Kapitel 30

»Verflucht sei er. Verdammt. Vernichtet!« Der rhythmische Sings ang begleitete die Stiche des winziges Dolchs. Einmal, zweimal, dreimal und noch einmal durchbohrte die silberne Spitze die Puppenbeine, die bereits von kleinen Löchern übersät waren. Der letzte Stich ging so tief, dass das Sägemehl herausrieselte und das Bein wie ein schlapper, leerer Sack aussah.

»Tochter? Was tust du da?«

Elizabeth drehte sich rasch um, die Puppe, die Louis de Valois verkörpern sollte, an die Brust gepresst. »Pst! Sei still, Mutter. Sonst hören sie uns.«

Hastig warf Herzogin Jacquetta die Tür des Jerusalemzimmers zu. Es war eine wuchtige Tür, die sich im nasskalten Wetter verzogen hatte und ihr nicht gleich gehorchen wollte. Wie so vieles in ihrem Leben. »Wir müssen vorsichtig sein! Wenn du dabei ertappt wirst, wenn man dich sieht, dann ...«

Elizabeths Augen glitzerten unheimlich. Das fahlgrüne Licht, das durch die dicken Fensterscheiben fiel, verlieh ihrer Haut die Blässe einer Leiche. »Ich werde erst aufhören, wenn er tot ist, Mutter. Das ist alles, was ich tun kann und was Ihr tun könnt. Ihr habt mich das doch gelehrt.«

»Nein! Das ist zu öffentlich. Thomas Milling wird dir und auch mir keinen Schutz mehr gewähren, wenn er denkt, wir seien ...«

Die blauen Augen der Königin verengten sich zu Schlitzen,

als sich ihr Blick mit dem ihrer Mutter maß. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war manchmal erschreckend.

»Was, Mutter? Hexen etwa? Die schwarze Magie betreiben?« Elizabeth Wydeville lachte ein wohlklingendes, glockenhelles Lachen. »Der Abt ist so vergeistigt, dass er so etwas nicht einmal denken würde. Warum auch? Er liest doch dauernd die Messe für uns. In seinen Augen sind wir zwei fromme Damen in höchster Not, die Gottes erlösender Barmherzigkeit bedürfen. Und recht hat er. Außerdem, Euer kleines Spielzeug hier hat doch keine Macht.« Elizabeth schwenkte bedrohlich die Puppe, deren Arme und Beine kläglich herumschlenkerten. »Wir tun doch nur so.«

Die Königin setzte sich jäh hin und schlug die Hände vors Gesicht. Sie sprach die Wahrheit, und das war für sie unerträglich und quälend. Wie kindisch, so zu tun, als ob man dem mächtigen König von Frankreich Schaden zufügen könnte, indem man auf eine mit Sägespänen ausgestopfte Puppe einstach. Lächerlich! Alles nur ein Spiel, alles nur Einbildung. Ihre Mutter hatte recht, es war töricht, so etwas in den Gemächern des Abts zu machen.

Jacquetta legte ihrer Tochter zögernd eine Hand auf die Schulter. Körperlicher Kontakt zwischen Mutter und Tochter kam selten vor. Unerwartet legte Elizabeth ihre Hand auf die der Mutter, und das ermutigte die Herzogin.

»Sie hat ihren Zweck erfüllt. Gib sie mir, Tochter. Ich möchte nicht, dass du vor mir verbrannt wirst.«

In ihren Worten schwang ein bitterer Humor mit. In glücklicheren Tagen hatten Mutter und Tochter über Jacquettas Ruf bei Hof lachen können. Hartnäckige Gerüchte behaupteten, die Herzogin hätte Elizabeth beigebracht, den König zu behexen, denn warum sonst hätte er eine Frau heiraten sollen, die fünfJahre älter war als er und Witwe eines Ritters der Lancaster mit zwei kleinen Söhnen? Seufzend hielt sich die Königin die

Königspuppe vor die Augen und starrte in ihr aufgemaltes Gesicht. »Adieu, Sire. Mögt Ihr nicht wohl leben.«

»Tochter!« Die Stimme der Herzogin klang scharf.

Ohne ein weiteres Wort reichte Elizabeth ihr die Puppe und wandte den Blick ab, als Jacquetta sich bückte, um das primitiv gemachte Ding in die Flammen zu werfen.

»Oh!«

»Was ist, Mutter?«

Jacquetta starrte ihre Tochter an. Ihr Gesicht war kreidebleich. »Ich blute. Schau nur!« Sie streckte die Hand aus. Von der Wurzel des Daumens bis über den Venusberg zog sich ein tiefer Schnitt, aus dem dicke Blutstropfen quollen.

Die Königin riss die Puppe an sich. »So, so. Also doch nicht so machtlos. Schau her!« Einer der kleinen Silberdolche ragte mit der Spitze nach vorn aus dem Bauch der Puppe. Daran hatte sich die Herzogin geschnitten. »Sie soll noch nicht verbrannt werden, soll das heißen. Aber ich muss sofort Euer Blut von der Puppe abwaschen, Mutter, sonst gibt es noch ein Durcheinander.«

Jacquetta erwiderte scharf: »Gib sie mir, Elizabeth. Um unser aller Heil willen, wir müssen dieses Ding endlich verbrennen, sonst sterbe ich noch vor Angst.«

Doch Elizabeth hatte ihre Tatkraft und Entschlossenheit wiedergefunden. »Sie möchte noch nicht verbrennen, sie muss zuerst ihre Arbeit tun. Aber Euer Blut darf sie nicht an sich tragen, dafür werde ich sorgen.«

Und Elizabeth Wydeville, die entthronte Königin von England, eilte in einer Wolke aus nachtschwarzem Samt aus dem Jerusalemzimmer. Sie hatte diese Farbe bewusst als Zeichen der Trauer für ihr verlorenes Königreich gewählt. In ihrer dunklen Kleidung verschwand die Königin fast in den nächtlichen Schatten, nur ihr weißes Gesicht und ihr flatternder weißer Schleier waren noch zu sehen.

»Tochter, komm zurück. Gib mir das Ding wieder!« Aber die Königin war fort. Unerklärlicherweise ließ sich die Tür zum Jerusalemzimmer plötzlich so leicht öffnen und schließen, als seien die Angeln frisch geölt worden.

Ein altes, englisches Märchen erzählt, dass der König und die Königin des Feenlands des Nachts, als der Vollmond schien und der Wald ganz still war, mit ihrem Gefolge auf die Jagd gingen. Die Eltern mussten auf der Erde gut auf ihre Kinder aufpassen, denn der König oder die Königin, die unter dem Berg wohnten, nahmen sich manchmal ein unachtsames oder unbewachtes Kind und ritten mit ihm davon, und es ward nie mehr

Die Augen des kleinen Edward waren groß wie Suppentassen, als ihm Edward Plantagenet, der einstige König von England, diese Geschichte erzählte. »Nein. Mich nicht! Mich nicht!« Er vergrub sich tief in seine Betttücher.

»Komm, mein Kleiner. Es ist doch nur ein Märchen.« Edward kitzelte seinen Sohn durch die Bettdecke hindurch und lachte. »Die Feen achten den wahren König des Landes. Sie wissen, dass du unter seinem Schutz stehst.«

Das Köpfchen des Knaben lugte argwöhnisch unter dem Deckenberg hervor. »Wirklich?«

»Ja. Weil der König dich lieb hat. Du bist sein erstgeborener Sohn.«

Anne, die in diesem Moment das Kinderzimmer betrat, blieb erschrocken stehen. Der Knabe schlängelte sich aus den Decken und kuschelte sich in die Arme des Mannes.

»Du bist komisch. Mein Papa war doch kein König. Und jetzt erzähl mir ein anderes Märchen.«

Der König sah seinen Sohn an und lächelte. Der Kleine schmiegte sich an seine Brust und nuckelte zufrieden am Daumen. »Noch ein Märchen. Aber zuerst müssen wir Wissy fragen.«

Anne de Bohun sagte zu ihrem Sohn, ohne den König anzublicken: »Noch ein Märchen hat es schon vor einer Stunde geheißen. Jetzt ist Schlafenszeit.«

Der kleine Edward schmollte und wollte schon laut protestieren, da legte der König den Knaben unter die Decken, hielt seinen zappelnden Körper mit einer Hand fest und steckte die Betttücher zu beiden Seiten fest.

»Morgen ist auch noch ein Tag für Geschichten, und übermorgen auch.« Edward sagte das leichthin, spielerisch, doch Anne, die den beiden den Rücken zudrehte und sich am Fußende des Bettes zu schaffen machte, zog eine Grimasse. Wenn sie morgen nicht endlich etwas von Karl hörten, würde es vielleicht wirklich noch viele Tage dauern.

»Und du musst jetzt schlafen«, sagte der König. »Schlafen gibt Kraft, und die wirst du brauchen, wenn ich dir auf deinem großen, blauen Pferd das Reiten beibringen soll.«

»Nicht blau. Nicht richtig blau.« Die Worte des Knaben gingen in einem Gähnen unter. Er musterte die beiden Erwachsenen. »Küsschen? Küsschen für Edward? Bitte!« Das klang so gewinnend, dass Anne und Edward Plantagenet herzlich lachen mussten, wie alle Eltern, deren Kind etwas Entzückendes von sich gibt. Doch offiziell galt dieser Knabe nicht als ihr - oder Edwards - Sohn. Anne und der König drückten feierlich einen Kuss auf die roten Bäckchen und strichen die Decke glatt. Zufrieden drehte der Knabe sich um, und alsbald fielen seine Augen zu.

»Gute Nacht, Wissy, gute Nacht, großer Herr.« Edward Plantagenet musste lächeln, als er den Namen hörte, den sein Sohn ihm gegeben hatte.

Anne legte einen Finger auf ihre Lippen, nahm die Kerze, die neben dem Bett stand, und ging leise in ihr angrenzendes Zimmer. Übertrieben vorsichtig zog der einstige König von England die Tür hinter sich zu.

»Du hast eine gute Art, mit Kindern umzugehen, Edward. Du verstehst sie so gut.« Anne stand an der Tür ihres Schlafzimmers und blickte Edward ruhig an. Bald war es Zeit zum Abendessen, und bei den vielen Mägen, die es zu füllen galt, wurde sie in der Küche gebraucht.

Edward ging zu ihr und lächelte. »Kein Wunder. Als ich klein war, purzelten wir im Kinderzimmer alle übereinander. Und jetzt, mit meinen kleinen Mädchen ...« Er sprach nicht weiter. Ja, er liebte seine Töchter. Und bald, wenn er wieder in London war, würde er sein neugeborenes Kind kennenlernen.

»Bestimmt bist du ein sehr guter Vater.« Anne versuchte, tapfer zu lächeln, aber es gelang ihr schlecht, und er sah es. Sein Herz wollte vor Mitgefühl überfließen.

»Und das möchte ich auch sein. Auch für unseren Sohn.« Sanft zog er sie an sich. »Ich muss dir etwas sagen, meine Liebste. Du musst jetzt sehr stark sein.«

Sie nickte. »Edward, ich weiß es. Ich weiß von dem neuen Prinzen. Küchenklatsch.«

Er spürte, wie streng sie mit sich war. Sie durfte sich keine Schwäche erlauben. »Und du wolltest nicht mit mir darüber sprechen, als du es erfuhrst?« Anne schüttelte den Kopf. »Ich wollte das Thema nicht anschneiden. Dieses Thema.« Sie hatte Mühe zu sprechen, und er hörte die Anstrengung in ihrer Stimme.

»Aber das ist eine gute Nachricht, mein Liebchen. Sie macht uns beide frei, denn England wird jetzt für ihn sicher sein.« Er meinte den Knaben, der im Zimmer hinter ihnen so friedlich schlief.

»Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte sie verärgert. Er verstand sie. Und er bewunderte sie. Eine heftige Antwort war besser als Verbitterung.

»Elizabeth hat jetzt einen eigenen Sohn. Sie braucht den deinen nicht mehr.« Das klang bitter, ein bitteres Eingeständnis der Wahrheit. Elizabeth Wydeville, Edwards Gemahlin, war Annes Feindin. Die englische Königin hatte Mutter und Kind umbringen lassen wollen, vor allem auch deshalb, weil sie selbst keinen Sohn hatte.

Edward lächelte zärtlich. »Wenn ich wieder König bin, möchte ich, dass du nach Hause kommst. Ich möchte auch, dass unser Sohn nach Hause kommt. Ich möchte, dass er in seinem eigenen Land aufwächst. Ich möchte ihn in meiner Nähe haben, mich seiner Gesellschaft erfreuen und ihn begleiten, wenn er erwachsen wird. Ich möchte, dass er seine Schwestern kennenlernt. Und seinen Bruder. Und ich möchte, dass du am Hof lebst. An meiner Seite. Als meine anerkannte Geliebte. Als Mutter meines anerkannten Sohnes. Ihr beide werdet in meinem Reich immer in Sicherheit leben können.«

Sein Reich. Sein Königreich. König - und Königin. Wenn Anne die Augen schloss, sah sie alles vor sich wie ein Vogel, der über das Land fliegt, von London bis in den Westen Englands. Von Westminster - dem großen Saal, wo sie die beiden zum ersten Mal erblickt hatte, Edward Plantagenet und Elizabeth Wydeville, ein König und eine Königin wie aus dem Märchen -, von den Stadtmauern über grüne Felder und Wälder, graue Burgen, saubere Dörfer bis zu ihrem Zuhause, einem Ort, den sie noch nie gesehen hatte. Herrard Great Hall. Das Gut ihrer Mutter - und jetzt das ihre, wenn sie es einfordern wollte. Wenn sie es einfordern durfte.

Anne seufzte, das Gesicht an Edwards Brust vergraben, damit er nicht die Hoffnung in ihren Augen sähe. »Ach, diese hübschen Bilder, mein König. Aber in solchen Vorstellungen haben wir auch früher schon geschwelgt.«

Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu sich empor. Er küsste sie sanft. »Du gibst mir Kraft. Du hast mir schon immer Kraft gegeben. Ich brauche diese Kraft.« Er legte

seine Hände um ihre Taille, die er fast umspannte. »Du hast mir noch immer keine Antwort gegeben, Anne.«

Der jungen Frau stockte der Atem. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster, als er sich an sie presste.

»Anne, keine Ausflüchte mehr.«

Sie konnte ihm nicht entkommen. »Ausflüchte?«

»Der Seemann. Der Mann, der behauptet, dein Gemahl zu sein. Bist du seine Frau?«

Sie atmete seufzend aus und wollte ihm gerade die Wahrheit sagen, als von draußen Stimmen hereindrangen.

»Hör auf, Edward. Bitte«, flüsterte sie eindringlich.

Enttäuscht hielt der König sie weiter fest. »Sag es mir.«

Jemand klopfte hastig an die Tür, dann ertönte die Stimme von Richard von Gloucester. »Lady Anne? Seid Ihr da? Habt Ihr den König gesehen?«

»Einen Augenblick, Lord Richard.« Anne wand und krümmte sich, um sich aus Edwards Armen zu befreien, der aber ließ sie nicht los. Fast mussten beide lachen über diese unmögliche Situation.

»Edward, bitte lass mich los. Das ist mir peinlich.«

»Sag es mir. Jetzt!« Zum Spaß gab er seinem Flüstern einen grimmigen Klang, er genoss den Kampf. Anne war stärker, als sie aussah, und befreite sich drehend und windend aus seinen Armen.

»Lady Anne?« Richard hörte, dass die beiden sich balgten, und war peinlich berührt, aber er musste seinen Bruder dringend sprechen.

»Wenn du mir nicht endlich die Wahrheit sagst, soll Richard deinen Ungehorsam bezeugen!«

»Meinen Ungehorsam! Oh!«

Jetzt war sie wirklich zornig, richtig wütend, weil der König die Situation offensichtlich genoss. Ohne nachzudenken, sagte sie aufgebracht: »Nein, ich bin nicht mit ihm verheiratet. So!«

Sie nutzte den Überraschungseffekt, den ihre Antwort auf den König hatte: ein Stoß, und sie war frei. Edward lag auf dem Boden, alle viere von sich gestreckt. Entschlossen ging sie zur Tür, riss sie auf und sah direkt in die entsetzten Augen des Herzogs von Gloucester. Lady Anne de Bohun reckte sich und rauschte an ihm vorbei. Über ihre Schulter rief sie ein paar respektlose Worte, die sich für eine Untertanin gewiss nicht schickten: »Der da. Dieser Mann. Er ist unmöglich!«

Richard war verwirrt, das sah man ihm an. Am Boden lag sein Bruder, rollte sich auf den Rücken und krümmte sich vor Lachen.

»Ein Punkt für mich, Anne. Für mich!«

Das war zu viel des Guten. Anne stemmte die Hände in die Hüften und sagte mit einem angriffslustigen Blitzen in ihren Augen: »Das Spiel ist noch nicht aus! Warte nur ab, Edward Plantagenet - nicht jeder tut, was Ihr wollt, nur weil Ihr der seid, der Ihr seid!«

Edward rappelte sich auf und machte eine tiefe Verbeugung. »Selbstverständlich, liebe Lady. Aber eine Bitte hätte ich noch.«

Anne erwiderte frostig: »Und die wäre?«

»Bitte zügelt Eure Stimme, sonst wacht das Kind auf.« »Oh!«

Die Männer spürten Annes Wut, als diese auf dem Absatz kehrtmachte und die Stufen zur Küche hinunterpolterte. Edward wischte sich die Tränen aus den Augen, und beide Männer brachen in erlösendes Lachen aus.

»Hat ein ziemliches Temperament, die Kleine.«

Der König nickte und seufzte glücklich. »Ja, das stimmt. Aber auch ein warmes Herz.«

»Im Gegensatz zu ...« Richard hatte sagen wollen »der Königin«, besann sich aber eines Besseren. Elizabeth war berüchtigt für ihre frostigen Wutanfälle.

Edward warf seinem Bruder einen Blick von der Seite zu und klopfte dabei unsichtbaren Staub von Knien und Ärmeln. Anne führte ein sehr reinliches Haus, aber er wollte Zeit gewinnen. »Trotzdem, es hat sich gelohnt, diesen Sturm heraufzubeschwören, wegen dem, was ich jetzt erfahren habe.«

Richard wartete auf eine Erklärung, aber da sein plötzlich wieder schweigsamer Bruder ihm keine gab, besann er sich darauf, warum er gekommen war. »Nachricht. Von Karl. Endlich!«

Teil 2

DIE WENDE

Kapitel 31

Am Fuß der Stufen, die zum Thron hinaufführten, stand eine Reihe von Kohlebecken, aus denen beißender Rauch in die abgestandene Luft des Audienzsaals stieg. Der Rauch war so dicht, dass die Höflinge den König, den ein Schleier aus brennendem Wermut, Raute, Lavendel und Myrrhe einhüllte, kaum sehen konnten. Louis war überaus reizbar, denn ihn plagten gleich zwei Leiden - seine eiternden Beine und sein schmerzender Bauch. Zu seinem Schutz hatte er sich mit so vielen, kleinen Reliquien und Kreuzen behängt, dass es jedes Mal, wenn er sich bewegte, leise rasselte und klapperte. In seinen Händen hielt er zudem einen Rosenkranz, ein besonders wertvolles Stück aus Chalcedon, Bernstein und Gold. Beim Sprechen ließ der König die Perlen nacheinander durch seine Finger gleiten. Dadurch entstand ein klickendes Geräusch, das seine Worte unterstrich und den Höflingen durch Mark und Bein ging, wie Louis wohl wusste.

»Bruder« klick »Agonistes« klick, »wir« klick »hören« klick »viel« klick »von« klick »Eurem« klick »Wissen« klick »um« klick »Kräuter.«

Der hagere Mann, dessen Kleider so alt und verschlissen waren, dass sie eher graugrün als schwarz aussahen, verneigte sich schweigend, die Hände in seinen weiten Ärmeln verborgen.

Schweigen ohne Furcht war für den König immer etwas Überraschendes. »Aber Ihr seid kein Blutsauger, kein Arzt?« Louis de Valois war argwöhnisch. Warum antwortete der Mann nicht? »Ich will keinen Arzt an mich heranlassen, das wisset wohl.«

Der Mönch blickte auf und sah dem König in die Augen. Sein Blick war ruhig und klar. Er schlug das Kreuzeszeichen, erst dann sprach er. Wollte er sich schützen oder den König segnen?

»Gewiss, einst war ich Arzt am Hof des englischen Königs, Euer Majestät. Doch vor einigen Jahren habe ich diesem Amt und meinem weltlichen Dasein entsagt. Jetzt habe ich diesen Titel abgelegt, denn er war der Grund für mein Verderben. Ich studiere die Kräuterkunde und stelle mein Wissen in den Dienst aller Armen, die meiner Hilfe bedürfen. Kräuter sind einfache, von Gott geschaffene Dinge« - er bekreuzigte sich und alle im Audienzsaal, der König eingeschlossen, folgten seinem Beispiel -, »deshalb können sie nicht schlecht sein, denn der Herr hat sie zur Erde gebracht, damit sie Seinem Willen dienen sollen. Anders das Tun eines Menschen, das zum Bösen sich wenden kann.«

Louis sah den Mann prüfend an. War dieser Mönch vom Heiligen Geist beseelt, dass er so leidenschaftlich sprach? Wahrscheinlich war er auch ein Verräter, jedenfalls gegenüber seinem früheren Herrn. Der König runzelte die Stirn. Mochte er viele seiner Mitkönige hassen, aber Respektlosigkeit gegenüber der Krone kam fast einer Gotteslästerung gleich.

»Welchem König habt Ihr gedient?«

Der Mönch verneigte sich tief. »Majestät, ich ziehe es vor, in der Gegenwart zu leben. Ich gehöre nun Gott und nicht Satan. Jeden Tag aufs Neue preise ich unseren Herrn, den barmherzigen Sohn unseres himmlischen Vaters, dass er mich von diesem bösen Ort und seinen Versuchungen hierher nach Paris geführt hat.«

Da, schon wieder, dieser Mann weigerte sich, ihm zu antworten und er hatte keine Angst. Der französische König war nun richtig neugierig geworden.

»Böse, sagt Ihr? Wieso war der englische Hof böse?«

Bruder Agonistes fiel auf die Knie, dann warf er sich in voller Länge vor Louis auf den Boden, ein unbeholfenes Wesen aus Armen und Beinen. Der dichte Rauch aus den Kohlebecken strich über ihn und bedeckte ihn wie mit einem dünnen Mantel, so dass er kaum noch zu sehen war. Unter dem wabernden, grauen Rauchschleier fing der Mönch an zu husten. Seine Augen tränten. Zwischen den Hustenanfällen sprach er.

»Ich flehe Euch an, bittet mich nicht, Euch die Abgründe dieses Sündenpfuhls zu beschreiben. Meine Seele war verderbt, und selbst wenn ich dreimal zwanzig und zehn Jahre alt würde, wie es in der Bibel heißt, würde ich den Ruch davon niemals verlieren. Mein einziges Heil sind meine Brüder und die Armen, von denen ich der letzte und der geringste bin und denen zu dienen mir Ehre und Buße ist.«

Der König drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu seinem Kammerdiener Levaux um, der hinter dem Thron stand. Es war lange nicht mehr geschehen, dass menschliches Verhalten ihn erstaunt oder gar belustigt hatte, aber die Vorstellung dieses Mönchs stand den Komödien der Gaukler bei Hof in nichts nach.

