. Der Winter war sehr lang«, flüsterte Deborah ihrer Nachbarin zu. »Jetzt wird es ihr gleich wieder besser gehen.«

Meggan war anderer Meinung. Sie flüsterte zurück: »Ich finde, das war eher ein Anfall.«

Anne blieb still liegen, sie sah aus, als ob sie schliefe. Deborah legte einen Finger auf ihre Lippen. »Kommt, Meggan. Hier habe ich frischen Weißkäse. Den könnt ihr zur Hochzeitsfeier mitnehmen, mit einem schönen Gruß von meiner Herrin an den Pfarrer. Aber jetzt sollten wir Lady Anne schlafen lassen.«

Anne hörte, wie die Stimmen sich entfernten, und wollte sich wieder aufsetzen. Das war ein Fehler. Das Zimmer schwankte und drehte sich, als ob sie zu viel Bier getrunken hätte.

Tewkesbury. Das war der Name, den sie gehört hatte. Ein richtiger Name. Was er wohl bedeutete?

Tod. Sicherlich bedeutete er Tod.

Kapitel 58

Als die Truppen des Königs sich London näherten, kam ihnen eine große Schar fröhlicher Bürger über die grünen Wiesen vor den Toren der Stadt entgegengerannt. Der Jubel aus vielen Kehlen klang stark wie das Rauschen des Meeres. Die Menschen boten ein buntes Bild, eine tanzende Menge aus Rot, Grün, Blau und Gold. Ihre Gesichter waren von der Hitze gerötet, und aus ihren Mündern kam Gesang und Jubelrufe. Sie schwenkten Fahnen, scheuchten Kühe beiseite und jagten die Schafe über die Weiden.

William Hastings wusste, dass letztendlich die Staatskasse für die ganzen Kosten würde aufkommen müssen, für die abhandengekommenen Tiere, für die niedergetrampelten Getreidefelder. Aber irgendwie würde er das Geld schon aufbringen. Dafür war er da.

Edward war von den Kämpfen der vergangenen Tage und Wochen schmutzig und ausgelaugt. Aber der Anblick der jubelnden Menschen richtete ihn wieder auf. Die Liebe, die sie ihm entgegenbrachten, gab ihm neue Kraft. Er vergaß, wie müde er war. Diesen Augenblick wollte er bis zur Neige auskosten.

Endlich war er wieder zu Hause und das Land gehörte wieder ihm, und die Menschen standen wieder auf seiner Seite. Er war mit einer Armee zurückgekehrt - seine Truppen zogen sich über viele Meilen dahin, und zu ihnen gehörten die wichtigsten Fürsten und Magnaten Englands. Sie waren schlau gewesen, sie hatten den Richtungswechsel gespürt. Wie die Wetterhähne hatten sie sich einer nach dem anderen gewendet, und manch einer hatte Warwick schon vor Barnet verlassen.

Immer mehr hatten sich ihm angeschlossen. Bei Tewkesbury schließlich schlug er seine letzte Schlacht gegen Margaret von Anjou und ihren Sohn Edward, den sogenannten Prinzen von Wales, und vernichtete ihre Armee. Danach standen die Fürsten Schlange, um an seiner Seite zu kämpfen.

Eigentlich tat es ihm leid, dass der Jüngling hatte sterben müssen, aber was hätte er tun sollen? Gewaltige Kräfte waren bei so einem Gemetzel am Werk, das Schicksal eines Einzelnen hatte man nicht in der Hand. Edward bekreuzigte sich, als er sich an den zerschmetterten Körper des Jünglings erinnerte, der nach der Schlacht zu ihm gebracht worden war. Der Körper war noch nicht voll ausgewachsen, aber an den langen Beinen und dem kräftigen Rücken sah man, dass er einmal ein stattlicher Mann geworden wäre.

Der König richtete sich in seinem Sattel auf und schloss die Augen. Er zwang sich, an den Tod seines Bruders Edmund zu denken, der kaum älter als Margarets Sohn geworden war, und an den Tod seines Vaters, Richard von York. Wieder bekreuzigte er sich. Gott würde ihn verstehen. Manch ein Toter diente einem höheren Ziel. Und auch der Wiedergutmachung.

Noch ein anderes Bild quälte ihn und ließ sich nicht verscheuchen. Es war der alte Mann im Tower, der ihn so vertrauensvoll angesehen hatte. Er hatte ihn »lieber Cousin« genannt und ihm die Hand zur Begrüßung hingestreckt. Doch daran durfte er jetzt nicht denken. Die Stabilität des Landes stand an erster

Stelle. Persönliche Empfindlichkeiten waren Privatsache und durften seine Pflichten nicht beeinträchtigen. Edward riss seinen Mantel auf und zog seines Vaters Schwert. Er hielt es in die Höhe und schwenkte es, so dass der im Griff eingelassene Saphir blitzend das Sonnenlicht einfing.

Diejenigen, die ihm dabei zuschauten, sahen das Kreuz, das durch Stichblatt und Knauf gebildet wurde, sahen die Leoparden von England und die Lilien von Frankreich auf dem Wappenrock über dem Kettenpanzer, und sie sahen den rotgoldenen Reif in seinen verschwitzten Haaren und sie riefen: »Der König, der König!«, und sie riefen es immer wieder, bis ein Meer von Stimmen durch das Kriegsheer schallte und auf die Bürger von London überschwappte: »Der König, der König!«

Edward schwenkte lächelnd sein Schwert. Da sah er Clarence, seinen einstmals verräterischen Bruder. Er jubelte wie die anderen: »Der König, der König!«, als sei er der treueste Anhänger, den Edward jemals gehabt hatte. Edward nickte würdevoll, er verneigte sich sogar in seine Richtung, ohne sich die Ironie dieses Augenblicks anmerken zu lassen. Clarence strahlte und verneigte sich noch tiefer von seinem Pferd herab und schrie aus vollem Hals: »Der König, der König!«

Edward fing den Blick seines anderen Bruders auf, der ihm wirklich immer treu ergeben gewesen war, und zog spöttisch die Augenbrauen nach oben. Richard von Gloucester grinste zurück und schwenkte sein Schwert in der Luft. Auch er rief: »Der König, der König!«, ebenso wie Hastings, sein treuer Hastings. Edward hatte Tränen in den Augen, doch er schämte sich nicht. Um Clarence wollte er sich später Gedanken machen. Und um Anne.

Nun sah er den Bürgermeister John Stockton mit seinen Ratsherren auf sich zukommen, sowie den tapferen Obersten Strafrichter der City von London, Thomas Urswick. Dieser, so war dem König berichtet worden, hatte persönlich Truppen zusammengestellt und bezahlt, um den von Warwick unterstützten Schurken Fauconberg zu vertreiben, der kurz zuvor die Stadt belagert und sämtliche englischen Handelsschiffe im Hafen versenkt hatte. Edward lagen seine Kaufleute sehr am Herzen. Er würde von diesem Schurken später noch eine Entschädigung verlangen.

Der König drehte sich im Sattel um und sah über die Kolonnen von Soldaten, die hinter ihm aufzogen. Er schirmte seine Augen vor der blendenden Sonne ab und rief Hastings zu: »Wo ist Margaret? Sie soll zu mir geführt werden.« Hastings nickte und lenkte sein Pferd aus der sich träge fortbewegenden Masse aus Menschen und Pferden und galoppierte an den Reihen »Der König, der König« skandierender Männer nach hinten. Um diese Angelegenheit wollte er sich persönlich kümmern. Er war ein nüchtern denkender Mensch. Wenn es Edward beliebte, wie ein siegreicher Cäsar nach London zurückzukehren und seine Gefangenen vor sich herzutreiben, dann sollte er seinen Willen bekommen. Verdient hatte er es sich. Aber Hastings hoffte auch, dass sein Herr Erbarmen zeigte, denn das würde dazu beitragen, das Königreich zu befrieden.

Hastings entdeckte die einstige Köngin von England, Margaret von Anjou, in einem Karren sitzend, dessen Seitenwände aus Zweigen geflochten waren - ein zerbrechlicher Käfig für eine so mächtige Frau. Doch von ihrer einstigen Größe und Macht war nur ein schmutziges, mit Edelsteinen besticktes Samtkleid übrig. Keine Krone, kein Signum ihres Standes. Die Haare fielen der alten Königin wirr über die Schultern. Aus dieser Entfernung war sie immer noch eine gut aussehende Frau, aber in den Tagen nach Tewkesbury war sie sichtlich gealtert. Als Hastings näher kam und Befehl geben wollte, sie nach vorn zu bringen, sah er die Risse in ihrem Kleid. Ein Ärmel war sogar ganz ausgerissen, so dass einer ihrer Oberarme entblößt war, auf dem Hastings lange, blutige Kratzer sah. Edward würde rasen vor Wut, wenn einer seiner Männer ihr Gewalt oder gar Schlimmeres angetan hatte. Margaret von Anjou war einmal eine gesalbte Königin gewesen, auch wenn sie Edward Plantagenets Feindin war.

Aber als Hastings noch näher kam, sah er, wie es wirklich um sie stand. Die Königin hatte ihre eigenen Kleider zerrissen und zerriss sie immer noch. Sie machte sich gerade an einem Saum ihres Kleiderrocks zu schaffen. Jetzt sah er auch ihre blutigen Fingernägel und Hände. Sie hatte sich selbst kasteit. Auch auf ihrem Gesicht waren tiefe Wunden. Und auf ihrem Scheitel, auf dem immer noch dunklen Haar, lag weißer Puder. Asche?

Diese Frau befand sich in tiefer, biblischer Trauer. Sie trauerte um ihren Sohn, wie es ihr angemessen erschien, und es kümmerte sie nicht, was die anderen darüber dachten oder wie sie aussah. Das war alles, was sie an königlichem Stolz bewahrt hatte: Gleichgültigkeit gegenüber der Meinung anderer.

»Bringt den Karren mit der Königin zum König vor. Befehl des Königs«, rief Hastings und verneigte sich dabei vom Pferd herab vor Margaret. Sie beachtete ihn nicht, aber sie stand auf, und das war in einem Wagen, der über einen Pfad voller Furchen schwankte, kein leichtes Unterfangen.

»Madame, seid Ihr durstig?«, fragte Hastings die einstige Königin. Er ritt neben dem Wagen her, um in der sich langsam vorwärtsbewegenden Menschenmasse einen Weg zu bahnen.

»Der König, der König!« Die Soldaten schrien, jubelten, grölten die Worte heraus. Nicht um diese Frau zu beleidigen -sie hatten keine Angst mehr vor ihr, sie war einfach nur eine Frau -, aber um ihrer Erleichterung Ausdruck zu geben, dass sie als Sieger heimkehrten. Wie leicht hätte es auch anders kommen können.