Der König ließ den Mönch, der immer noch nach Luft schnappte, weiter am Boden liegen und dachte über seine Worte nach. Aber dann kratzte er an seinem unerträglich heißen und juckenden Schienbein und bekam blutige Finger davon. Quälende Schmerzen stiegen von seinen Beinen bis in seine Lenden hoch, wo sie zusammen mit den Schmerzen in seinem Bauch einen brennenden Knoten bildeten. Er schloss seine Augen und atmete tiefdurch, um das von den Schmerzen herrührende Übelkeitsgefühl zu unterdrücken. Unwillkürlich stöhnte er auf.

Die Höflinge traten unruhig von einem Bein aufs andere und wechselten heimlich Blicke. Der König sah erschreckend aus, soweit sie das durch die Rauchschwaden erkennen konnten, grau und schweißbedeckt. Allerdings sah er fast immer so aus.

Louis' Kammerdiener, der von dem seltsamen Verhalten des Mönchs nicht weniger verblüfft war als der König, merkte, dass die Zeit ungenutzt verstrich. Bruder Agonistes hatte seine Aufgabe noch nicht erfüllt - seine Aufgabe, die jenem Herrn zum Aufstieg verhelfen sollte, der ihn zum König gebracht hatte: Alaunce Levaux. Und die der Schlüssel für die Rettung Frankreichs war.

»Bruder Agonistes, wie Ihr wisst, legt der König besonderen Wert auf Euren Rat bezüglich seiner Gesundheit ...«

Louis hob seine knochigen Finger. Die Wunden an seinen Beinen brannten wie die Hölle, aber er wagte nicht, sich schon wieder zu kratzen. »Gewiss, so ist es. Jedoch möchte ich mit dem heiligen Bruder privatim sprechen.«

Der Mönch am Boden hatte sein Gesicht mit beiden Händen bedeckt und sang, seine Umgebung anscheinend nicht wahrnehmend, mit lauter Stimme ein Gebet in die Steinfliesen des Audienzsaals, sehr zur Verwunderung der Höflinge.

Levaux, der kein Latein konnte, verstand nicht, was der Mann sagte. Der König jedoch verstand es. »Der Herr ist mein Hirte, mir soll nichts mangeln ...« Louis erhob seine Stimme, so dass alle Anwesenden ihn hören konnten.

»Bruder, wir danken Euch für die Fürsorge, die Ihr den Armen unseres Reichs zukommen lasst. Und wir sind dankbar, dass Ihr uns an Eurer Weisheit teilhaben lasst. Gottes Wege, heißt es« - alle Anwesenden bekreuzigten sich, sogar der Mann auf dem Boden - »sind unergründlich. Vielleicht seid Ihr zu uns an den französischen Hof gesandt worden, um Euren Mut und Euren Glauben zu prüfen.«

Der Mönch hielt in seinem Gebet inne, aber er hatte sein Gesicht immer noch bedeckt und hörte zu.

»Räumt das Zimmer!« Louis klatschte in die Hände, ohne auf die flehenden Blicke seiner Berater zu achten. Er wollte unter vier Augen mit dem Mönch sprechen. Die Höflinge schlichen widerwillig hinaus und ließen König, Kammerdiener und Mönch allein zurück.

»Kommt, Bruder, ich tue Euch nichts.«

Der Mönch sprach mit monotoner Stimme vom Boden herauf. »Ich habe nur einen König, Euer Majestät, den König im Himmel. Mein irdisches Schicksal liegt in Euren Händen, doch meine Seele« - der Mann schauderte wie im Fieber - »meine sündige Seele liegt zu Füßen des Herrn.«

Der König merkte, wie er langsam ungeduldig wurde. Er begann, mit dem Fuß zu klopfen, und schieres Entsetzen packte Levaux. Wenn dieser niederträchtige Mönch mit dem König nicht endlich über seine Leiden sprach, würde man ihm die Schuld in die Schuhe schieben. Und das wäre das Ende, für ihn und seine Familie. Und vielleicht auch für Frankreich.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, suchte der Stiefelknecht den Blick seines Herrn. »Euer Majestät, erlaubt mir zu sprechen.«

Der König nickte verblüfft und ungeduldig. Sein Zorn ließ nicht mehr lange auf sich warten - er spürte schon das Brennen in seiner Brust, ein sicheres Zeichen für einen Wutanfall. Seine Rasereien waren ihm sogar ein Genuss, der arme Levaux jedoch schluckte, als er sah, wie die Miene des Königs sich verdüsterte. Er eilte zum Mönch und kniete neben ihm nieder. Er faltete seine Hände wie zum Gebet und sprach dem Mönch leise ins Ohr.

»Bruder Agonistes, wir alle sind Brüder in Christo, stimmt das?«

»So ist es. Elend und einsam werden wir geboren, elend sterben wir und werden zu Staub.« Der Mönch schien Gefallen an diesem Gedanken zu finden, aber der Kammerdiener sprach schnell weiter.

»Euer Bruder, der König« - ein kühner Gedanke und so überraschend, dass Louis, verwirrt von dieser ungewöhnlichen

Vorstellung, nichts sagte - »braucht Eure Hilfe. Er leidet für sein Königreich, wie Christus für Sein Reich gelitten hat.«

Der Mönch sah überrascht auf. Levaux beeilte sich, weiterzusprechen und nicht auf die Angst zu achten, die sich mit kalten Fingern um sein Gedärm legte.

»Und wenn Christus fünf Wunden für sein Volk getragen hat, so trägt mein Herr, der König, fünf mal fünf Wunden. Sein Leiden ist sehr groß. Und Gott« - alle drei bekreuzigten sich - »hat Euch hergebracht, Seinen Diener, Euren Bruder, den König, mit Hilfe Eures Wissens zu heilen. Ihr seid wahrhaftig glücklich zu schätzen, heute Gottes Wille zu erfüllen.«

Bruder Agonistes sah ihn verwirrt an, dann nickte er. »Ja. So ist es. Ja! Dies ist eine Prüfung meines Glaubens und meiner Hingebung zu Gott, wie mein lieber Bruder in Christo, der König, gesagt hat. Ich muss dem gegenübertreten, wovor ich Angst habe. Ich muss es willkommen heißen.«

Der Mönch stand nun wieder aufrecht auf seinen Füßen, den Blick zum Himmel - oder in diesem Fall zur hohen, gewölbten Decke des eiskalten Audienzsaals gerichtet. »Ich bin hier, meinem Bruder zu dienen.«

Louis verdrehte die Augen. Hätte er nicht so große Schmerzen gehabt, hätte er über das idiotische Pathos des Mönchs gelacht. Bruder Agonistes war eindeutig verrückt, aber was machte das schon, wenn er den brennenden, unerträglichen Schmerz in seinen Beinen und in seinem Leib beenden konnte?

Die Augen des Mönchs leuchteten vor Inbrunst, als er, den Rosenkranz betend, die Stufen zum Thron erklomm.

Louis schreckte zurück, denn die Augen des Mannes machten ihm plötzlich Angst. Er hatte sich freiwillig in die Hände dieses Wahnsinnigen begeben. Und was, wenn der Mönch ein Messer bei sich trug? Doch dann stand Agonistes neben ihm, und seine Augen blickten sanft wie die Augen einer Mutter.

»Wo tut es weh, Bruder? Erlaubt mir, Euch zu helfen, denn ich spüre, dass dies der Wille des Herrn ist.«

Louis war über sich selbst erstaunt, als er den Saum seines Umhangs anhob, als sei dies das Normalste aufder Welt. Rauchschlieren aus den Kohlebecken hüllten ihn und den Mönch ein, der nun sacht seine Schienbeine untersuchte. Und da fiel dem König etwas ein. Myrrhe, wurden darauf nicht die Toten gebettet? Louis war sehr abergläubisch. Der Rauch seines eigenen Feuers war ein Omen - davon war er plötzlich überzeugt. »Muss ich sterben?«

Der Mönch seufzte, ließ den Saum der Königsrobe fallen und wischte sich seine von Blut und Eiter verschmierten Finger an seiner Kutte ab.

»Nein, Bruder König. Ihr habt eine Störung der Körpersäfte, so viel ist sicher, aber sie kann geheilt werden. Euer Körper ist geschwächt, und ich kann ihn wieder kräftigen. Ich werde Euch von Euren irdischen Qualen erlösen und, so Gott will, auch von Euren seelischen.«

»Wirklich?« Louis fühlte sich plötzlich schwach vor Erleichterung - und vor Zuversicht. Der Mönch mochte ein heiliger Narr sein, aber er konnte von Gott gesandt sein. Gott, ein anderer König in einer anderen Welt.

Der Mönch nickte und deutete über dem Kopf des Königs ein Kreuzeszeichen an. »Bitte öffnet Euren Mund, Euer Majestät.«

Folgsam wie ein Kind sperrte der König seinen Mund so weit auf, wie er konnte.

»Ah, ja, ich weiß schon, was es ist.«

»Wirklich?«

»Die Krankheit rührt von zu viel Fleisch und zu wenig Gemüse in der Winterzeit her. Und zu wenige und falsch gesprochene Gebete. Zuerst fallen die Zähne aus, und dann entzünden sich die Beine.« Der Mönch deutete auf die wunden Stellen unter der Königsrobe. »In Euerm Fall besonders gefährlich. Schlafen Hunde in Euerm Bett, mein Bruder?«

Der König sah den Mönch verwundert an. »Natürlich. Warum?«

»Flöhe, Sire. Da Euer Blut sehr geschwächt ist, sind Eure Beine ein Festmahl für Hundeflöhe. Verdorbenes Blut ist eine Delikatesse für sie, besonders schmackhaft. Und die Bisse haben zu eitern begonnen, weil Euer Körper geschwächt ist.«

»Also keine vergifteten Stiefel?«

Der Kammerdiener vermied den Blick seines Herrn, seine Knie waren weich vor Angst.

Der Mönch schüttelte feierlich den Kopf. »Nein, Bruder, Eure Stiefel sind nicht vergiftet.«

Ein plötzlicher Schweißausbruch durchnässte Levaux wie ein Wasserschwall.

»Was muss ich tun, Bruder?«

»Gehorcht mir, o König, denn ich bin die Stimme des Herrn. Er wird mich führen, denn Ihr seid sein Gesandter auf Erden, der seine irdischen Untertanen in seinem Namen regiert.«

Der König bekreuzigte sich, dann griff er nach dem Rosenkranz, der am Gürtel der Mönchskutte hing, und küsste die daran baumelnde kleine, elfenbeinerne Christusfigur.

Später, als Louis neben Bruder Agonistes auf dem blanken Steinboden vor dem Altar in seiner Privatkapelle kniete und für seine Genesung betete, wurde in einer Ecke seines Gedächtnisses eine Erinnerung wach. Der Mönch hatte von dem Bösen am englischen Hof gesprochen. Kein Gebet der Welt würde seine Neugier darauf besänftigen können.

Beim Abendessen, das auf Geheiß des Mönchs ungewöhnlich karg ausfiel und nur aus Sauerkraut und bitteren, grünen Kräutern aus dem Garten des Mönchs bestand, hielt Louis es nicht länger aus.

»Bruder, was war denn das Böse, vor dem Ihr vom englischen Hof geflohen seid?«

Bruder Agonistes fing an zu zittern, sank auf die Knie und schloss die Augen, dabei bekreuzigte er sich wieder und wieder.

»Kommt schon, Bruder. Ich habe getan, was Ihr mich geheißen. Nun ist es an Euch, zu gehorchen. Hat dieses Böse einen Namen?«

»Ja. Den Namen einer Frau. Der Buhle des Königs.« Der Mönch spukte diese Worte förmlich aus und schien sich vor Abscheu erbrechen zu wollen.

Louis war begeistert. Klatsch! Er liebte Klatsch. Er bekreuzigte sich in scheinheiliger Anteilnahme. »Seine Buhle, sagt Ihr. Wer?«

Der Mönch sah ihn an, und seine Augen glichen schwarzen Höhlen. Er flüsterte den Namen so leise, dass Louis de Valois sich nach vorn beugen musste, um etwas zu verstehen - sehr zum Bedauern von Alaunce Levaux, der zu weit entfernt war, um die Worte des Mönchs aufschnappen zu können.

»Anne. Anne de Bohun. Die Hure von König Edward. Kreatur des Bösen und Grund meines Verderbens.«

Louis schüttelte den Kopf und setzte eine angemessen erschreckte Miene auf. Den Namen aber merkte er sich. Er hatte ein gutes Gedächtnis für solche Dinge. Unerwartete Informationen waren oft von großem Nutzen.

Kapitel 32

»Wohin gehen wir, Kapitän?«

»Nach Delft, de Plassy.«

»Ist es weit?«

»Weit genug.«

»Nun, die Nacht ist schön. Es wird eine hübsche Wanderung werden.« Julian de Plassy sah seinen Weggefährten an und lachte, denn der Regen peitschte unbarmherzig in ihre Gesichter, und es war bitterkalt. Der Franzose, da er keine Antwort erhielt, zuckte die Achseln und zog sich den Mantel enger um seinen Leib. Er versuchte, mit Leif Molnar Schritt zu halten. Die Kerkerunterbringung im Binnenhof hatte nicht gerade zur Verschönerung seiner Kleidung beigetragen, doch de Plassy betrachtete solche Dinge von der philosophischen Seite. Er und seine Männer, sie alle waren frei und hatten die Aussicht auf eine Schiffspassage nach Süden, falls es ihnen gelänge, in dieser gottverlassenen Nacht ihren Verfolgern zu entkommen.

»Euer Boot, Kapitän ...«

»Mein Schiff - ja, was ist damit?«

»Seid Ihr gewiss, dass es fertig repariert ist?«

»Monsieur de Plassy, ich bin mir keiner Sache gewiss. Aber wenn Gott ein Einsehen hat, haben wir eine Chance. Und diese Chance brauchen wir.«

Unwillkürlich tastete Leifs Finger nach dem Thoramulett an seinem Hals. Die lange, bittere Zeit im Keller des Binnenhofs, als er in seinem Kerker auf und ab ging - drei Schritte hinauf, drei Schritte diagonal, drei Schritten hinunter -, hatte er stumm zu Thor gebetet, dem Gott des Donners und des Kriegs. »Höre mich, Hammergott, höre deinen Diener. Hilf mir, und die erste, schwarze Ziege, die mir draußen über den Weg läuft, soll dir geopfert werden. Höre mich, hilf mir!«

Er hatte Edward Plantagenet die Schuld für seine Gefangenschaft gegeben. Solange der englische König als »Gast« bei Louis de Gruuthuse weilte, würden sie ihn nicht gehen lassen. Der Däne wusste, dass er eine zu große Bedrohung darstellte, um freigelassen zu werden. Und dann kam die Nacht, wo er aus seinem Verlies gezerrt wurde. Er hatte den Tod erwartet und wurde stattdessen ohne ein Wort der Erklärung in einen viel größeren Kerker mit drei hoch gelegenen, vergitterten Fenstern gestoßen. Der Raum war voller Franzosen - die Banditen des Julian de Plassy. Später erfuhr er, dass Edward Plantagenet wenige Tage zuvor geflohen war.

Seine neuen Gefährten stanken, aber er stank auch. Wichtiger war für ihn, dass die Franzosen noch bei Kräften waren, keiner von ihnen war krank. Leif war erleichtert, denn mit anderen zusammen eingesperrt zu sein bedeutete oft den sicheren Tod. Der Grund für die Gesundheit der Franzosen wurde schnell ersichtlich - sie bekamen besseres Essen, und durch die Fenster wehte Tag und Nacht frische Luft. Kalte Luft, sicherlich, aber klar und frisch.

Leif kam wieder zu Kräften und machte gemeinsame Sache mit seinen Mitgefangenen. Zusammen begannen sie einen Fluchtplan zu schmieden. Ihnen winkte die Freiheit und die Lady Margaret. Wenn sie Glück hatten, war sie repariert worden und wartete im Hafen von Delft. Und wahrscheinlich hatte sich mittlerweile eine Riesensumme an Liegegebühren angehäuft. Darum würde er sich kümmern, wenn er erst einmal dort war.

»Bis jetzt haben wir ziemlich viel Glück gehabt, nicht wahr, mein dänischer Freund?«, sagte Julian de Plassy.

Leif hielt den Kopf wegen des Regens gesenkt und nickte. »Manche nennen das Glück. Ich nicht. Ich glaube an Planung.«

Der kleine Franzose sah nach hinten zu seinen Männern, die wie gezähmte, treue Hunde hinter ihnen hertrotteten. Die

Hochstimmung der plötzlichen Freiheit hatte der eiskalte Regen fortgespült.

»Ja, aber wer hätte so etwas planen können?« Er schwang das ausgezeichnete Schwert, das er erbeutet hatte. »Oder das da?« Er zeigte auf den langen Dolch, der unter dem Strick steckte, den Leif statt eines Gürtels trug. Der Dolch war von edler Verarbeitung und sehr wertvoll, denn sein Griff war mit Edelsteinen besetzt. »Oder gar die unerwartete Torheit unserer Gegner. Und dann dieses Wetter - diese pechschwarze Nacht, in der wir uns unsichtbar machen können. Dies alles könnte man doch Glück nennen?«

Leif nickte und lächelte den Mann, der sein Freund geworden war, sogar an. »Eure Männer haben sich tapfer geschlagen. Wahrscheinlich habt Ihr recht. Das Glück ist uns hold.«

Seine Finger tasteten wieder nach Thors Hammer. Der Kriegsgott hatte seine Gebete erhört und den Sturm geschickt -und was für einen Sturm - und den Nebel, der sie barmherzig umhüllt hatte, kaum dass sie vom Binnenhof geflohen waren. Ihr Wachmann war so töricht gewesen, zu nah an ihrer Kerkertür vorbeizugehen. Und noch törichter war, dass er die Tür öffnete, als er von innen Schreien und Heulen vernahm. Es hatte einen Kampf gegeben, viel Geschrei und ein großes Durcheinander. Das Blut war in Strömen geflossen, aber es war ihnen gelungen, aus s'Gravenhage zu entkommen. Nur zwei von ihnen waren tot, unter den Holländern aber gab es viele Schwerverletzte, die davon erzählen konnten, wie die Männer, die der Herr de Gruuthuse vergessen hatte, geflohen waren. Und nun marschierten sie in leidlicher Ordnung nach Delft. Zur Lady Margaret.

Aber Anne? War sie noch am Leben, oder war sie tot? Leif wusste es nicht.

Als es zu regnen aufhörte, zeigte der Mond ihnen den Weg. In der Bibel hieß es, der Mond habe die Macht, zu »schlagen«. Ein

Wort, das Tätigkeit und Bedrohung ausdrückte. Aber konnte dieses vage Schimmern wirklich gefährlich sein? Gefahr lauerte nur da, wo ein jenseitiger Zauber wohnte.

Anne und der König ritten durch ein Waldgebiet unweit von Brügge, das zum Jagdrevier des Herzogs von Burgund gehörte. Sie waren allein und schwiegen, jeder auf das konzentriert, was vor ihnen lag. Und doch teilten sie ein Wissen, das für die Zukunft entscheidend sein konnte. Ein Wissen, das ihrer beider Leben mit nahezu zauberhaften Kräften zu verändern im Stande war.

Edward wusste, dass Anne nicht verheiratet war. Der König bebte vor Erregung, wenn er daran dachte. Nun gab es keine Ausflüchte mehr.

»Dort. Siehst du?« Anne hielt ihr Pferd an und zeigte nach vorn, wo zwischen den dunklen Bäumen kurz ein gelbes Licht aufleuchtete.

»Wo?« Edward blieb neben ihr stehen. Er konnte nichts erkennen.

»Da. Da ist es!«

Diesmal beschrieb die unverhüllte Laterne einen Bogen, dann verlosch sie.

»Komm.« Edward übernahm die Führung und trieb sein Pferd zum Trab über den schmalen Saumpfad an. Bisher war Anne vorn geritten, denn sie kannte diesen Wald von unzähligen Jagdausflügen mit dem Herzog und der Herzogin. Nun aber war die Reihe am König, denn er würde eine Frau niemals einer Gefahr aussetzen. Der Eindruck des Lichts haftet hinter den Augenlidern, auch wenn das Licht längst erloschen ist. Und dieses Licht, diese bescheidene Laterne in der Dunkelheit, blieb Edward sein ganzes Leben lang im Gedächtnis haften. Es stellte den Wendepunkt dar - ein vom Schicksal entzündetes Licht, das ihm den Weg in die Zukunft wies.

»Euer Majestät?«

Eine Stimme mit französischem Akzent. Edward griff unwillkürlich fester in die Zügel. Als der Reiter auftauchte, scheute sein Pferd erschrocken. Doch dann leuchtete die Laterne in das Gesicht des Fremden, und Edward erkannte ihn. Er sprach ihn an, ohne sich seine Nervosität anmerken zu lassen.

»Monsieur de Commynes. Wie geht es Euch?«

»Außerordentlich gut, Euer Gnaden.«

Philippe de Commynes verneigte sich tief über den Hals seines Pferdes, erst zum König hin, dann zu dessen Begleiterin. Unter der weiten Kapuze trug Anne einen Schleier, er wusste deshalb nicht, wer sie war.

»Mein Herr ist ganz in der Nähe. Wenn Ihr mir folgen wollt?«

Der König bedeutete ihm, voranzureiten, bestand aber darauf, dass Anne als Zweite folgte und er den Schluss bildete. Anne richtete sich im Sattel auf und konzentrierte sich auf das fahle Pferd vor ihr, dessen schwingender, cremefarbener Schweif ihr als Orientierung diente. Es war ein beruhigendes Gefühl, dass Edward zu ihrem Schutz hinter ihr ritt in dieser seltsamen, schimmernden Nacht. Der aufgehende Vollmond ließ die Umrisse der Bäume stark hervortreten. Sie ritten tiefer und tiefer in den Wald hinein, wussten aber nicht, mit welchem Ziel.

Die kleine Jagdhütte war nur spärlich beleuchtet, als die drei Reiter auf der Lichtung ankamen. Sie war kein Prachtbau, eher ein heimeliger und praktischer Rückzugsort für Karl von Burgund, wenn er den zeremoniellen Pflichten am Hof entfliehen wollte. Ein Ort, wo er sich mit guten Freunden treffen und entspannen konnte, ohne von neugierigen Blicken belästigt zu werden. Edward hielt sein Pferd an. Er verstand genau, warum Karl sich an diesem abgelegenen Ort mit ihm treffen wollte. Und er war bestürzt, denn diese Vorsicht war kein gutes Zeichen, was seine Sache betraf.

Anne drehte sich zum König um und lächelte. Durch den duftigen Schleier schimmerten weiße Zähne. Sie beugte sich zu ihm und sagte: »Alles wird gut, Euer Majestät. Das spüre ich.«

Edward stieg ab und trat vor, um Anne aus dem Sattel zu helfen. »Seid Ihr denn eine Hexe, dass Ihr die Zukunft voraussagen könnt?«

Das war als harmloser Scherz gedacht, doch Philippe de Commynes drehte sich erschrocken um und starrte sie an. Er hatte das Wort »Hexe« gehört, und das machte ihm Angst. Über solche Dinge lachte man nicht.