Margaret von Anjou stand aufrecht im Wagen. Sie schwankte, als sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Sie sah Hastings mit leeren Augen an. »Ich werde niemals mehr durstig sein.« »Der König, der König!« Sie konnte die Rufe nicht ausblenden. Sie legten sich wie ein Mantel um sie, fesselten sie, erstickten sie, füllten Kehle und Kopf aus. Sie hatte auf Sieg gespielt und hatte verloren. Diese Worte würden sie bis zu ihrem Ende verfolgen. Gott gebe, dass das Ende bald käme.

Kapitel 59

Elizabeth Wydeville hatte ihren rechtmäßigen Platz im Leben wieder eingenommen. Sie war wieder die Königin von England und Mitregentin ihres Gatten, Edward Plantagenet, der Vierte seines Namens. Als sie durch das Hauptschiff der Abtei von Sankt Peter schritt, musste sie an sich halten, um nicht zu lächeln.

Es war ein warmer, prachtvoller Tag Anfang Juni. Die Kirchenglocken läuteten, läuteten für sie und ihren längst überfälligen Dankgottesdienst nach der Geburt ihres Kindes, des edlen, hochwohlgeborenen Prinzen Edward. Des Königs geliebten Sohn.

Unwillkürlich verzogen sich die Lippen der Königin zu einem breiten, seligen Lächeln, als sie diese Worte im Mund hin und her wendete und die liebliche Kraft kostete, die ihnen innewohnte. Des Königs Sohn. Köstlich, die köstlichsten Worte, die sie je gehört hatte. Worte, die die Macht besaßen, ihr Leben zu verändern. Die Mutter von des Königs Sohn, seines unbestreitbar ehelichen Sohnes, die erste Dame im Reich, lächelte wie ein Engel. Und jene, die sie noch nicht kannten, sahen es mit Ehrfurcht, denn vor ihnen schritt die leibhaftige Schönheit. Ihre Königin.

Nach den beengten Lebensverhältnissen im Kirchenasyl war

Elizabeth Wydeville nun besonders prachtvoll gekleidet. Ihr Gewand war das schwerste in der ganzen Abtei. Es war aus gold-durchwirktem Stoff, aus purpurrotem Samt und weißer Seide. Vier Herzogstöchter und vier Grafentöchter trugen die lange, mit einem Winterpelz gefütterte Schleppe. Die Königin genoss das ansehnliche Gewicht ihrer Kleidung, sie genoss die Hitze der vielen Stoffschichten und sie spürte verzückt den Druck der Krone. Nie zuvor hatte ihr anmutiger Hals freudiger die würdevolle Last getragen, nicht einmal bei ihrer Krönung vor vielen Jahren. Wenn sie sich nach rechts und links verneigte, Freunde begrüßte und Feinde übersah, dann glitzerten und blitzten die kostbaren Edelsteine und das Gold, aus dem die Krone geschmiedet war.

Sie war eine strahlende Erscheinung, und sie wusste es. Heller als Kerzenlicht und prächtiger als die Bilder der Heiligen, die den Hochaltar hinter dem Lettner schmückten, zog sie das Licht auf sich und verstärkte es auf eine Weise, die sogar das Grabmal des heiligen Edward, des Bekenners und Königs, in den Schatten stellte. Und obwohl sie nur eine sterbliche Frau war, verneigte sie sich, als sie die Marienkapelle betrat, wie eine Königin vor einer anderen Königin. An diesem Tag war sie der göttlichen Maria, der Kaiserin des Himmels, ebenbürtig, und jene, die sie sahen, wussten es.

Alle waren sie gekommen, ihren Sieg zu bezeugen. Die Kirche war voll, brechend voll. Sämtliche Barone, Lords, Grafen und Herzöge von England mitsamt ihren Frauen und Töchtern waren zugegen. Sie waren üppig wie Götzen gekleidet, trugen Perlenschnüre und Edelsteine um den Hals und warteten Reihe um Reihe, dass Elizabeth Wydeville an ihnen vorüberschreite. Sie hofften, sie möge nicken, möge sie anerkennen auf ihrem Weg aus der Abtei hinaus in eine strahlende, verlockende Zukunft.

Doch die Königin hatte nichts vergessen, anders als Edward es für sich behauptete. Sie hatte nicht vergessen, dass so mancher, der an diesem Tag Spalier stand, ein Verräter war. Clarence dort drüben - ein Verräter, ein missgünstiger Bruder und ein Verbündeter Warwicks und jener Frau, Margaret von Anjou, die es gewagt hatte, sich Königin zu nennen. Und dieser Clarence erdreistete sich, Elizabeth Wydeville so strahlend anzulächeln, sich so tief vor ihr zu verneigen, dass niemand den Zorn in seinem Herzen ahnen konnte. Aber sie kannte seine Bosheit, und ihr Zorn war dem seinen ebenbürtig, als sie ihn erblickte. Und als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, wandte sie bewusst den Kopf von ihm ab, ja, drehte ihm fast den Rücken zu, und blickte demonstrativ und betont zärtlich zu Richard von Gloucester, der neben George von Clarence kniete. Das ist meine wahre Meinung von dir, George, sollte diese Geste sagen. Du bist Staub unter meinen Füßen.

Die Beleidigung tat ihre Wirkung, im gleichen Augenblick riss der Freudenschleier, der für diesen Anlass so sorgfältig vorgetäuscht worden war, und das Gesicht von Edwards jüngerem Bruder verzog sich für einen kurzen Augenblick zu einer hässlichen Fratze. Aber dann kehrte das Lächeln wieder auf sein Gesicht zurück. Auch wenn es ein starres Lächeln war, so war es doch ein Lächeln. Neben George neigte Richard von Gloucester andächtig sein Haupt und hoffte, dass niemand sein hämisches Lächeln gesehen hatte. Er hatte Edwards Gemahlin noch nie leiden können, aber an diesem Tag war er stolz auf sie. George gegenüber empfanden sie beide gleich.

Ein Flüstern eilte von Mund zu Mund und setzte sich bis zum Altar, zu den Türen und den Emporen fort, unter denen Elizabeth einherschritt. Ohne auch nur den Kopf zu drehen, sah Elizabeth, wie die Höflinge mit demütig geneigtem Kopf leise miteinander sprachen. Was kümmerte es sie? Sollte Edward sie später ruhig tadeln für ihr Verhalten gegenüber Clarence. Diesen Moment des Triumphs wollte sie sich nicht nehmen lassen.

Sie hatte Edward Plantagenet einen Sohn geboren. Mehr Söhne würden folgen. Sie war fruchtbar. Sie war die Königin, und sie hatte ihr Königreich zurückgewonnen.

Der König schritt, huldvoll nach allen Seiten seinem neu zusammengefundenen Hofstaat zunickend und lächelnd, zum Bankettsaal des Westminsterpalasts, wo das Festmahl zur Geburt seines Sohnes stattfinden sollte. Leise flüsternd führte er eine sehr private Unterhaltung.

»Wo ist sie, Hastings?«

Der Großkämmerer von England, der nach den überwältigenden Siegen seines Herrn bei Barnet und Tewkesbury gerade wieder in sein Amt eingesetzt worden war, unterdrückte ein verärgertes Seufzen. Ausgerechnet an diesem Tag, an dem Edward und Elizabeth zur Krönung ihres Sieges wie Gottheiten verehrt wurden, dachte der König wie immer nur an diese lästige Anne de Bohun.

»Majestät, ich weiß es nicht. Es war noch keine Zeit, um ...«

Der König fiel ihm scharf ins Wort. »Jetzt ist die Zeit, William. Sir Mathew Cuttifer - er wird bestimmt wissen, wo sie ist. Ich möchte, dass Ihr ihm eine Nachricht zukommen lasst. Ich werde morgen Annes Verbannung offiziell aufheben lassen, das soll er ihr ausrichten. Und wenn in London wieder Ruhe und Ordnung hergestellt sind, möchte sie an meinen Hof kommen. Sir Mathew soll Lady Anne meiner aufrichtigen Liebe versichern.«

Einen Augenblick lang blitzte das strahlende Gesicht der Königin vor Hastings' Augen auf, und es kostete ihn große Selbstbeherrschung, eine arglose Miene aufzusetzen und seinen Herrn freundlich anzulächeln. Nur über Elizabeths Leiche würde Anne de Bohun an den Hof kommen können.

»Und wenn Sir Mathew nicht weiß, wo Anne de Bohun ist ...?«

Edward kräuselte missbilligend seine Stirn. »Dann werden wir unsere Netze eben weiter auslegen. Nach dem Fest werden wir beraten, was zu tun ist.«

»Euer Majestät, weiß die Königin von Euren Absichten?«

Nur die lange, enge Freundschaft zwischen den beiden gestattete es William Hastings, eine solche Frage zu stellen. Der König ging komplizierten Gefühlsdingen gern aus dem Weg, aber es war die Pflicht des wieder eingesetzten Kämmerers, Dinge klarzustellen.

»Nein, und ich habe nicht die Absicht, sie zu informieren.«

Bei dieser Vorstellung brach William der Schweiß aus, und einen Augenblick lang schwindelte ihn. »Majestät, verzeiht, aber ... Ihr wollt zulassen, dass die Königin von dieser Einladung erfährt, ohne von Euch persönlich davon unterrichtet zu sein?«

Edward zuckte die Achseln. Er blickte über die Reihen der Höflinge, winkte heiter und wischte sich den Schweiß von den Augenbrauen. Sein scharlachroter Samtmantel war für diesen warmen Junitag viel zu schwer, und der steife Kragen seiner schwarzen Damastweste scheuerte an seinem Hals. Er hatte vergessen, wie mühselig und unbequem ein korrektes Erscheinungsbild sein konnte.

»Majestät, gewöhnlich würde ich niemals davon sprechen .«

»Dann schweigt!« Edward war plötzlich ungehalten, und sein Gesicht nahm eine bedrohliche Röte an, ob von der Hitze oder vor Zorn war schwer zu sagen. Juniwärme und Samtkleidung vertrugen sich schlecht und erhitzten das Blut.

William sah seinen Herrn an. Gut, er würde den Mund halten. Heute.

»Ich kann Eure Gedanken genau lesen, William. Ihr könntet ebenso gut weitersprechen!« Der König lachte, zum Glück. In den vergangenen Monaten hatte es in ihrem Leben viel zu selten etwas zu lachen gegeben. Hastings lächelte ergeben und seufzte.