In dem Lichtschein, der aus der sich öffnenden Haustür fiel, bemerkte Anne den unsicheren Blick des Mannes. Doch ihre plötzliche Angst wurde beiseitegewischt, als sie zum König hinunterblickte. Edward Plantagenet hatte seine Arme weit ausgebreitet - eine offenkundige Einladung. Sein Lächeln hätte jedes Herz zum Stocken gebracht, und er war ihr ganz und gar zugewandt.

»Komm zu mir.« Wenige Worte, aber es lag ein Versprechen in ihnen, das ihr plötzlich den Atem nahm.

Anne ließ sich in Edwards Arme hinabgleiten und stand einen Augenblick lang eng an seinen Körper geschmiegt. Doch dann spürte sie, wie sich die Muskeln in seinen Armen anspannten.

»Bruder. Ihr seid willkommen.«

Erschreckt trat Anne einen Schritt zurück, und durch diese plötzliche Bewegung rutschte ihr die Kapuze vom Kopf.

»Und Ihr auch, Lady Anne.«

Die letzten Worte hatten einen ironischen Beiklang. Anne errötete und senkte ihren Kopf, als sie vor dem Herzog knickste. Karl verneigte sich feierlich vor Edward, dann reichte er Anne die Hand und half ihr auf.

»Lady, mein Haus ist Euer. Die Freude ist umso größer, als Ihr unerwartet kommt.«

Edward lachte verhalten. »Ohne Lady Anne würde ich wahrscheinlich immer noch im Kreis herumreiten, denn es hat eine Weile gedauert, bis wir Euren Boten entdeckt haben. Bei Nacht sehen alle Wälder gleich aus.«

Karl lachte. »Was man auch von Katzen behauptet und von -« Er unterbrach sich, aber Anne wusste, was er hatte sagen wollen: »Frauen.«

Sie reckte ihr Kinn vor und schenkte dem Herzog ein strahlendes Lächeln, als dieser sie in die Jagdhütte führte. Trotzdem, die kurze Respektlosigkeit hatte sie gekränkt, und sie sah Edward an, dass er sich ebenfalls für sie gekränkt fühlte. Dieses ungehobelte Benehmen in Gegenwart einer Dame passte nicht zu Karl, vor allem, da dieser die heikle Beziehung zwischen Anne und dem König sehr wohl kannte. War diese Taktlosigkeit sein Eröffnungszug in diesem komplizierten Spiel, das ihnen bevorstand - ein Wink, dass Edward bei seinem lieben Schwager auf alles, wirklich auf alles gefasst sein musste? Die Voraussetzungen für das Spiel waren andere geworden: Karl war nicht mehr der schwächere Mitspieler.

Die Nacht war ruhig und klar, es wurde immer kälter. Bald würde sich draußen ein eisiger Nebel bilden, aus dem ein harter Frost werden würde. In der Jagdhütte jedoch herrschte eine übermäßige Hitze - nicht nur wegen des riesigen Feuers, das zu ihrer Begrüßung entfacht worden war.

Karl und Edward waren allein und saßen vor der großen Feuerstelle in der Mitte der Halle. Verglichen mit dem Rittersaal, war der Raum klein und bescheiden möbliert. Außer ein paar langen Bänken und Stühlen gab es nur einen grob gezimmerten Schrank mit Zinntellern und Bechern und an der gekalkten Wand einen einzigen Teppich - einen einfachen Woll-vorhang in erdigen Rottönen und einem dunklem Blau, der an Haken unter der Decke befestigt war. Er blähte sich auf, als ein unerwarteter Luftzug aus dem Feuer Funken hochwirbelte.

»Warum?« Jene, die Edward Plantagenet gut kannten, hät-ten, wenn sie gekonnt hätten, bei diesem Tonfall schleunigst den Raum verlassen. Er sprach beherrscht, aber unter seinen halb geschlossenen Lidern brannte ein gefährliches Leuchten. Er war sehr zornig.

Das galt aber ebenso für Karl - weil er sich schuldig fühlte und auch, wenn er ehrlich zu sich war, weil er Angst hatte. »Edward, es schmerzt mich sehr, aber ich muss Euch um Verständnis bitten. Euch jetzt zu unterstützen, wo die Franzosen sich in der Picardie zusammenziehen und nur darauf warten, einzumarschieren, hieße, den Krieg herauszufordern. Außerdem bin ich finanziell zu knapp, die Mittel Burgunds sind erschöpft. Ich kann Euch nicht helfen, solange ich nicht genauere Informationen über die Situation in England und Louis' Pläne habe. Ich kann einfach nicht!«

»Aber während ich in s'Gravenhage bei de Gruuthuse eingesperrt war - vermutlich auf Eure Anweisung hin -, sind mir zahlreiche Gerüchte aus zuverlässiger Quelle zu Ohren gekommen, dass Ihr Warwick bei der Eroberung meines Königreichs unterstützt.« Edward war von eisiger Höflichkeit, aber nun war es endlich offen ausgesprochen.

Karl stand auf und schüttete den Bodensatz seines Weins in die Flammen, die wie eine Katze fauchten. Er antwortete nicht sofort, sondern schenkte sich erst aus einem Krug nach, der nahe der Feuerstelle stand. »Nun?«, fragte Edward scharf. Karl drehte sich um und sah in diese erbarmungslosen Augen.

»Ein Vorwand, Bruder. Das war nur eine List. Ich habe ihnen eigentlich kaum Unterstützung gewährt, ich wollte nur etwas Zeit gewinnen.«

Edward schnaubte. »Manche nennen das aber nicht nur einen Vorwand, Bruder.«

Karl war in seiner eigenen Unsicherheit gefangen. Gewiss, einige Monate lang hatte er nach beiden Seiten hin manövriert, aber dann war er schließlich doch ehrlich gewesen. Was er wollte und brauchte, das war Zeit. Zeit, um die Situation richtig einschätzen zu können, jetzt, wo Warwick das Haus Lancaster wieder an die Macht gebracht hatte. Zeit, um seine Armeen aufzurüsten für den Fall, dass er, gegen welchen Gegner auch immer - Frankreich oder England oder auch beide zusammen -, sein Land würde verteidigen müssen.

»Ihr verlangt zu viel, Edward, zu viel. Ich muss zuallererst an mein eigenes Land denken.«

»Euer Land? Welches Land? Noch seid Ihr nicht König, Karl, und Ihr werdet auch niemals König sein, wenn ich England nicht zurückbekomme und Euch gegen Louis unterstütze. Ihr seid ein Narr, wenn Ihr Warwick vertraut. Wie lange, meint Ihr, wird er sich halten, wenn Margaret von Anjou erst einmal in London ist? Sie wird die Stadt plündern und mit dem, was sie erbeutet hat, seine Vernichtung betreiben. Dann wird Louis gegen Euch losziehen, mit ihrer Hilfe und mit der ganzen Macht Englands im Hintergrund. Ihr schließt absichtlich die Augen!«

Die beiden Männer hatten sich erhoben, standen gefährlich nah am Feuer und starrten sich an, unerschrocken wie zwei Kampfhunde, die auf den ersten Schritt, die erste Schwäche des Gegners lauern.

Karls Stimme bebte vor Wut. »Mein Gott, Edward Plantagenet, ein Wort von mir, und meine Männer nehmen Euch gefangen, auch wenn Ihr noch so mutig redet. Ihr könnt nicht aus einem Kerker heraus kämpfen.«

Edwards Nackenhaare sträubten sich, und er spürte ein Kribbeln auf seiner Kopfhaut, als seine Haare, die im Schein des Feuers weizenblond leuchteten, sich aufrichteten. Er sah plötzlich noch größer, noch wuchtiger aus, und die Luft im Raum vibrierte gefährlich. Karl spürte bis in die Knochen eine urtümliche Angst, obwohl er sie, auch sich selbst gegenüber, nicht zugeben wollte.

Edward hatte seine Stimme kaum unter Kontrolle, als er antwortete. Er sah den Herzog mit stechenden Blicken an. »Wagt das nicht, Karl. Gott würde Euch strafen. Ich bin ein von Gott gesalbter König. Ihr nicht.«

Karl blinzelte und senkte dann den Blick. Es geschah unfreiwillig - er war ein tapferer Mann, das hatte er viele Male in der Schlacht bewiesen -, aber Edwards zornige glühende Augen erfüllten ihn mit einer abergläubischen Furcht. Edward Plantagenet war zwar ein entthronter König und, ja, sogar ein Thronräuber, doch er war immer noch der gesalbte König. Und er besaß eine unmäßige Selbstsicherheit. Vielleicht verstanden Könige ihr heiliges Amt besser als Herzöge.

Verärgert und beschämt über seine Verwirrung, fuhr sich Karl mit der Hand über die Augen, als wollte er die Wahrheit wegwischen wie ein lästiges Insekt. »Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Ihr offiziell von niemandem unterstützt werdet. Und was auch immer in Zukunft geschehen mag, Louis muss auch weiterhin in diesem Glauben gelassen werden. Ich kann es mir nicht leisten, Euch zu helfen. Nicht jetzt, nicht zu diesem Zeitpunkt. Es ist nicht der richtige Moment dafür.«

»Aber Zeit kann in dieser Angelegenheit nichts mehr ändern, Karl.«

Der Herzog fühlte sich ausgelaugt, unendlich erschöpft. Er hatte dieses Gespräch gefürchtet, hatte sogar erwogen, Brügge zu verlassen und sich seinen Truppen anzuschließen, die an der südlichen Grenze zu Frankreich standen, nur um Edward nicht treffen zu müssen. Aber dann hatten seine Neugier und die letzten Reste von Mitgefühl gesiegt, und er hatte dem Treffen zugestimmt. Dies und seine Ehe mit Margaret, die ihm lieb und teuer war. Und Edward war sein Freund gewesen, war, so seltsam es klingen mochte, noch immer sein Freund.

Der Herzog seufzte und beugte sich vor, um roten Wein in Edwards Kelch zu gießen, bevor er sich selbst nachschenkte.

»Ich kann Euch nicht zustimmen, mein Freund. Es ist schwierig, die Zukunft richtig einzuschätzen, sehr schwierig. Was mir mein Herz sagt und was mir mein Verstand sagt, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Und diesen Widerspruch müssen wir aushalten. Wir beide gemeinsam.«

Edward schwieg, hielt dem Herzog aber seinen gefüllten Kelch entgegen, den dieser, zögernd, mit seinem eigenen berührte.

»Die Zukunft? Das kann ich Euch sagen, Bruder. Das ist schon immer meine Stärke gewesen.« Edward lächelte, ein unerwartet liebenswertes Lächeln. Karl musste unwillkürlich ebenfalls lächeln. Er kannte Edward, seit dieser ein Knabe gewesen war, und das hatte auch in diesen schwierigen Zeiten Gewicht.

Das Gespräch dauerte die ganze Nacht. Der König und der Herzog diskutierten und stritten miteinander und suchten nach einer Lösung für ihre gegensätzlichen Interessen. Sie sprachen ehrlich miteinander, denn sie wähnten sich allein. Doch das waren sie nicht.