»Nun, Herr, wenn Ihr wirklich diesen Sturm lostreten wollt, dann sollten wir jetzt die Ruhe davor genießen.«

Der König strahlte plötzlich wie der helllichte Tag. »So ist es besser, William. Warum soll ich ausgerechnet heute die Königin mit meinen Plänen ärgern? Wir wollen alle friedlich und glücklich sein. Wie mein Vater immer sagte, es kommt darauf an, den Boden zu bereiten und nur zu kämpfen, wenn der Sieg einem sicher ist. Ich habe noch nicht entschieden, wo in dieser Sache mein Boden ist. Ich werde es Euch beizeiten sagen. Und dann werde ich auch mit der Königin sprechen. Vielleicht.«

Hastings erwiderte: »Ich kapituliere, Majestät. Es ist allein an Euch, zu entscheiden, wann oder ob Ihr die Königin über den Besuch der Lady de Bohun am Hof informieren wollt. Ich werde über diese Angelegenheit kein Wort mehr verlieren, außer . «

Edward war seit seinem Exil härter und unnachgiebiger geworden. Der Gefährte vergangener Tage war längst verschwunden, verloren in den Weiten der Niederlande. Als er jetzt seinen Kämmerer ansah, hatte sein Blick etwas Bedrohliches. William schluckte, fuhr aber tapfer fort: ». außer, um zu fragen, wo Lady Anne wohnen soll. Westminster ist überfüllt, und das wird sich so bald nicht ändern.«

Der König winkte zur Menge hin. Am dritten Finger seiner linken Hand glänzte ein Edelstein - ein geschliffener Rubin von solch intensivem Rot, dass er beinahe schwarz wirkte, außer er hielt ihn gegen das Licht. Dann aber erglühte er in einem Rot, das wie Herzblut leuchtete.

»Ihr habt wie immer recht, William. Die Unterbringung will bedacht sein. Aber noch haben wir Zeit, dieses Problem zu lösen, denn es wird wohl einige Tage dauern, bis Lady Anne meine Einladung erhält. Falls wir sie finden.« Er drückte den Rubin an seine Lippen. »Ich denke, wir sollten ein Boudoir herrichten. Ein besonders schönes Frauengemach, in dem sie sich so wohl fühlt, dass sie nie mehr fortwill.«

Sie hatten Westminster Hall fast erreicht. Der König beschleunigte seine Schritte, überholte seinen Freund und winkte ausgelassen den freudig erregten Londonern zu. Nach hinten gewandt sagte er noch: »Kümmert Euch darum, mein Freund! Nach allem, was wir durchgemacht haben, wird das eine leichte Aufgabe für Euch sein .« Edwards spöttisches Lachen traf den aufgebrachten Kämmerer.

Ein Boudoir? Wo und wie sollte er so etwas bewerkstelligen? Der Kämmerer seufzte. Natürlich, er würde schon eine Lösung finden, aber er wollte noch das Fest abwarten, bevor er sich darüber Gedanken machte. Jetzt wollte er erst einmal ordentlich essen und trinken. Die Pflicht musste warten.

Kapitel 60

Blessing House war für die Nacht verschlossen, und alle Lichter waren gelöscht, als ein unerwarteter Besucher laut an das Tor klopfte. Das Tor war riesig, und der Klang hallte im Empfangssaal wider, und es dauerte nicht lange, da schob der schläfrige Wärter die Klappe vom Guckloch zur Seite und rief: »Was gibt's? Es ist längst Sperrzeit. Im Haus schlafen alle.«

»Öffnet das Tor.«

Der groß gewachsene Mann dort draußen auf der Straße zog seine Kapuze vom Kopf. Der Türwärter bekam vor Schreck taube Finger und beeilte sich, der geflüsterten Aufforderung Folge zu leisten. Aber er brauchte nicht Sekunden, sondern Minuten, um die Riegel aufzuschieben. Dabei machte er einen solchen Lärm, dass es in dem nächtlichen Haus donnerte wie Kanonenschläge. Der Türwärter brachte vor Angst kein Wort heraus, er gab nur ein würgendes Geräusch von sich und zog wankend das Tor auf, wobei er sich daran festklammerte, als sei es das Einzige, das ihn aufrecht halten könnte.

»Schließt es, Mann. Aber leise.« Der Ton des Fremden war geduldig. Er wusste, welche Wirkung er auf andere hatte. Auch in dem spärlichen Licht der Empfangshalle, das allein von den glühenden Holzscheiten in der Feuerstelle herrührte, war Edward Plantagenet eine beeindruckende Erscheinung. Darüber war er sich nicht immer im Klaren. Der Türwärter war ein untersetzter Mann, kräftig, aber unleugbar kurz geraten. Dem verwirrten Diener kam es so vor, als ragte der König über ihm auf wie ein schwarzer Engel. Die Nacht und der Schrecken wirkten sich manchmal seltsam auf die Sehkraft aus.

»Euer Herr?« Der König verstand endlich, was der Mann ihm sagen wollte. »Ihr wollt Euren Herrn holen?«

Der Türwärter nickte und fand endlich seine Sprache wieder. »Ja, Majestät. Ich hole den Herrn.« Er brachte noch eine flüchtige Verbeugung zustande, dann rannte er zur Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte. Erst später erinnerte er sich daran, dass er dem König den Rücken zugekehrt hatte. Vor Scham konnte er deshalb mehrere Tage nicht schlafen.

»Was?«, fragte Mathew Cuttifer aufgebracht. Jemand schüttelte ihn, riss ihn aus einem tiefen Traum, einem Ort, der frei von Schmerzen war. Keine wehen Knie, keine schmerzenden Hände und . »Was willst du denn?«

Er wachte auf und wurde wütend. Lady Margaret, seine Gemahlin, seine liebe Frau, war schockiert. Sir Mathew war ein ausgeglichener Mann, der sich nie zu Zornesausbrüchen hinreißen ließ.

»Mathew, wir müssen aufstehen. Uns anziehen.«

Vor Verwirrung verlor sich Mathews Zorn. »Anziehen. Warum anziehen? Es ist doch dunkel.«

Doch schon verließ seine Gemahlin behände das Bett. Nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, huschte sie zu den Haken an der Wand, wo ihr Kleid für den Tag hing. Ihre Antwort musste er wohl missverstanden haben. Oder doch nicht?

»Der König? Hast du gesagt, der König?«

Instinktiv bewegten sich Mathews Beine, noch bevor sein Verstand zu arbeiten begann, und er stand abrupt auf. Auch er war nackt und ohne seine Kleidung unmöglich anzusehen: dünne Beine, ein hartes Bäuchlein und kraftlose Arme, Gelehrtenarme, nicht die Arme von Gerbern wie die seiner Vorfahren.

»Ja, Mathew. Der König wartet unten und möchte dich sprechen. Walter hat mir gerade Bescheid gesagt. Wir müssen uns genau überlegen, was wir ihm sagen sollen.«

Mathews Herz machte einen Satz. Der Bote vom Palast, erst heute früh hatten sie ihn mit Lügen abgespeist und wieder fortWalter, der Türwärter, wartete, unruhig von einem Bein auf das andere tretend, vor der Tür. Auch sein Herz raste, wenn auch aus einem anderen Grund. In einer einzigen Nacht hatte er dem König die Tür geöffnet und war unangemeldet in das Schlafgemach seiner Herrschaft gerannt und hatte sie geweckt. Wo sollte das nur enden? Jetzt wollte er nur noch gesagt bekommen, was er tun sollte. Er konnte doch unmöglich nach unten gehen und munter mit dem König plaudern. Nein, am besten, er wartete hier, bis sein Herr fertig war.

»Walter? Was machst du hier? Warum bist du nicht unten beim König? Beeil dich, Bursche!«

Mathew Cuttifer war erst halb angekleidet. Er zerrte gerade an seinen Strümpfen und versuchte, sie an ein schief sitzendes Oberteil zu knöpfen. Aufgeregt blickte er sich um und suchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte - die Logik der Angst.

Lady Margaret, ihr Kleid sittsam geschnürt - wie hatte sie das nur geschafft? - und ein schlichtes Tuch über den Haaren, die für die Nacht zu einem Zopf geflochten waren, versuchte vergeblich, ihren Gemahl zum Stillhalten zu bewegen, damit sie ihm beim Ankleiden behilflich sein konnte.

»Mathew! Halt! Bleib stehen. Wir werden das schon schaffen. Er ist allein gekommen - das sagt schon viel. Und jetzt lass dir bitte helfen, sonst sieht der König dich noch halb nackt. Das willst du doch nicht?«

Plötzlich stand Sir Mathew ganz still. Nein, das wollte er ganz sicher nicht. Er rief wieder nach dem Türwärter.

»Hinunter mit dir, Bursche! Weck den Koch auf - wir müssen unserem Gast Wein anbieten. Und Essen! Und sag dem König, dass wir gleich kommen.«

Walter zitterte am ganzen Leib. Unaufgefordert mit dem Herrscher sprechen, der sich eben erst in blutigen Schlachten nach London durchgeschlagen hatte? Das war eine sehr unbehagliche Vorstellung!

»Geh schon! Was wartest du noch? Geh!«

Walter sah den Blick seines Herrn. Den König kannte er nicht, aber er kannte Sir Mathew. Und da wusste er, mit wem er es lieber zu tun haben wollte. Rasch verneigte er sich und eilte davon.

»Halt! Fackeln! Zünde die Lichter an!«

Walter schluckte, auch das noch. Er verneigte sich noch einmal, und dann rannte er in kaum zwei Atemzügen vom Schlafgemach bis hinunter in den Empfangssaal. Träumte er, konnte er fliegen? Wie war er diese Treppen nur so schnell hinuntergekommen?

Und dann stand er plötzlich wieder vor dem König. Und während er sich in einem fort vor ihm verbeugte, hoffte er, dass es diesem furchteinflößenden Riesen nicht einfallen mochte, ihn anzugreifen, so wie er unzählige andere angegriffen hatte. Auch den alten König, der im Tower gesessen hatte. Angeblich war er erst gestern aus reinem Kummer gestorben, aber das glaubte Walter nicht. Er nicht.

Edward Plantagenet hatte in der Abwesenheit des Türwärters eigenhändig das Feuer neu angefacht, so dass nun ein heller Schein durch den großen Raum flackerte. »Mein Herr und Lady Margaret sind .«

»Hier, Walter. Und jetzt geh und tu, was Sir Mathew dir gesagt hat. Schaff Glühwein herbei und einen Imbiss für unseren König.« Lady Margaret, eine Hand leicht auf dem Arm ihres Gemahls gestützt, sprach mit einer klaren, tragenden Stimme, und ihr Tonfall ließ keinen Zweifel aufkommen.

Reiß dich zusammen, Walter. Immer eins nach dem ändern tun. Geh jetzt! Fast übermütig vor Erleichterung, dass er die Unterhaltung des Königs Geübteren überlassen konnte, rannte Walter in die Küche. Unterwegs fiel sein Blick zufällig auf die Füße seiner Herrin. Er stutzte. Nein, das bildete er sich nicht ein. Die Füße waren nackt. Und sie wusste es nicht. Sollte er es ihr sagen? Nein! Den Koch aufwecken, Glühwein holen .

»Ein tüchtiger Mann, aber ich vermute, Euer Majestät hat ihn etwas durcheinandergebracht.« Der Tuchhändler Sir Mathew Cuttifer war im Lauf seines Lebens schon am Hof von zwei Königen ein und aus gegangen, und dieser König, der so unerwartet in sein Haus gekommen war, hatte ihn persönlich zum Ritter geschlagen. Sie kannten sich schon sehr lange, aber Anne de Bohun hatte einen Zwist zwischen ihnen hervorgerufen, der niemals wieder richtig geschlichtet worden war. Und jetzt, erst an diesem Tag, hatte Sir Mathew gegenüber einem Boten des Königs geleugnet, dass er wusste, wo sie war. Konnte er auch den König anlügen, wenn dieser ihn persönlich fragte?

Edward lächelte den argwöhnischen Hausherrn und seine Gemahlin an. Er glaubte nicht eine Sekunde lang, dass Mathew Cuttifer nichts von Annes Verbleib wusste, aber er achtete die Treue unter diesen Freunden - er hätte in der Vergangenheit mehr solcher Freunde gebrauchen können. Diese Menschen lagen der Frau, die er liebte, am Herzen, und es war an der Zeit, die alten Bindungen zu ihnen wiederherzustellen, und wenn es nur Anne zuliebe geschah.

»Ich möchte Euch, Sir Mathew, und Euch, Lady Margaret, für die vielen Freundlichkeiten der Vergangenheit danken.«

Margaret wagte kaum zu atmen. Endlich war es so weit. Versöhnung. Das war ein gutes Zeichen.

»Und ich bin heute Nacht gekommen, weil sich in der nächsten Zeit wohl kaum eine andere Gelegenheit finden lässt, denn ...«, Edward hustete und suchte nach den richtigen Worten, »... denn unser aller Leben hat sich plötzlich geändert, und es gibt sehr viel zu tun.«

Sir Mathew führte den König zu einem vornehmen Stuhl am Kamin. Daneben stand ein zweiter, dazu passender Stuhl, aber er durfte sich nicht setzen, solange der König ihn nicht dazu aufforderte. Lady Margaret hatte unterdessen mit Schrecken gemerkt, warum ihre Füße so kalt waren. »Ja, es gibt so viel zu tun, um das Land wieder in einen annehmbaren Zustand zu bringen. Ich beabsichtige, diese Aufgabe so schnell wie möglich zu bewältigen. Und ich bin auf einen blühenden Handel angewiesen, wenn wir alles, was nötig ist, bewerkstelligen wollen.«

Sir Mathew nickte. Der König lächelte ihn ermutigend an, anscheinend wollte er seine Meinung erfahren. Sir Mathew räusperte sich, seine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt. »Euer Majestät haben völlig recht. Nun, da Ihr auf Euren Thron zurückgekehrt seid« - er verneigte sich tief, und Edward nickte huldvoll - »was für Eure Untertanen eine große Freude und Beruhigung ist, ist es notwendig, dass alle zusammenarbeiten, das gemeine Volk und die Fürsten, wir alle müssen daran arbeiten, dieses Land wieder aufzubauen. Das Haus Cuttifer wird seinen Teil dazu beitragen, edler Herr. In welcher Weise und unter welchen Bedingungen, das ist an Euch, zu sagen!« Mathew beendete seine Ansprache mit einer schwungvollen höfischen Verbeugung, seine Stimme tönte trompetenhell durch den großen, leeren Saal.

Lady Margaret lächelte ihren Mann verstohlen an. Das war gut gesprochen, mein Lieber. Und wenn jetzt der Wein gleich gebracht würde, könnten wir vielleicht verhindern, dass über ...

»Lady Margaret, wollt Ihr nicht Platz nehmen?« Der König deutete auf den anderen Stuhl, und Margaret blieb nichts anderes übrig, als zu knicksen und möglichst anmutig und mit ernster Miene Platz zu nehmen. Der König ließ sich nicht anmerken, dass er einen Blick auf ihre nackten Füße erhascht hatte, als er sie zu ihrem Platz geleitete. Ihr Gemahl aber hatte ebenfalls die zierlichen nackten Zehen gesehen und erstickte fast an dem irrsinnigen Drang zu lachen. Was ging hier vor? Der König hatte sie doch bestimmt nicht mitten in der Nacht aufgesucht, um über Handelsreformen zu diskutieren?

»Ihr fragt Euch wahrscheinlich, Sir Mathew und Lady Margaret, warum ich heute Nacht gekommen bin?«

Der Ritter und seine Dame bewahrten einen Ausdruck höflicher Gleichgültigkeit, als ob sie sich niemals eine solche Frage gestellt hätten.

»Ich glaube, Ihr habt Lord Hastings wissen lassen, dass Ihr über den gegenwärtigen Verbleib von Lady Anne de Bohun nichts wisst?«

Einen Augenblick lang überlegte Mathew, ob er lügen sollte, aber damit hatte der ganze Zwist mit dem König damals begonnen. Weil er wegen Anne gelogen hatte, wären seine Geschäfte in England und seine Familie fast vernichtet worden. Was sollte er nur sagen? Seine Frau rettete ihn.

»Lady Anne hat dieses Haus im Februar verlassen, Euer Majestät. Heute früh, als Euer Bote kam, wollten wir so wenig wie möglich sagen, denn das ist der ausdrückliche Wunsch un-seres Mündels. Ihr einziger Wunsch ist es, ein Leben in stiller Zurückgezogenheit zu führen.«

Der König lächelte. »Ach, Lady Margaret, Ihr seid eine gute Freundin von Lady Anne, und Lady Annes Freunde sind auch meine Freunde. Ich möchte Lady Anne und ihren Neffen zu einem Empfang bei Hof einladen, den die Königin und ich in Kürze abhalten wollen. Vielleicht könnt Ihr mir helfen? Lady Anne muss von dieser Einladung erfahren und auch, dass es meine Absicht ist, ihre Verbannung offiziell aufzuheben. Sie ist mir durch unzählige Prüfungen hindurch freundschaftlich verbunden gewesen, und es ist unser Wunsch, sie für ihre treuen Dienste zu belohnen.« Der König lächelte strahlend. Auch Lady Margaret lächelte, aber sie hatte jegliches Gefühl verloren, auch wenn sie die Maske der Höflichkeit immer noch aufrechterhielt. Sie wagte nicht, ihren Gemahl anzusehen, aber sie hörte, wie er nach Luft rang und dann hustete, um es zu verbergen.

»Eine Einladung an den Hof? Wie freundlich von Euer Majestät. Und die Verbannung. Höchst großzügig.« Das Blut rauschte so laut in Margarets Ohren, dass sie ihre eigenen Worte kaum hören konnte. Ihr Verstand aber funktionierte noch, und sie überlegte fieberhaft, wie sie das Haus Cuttifer vor neuerlichem Unheil bewahren konnte. Konnten sie Anne überreden, dem König zu gehorchen? Und was würde geschehen, wenn sie seine Einladung ausschlug?

Sir Mathew, der genau wusste, was in seiner Frau vorging, nahm den Faden auf. »Aber natürlich, Sire, wir wären höchst erfreut, wenn es uns gelänge, Lady Anne Eure - äh - Einladung zu übermitteln.« Einladung in diesem Zusammenhang war eine höfliche Umschreibung für Befehl.

Der König verneigte sich dankend, und die Cuttifers hielten den Atem an. Würde er sie fragen, wo Anne sich aufhielt? Aber Edward drängte nicht weiter. Ihm war wichtig, Annes Ver-trauen zu gewinnen. Und er glaubte den Cuttifers, dass sie seine Nachricht weitergeben würden.

Dies war eine Nacht voller Schrecken und Überraschungen. Als der König erfreut nickte, um sich für die Hilfsbereitschaft der Cuttifers zu bedanken, zog er eine kleine Schriftrolle hervor. Sie war mit seinem persönlichen Wappen, der strahlenden Sonne, versiegelt. Er reichte sie Sir Mathew, der sie kniend entgegennahm, wie damals, als er zum Ritter geschlagen wurde.

»Ich danke Euch, edler Ritter. Und Euch, Mylady. Bitte sorgt dafür, dass dies Anne de Bohun überbracht wird, so schnell Ihr es ermöglichen könnt.« Der König erhob sich und warf sich den Mantel über. In diesem Augenblick kehrte Walter aus der Küche zurück, in seinem Gefolge die staunenden Diener. Sie schleppten so viel Essen und dampfenden Wein in großen Krügen herbei, dass davon gut zwanzig oder dreißig hungrige Männer satt geworden wären. Die Dienerschar gab einen sehr achtbaren Anblick ab. Alle waren ordentlich und sauber in die Livrée des Hauses Cuttifer gekleidet, und das Essen duftete köstlich.

Der König lächelte seine Gastgeberin charmant an und hatte sogar den Anstand, sie verlegen anzuschauen. »Nun, ich befürchte, ich habe alle schon viel zu lange vom Schlafen abgehalten. Aber da dieses vorbildliche Haus sich so viel Mühe gemacht hat, möchte ich mich erkenntlich zeigen.« Mit diesen Worten ging der König auf die Dienerschar zu, griff schnell mit seinen langen Fingern in seine Gürteltasche und zog für jeden aus dem Gesinde eine Goldmünze hervor. Dies löste ein gewisses Durcheinander aus, denn die Diener versuchten, ihr Geschenk entgegenzunehmen und gleichzeitig die schweren, mit köstlichen, heißen Speisen beladenen Platten zu jonglieren. Aber bald war es geschafft, und Sir Mathew bedeutete den Dienern, wieder in der Küche zu verschwinden. Alle konnten sich auf ein frühes und unerwartet reichliches Frühstück freuen.

Der König drehte sich lächelnd zu dem Kaufmann und seiner Gemahlin um. »Ihr wart äußerst großherzig, Sir Mathew und Lady Margaret. Ich danke Euch für Eure Hilfe und für Eure große Treue gegenüber Lady Anne. Sie und ich werden das nicht vergessen. Nun ist es für uns alle höchste Zeit, zu schlafen.« Im Schein des Feuers zeigte sich eine tiefe Erschöpfung auf dem Gesicht des Königs. Er war gekommen, um etwas zu erreichen, was für ihn sehr wichtig war, aber es hatte ihn große Anstrengung gekostet, die Cuttifers um diesen Gefallen zu bitten.

Lady Margaret hatte Mitleid mit ihm. Sicher, er war als Sieger nach London zurückgekehrt, aber er war in einem Strom von Blut gekommen. Und er würde sein Lebtag nicht mehr ruhig schlafen können. »Majestät, dürfen wir Euch eine Begleitung zum Palast rufen lassen?«

Edward Plantagenet schüttelte den Kopf. »Dies ist meine Stadt und meine Heimat. Sie birgt keine Gefahr für mich, Lady.« Ein letztes Lächeln zu Lady Margaret, dann war der König fort.