Philippe de Commynes hörte jedes Wort, das sie sprachen. Er saß hoch oben in einer geheimen Nische im Dachgebälk und lauschte. Er allein kannte diesen Ort, der sich als sehr nützlich erwiesen hatte, vor allem in jüngster Zeit, vor allem an diesem Abend. Nach der Jagd, wenn die Männer noch am Feuer saßen und tranken, zog sich Philippe manchmal schon früher zum Schlafen zurück, kletterte aber in Wirklichkeit das Dach hinauf, wo er sich dicht unter den Dachplatten bäuchlings über einen schmalen Gang schob, der für die gelegentliche Inspektion des Dachstuhls gebaut worden war. Dort legte er sich dann hin und hörte, was tief unter ihm vom Herzog und seinen Vertrauten gesprochen wurde, die unterdessen immer tiefer in ihre Kelche schauten. Danach pflegte er aufzuschreiben, was er gehört hatte.

Auf diesem Lauschposten erfuhr er auch, wie sehr der Herzog ihn - seinen eigenen Cousin - verachtete, und er hörte jedes Mal das prustende Lachen, wenn sie ihn als Stiefelkopf be-zeichneten. Durch diese Erfahrung war sein Herz erstarrt und seine Loyalität vergiftet.

Als Philippe de Commynes an diesem Abend mit kaltem Blick nach unten schaute, erblickte er einen entthronten König und einen, der den Königsthron noch anstrebte. Und er wusste, dass das Glücksrad sich zu seinen Gunsten gedreht hatte. Ja, diese Nacht bedeutete wahrlich Glück, für ihn und erst recht für Louis de Valois. Er hatte dem französischen König schon einmal das Leben gerettet, wie dankbar würde Louis erst sein, wenn Philippe auch noch sein Königreich rettete?

Kapitel 33

»Wie viel ist dir das Königreich wert, Edward?« Anne hatte die Nacht in der Küche der Jagdhütte verbracht. Zuerst hatte sie darauf gewartet, dass die Männer ihr Gespräch beenden und sie und Edward zum Hof zurückreiten würden. Schließlich aber war sie, den Kopf auf die Arme gebettet, am Tisch eingeschlafen. Als Edward sie im Morgengrauen weckte, war sie steif und fror. Sie und der schweigsame König ritten im ersten Licht des Tages zur Riverstead Farm zurück. Edward brütete auf dem ganzen Ritt vor sich hin.

»Kein Preis ist mir zu hoch. Dich ausgenommen.« Er lächelte flüchtig, wollte ihr zu Gefallen fröhlich sein.

»Warum?«

»Warum überhaupt oder warum du?«

Nun musste sie ebenfalls lachen und straffte die Zügel, woraufhin ihre hübsche Stute, empört über solch widersprüchliche Befehle von Händen und Fersen ihrer Herrin, laut schnaubte.

»Überlegst du dir nie, ob du dich nicht weigern willst zu geben, was von dir gefordert wird?«

Die Pferde schritten Seite an Seite über den Saumpfad am Flussufer. Im kalten Morgengrauen kämpfte sich die Wintersonne im Osten hervor. Der Atem von Mensch und Tier floss zu einer Dunstwolke zusammen.

Edward beugte sich zu Anne hinüber und richtete eine Haarlocke, die sich auf ihre Wange gestohlen hatte. Seine Finger verweilten, und mit einem behandschuhten Finger zog er die Linie ihrer Wange nach, ihrer Nase, die Umrisse ihrer Lippen. Unwillkürlich schloss sie ihre Augen.

Die Stimme des Königs klang rau. »Ich würde ja den Handschuh ausziehen, aber es ist höllisch kalt.«

Da mussten beide lachen. Sie kicherten wie zwei närrisch Verliebte. Die Pferde stampften und versuchten, im Kreis zu gehen. Es gefiel ihnen nicht, in der Kälte zu verharren.

»Ich meinte es ernst, Edward.« Sie fasste nach seiner Hand und schmiegte ihr Gesicht hinein.

Er beugte sich seufzend vor und küsste sanft ihre Lippen. Der Kuss war kalt, dennoch entzündete er sie mit seiner Glut.

»Ich weiß. Aber ich kann dir nicht darauf antworten. Die Frage macht mir Angst.«

Sie waren zusammen, allein auf weiter Flur, und als sie sich in die Augen sahen, verebbte ihre Angst. Nur noch ihr Atmen und das Schnauben der Pferde waren zu hören.

»Wir sollten zum Hof zurück.« Annes Mund war trocken. Konnten Worte ein Schutzschild sein? Oder eine Leine, die den Ertrinkenden ans sichere Ufer zieht?

»Die Welt ist voll von Wörtern wie >sollte< und >wäre<, mein Liebling. Liebst du mich? Ist deine Liebe stark genug?«

Eine unlautere Frage, und er wusste das. »Was soll ich dir antworten? Ich denke und fühle nicht in messbaren Mengen, Edward.«

Der König glitt mit einer Hand aus seinem Reithandschuh und umfasste unter dem Mantel ihre Taille. Ihr Körper war warm, er spürte ihre Hitze durch die Kleider und nahm den fernen Duft von Rosen wahr.

»Genug heißt für mich, dem Herzen ohne Wenn und Aber zu folgen.«

Anne schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können und nicht dem Gesang der Sirenen zu verfallen. Aber sie war innerlich zerrissen. Die Vernunft wollte sie verlassen, als er sich zu ihr hinabbeugte und die pochende Vertiefung an ihrem Hals küsste. Mit einem Mal machte er mit seinem Hengst eine Kehrtwende, hieb ihm die Sporen in die Seite und sprengte, erst im schnellen Trab, dann in einem wahnsinnigen Galopp davon, den Saumpfad hinab auf die nahe gelegene Grenzmauer zu, die ihr Anwesen umgab. Anstatt aber zu den Wirtschaftsgebäuden abzubiegen, ritt er weiter, bis er hinter einer Uferbiegung aus ihren Augen verschwand.

Anne, von Edwards Berührung und seinem Geruch irritiert, griff instinktiv in die Zügel und richtete sich im Sattel auf. Ihre Stute, die von der Nacht frisch und ausgeruht war, brauchte kein weiteres Signal. Sie tänzelte einen Moment lang, und dann galoppierte sie mit einem solchen Satz davon, dass Anne beinahe aus dem Sattel geschleudert wurde.

Es war ein gefährlicher, wilder Ritt. Der scharfe Wind übergoss ihr Gesicht mit heller Röte, und die Erregung machte sie schwindelig, als ob sie Wein getrunken hätte. Sie sah den König mit wehendem Mantel weit vor sich, mit jedem Sprung seines Pferdes wurde der Abstand zwischen ihnen größer. Aber dann, als sie sich kurz zur Seite drehte, um einem kahlen Zweig auszuweichen, war er verschwunden. Wohin?

Anne brachte die Stute zu einem bebenden Halt und drehte sich im Sattel um. Keine Spur vom König oder seinem Pferd. Sie war schon ein ganzes Stück vom Zugang zu ihrem Hof entfernt und befand sich nun in jener Flussniederung, die Deborah in ihrer Abwesenheit von der Familie Landers erworben hatte. Dort wollte sie Krokusse anbauen, wenn das Schicksal ihr gnädig war.

Sie führte das Pferd durch eine Lücke in der Hecke und kam auf einen ungepflügten Acker. Sie erinnerte sich, dass zu dem Grundstück, das sie erworben hatte, auch eine Scheune gehörte. Ja, dort war sie - und dort war auch Edwards Pferd. Angebunden stand es neben dem kleinen, rot gedeckten Gebäude und graste friedlich.

»Edward? Wir müssen zurück.« Sie rief laut und bestimmt, aber die Worte klangen dumm, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Sie wollte nicht zu ihrem wirklichen Leben zurückkehren. Noch nicht.

»Komm und sieh, was ich gefunden habe.« Die Stimme des Königs klang gedämpft. Er war in der Scheune.

Jetzt war der Moment, sich zu entscheiden, der Moment, in dem sie hätte zurückreiten können. Zwei Bilder entstanden vor ihrem inneren Auge. Auf dem einen ritt sie zur Scheune, stieg ab, band die Stute neben dem Hengst an und ging hinein, dem Klang seiner Stimme folgend. Auf dem anderen Bild wendete sie ihre Stute und ritt nach Hause, ritt von ihm fort ...

»Anne? Komm und sieh.«

Der königliche Hengst hob den Kopf und begrüßte die Gefährtin mit einem Wiehern. Ausgelassen tänzelte Annes Stute zu ihm, als hätten die Hände der Frau an ihren Zügeln keine Bedeutung. Und dann war Edward neben ihr, streckte ihr seine Hand hin, und Anne ließ sich nach unten in seine Arme gleiten. Sie lehnte sich an seine Brust, ihr Kopf fand seinen natürlichen Ruhepunkt an seiner Schulter, als fehlte ihr die Kraft, auf eigenen Füßen zu stehen. Ihr Körper hatte entschieden.

Mit einem unsicheren Lachen nahm er sie und hielt sie fest umfangen, presste sie begierig an sich. Sie schmiegte ihren Körper eng an den seinen, die Kurven ihrer Hüften ein süßes Versprechen.

»Komm mit mir. Sieh . « Sie eng umschlungen haltend, führte Edward sie in die Scheune. Im ersten Moment konnte Anne nichts sehen, dann gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel. Silbernes Licht, mit Sonnenstäubchen durchsetzt, fiel durch die Belüftungsöffnungen in der Dachtraufe, und drinnen war es so kalt wie draußen. Da erinnerte sich Anne, warum sie so froh gewesen war, die Scheune zusammen mit dem Flussland zu erwerben - sie war solide gebaut und eignete sich hervorragend als Speicher. Jetzt lagerte in der Scheune das Heu für die wenigen Kühe, die sie den Winter über hielten. Im Flussland gedieh das Gras immer besonders gut, und die Heubündel waren hoch aufgestapelt und verbreiteten selbst in der kalten Luft einen süßen Duft.

Sanft nahm Edward Anne an der Schulter, so dass sie ihn ansehen musste.

»Ich glaube nicht, dass es jemals ein weicheres, süßeres Bett für Mann und Frau gegeben hat.« Er küsste sie sanft. »Wenn du das möchtest.«

In seinen Händen spürte sie seine Anspannung. Sein Körper war wie erstarrt vor Selbstbeherrschung. Er würde dem, was er am meisten wollte, nicht nachgeben, wenn er sich nicht sicher war, dass sie ebenso empfand wie er. Anne schloss ihre Augen. Ihn riechen, berühren und schmecken, nur das wollte sie noch.

Als er sie wieder küsste, öffneten sich ihre Lippen. Sie widersetzte sich nicht mehr. Ihr Hunger war so groß wie seiner - und er wusste es.

»Ah, Gott sei gedankt. Das hat sich nicht geändert.«

Der Damm brach, aller Widerstand war verschwunden, war untergegangen.

Das Heu unter ihnen, sein Mantel, der sie zudeckte, die

Leidenschaft, die sie warm hielt. Der Mann und die Frau fanden sich wieder, und es war vertraut und fremd und beglückend.

»Ich kann dich nicht sehen. Das ist eine Qual!«

»Aber wir können mit den Fingern sehen«, flüsterte sie. »Schließe deine Augen.« Er verstand und tat wie ihm geheißen. Er genoss die Wärme ihrer Haut, als er ihr den Rock des Reitkostüms auszog. Samtene Strümpfe waren über den Knien mit Bändern geschnürt, darüber aber waren ihre nackten Schenkel, butterweich und glatt. Edwards Hände waren rau vom vielen Reiten. Es kam ihm beinahe wie eine Schändung vor, sie zu berühren, aber sein Verlangen war zu stark.

»Oh, wie habe ich dich vermisst.« Die Stimme versagte ihm beinahe, seine Sinne waren in Aufruhr.

»Ich habe dich immer in meinen Träumen gesehen.«

»Ich dich auch. Ich habe dich gesehen und dich begehrt.« Er küsste ihre Augen, ihren Mund, ihren Hals, ihre Brüste. Er sprach hektisch, mit erstickter Stimme, und seine Hände wan-derten über ihren Körper und erinnerten sich.