Nachdem Walter das Haus wieder verriegelt und verschlossen hatte, herrschte einen Augenblick lang betroffenes Schweigen. Gemahl und Gemahlin blickten sich fragend an. »Und was sollen wir jetzt machen, Frau?«

Kapitel 61

Wieder war alles anders geworden. Wegen des Briefes. Seines Briefes. Jenes Schriftstück, das ihr heute von Mathew Cuttifers Boten überbracht worden war.

Wie alles um sie ins Wanken gekommen war, als sie mit den Fingern das wächserne Siegel mit der vertrauten Prägung berührt hatte. Aber aufgemacht hatte sie es noch nicht, und vielleicht würde sie es auch nie öffnen.

Anne stand ganz still und machte sich stark und schwer wie eine Steinsäule, unangreifbar. Sie sammelte sich und war fast froh, dass der Wettstreit endlich da war. Der Wettstreit zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Sie befand sich an ihrem Lieblingsplatz, auf dem mit Zinnen versehenen Wehrgang des Gutshauses, von wo aus sie ins Tal hinunter und an klaren Tagen, wenn sie sich anstrengte, in vager Ferne sogar das Meer sehen konnte. Bald gab es Abendessen, und ihr Sohn musste versorgt werden. Anne ging zur Tür, die zum Treppenhaus führte. Da fuhr plötzlich der Wind in ihr offenes Haar und wirbelte es durcheinander. Und sie hörte die Stimme.

Anne. Anne.

Zwischen ihr und der Tür stand die Schwertmutter. Sie verschmolz in ihrem grauschwarzen Mantel im Abendlicht beinahe mit den Schatten des windigen Orts. Annes Blick und der der Frau trafen sich, und plötzlich war es völlig windstill.

Und dann bewegte sich die Gestalt, ein einziger, leichter Schritt, und der Weg zur Treppe war frei.

Das alles geschah in nur einem Augenblick, dann ertönte ein leises Pfeifen wie von einem Vogel, und die Frau versank in den Schatten und war verschwunden, als sei sie nie hier gewesen.

Anne blinzelte geblendet. Aber die Sonne war untergegangen. Die Nacht hatte den Tag abgelöst.

Annes Schlafzimmer befand sich im dritten Stock des Haupthauses. Es war kein richtiges Sonnenzimmer, dafür war es zu groß, und in drei von vier Wänden befanden sich Türen. Trotzdem, es war ein anständiges Schlafzimmer mit einem schönen Blick über das Land. Die zwei Frauen kauerten hinter den roten Vorhängen und unterhielten sich leise. Alle anderen im Haus schliefen schon. Auf dem Überbett lag der Brief des Königs.

Edward, König von Gottes Gnaden von England, Frankreich, Wales

und Irland... gebietet Lady Anne de Bohun in gebührlicher Eile an den königlichen Hof zu Westminster zu kommen.

Anne starrte das Pergament an. Die Worte hatten beinahe ihren Sinn verloren, so oft hatte sie sie schon gelesen. Deborah nahm den Brief und überflog die kalten, schwarzen Buchstaben.

Es ist der ausdrückliche Wunsch des Königs, dass besagte Lady Anne de Bohun mit der königlichen Familie zusammen an einem Dankgottesdienst teilnehme .

»Das ist eine offizielle Einladung. Du musst eine Antwort schicken.«

Anne war verstimmt. »Der Bote soll warten. Oder abreisen. Das ist mir egal.«

Deborah versuchte es wieder. »Die Cuttifers werden schwer dafür büßen müssen, wenn du nicht bei Hof erscheinst, Anne.«

»Aber dafür kann ich nichts.« Anne zog sich die Decke über die Schultern, als Kind hätte sie sich wahrscheinlich darunter versteckt. Deborah lächelte zärtlich und strich ihrer Tochter durchs Haar. Manchmal erkannte sie unter der Schale der erwachsenen Frau noch das eigenwillige Kind.

»Doch. Sie sind immer so gut zu dir gewesen.«

Anne schlug sich die Hände vor das Gesicht. Das Kind kam immer mehr zum Vorschein. »Was soll ich nur tun, Deborah? Wie soll ich mich entscheiden?«

Zorn ist ein schlechter Ratgeber, Tochter.

Wie viele Stimmen sprachen zu ihr. Eine? Oder zwei?

Aber ich kann doch nicht zu ihm gehen? Anne fasste unwillkürlich nach Deborahs Hand, ohne die Worte auszusprechen.

Unter dem Vorhangzelt war es ganz still. Mutter und Tochter atmeten wie aus einem Mund, tief und schwer.

Du hast nur eine Möglichkeit. Vergiss deinen Zorn. Du hast eine Verantwortung und eine Verpflichtung.

Ganz Herrard Great Hall schlief, bis auf die beiden Frauen. Und eine dritte, die zu ihnen getreten war. Die Vorhänge des großen Bettes bebten. Die Stimme war nur ein Hauch, ein sanfter Wind, der wie eine Schwalbe durch den Raum schwebte.

Eine Möglichkeit. Du musst dich entscheiden, und dann wirst du Gewissheit haben.

Von draußen ertönte ein Bellen. Ein Hund, ein Fuchs? Von fern antwortete ein Heulen. Es war nach Mitternacht, eine Zeit, in der selbst die Ruhelosen träumen.

Träumen wir, Mutter?

Nichts, keine Antwort. Aber warum sah Anne, wie eine Tür aufging und ein Lichtstrahl hereinfiel? Warum hörte sie ... was? Einen Wasserfall? Wasser, das von großer Höhe herunterstürzte?

»Anne, hörst du mich? Anne, wach auf.«

Deborah schüttelte Anne an der Schulter. Aber das machte den Traum nur noch lebhafter, der aus der Vergangenheit mit voller Wucht zurückgekehrt war. Der Traum, in dem sie im Schnee liegt und die Wölfin sich in ihrer Schulter verbeißt. Dann ein Schrei, vom Himmel stürzt ein Adler herab und vertreibt die Wölfin mit Schnabel und Klauen. Eingeschüchtert heult die Wölfin auf und flieht. Sie ist blutüberströmt. Federn streichen über Annes Gesicht. Der Adler sitzt neben ihr im Schnee, die ausgebreiteten Schwingen werfen einen Schatten über sie.

Der Adler und die Wölfin . Warum?

»Wölfin? Ach, mein Schatz, wach doch auf. Komm zurück!« Deborahs Kehle war vor Angst wie zugeschnürt. »In England gibt es keine Wölfe. Sie sind fort. Sie sind alle nach Schottland gezogen. Anne? Anne!«

Anne de Bohun schlug die Augen auf und sah die glitzernden Spuren auf dem furchigen Gesicht. Sanft wischte sie die Tränen vom Antlitz ihrer Mutter. »Ja, du hast recht. Es gibt keine Wölfe. Adler herrschen über uns.«

Anne ritt nach Wincanton the Less. Sie wollte mit Long Will und Meggan über den geplanten Ausbau der Hütten im Dorf sprechen. Deren baufälligen Zustand zu verbessern war ihr ein persönliches Anliegen.

Schuldgefühle sind etwas sehr Mächtiges. Sollte sie bleiben oder nach London gehen? Diese Frage plagte sie Stunde um Stunde, Tag um Tag. Anne schüttelte den Kopf, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. Schritt für Schritt, Schritt für Schritt. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig.

»Das Bauholz könnt ihr aus dem Wäldchen bei der Mühle holen«, sagte sie zu den beiden Dörflern. »Die Arbeit muss vor dem Herbst fertig sein, wenn ihr im nächsten Winter besser wohnen wollt.«

Meggan lächelte die Herrin an. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren bestand für die Frauen im Dorf die Aussicht, den Winter mit ein wenig Fett auf den Rippen zu überstehen. Und das hatten sie allein Anne de Bohun zu verdanken. »Lady, die Arbeit ist nicht so sehr das Problem - alle werden mit anpacken -, aber da so viele Männer aus dem Dorf zum Krieg eingezogen worden sind, fehlt uns ein geschickter Zimmermann, der uns beim Aufstellen und Verzapfen des Fachwerks behilflich sein kann.«

Anne nickte. »Gut. Wir müssen also einen Zimmermann suchen.« Morganne, Annes Stute, stupste ihre Herrin an. Es machte sie ungeduldig, einfach nur dazustehen und zu warten, wenn Leute sich unterhielten. Anne streckte automatisch ihre Hand aus und streichelte ihre Nüstern. »Nur Geduld. Du hast doch genug zum Frühstück gehabt. Ich muss dir wohl Beine machen, so frech wie du bist.« Ein langer Ritt - dann würde sie vielleicht wieder klar denken können und ein bisschen entscheidungsfreudiger sein.

»Will, Ihr und Meggan müsst entscheiden, was am dringlichsten ist, und mir dann Nachricht ins Herrenhaus schicken.

Wat könnte ich für ein paar Tage entbehren. Er kann nach Taunton reiten und alles Nötige besorgen.«

Anne fasste Morganne fest am Zügel und führte sie zu einer verfallenen Mauer. Sie kletterte auf einen großen Stein und schwang sich von dort aus auf den Pferderücken. Das rechte Knie winkelte sie am Sattelknauf ab, damit ihre Röcke sittsam die Beine bedeckten. Im Herrensitz reiten, das gab es nicht mehr für Anne de Bohun.

Als Anne mit ihren behandschuhten Händen die Zügel ergriff, unterdrückte sie ein bebendes Seufzen. Auf das brave Pferd zu steigen, den Schweiß des Tiers zu riechen, das brachte ihr den Wahnsinnsritt von s'Gravenhage nach Brügge wieder in Erinnerung. Es war nur ein gutes halbes Jahr her, dass sie hinter Edward Plantagenet kauernd in winterlicher Kälte durch Europa geritten war, dessen Machtgefüge sich damals veränderte. Und nun wollte er, dass sie zu ihm zurückkehrte. Nein, er hatte sie nach London beordert.

»Mistress?«, unterbrach Meggan ihre Gedanken.

Wie gut war es, von diesen Menschen gebraucht zu werden, sich nützlich zu fühlen. Sollte, konnte sie wirklich von hier fortgehen?

»Wir haben davon gehört. Von London.«

Das Pferd tänzelte einen Augenblick, als Annes plötzlich an den Zügeln zog. Meggan nickte, und obwohl sie lächelte, klang ihren Stimme rau vor Angst. »Die Vorladung des Königs.«

»Wer hat Euch das erzählt?«

Meggan sah beschämt zu Boden. Sie zuckte die Achseln. »Was die Leute so reden, Lady.« Dann sah sie zu Anne hoch. »Werdet Ihr lange am Hof weilen?«

Anne tätschelte die ungeduldige Stute. Ihre Worte genau wählend, sagte sie dann mit klarer, durchdringender Stimme: »Ihr könnt es allen sagen hier in Wincanton the Less. Der König ist ein alter Freund von mir. Ein alter Freund meiner Familie und also auch Euer Freund. Und wenn ich nach London gehe, falls ich gehe, wird es uns allen hier zugutekommen. Und ich werde eiligst zurückkehren.«

Auch Meggan sprach sehr laut, damit die Dörfler, die in ihren Türen standen und neugierig dem seltsamen Wortwechsel lauschten, sie verstehen konnten. »Dessen sind wir gewiss, Lady. Und der König wird doch zweifellos Euerm Wunsch nach Rückkehr mit Freuden entsprechen wollen?« Jahre der Angst, Jahre der harten Winter und der Entbehrung sprachen aus Meggans Worten.