Sie keuchten, und heiße Atemwölkchen stiegen in die kalte Luft auf, ihre Körper ein Vulkan hitzigen Verlangens. Anne stieß Edward kurz von sich. Ihre Augen suchten sein Gesicht, ihre Hände hielten seine Hände fest. Er war stark, die Arme vom jahrelangen Reiten und Kämpfen gestählt, doch jetzt, in ihren Händen, war er völlig kraftlos.

»Ich weiß nicht, was das bedeutet, Edward.« Sie musste nichts weiter sagen, sie wollte nichts weiter sagen, aber er verstand sie auch so. Wenn sie erneut ein Liebespaar wurden, dann vielleicht wieder nur für kurze Zeit.

»Wir müssen nicht wissen, was die Zukunft bringt. Das Schicksal wird entscheiden. Aber du und ich, meine Geliebte, wir werden unser ganzes Leben lang Liebende sein. Auch wenn wir getrennt leben.« Ihr Denken und Fühlen stimmte überein, so war es schon immer gewesen. Nun aber übernahmen ihre Körper das Denken. Worte waren nicht mehr nötig.

Mit bebenden Fingern half Anne Edward, die Bänder an seiner Hose aufzuschnüren, und er, unbeholfen vor Begierde, nestelte an den Bändern ihres Reitkostüms. Er konnte es kaum erwarten, ihre Brüste zu befreien.

Elfenbein und Rose, das unbestimmte Licht übergoss ihre Haut mit einem silbernen Schimmer, liebkoste sie sanft, berührte die Linie ihres Halses und ihrer Schultern, die eine vollkommene Ergänzung zu den Rundungen ihrer Brüste und ihrer Hüften bildete. Und plötzlich war diese Frau für Edward Plantagenet reizvoller als jedes Land, das es zu erobern galt. Diese lebendige, junge Frau, deren Atem und deren Duft, deren Haut, Augen und Mund die ganze Welt enthielt, enthob ihn seiner körperlichen Lüste und versetzte ihn in ein anderes Reich, einen einfachen Ort, wo es weder Ende noch Anfang, sondern nur das Hier und das Jetzt gab.

Er und sie zusammen - das war seine Heimat, sein Königreich: ein Ort jener Wirklichkeit, nach der er instinktiv immer gesucht hatte. Er hatte nie verstanden, was das Fehlen dieser Wirklichkeit bedeutete, bis zu diesem Moment. Aber als er nun Anne in seinen Armen hielt, Haut an Haut mit dieser Frau lag, da begriff er. Der Verlust von Anne war eine eiternde Wunde gewesen, die ihn fast vergiftet hätte. Doch nun war dieser Verlust behoben, und es war herrlich, wieder in ihren Armen zu liegen, zu schmelzen, zu beben, sich hinzugeben. Und zu genesen.

Sein nackter Oberkörper presste sich an ihre Brüste - er so hart, sie so zart. Anne wand sich heftig in seinen Armen, noch fester, noch wilder wollte sie ihn halten, ihre Fingernägel gruben sich in seine Schultern, seinen Rücken, und sie zog ihn zu sich herunter.

Wie einfach das war, wie einfach war es, sich hinzugeben.

Seine Schenkel zwischen ihren Schenkeln, nichts anderes existierte mehr.

»Wir haben das Feuer neu entfacht, du und ich.« Sie stieß die Worte keuchend hervor, während er, langsam, hart, in sie eindrang. »Ich möchte brennen, möchte verglühen.« Er nahm ihre Lippen zwischen seine Zähne, dann stieß er seine Zunge in ihren süßen Mund, so dass alle Worte erstickt wurden. Sie stöhnte und bewegte sich, fand seinen Rhythmus, hob ihm ihre Hüften entgegen und nahm ihn noch tiefer in sich auf.

Wie der Gekreuzigte lag er über ihr, die Arme weit zur Seite ausgestreckt hielt er ihre Handgelenke umklammert und drückte sie in das weiche, tiefe Heu, dem der Duft des vergangenen Sommers entströmte.

»Du bist mein.«

»Ja, Gott stehe uns bei.«

Es war ein Gebet, eine machtvolle Beschwörung, dann trug eine Welle sie beide davon, eine Welle aus Feuer, Licht und unendlichem Dunkel. Und zwei verlorene Seelen fanden Frieden, fanden einander. Ein weiteres Mal.

Kapitel 34

»Wo stehen die Truppen des Herzogs?«

Philippe de Commynes versuchte, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Er setzte die gleichgültige Miene des erfolgreichen Höflings auf und verneigte sich tief. Im Geiste aber sah er sich schon in die selbst gestellte Falle geraten.

»Euer Majestät, mein Herr, der Herzog, hat mich nicht mehr wissen lassen, als was in den Briefen steht, die Ihr in Händen haltet.«

»Kommt schon, Monsieur. Wenn der Herzog ein treuer Untertan von mir ist, kann er sich einer harmlosen Frage wie dieser kaum entziehen.«

Mit spitzen Fingern reichte er die samtene Brieftasche mit dem burgundischen Wappen an le Dain, den Barbier weiter, der neben dem Thron stand.

Philippe räusperte sich nervös. »Mein Herr befürchtet einen Angriff der Engländer - vom Grafen Warwick, Euer Majestät. Das ist allgemein bekannt.«

Louis schwieg, aber er begann, mit seinem Fuß auf den Boden zu klopfen. Dieses Klopfen erfüllte alle Anwesenden mit Entsetzen. Eilig fuhr Philippe fort: »Erst kürzlich haben englische Freibeuter Vlissingen und Sluis überfallen und zahlreiche Handelsschiffe versenkt, die dort auf das Frühjahr warteten. Sie haben auch die Küstenstädte geplündert und Handelsgüter geraubt. Mein Herr ist der Meinung, dass er sein Volk beschützen muss.«

»Seine Majestät König Louis hat aber erfahren, dass die bur-gundischen Truppen hauptsächlich in der Picardie zusammengezogen werden. Also in deutlichem Abstand vom Meer und den von Euch erwähnten Häfen.« Mit öliger Stimme hatte der Barbier für seinen Herrn das Wort ergriffen.

Der Stehbund des vornehmen Unterhemds von Philippe de Commynes war klatschnass, und die Schweißflecken unter seinen Achseln würden auch den kostbaren Seidenrock bald unwiderruflich ruiniert haben - er spürte, wie ihm der Schweiß an den Seiten hinunterrann. Wieder verneigte er sich, diesmal mit an den Körper gepressten Armen, um den Gestank zu unterdrücken. Der König zog seine Augenbrauen hoch, dieser Mann hatte Ähnlichkeit mit einem Wasservogel, der nach Futter taucht.

»Euer Majestät, es geht dabei um Angelegenheiten, die ...« Unglücklicherweise kam de Commynes ins Stocken. Egal, was und wie er etwas sagte, jedes Wort von ihm würde gierig aufgegriffen und vom klatschsüchtigen französischen Hof zerpflückt werden - und vom burgundischen Hof ebenso, wenn der Herzog davon Nachricht bekam. Er setzte noch einmal an. »Großer König, dürfte ich Euch um die Ehre einer Privataudienz bitten? Eine unerhörte Bitte, ich weiß, aber ...«

»Ich bin doch kein Geistlicher, der sich in dunkler Abgeschiedenheit Beichten anhört, Monsieur de Commynes.«

Der burgundische Gesandte schluckte. Der König war kurz angebunden und sein Ton frostig. Doch dann gestattete sich Louis doch noch einen Blick auf den Bittsteller, sein Gesicht wurde weich und nahm einen neugierigen Ausdruck an. Der Barbier, der alles genau beobachtete, kniff seine Augen zusammen. Dankbarkeit? War das möglich?

»Nun denn, bei dieser Gelegenheit ...« Der König winkte gereizt, man möge den Audienzsaal räumen. »Und Ihr auch!«, bedeutete der König le Dain. Der Barbier war verärgert und misstrauisch. Was hatte dieser verweichlichte Höfling schon zu sagen, das nicht für ihn, den obersten Ratgeber des Königs, bestimmt sein konnte?

»Geht, le Dain. Strapaziert nicht meine Geduld!« Der König hatte sich halb erhoben, um seinem Willen Nachdruck zu verleihen. Jetzt zuckte er gequält zusammen. Seine Beine taten immer noch weh, obwohl sie - langsam - heilten. »Und schickt den Mönch her. Ich brauche ihn.«

Widerstrebend ging der Barbier rückwärts aus dem Audienzsaal. Er war wütend, wie ein kleiner Lakai auf einen Botengang geschickt zu werden. Trotzdem setzte er die Maske heiterer Höflichkeit auf, die alle trugen, die dem König dienten. In welcher Eigenschaft auch immer.

Vor der T ür wechselte sein Gesichtsausdruck abrupt. Philippe de Commynes dachte wohl, er genieße die besondere Aufmerksamkeit des Königs wegen des Vorfalls mit dem Gift. Er aber,

Olivier le Dain, würde dafür sorgen, dass er noch mit dem bur-gundischen Gesandten zusammentraf, bevor dieser die Heimreise antrat. O ja!

Stille machte sich im Audienzsaal breit, als die Höflinge schnatternd und flatternd wie eine lärmende Schar Staren hinausgegangen und die Türen hinter ihnen zugemacht worden waren. Philippe de Commynes hatte seinen Willen bekommen: Er war allein mit dem König. Gebe Gott, dass dieser Augenblick sich als Segen erwies, nicht als Fluch.

»Nun, Philippe, was gibt es so Geheimes, dass Ihr es nicht vor meinen Ratgebern aussprechen wollt?«

»Der englische König, Euer Majestät ...« De Commynes bemerkte den eigenartigen Ausdruck auf dem Gesicht des Königs und interpretierte ihn als Zorn. Er täuschte sich. Es war Angst. »Ich meine, den Grafen von March, den englischen Thronräuber. Er hat sich mit meinem Herrn getroffen.«

Louis musste plötzlich sauer aufstoßen. Er schluckte und bereute es sofort, denn die Säure brannte sich bis in seine Gedärme hinab. Aber der Schmerz lenkte ihn von der Angst ab, die heiß durch seinen Körper floss. »Wann? Und wo?«

»EineJagdhütte im Revier des Herzogs außerhalb von Brügge. Vor ungefähr einer Woche.«

»Waren noch andere zugegen?«

»Nur ich, Euer Majestät. Und eine Lady. Eine Freundin des Grafen.«

Der König schnaubte. »Eine Freundin des Grafen? Unsinn. Männer und Frauen sind keine Freunde. Warum war sie dabei?«

Philippe war unruhig. Er spielte um einen hohen Einsatz, und er hatte die Seiten gewechselt, als er um das Vieraugengespräch gebeten hatte. Natürlich würde der Herzog davon erfahren - aber nun gab es kein Zurück mehr für ihn.

»Ich weiß nicht, edler Herr. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ich hörte, wie mein Herr ...« Warum fiel es ihm so schwer, dieses Wort auszusprechen? Weil der Herzog nicht länger sein Herr war. »Ich hörte, wie der Herzog ...« Philippe sah dem König direkt in die Augen, und der König lächelte beinahe freundlich. »Ich hörte, wie der Herzog sie mit Lady Anne ansprach.«

Louis de Valois richtete sich in seinem Thron auf. »Lady Anne de Bohun?«

Philippe wunderte sich, doch dann war er beschämt. Natürlich, ein König wusste alles über seine Feinde, was es zu wissen gab, selbst die Namen ihrer Begleiter. »Ich weiß ihren Vatersnamen nicht, Sire. Aber sie wartete die ganze Nacht auf den Kö ... auf den Grafen. Und ritt mit ihm in der Morgendämmerung davon.«

Louis knurrte zufrieden. Die geheimnisvolle Dame musste warten, jetzt gab es wichtigere Dinge zu besprechen. »Ich nehme an, dass es zu viel verlangt wäre, zu erfahren, worüber Euer Herr, der Herzog« - ein ironisches Lächeln des Königs trieb dem jungen Mann die Röte ins Gesicht, und er senkte den Blick - »und der Graf von March gesprochen haben?«

Das war der Moment. Der Moment, als beide Männer wussten, dass Louis de Valois einen neuen Gefolgsmann gewonnen hatte. Philippe de Commynes hätte ebensogut niederknien und vor dem König von Frankreich den Lehnseid ablegen können.

»Sie sprachen unter vier Augen, Euer Majestät.« Langsam hob der junge Mann den Blick und sah den König unsicher an. »Aber ich habe gehört, was gesprochen wurde.« Louis lächelte. Natürlich würde er de Commynes in Zukunft nicht trauen können. Wer vertraute schon einem Mann, der bereit war, seinen Herrn zu verraten? Aber er wollte ihn ermutigen. Und den Stiefelkopf wollte er ebenfalls ermutigen.

»Hochinteressant, Philippe. Was haben sie gesagt?«

Der junge Mann kniete demütig vor dem erhöhten Thron nieder und faltete die Hände wie zum Gebet. »Der Graf bat um

Hilfe, Euer Majestät. Sein Schwager, der Herzog, wollte sie ihm nicht gewähren, aus Angst, Euch, edler Herr, zu beleidigen und Schaden über sein Herzogtum zu bringen. Mein Herr - der Herzog ist hin und her gerissen, Sire. Offen gesagt, er kann sich nicht entscheiden, mit wem er sich verbünden soll.«

Der König hatte sich seine Überraschung nicht anmerken lassen, als er erfuhr, dass Edward Plantagenet in Brügge war. Die letzten Briefe, die er aus den Niederlanden bekommen hatte, sagten, der ehemalige englische König sei immer noch verschwunden, man vermute ihn aber noch in der Umgebung, aufder Flucht vor Louis de Gruuthuse. Doch der König glaubte, was de Commynes ihm erzählte, allein aus dem Grund, weil dieser zu viel zu verlieren hatte, wenn er log.

»Und doch hat Karl vor einiger Zeit laut ausposaunt, dass er Warwick unterstützt. Soviel ich gehört habe, hat er ihm sogar Geld geschickt.«

De Commynes schüttelte siegesgewiss den Kopf. »Nein, Euer Majestät. Er unterstützt den Grafen Warwick nicht wirklich. Er möchte nur Zeit gewinnen, das ist alles. Zeit gewinnen, um die Situation in England besser einschätzen zu können. Vor allem möchte er wissen, ob die Magnaten den Grafen March stützen würden, falls er zurückkäme. Wenn der Herzog sicher weiß, aus welcher Richtung der Wind bläst, dann wird er seine Entscheidung treffen. Falls es Warwick gelingt, England zu halten, dann werdet Ihr einen mächtigen, neuen Verbündeten haben. Und das wäre auch das Ende von des Herzogs Streben, Frankreichs Herrschaft zu brechen und ein eigenes Königreich zu errichten.«

Der König schwieg und dachte nach. Dann seufzte er. »Ach, wem soll man vertrauen. Wenn Könige und Herzöge die Antwort auf diese kleine Frage wüssten, würden wir alle ruhiger schlafen. Mein armer Cousin Karl ...« Ein lautes Seufzen folgte, auch wenn das schmallippige Lächeln seine mitfühlenden Worte

Lügen strafte. »Und doch sollte er bald seinen Einsatz bringen, sonst ist alles für ihn verloren. Alle seine Länder und die enorme Macht, die er derzeit besitzt. Dafür werde ich persönlich sorgen. Mit dem größten Vergnügen.«

Louis sprach mehr zu sich selbst, und Philippe de Commynes war klug genug, zu schweigen und sich nicht zu bewegen, auch wenn seine Knie auf dem erbarmungslosen Steinboden wehtaten.

Der König schloss seine Augen, um besser nachdenken zu können. »Ich frage mich, ob er die Mittel hat?« Die Worte schlüpften dem König aus dem Mund, bevor er recht überlegt hatte.

»Die Mittel wofür, Euer Majestät?«

Louis' Augen öffneten sich schlagartig und richteten sich auf den jungen Mann. »Um Edward das geben zu können, was er braucht, um England zurückzuerobern. Was meint Ihr, Monsieur?«

Philippe de Commynes schluckte trocken, bevor er antwortete. »Der Herzog ist an mehreren Fronten beansprucht, Euer Majestät. Und wir hatten einen strengen Winter. Überall in Burgund gibt es Unruhen. Es mangelt an Nahrung, müsst Ihr wissen.«

Jeder wusste, was er damit meinte. Wenn sich die Franzosen aus einer Gegend zurückzogen, brannten sie alles nieder und nahmen alles Essbare in ihre eigenen Stellungen mit. Ebenso verfuhren die Burgunder. Und die Menschen, die dort lebten, litten grausam unter diesen Plünderungen und Zerstörungen.

»Nun denn, dann müssen wir ihn noch weiter beanspruchen.«

Der König erhob sich, er fühlte sich tatkräftig wie schon seit Monaten nicht mehr. Vielleicht hatte der Mönch wirklich recht. Vielleicht tat die Medizin seinen Körpersäften gut. Es geschah selten, dass Louis sich so zuversichtlich, so fröhlich fühlte.

»Hier, mein Freund.« Der König bückte sich im Vorübergehen und tätschelte den Kopf seines neuen Vasallen. »Dies ist ein kleines Zeichen der Anerkennung für Eure treuen Dienste, auch in der Zukunft.« Der König drückte in Philippe de Com-mynes' zitternde rechte Hand einen Ring aus vergoldetem Silber mit einem kleinen, makellosen Saphir von reinstem Blau, der mit Sicherheit sehr wertvoll war.

Philippe verneigte sich tief, ergriff die Hand des Königs und küsste sie. Louis gestattete ihm diese intime Geste mit einem beinahe väterlichen Lächeln. Dann ging er, mit neuer Zuversicht erfüllt, zur Tür des Audienzsaals.

Dort blieb er stehen und drehte sich um. »Übrigens, Philippe, was hat Euch dazu gebracht?«

Der junge Mann errötete wie ein Mädchen, antwortete jedoch mit klarer Stimme: »Mein Cousin, der Herzog, hat mich nicht wie einen Verwandten behandelt.«

Der König überlegte kurz, dann lächelte er. »Stiefelkopf! Wegen des Namens, nicht wahr? Ihr hasst diesen Namen!«

Tränen der Wut und der Erniedrigung brannten in den Augen von Philippe de Commynes, trotzdem bewahrte er eine gewisse Würde, als er antwortete: »Sire, ich kenne keine größere Freude, als Euch und Eurer Familie zu dienen. Meine eigene Familie legt auf meine Loyalität keinen Wert, sonst würde man mich anders behandeln. Ich bin Euer bis in den Tod.«

Seltsam, dachte Louis, als er - zum großen Schrecken der Türwächter - eigenhändig die Saaltüren aufzog. Das klingt beinahe, als meinte er es ernst.

Und dann vergaß er Philippe de Commynes, seinen verletzten Stolz und sogar seine Zwistigkeiten mit dem Herzog von Burgund, denn er schwelgte in der Gewissheit, dass er, Louis de Valois, die Schwachstelle des Edward Plantagenet gefunden hatte. Wenn eine Frau die Verkörperung der Nemesis war, dann diese Anne de Bohun. Und er kannte auch den Mann, der sie auf ihrem eigenen Terrain zu Fall bringen konnte, und wusste von Edwards Verstrickung mit ihr, die ihn so offensichtlich von seinen Pflichten ablenkte.

Bruder Agonistes hatte erzählt, die Frau sei eine Hexe. Louis lächelte schmallippig. Hexen existierten für ihn nicht, aber die Leichtgläubigen glaubten daran. Nun gut, sie sollten ihr Vergnügen haben.

»Der Mönch! Wo ist der Mönch?«

»Hier bin ich, Bruder König, was wünscht Ihr?«

Louis de Valois, König von Frankreich, klopfte Agonistes auf den Rücken. »Bruder, ich habe eine heilige Aufgabe für Euch. Eine Aufgabe, für die Gott Euch Kraft senden wird, die Eure Seele jedoch vernichten kann, solltet Ihr versagen. Kommt, wir wollen Gott um Stärke bitten. Ihr werdet sie brauchen.« Louis sah den verwirrten Mönch mit einem sanften Lächeln an, nahm vorsichtig seine schmutzige Hand und führte den heiligen Narren in die Kapelle, in der normalerweise nur der König und niemand sonst beten durfte.

»Es geht um den Teufel, mein Bruder, den Teufel und die Fleischeslust. Ja, um den Teufel in der Gestalt der Fleischeslust. Und ich glaube, Ihr seid Gottes Werkzeug im Kampf zwischen diesen beiden Kräften.«

Der Mönch fand endlich seine Sprache wieder. »In welcher Weise, Euer Majestät? Wie kann das sein?«

Der König blieb stehen, wandte sich dem Mönch zu und machte feierlich das Kreuzeszeichen über dessen Haupt.

»Vor vielen Jahren zerstörte eine Frau, eine böse Frau, Euer Leben mit den Verlockungen ihres verderbten Fleisches. Rich-rig?«

Bruder Agonistes erbleichte sichtbar unter der Dreckkruste auf seinem Gesicht. »Ja. Ich war verflucht. Ihre Schönheit stieß mich in bodenlose Verzweiflung. Sie wurde ein Dolch in der Hand des Teufels.«

Der König schloss seine Augen und nickte. Ihm war, als lauschte er einer fernen Stimme. »Und doch lebte diese Frau ungestraft weiter, während Ihr eine verlorene, umherwandernde Seele wurdet?«

Bruder Agonistes nickte. Das stimmte: Die Frau lebte munter weiter, und er war in den vergangenen Jahren zu einem Leben in Armut und Buße verdammt gewesen, um seine peinigende Lust zu sühnen.

Der König riss seine Augen weit auf, in seinem totenähnlichen Schädel sahen sie aus wie glühende Kohlen. »Und wenn ich wüsste, wo diese Frau lebt? Dass sie sich jetzt gerade in ihrem Sündenpfuhl wälzt, zusammen mit diesem ehebrecherischen Thronräuber, dem Grafen von March? Jener Graf, der einstmals König von England genannt wurde.«

Bruder Agonistes wurde schwindelig. Sicher, er hatte drei Tage lang gefastet, um sich auf den Feiertag vorzubereiten, der die Geburt des Heilands zelebrierte. Aber das erklärte nicht das Ohrensausen oder die Atemnot, die seine Brust zusammenschnürte.

»Bruder, lasst uns beten. Denn, wie ich schon sagte, ich glaube, Ihr seid Gottes Werkzeug, diese Sünder zu vernich -ten, und zwar alle beide.« Der König lächelte kalt. »Kommt, wir wollen Gott um Rat und Führung bitten. Er hat uns gerufen, seinen Willen hier auf Erden zu vollstrecken. Und so wollen wir ihm gehorchen, Bruder, als gute Söhne eines liebenden, barmherzigen und alles wissenden Vaters.«

Bevor Bruder Agonistes etwas erwidern konnte, hatte der König seine knochigen Finger um sein schwächliches Handgelenk gekrallt und zog ihn widerstandslos hinter sich her.

War es Schwefel, was er roch? Ja, ganz sicher. Schwefel, stärker als Weihrauch. Stärker als die Angst. Beinahe jedenfalls.