Anne verstand. Sie antwortete ruhig und freundlich, und sie hoffte, ihre Worte mochten wahr werden. »Ja, Meggan, er wird meinem Wunsch entsprechen. Euch allen einen guten Tag.«

Anne nickte den Dörflern ermutigend zu, und Meggan trat einen Schritt zurück. Die Gutsherrin von Herrard Great Hall setzte sich im Sattel zurecht und richtete sich auf. Die Stute spürte das Signal und fing an zu tänzeln. Sie wollte galoppieren, wollte ihre Muskeln bewegen, die vom Stehen im Stall schlaffgeworden waren. Am Rand des Dörfchens ging die breite, staubige Straße in einen Pfad über, der geradewegs in einen dichten Wald aus stattlichen Eichen und Ulmen führte. Annes Bäume. Annes Land. Ja, sie wollte Morganne richtig laufen lassen und dabei eine Antwort finden. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Komm, meine Schöne. Fliege mit mir.«

Das Pferd brauchte keine weitere Aufforderung. Die hübsche Stute und die Frau flogen wie ein Vogelpärchen über das Land. Aber die Wahrheit holte Anne de Bohun ein.

Renne nur, sagte die Wahrheit. Am Schluss entkommst du mir doch nicht. Stolz ringt mit Leidenschaft. Der König hat gerufen, und er denkt, du wirst ihm mit Freuden gehorchen.

»Ha! Mit Freuden?«, schrie Anne. Morganne erschrak und scheute mitten im Galopp. Ihre Herrin brachte das verwirrte Tier zum Stehen. Pferd und Reiterin keuchten beide.

Hatte sie, Anne de Bohun, denn die Kraft, Edward Plantagenet zu trotzen - falls sie sich entschied hierzubleiben - und seinen Ruf zu ignorieren?

Die Wahrheit lachte laut auf. Trotzen? Korrekt muss die Frage heißen: Willst du?

Kapitel 62

Johannistag, das Fest des heiligen Täufers wurde begangen. Der Juni neigte sich seinem prachtvollen Ende zu. Dieser vollkommene Sommer hatte Ende Mai begonnen, gerade so, als wollte er die Rückkehr des Königs segnen. Dann kamen strahlend blaue Tage und klare Sternennächte, sanfte Winde, und in Wald und Flur spross üppiges Blattwerk, wie es im Königreich England noch nie gesehen ward.

Aber noch immer war sie nicht zu ihm gekommen.

»Und? Was habt Ihr erfahren?«

»Herr, Lady Anne de Bohun hat die Begleiter, die Ihr ihr kürzlich geschickt habt, dankend abgelehnt. Sie sind zum Palast zurückgekehrt. Mündlich hat sie ausrichten lassen, ihre Leute brauchten sie, und sie müsse sich erst um deren Nöte kümmern.«

Der König lief unruhig durch sein Privatzimmer, das Blut rauschte in seinen Adern. »Zuerst? Was bedeutet das? Möchte sie denn später im Jahr kommen?«

William Hastings unterdrückte ein Achselzucken. »Ich weiß nicht, Majestät. Die, die Ihr schicktet, erzählen, die Lady habe sie nicht in ihr Gutshaus gelassen und habe es abgelehnt, ihnen mehr zu sagen. Da sie das Haus aber nicht belagern wollten, blieb ihnen nur, nach London zurückzukehren.«

Edward Plantagenet lief ständig hin und her, hin und her.

Er erinnerte Hastings an die Löwen im Tower vor der Fütterung. »Ist das Frauengemach für Lady Anne hergerichtet, wenn sie kommt?«

Der Kämmerer nickte. Das Boudoir war fertig. Es war eine Augenweide geworden, das ideale Nest für zwei Liebende. In einem wilden Garten hatte er einen alten Turm entdeckt, den er innerhalb von nicht einmal zwei Wochen vollständig hatte renovieren und neu einrichten lassen. Nun stand er da, leer, und wartete auf die Frau, von der der König, zum großen Nachteil seines Landes, regelrecht besessen war.

»Warum, William? Warum kommt sie nicht, wenn ich sie bitte?«

Vorschnell antwortete William: »Vielleicht weil sie Angst hat, mein König?«

»Aber ich bin doch ihr Beschützer. Weder ihr noch dem Knaben drohen Gefahr, wenn ich klarstelle, dass Anne de Bohun meine auserwählte Geliebte ist.«

Die zuversichtlichen Worte überdeckten seine Angst vor Abweisung, beide wussten das. Hastings schwieg. Edward drehte sich abrupt um und sah seinem ältesten und engsten Freund ins Gesicht. Hinter seinem Zorn lauerte Angst.

»Elizabeth? Ist sie es, die Anne Angst macht? Ich weiß, was meine Pflicht ist, und Elizabeth weiß es auch. Sie wird als meine Gemahlin immer in Ehren gehalten werden. Ich denke sogar, dass wir uns seit der Geburt unseres Sohnes näherstehen, als wir sollten. Aber Anne ... ich brauche sie hier bei mir!«

William Hastings besaß ungewöhnlich viel Bildung für einen Soldaten, und als der König laut wurde und den engen Raum mit seiner Wut füllte, drängte sich ihm ein Bild auf. Ein Kind, nur an einer Ferse gehalten, wird in einen Kessel mit glitzerndem Wasser getaucht. Schreiend taucht es mit rotem Gesicht wieder auf, aber unbesiegbar, göttergleich. Bis auf die eine Stelle, die das Wasser der Götter nicht berührt hat ... Achilles. Der große Held, der an seiner ungeschützten Ferse verwundet wurde und starb.

Anne de Bohun war Edwards Achillesferse. Jetzt, wo der König sich ganz auf den Wiederaufbau seiner Dynastie konzentrieren und das Volk von ihrer Stabilität überzeugen müsste - um seinen Anspruch auf den Thron zu rechtfertigen -, da erhob sich wieder einmal der Geist dieser Frau und lenkte, wie schon viel zu oft in der Vergangenheit, den König von seinen Pflichten ab. Sexuelle Leidenschaft war William nicht fremd, sie war auszuhalten, weil sie mit der Zeit schwächer wurde. Aber dies war etwas anderes, und er fürchtete den Fluch der Liebe wie die alten Griechen.

»Nein! Diesen Blick kenne ich, William. Ihr glaubt, sie sei schlecht für mich. Ihr versteht das nicht. Ihr könnt das nicht verstehen.« Der Zorn wich aus dem Gesicht des Königs und machte einer unendlichen Traurigkeit Platz. William war ratlos.

»Euer Majestät. Sie ist nur eine Frau. Es gibt noch viele Frauen.«

»In London? In meinem Königreich? Ja. Und jede möchte damit prahlen, dem König beigewohnt zu haben. Jede ist begierig, sich Vorteile zu verschaffen. Versteht Ihr nicht? Anne möchte nichts von alledem. Sie möchte mich. Nur mich. Ich bin ihr Ritter, und ich bin der Vater ihres Sohnes. Und er ist mein Erstgeborener.« Niedergeschlagen starrte der König in die Ferne.

William tat sich schwer, seinen Ärger zu unterdrücken. Aber wenn man von den Gefühlen absah, war Annes Sohn, so entzückend er auch sein mochte, letztendlich doch nur ein Bastard. Und es gab jetzt einen ehelichen Prinzen. Hastings bedauerte nicht zum ersten Mal die höfische Liebhaberei, Ritterbücher zu lesen. Warum sonst sollten vernünftige Männer wie der König eine derart schädliche, gefühlsbetonte Sichtweise von den Din-gen des Lebens haben - eine instabile, launenhafte, weibische Lebenseinstellung. Das konnte nur an diesen lächerlichen Geschichten über Ritter und ihren unerreichbaren Burgfräulein liegen. Ganz einfache Dinge, wie zum Beispiel das Verhältnis von Mann und Frau, wurden wirr und trüb, wo zuvor klare Regeln geherrscht hatten. William hatte aber nicht die Absicht, diese Gedanken auszusprechen. Edward war vom monatelangen Kampf um sein Königreich erschöpft. Mit einem offenen Wort war jetzt niemandem gedient. Die Plantagenets waren dafür bekannt, dass sie sich leicht erregten und in Zorn gerieten. Edward machte da keine Ausnahme. Dies war die Kehrseite der Medaille bei einer großen und starken Persönlichkeit wie ihm. Auf der einen Seite das öffentliche Bild des erbarmungslosen Kriegers, des Anführers, der in der einen Hand das Schwert, in der anderen die Schalen der Gerechtigkeit trug. Auf der anderen Seite aber der Privatmann, der Vater, der Liebhaber und sogar der romantische Träumer. Dies war der Mann, der Anne de Bohun liebte. Und sie war seine unselige, verwundbare Stelle.

Mochte er, Hastings, die junge Frau noch so schätzen und ihren Mut bewundern, er wusste, dass Anne de Bohun schon sechs Jahre lang eine Gefahr für Edwards seelisches Gleichgewicht darstellte, jetzt mehr als je zuvor. War sie doch eine Hexe, eine unheilvolle Kraft, die das Leben des Königs zerstörte?

William widerstand dem Drang, sich zu bekreuzigen. Was waren das nur für Gedanken? Hexen waren Fantasiegestalten, bäuerlicher Aberglaube. Jetzt waren Taten gefragt, die düstere Stimmung musste fortgeblasen werden. »Euer Majestät, was soll ich tun?«

Edward drehte sich um und starrte William gequält an. »Geht persönlich zu ihr. Jetzt sofort. Bringt sie nach London. Tut einfach, was notwendig ist. Und ich möchte, dass Ihr Ihre Majestät, die Königin, von meinen diesbezüglichen Wünschen unterrichtet. Ihr mögt mir später mitteilen, wie sie reagiert hat.«

William Hastings verneigte sich so tief, dass der König nicht sehen konnte, was er empfand. Niemals, nicht in all der Zeit, die sie miteinander verbracht, nicht in all den Schlachten, die sie Rücken an Rücken gefochten hatten, hatte er den widerlichen Atem drohenden Unheils so deutlich wahrgenommen. Er fürchtete sich davor, mit der Königin zu reden.

»Und, William?«

Der Kämmerer, der gerade im Begriff war, rückwärts das kleine Zimmer zu verlassen, blieb stehen. »Euer Majestät?«

»Macht Lady Anne keine Angst. Gebt ihr zu verstehen ...«

»Was zu verstehen, Herr?«

»Warum ich sie brauche. Und dass ich sie liebe.«

Hinter dem Großkämmerer Englands fiel leise die Tür ins Schloss, und der Türsteher ließ den Schieber nach unten gleiten, als wäre er in Samt verpackt. Er hatte die letzten Worte der Unterhaltung gehört. Sie würden es alle auszubaden haben, wenn die Königin von der Mätresse ihres Gemahls erführe.

Kapitel 63

»Wann?« Nur ein Wort, aber es sagte alles. Es klang eiskalt und bedrohlich.

Hastings hatte bei der Königin vorgesprochen, um ihr wie befohlen die Nachricht zu überbringen. Bei ihrem Tonfall ging er unwillkürlich in Abwehrstellung.

»Seine gnädige Majestät haben mir aufgetragen, Euch davon zu informieren, dass Lady Anne de Bohun an den Hof beordert werden muss, da sie ohne seine Erlaubnis aufs Land zurückgekehrt ist. Da sie damit die Bedingungen ihrer Verbannung gebrochen hat, muss sie dazu gehört werden, damit Recht und Ordnung im Königreich aufrechterhalten werden.« Er war von seiner wohlklingenden Rede sehr angetan - und auch von seinem sparsamen Umgang mit der Wahrheit. Seine Freude währte jedoch nicht lange, denn die Königin ließ ihre Stickerei sinken und sah den besten Freund ihres Gemahls an.

»Ich dachte, sie sei tot, Hastings. Sie sei als Hexe in Brügge verbrannt worden, kurz nachdem der König die Stadt verlassen hatte.«

William räusperte sich nervös. »Tatsächlich wurde Lady Anne de Bohun damals Opfer entsprechender Gerüchte, aber anscheinend blieb es bei Gerüchten, Euer Majestät.«

Der Blick der Königin war spitz wie ein Speer. »Nun denn, Hexe oder nicht, wenn sich diese Frau illegal im Königreich aufhält, wird sie, nehme ich an, von bewaffneten Wachen aus ihrem gegenwärtigen Versteck geholt und an den ihr zustehenden Ort im Tower verbracht werden. Dort kann sie zugrunde gehen, wie es Verrätern an der Sache des Königs gebührt.«

Lord Hastings versuchte vergeblich, dem Blick der Königin standzuhalten. Er verneigte sich und sprach mit ernster Stimme zu den bestickten Samtpantöffelchen der Königin. »Es werden entsprechende Vorbereitungen getroffen, Euer Majestät. Der König, Euer hochedler Gemahl, war der Meinung, dass Ihr alles wissen solltet, was diesbezüglich in seinem Namen geschieht.«

Die Königin bekreuzigte sich mit eisiger Würde. »Ihr mögt dem König, meinem Herrn, meinen Dank aussprechen für die Rücksicht, die er uns, den geringsten seiner Untertanen, zukommen lässt. Er war geneigt, die Königin darüber aufzuklären, dass eine neue Gefahr die Stabilität dieses Königreiches bedroht, und dafür bin ich ihm höchst verbunden. Richtet dies meinem Gemahl aus. Und nun muss ich mich um unseren Sohn, seinen kostbaren, ehelichen Sohn und Erben, kümmern.« William

Hastings mochte Elizabeth Wydeville nicht, aber ihre Ruhe beeindruckte ihn. Auch sie hatte in den vergangenen, unruhigen Monaten ein eisernes Rückgrat entwickelt.

Als die Königin sich erhob, ihre Hände verschränkte und vom Thronpodest herabstieg, trat Hastings zur Seite und verneigte sich besonders tief. Sie verließ das große Sonnenzimmer mit so winzigen Schritten, dass es aussah, als glitte sie über den Boden. Flüsternd raschelten die Gewänder über die Mosaikfliesen, als die Hofdamen leise tuschelnd ihrer Herrin folgten.

In der angespannten Stille, die dem Abgang der Königin folgte, konnte sich William Hastings einen Moment lang sammeln. Der König erwartete Bericht, wie Elizabeth Wydeville die Nachricht aufgenommen hatte, und er, der höchste Offizier des Königs, durfte nicht zögern. Trotzdem blieb er noch kurz stehen, klopfte unruhig mit den Fingern auf die steinerne Fensterbank und starrte zum Fluss hinab, der nach Osten und Süden zum Meer floss.

Anne de Bohun lähmt das Urteilsvermögen des Königs, dachte der Großkämmerer von England. Die Königin hat recht. Es gibt so viel zu tun, und diese Besessenheit des Königs könnte den schwer errungenen Frieden gefährden. Es muss etwas geschehen, zum Wohl des Landes.

»Ihr habt eine Rivalin.«

Elizabeth Wydeville zischte wie eine drohende Katze. »Sagt mir etwas, was ich nicht schon weiß. Langsam denke ich, Ihr besitzt überhaupt keine Sehergabe.«

Die Königin grinste höhnisch, aber ihre Stimme bebte. Die Frau schien sie nicht zu hören. Sie war ganz auf ihre Wahrsagerschale konzentriert und nickte leicht, als lauschte sie Stimmen aus weiter Ferne. Elizabeth sah ihr gegen ihren Willen gebannt zu. Es geschah nicht oft, dass sie Menschen traf, die keine Angst vor ihrer Königin hatten.

»Wozu braucht Ihr dieses Ding?«

Das Mädchen lächelte. Sie war von Geburt an blind, und ihre milchweißen Augen richteten sich auf die Königin. Elizabeth bebte vor Abscheu.

»Weil ich auf andere Art sehe, Eure Majestät. Die Schale brauche ich, denn ich kann das Licht riechen, das sie mir sendet.«

»Das Licht riechen? Unsinn! Licht hat keinen Geruch.«

Lilliana schüttelte den Kopf. »Für mich schon. Und wenn ich ihn wahrnehme, rieche ich die Antworten auf meine Fragen.« Das blinde Mädchen legte schützend die Hände um die kostbare Glasschale. Sie war sehr alt. Die Königin hatte eine ähnliche nie zuvor gesehen. Das zerbrechliche Gefäß war von einem blassen Blaugrün, und seine Oberfläche war wolkig verschwommen, als hätte es seit undenklichen Zeiten im Meer oder in einem Fluss gelegen. Und so war es auch. Und wunderbarerweise war es vollständig erhalten.

Elizabeth Wydeville hatte bei allem Aberglauben keine Geduld für zeitraubende Schönfärberei. Sie brauchte Informationen und hatte gehört, dass diese Frau eine begnadete Seherin sei. »Sagt, was Ihr wisst. Beschreibt mir diese Frau.« Die Königin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Das war eine Probe. Wenn das Mädchen sie bestand, konnte sie ihr auch sonst

»Da meine Augen nie so gesehen haben wie die Euren, Eure Majestät, mag meine Beschreibung etwas fremdartig klingen. Aber ich werde mich bemühen.« Schweigen füllte den Raum. Es war so still, dass die Königin das Rauschen ihres eigenen Bluts hörte. Es war unheimlich. Beunruhigend. Dann ...

»Hört Ihr das?«

Elizabeth zuckte auf ihrem Stuhl zusammen. Die blinden Augen fixierten sie wieder. Das Rauschen wurde lauter. Beide konnten es jetzt hören. Wasser, nicht Blut. Fließendes Wasser, das von weit oben ins Tal stürzte. Wieder hörten sie es: ein unaufhörliches, rollendes Brüllen.

Der Mund der Königin war wie ausgetrocknet. Sie zwang sich, etwas zu sagen. »Wasser? Warum höre ich Wasser?«

Lilliana hob ihre Hand und lauschte konzentriert und dann erhob sie ihre Stimme, um das Rauschen zu übertönen. »Ich sehe einen Wasserfall. Hell und glänzend. Und ich sehe Bronze ... etwas aus Bronze glitzert in der Sonne. Ich sehe einen Eisvogel. Er fliegt, und neben ihm fliegt ein Adler. Dort . noch ein Adler. Er greift den Eisvogel an. Die Adler kämpfen miteinander. Jetzt sehe ich einen Wanderfalken. Er fliegt zu dem Eisvogel, die Adler sind vom Kampf abgelenkt.«

Die Königin lehnte sich zurück. Ihre Augen waren kalt und gefühllos, aber ihre zitternden Hände waren ineinander verkrampft. »Ihr sprecht in Rätseln.«

Die Blinde schüttelte den Kopf. »Nein. Für mich ist das klar, und ich denke, für Euch ebenso.« Sie umfing die Glasschale mit ihren Händen, ihre trüben Augen starrten in das klare Wasser. »Das Haar ist bronzefarben, und die Augen sind wie bunte Federn, wie Edelsteine. Blaue Edelsteine, grüne Edelsteine. Ihr, Königin, seid ganz anders als sie. Aber ihre Rechte sind so stark wie die Euren.«

Elizabeth Wydeville schwankte zwischen Wut und Angst. »Ihr sprecht von Rechten, aber sie hat keine Rechte. Keine!«

»Doch wenn die Wahrheit bekannt wäre, würden die Leute das anders sehen. Sie hat so viel verloren ...«

»Und was habe ich verloren? Mein Gemahl musste ins Ausland fliehen und ich in den Schutz der Kirche. Und ich wusste nie, ob er zurückkommt oder ob ich selbst, mein neugeborener Sohn und meine Töchter im Schlaf ermordet werden. Habe nicht auch ich viel Leid erfahren?«

Das Mädchen sah zur Königin hin. »Alles, was Euer ist, ist Euch zurückgegeben worden. Ihr seid immer noch die Königin. Das ist Euer höchstes Ziel. Sie aber, Eure Rivalin, hat all dies aufgegeben, zum Wohl des Kindes und des Mannes. Sie hat alles verloren, was ihr gehören sollte. Nun hat sie einen kleinen Teil davon wieder zurückgewonnen. Vielleicht ist das genug. Und doch, sie müsste nur ihre Hand ausstrecken .«

Der Zorn nahm Elizabeth den Atem. »Ihr meint, mein Gemahl könnte diese Hure heiraten?«

Lilliana schüttelte ruhig ihren Kopf. »Keine Hure, und auch nicht, solange Ihr lebt. Das zerreißt beiden das Herz.«

Die Königin bekreuzigte sich mit hektischen Bewegungen. Diese endlose Suche nach Antworten auf die Fragen, die sie quälten - sie war immer vergebens. »Hier, Euer Lohn. Ich will kein Geld behalten, das mit solch bösen Lügen besudelt ist.«

Unbarmherzig warf sie die Münzen auf den Tisch, sie hüpften und rollten über die hölzerne Platte, manche fielen zu Boden, überschlugen sich und kreiselten bis in die hintersten Ecken des Zimmers. Das Mädchen machte keine Anstalten, nach ihnen zu suchen.

»Behaltet Euer Geld, Lady. Gebt es den Armen vor den Toren. Ich nehme keine Bezahlung für meine Gabe - ich möchte kein Geld damit verdienen.« Das Mädchen drehte seinen Kopf hierhin und dorthin, um herauszufinden, wo die Königin sich befand. Die Bewegung hatte etwas Beunruhigendes und Unheimliches. »Ich verstehe nicht alles, was ich sage, aber ich weiß, dass es die Wahrheit ist. Es tut mir leid, wenn ich Euch damit gekränkt habe, aber es ist die einzige Verpflichtung, die meine Gabe mir auferlegt.«

Lilliana sank auf ihren Stuhl zurück. Sie war erschöpft, sie schwitzte und war blass wie die gekalkte Wand. Weiße Haut, weiße Augen, weißes Kopftuch. War sie eine Gestalt aus Schnee? Eine Gestalt, die schmolz und nur eine Pfütze am Boden zurückließ? Die Königin schüttelte diesen Gedanken von sich ab, drehte sich wortlos um und eilte zur Tür. Doch gerade als sie den Riegel hochheben wollte, sagte Lilliana doch noch etwas.

»Der König hat einen Freund, der nicht sein Freund ist, nicht in allen Dingen. Er soll sich vor dem Mann hüten, der aus dem Dunkel kommt. Aus dem Dunkel, das er selbst geschaffen hat.«

Die Königin verweilte einen Augenblick, neue Fragen drängten sich ihr auf. Doch als sie sich umdrehte, um mehr zu erfahren, da sah sie nur ein leeres Zimmer, obwohl es nur einen Weg hinein und hinaus gab, nämlich die Tür, an der sie stand. Nichts war mehr da. Keine Schale. Kein Tisch. Kein Mädchen.

Nur auf dem Boden war eine Lache reglosen Wassers. Es glänzte weißlich wie der Kalk an den Wänden.

Und da erwachte Elizabeth Wydeville, Königin von England, und schrie.

Kapitel 64

Zwei Tage später schlug das Wetter um. Herrard Great Hall wurde plötzlich von Windböen geschüttelt. Die Fensterläden schlugen gegen die Mauern, der Wind nahm an Stärke zu, und dann brach mit einem Getöse wie von einer einfallenden Armee ein Sturm los. Der kleine Edward erwachte in seinem Rollbett-chen und zitterte vor Angst. Am meisten fürchtete er sich vor einem hallenden Krachen, das immer wiederkehrte. Die Sturmriesen!

Blitze hüllten das Zimmer in weißes Licht, und draußen im Hof ächzte und stöhnte seine Eiche. Direkt über ihm krachte ein Donnerschlag. Das Kind schrie.

»Wissy! Wo bist du, Wissy?«

Er schrie aus Leibeskräften, aber niemand kam. Er kroch unter die Decken, bis es wieder anfing, dieses krachende Geräusch in der Ferne. Die Riesen stürmten die Burg! Er musste Wissy retten. Edward taumelte aus seinem Bettchen und rannte durch den Raum, der ihm im ständigen Wechsel von hell und dunkel riesengroß vorkam. Er stolperte zu einer der drei Türen, das Herz hämmerte in seiner Brust. Schluchzend fasste er nach oben, um das eiserne Türschloss zu erreichen, das sich direkt über seinem Kopf befand. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sich verzweifelt.

Zweimal durchschnitt ein weißer Blitz die Dunkelheit, zweimal tobte der Sturm über das Dach. Das Entsetzen half Edward, den Riegel umzulegen, und dann war er durch die Tür, rannte los und schrie gellend: »Wo bist du? Wo bist du, Wissy!«

In dieser Nacht wurde ihm das Vertraute plötzlich fremd. Bei Tageslicht war es ganz einfach, die Wendeltreppe zur Diele hinunter zu finden. Nachts war alles anders, und es gab keine Fackeln, die ihm den Weg zeigten. Er rannte und rannte, durch blitzende Dunkelheit, durch Regen, der durch die Schießscharten peitschte, und endlich, endlich ertasteten seine Füße die erste Treppenstufe. Aber das Treppenhaus war dunkel, und plötzlich überwältigte ihn die Gewissheit, dass sie fort waren. Sie waren alle fort, nach London, und ihn hatten sie zurückgelassen. Erneut krachte es - die Riesen kamen näher. Edward schrie und hielt sich die Augen zu.

Unten in der großen Diele herrschte ein lärmendes Durcheinander. Der Regen peitschte durch die offene Tür und riss den einzigen Wandteppich, den Anne noch besaß, aus seiner Befestigung. Anne kämpfte mit dem Teppich und gegen den Sturm. Ihre Röcke blähten sich, als sie versuchte, die Tür hinter dem durchnässten Mann zu schließen, der die ganze Zeit ge klopft hatte.

»Leif!«

»Ja, Lady. Gebt her, ich kann das machen.« Die Tür war groß, und der Wind war stark, aber Leif wurde mit beidem fertig. Die Tür schloss sich und sperrte den heulenden Sturm aus. Dann herrschte plötzlich Stille.

»Wissy? Wo bist du?«

Das Schreien ihres Kindes traf Anne wie ein Schlag. Sie griff nach einer Fackel und rannte zur Treppe. Fragen mussten warten.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, erreichte sie ihren Sohn. Er hockte wie ein zitterndes Häufchen Elend auf einer der Treppen, und auch wenn er seine Tränen zurückhielt, so erzählten sein bleiches Gesichtchen und seine entsetzt blickenden Augen die ganze Geschichte. Anne schob die Fackel in eine Wandhalterung, und als sie sich bückte, um ihren Sohn in die Arme zu schließen, stolperte sie fast über ihre Röcke.

»Ich wollte dich retten, aber dann dachte ich, du seist fort. Ich dachte, du hättest mich allein gelassen.« Der Donner krachte wieder, und Edward verbarg, außer sich vor Angst, sein Gesicht in Annes Kleid. »Mach, dass es weggeht! Es soll weggehen!«

Ein riesiger Schatten wuchs von unten herauf, erst der Kopf, ein formloser Fleck, dann ein mächtiger, dunkler Schattenriss. Edward sah hoch und kreischte: »Der Riese!« Die Treppenkehre hatte Leif Molnar verdeckt, und nun war er nur im Gegenlicht seiner Fackel zu erkennen. Ein Blitz fing den starren Blick des Knaben auf. In diesem Augenblick sah er aus wie tot, vor Schreck gestorben.

»Ist der Junge ...?« Leifs Herz krampfte sich zusammen. Er konnte das Wort nicht aussprechen.

»Nein! Er hat nur Angst vor Gewitter.«

Edward vergrub sich noch tiefer in Annes Arme. Sie wiegte ihren Sohn, sprach beruhigend auf ihn ein und nahm bewusst keine Notiz von dem, was sie in Leifs Augen las. »Du musst keine Angst haben, mein Schatz, niemand tut dir etwas.« In der Ferne grollte der Donner, das Gewitter verzog sich. »Siehst du, jetzt ist es fast vorbei. Schau, wir haben einen Gast. Deinen Freund Leif.«

Der Knabe wagte es nicht, ihn anzusehen, aber er fragte: »Wirklich kein Sturmriese?«

Der Däne sank auf ein Knie herab, so dass sein Kopf auf gleicher Höhe mit dem des Knaben war. »Hast du mich vergessen, Edward? Da wäre ich aber sehr traurig.«

Der kleine Edward richtete sich langsam auf und sah den Mann vor ihm ehrfürchtig an. »Bist du ein Riese, Leif? Du siehst aus wie ein Riese.«

Der Däne schüttelte den Kopf und lächelte, aber sein Blick haftete auf der Frau. »Überlasst mir den Jungen, Frau. Es gibt Dinge, die ich mit ihm besprechen muss. Es wird Zeit, dass er den Donner versteht und mit seiner Angst umgehen kann.«

Leif reichte Anne seine Fackel und breitete seine Arme aus. Edward ließ es zu, dass er ihn hochhob, und Anne ging mit beiden Fackeln hinter ihnen her. Das Licht warf die Schatten des Mannes und des Knaben in die große Diele.

Und dort wartete Deborah. Im Kamin prasselte ein Feuer, und die Flammen schlugen hoch in die dunkle Nacht.

Es war spät geworden. Der kleine Edward war auf Leifs Armen fast eingeschlafen. Er hatte eine lange, lange Geschichte gehört und hatte sich wieder beruhigt.

»Thor herrscht über den Donner, mein Junge. Und über den Sturm. Beides sind seine Diener. Du musst keine Angst haben, denn Thor wacht über mich. Und da ich über dich wache, ist er auch dein Beschützer.«

Da öffneten sich Edwards Augen doch wieder. »Aber du hast doch gesagt, er sei ein Kriegsgott?«

Leif verlagerte das Gewicht des Knaben, setzte ihn in seine

Armbeuge und schlug seinen Mantel um ihn. »Das ist richtig. Aber ich bin ein Kämpfer und du auch.«

Edward kicherte. »Ein Kämpfer? Ich?«

Leif nickte ernst. »Natürlich. Du hast heute Nacht Mut bewiesen. Ein Feigling wäre im Bett geblieben und hätte sich unter der Decke verkrochen, aber du warst tapfer. Du hast dich dem Sturm entgegengestellt, um deiner Tante zu helfen. Als Kämpfer ist es wichtig, die richtige Technik zu beherrschen. Das werde ich dir beibringen. Wenn du erwachsen bist, wirst du größer und stärker sein als ich.«

Edwards Augen waren weit aufgerissen. Er lachte - ein helles Lachen in dunkler Nacht. »Aber du bist ein Sturmriese!«

Leif lachte auch. »Trotzdem. Aber ich wollte dir noch vom Donner erzählen. Wenn du sein Grollen hörst und siehst, wie der Himmel aufreißt, dann weißt du, dass dein Beschützer nahe ist. Und auch wenn ich nicht bei dir bin, weißt du, dass du behütet bist. Sturm und Donner sind dem Gott untertan. Wir Menschen können sie nicht beherrschen, deine Mutter nicht und ich auch nicht.«

Edwards Augen fielen flatternd zu, seine langen Wimpern ruhten auf seinen Wangen. »Meine Mutter?« Der kleine Junge gähnte herzhaft. »Meine Mutter habe ich nie gesehen. Sie ist gestorben.«

Leifs und Annes Blicke trafen sich. Sie sah ihn die Worte formen, sah ihn sie aussprechen, obgleich kein Ton das schläfrige Kind aufschreckte. »Nein. Deine Mutter lebt.«

Der Abstand zwischen ihnen betrug höchstens vier Schritte. Vier Schritte, die sie leicht zurücklegen konnten, wenn sie wollten.

Aber Anne senkte ihren Blick. Und er wickelte einen Augenblick später das Kind fester in seinen Mantel und erhob sich, um es in sein Bettchen zu tragen. In dieser Nacht sprachen sie nicht mehr miteinander.