»Wann war das?«
»Vor fünf Tagen.«
»Und wo, mein lieber Freund, hat diese ach so glückliche Geburt stattgefunden?«
Philippe de Commynes spürte, wie sein Herz vor Nervosität einen qualvollen Schlag lang aussetzte. Die Welt, in der er lebte, war unberechenbar. Wie oft geschah es, dass dem Überbringer einer Nachricht die Schuld gegeben wurde, gleichgültig, wie hochgestellt er war? »In der Sakristei von Sankt Peter in Westminster, mein König. Die Königin - ich meine, die Frau des Thronräubers Edward, Graf von March - lag eine Nacht lang in den Wehen. Der Knabe wurde am Morgen des vierten Tages dieses Monats geboren. Im November«, fügte er erklärend hinzu.
Louis, König von Frankreich, sah den vor ihm knienden Mann böse an. »Ich kenne die Monatsnamen, Monsieur de Commynes. Habt Ihr Beweise?«
Philippe schwitzte. Er spürte, wie ihm der Schweiß aus den Achselhöhlen lief, obwohl es im Audienzzimmer sehr kalt war. Er schluckte und atmete tief ein, trotzdem bebte seine Stimme, als er weitersprach. »Nur die Aussage einer Zeugin, mein König. Eine der ehemaligen Zofen, die von meinem Herrn, dem Herzog, bezahlt wird.«
Louis war es ausnahmsweise einmal warm. Vielleicht war es unterdrückter Zorn, der sein Blut erhitzte. Beim Sprechen bildete sein Atem kleine Wolken. »Und weiß Euer Herr davon, Philippe? Hm?«
Der junge Monsieur de Commynes errötete, als der König ihn in so einem verschlagenen Tonfall ansprach. »Natürlich, Euer Majestät. Sonst wäre ich nicht hier.«
»Wie würdevoll, mein junger Freund. Wie rechtschaffen.«
Louis schlug die Schöße seines schweren, pelzgefütterten Umhangs um seine mageren Beine und erhob sich. Er hatte die Audienz im Thronsaal abgehalten, eine förmliche und pompöse Kulisse. Der Thron selbst wurde ihm jedoch zunehmend unangenehm, weil dessen scharfe Kanten den Blutkreislauf hemmten und in seine mageren Beine schnitten, so dass sie sich taub anfühlten. Das ärgerte ihn. Trotzdem bedachte er den vor ihm knienden jungen Mann mit einem frostigen Lächeln. Philippe hat Glück, dass ich ihn mag, dachte er.
»Ich habe eine Botschaft für Euren Herzog, Philippe. Sagt ihm, dass ich bereits vor zwei Tagen erfahren habe, dass Edward Plantagenet einen Sohn hat. Und im Gegensatz zu Eurem
Herrn habe ich Beweise, dass das Gerücht der Wahrheit entspricht.«
Louis zog einen löchrigen Handschuh von seiner runzligen Hand und streifte einen Ring vom kleinen Finger.
»Seht her! Dieser Ring stammt von Elizabeth Wydeville persönlich. Sie schickte ihn direkt nach der Geburt mit einer Botschaft an ihren Mann. Aber ich besitze den Ring und auch die Botschaft. Und den Boten. Und daher weiß ich auch, wo Edward Plantagenet sich versteckt hält.«
Der König zeigte unverhohlen seine Verachtung und spuckte seinen letzten Worte aus. Was für eine dumme Reaktion, dachte Philippe de Commynes. Sollte Louis Edward Plantagenet etwa unterschätzen? Philippe war von seinen verräterischen Gedanken selbst überrascht und vergaß für einen Moment seine Angst. Plötzlich sah er den König mit anderen Augen.
Louis gab eine erbärmliche Figur ab. Das Gesicht war von Flechten und rötlichen Verdickungen übersät, der Leib thronte wie ein Apfel auf den dürren Beinen und sah aus wie eine Tonne mit Dauben aus Fett, und die Arme waren dünn wie Stecken. Und dann noch dieser krumme Rücken, aus dem Kopf und Hals wie bei einer Schildkröte herausragten. Während Philippe darauf wartete, dass Louis weitersprach, überkam ihn eine verräterische Vorstellung. Dieser König war eine Spinne, eine fette Spinne, die vor übler Laune fast platzte und die ihr Gift verspritzte, sobald jemand in ihren Leib stach ...
Ein Geräusch wie von einem kotzenden Hund riss Philippe aus seinen Gedanken. Der König spie auf die glänzenden Fliesen des Audienzsaals. Dann sammelte er noch einmal Schleim und spie wieder aus. Ein schmallippiges Lächeln verzerrte sein Gesicht. »Sagt Eurem Herrn, Philippe, das seine Informationen bis jetzt kaum von Nutzen für mich waren, denn ich hatte sie schon vor ihm. Solche zweitklassigen Neuigkeiten machen Burgund kaum zum Freund Frankreichs.«
Philippe konnte nicht mehr an sich halten und sprach, ohne aufgefordert zu werden. »Sire, mein Herr ist ein treuer Untertan Frankreichs und wünscht nichts als Frieden zwischen seinem und Eurem Reich.«
Der König schnaubte verächtlich. Er streifte den Ring der einstigen Königin wieder auf seinen Finger und hielt ihn gegen das Licht, damit der junge Mann ihn genau sähe. »Ein Rubin.« Bosheit verlieh seiner Stimme einen beinahe heitereren Klang. »Wie sentimental. Ein gutes, beständiges Weib, kostbarer als Rubine, macht ihrem edlen Gemahl im Exil neue Hoffnung, da sie einen Sohn geboren hat und so weiter. Welch ein Unsinn.« Der König rutschte ausgelassen auf seinem Thron hin und her.
»Leider, leider sterben Kinder, gerade die Neugeborenen, gar zu oft in dieser düsteren Jahreszeit, nicht wahr? Womöglich wird dieses kleine Kind seinen Vorfahren folgen, noch bevor der einstige König, sein Vater, von seiner Geburt erfährt. Ach, so allein und ohne Freunde zu sein wie Edward Plantagenet ist in der Tat sehr traurig. Aber vielleicht ist dies gerade der Wille unseres allmächtigen und gnädigen Herrn.« Scheinheilig schlug der König ein Kreuz und küsste den Reliquienring am Mittelfinger seiner rechten Hand.
Philippe de Commynes schauderte. Die verdorrten Fleischstücke und die verschiedenen Knochensplitter, mit denen der König sich behängte, waren nicht zu übersehen. Sie lehrten Philippe das Gruseln, obwohl er ein frommer Mann war. Er zweifelte aber auch nicht an der Macht des französischen Königs. Wenn es diesem gefiel, seinen Arm auszustrecken, so reichte er womöglich bis über das Meer in die Sakristei der Westminster Abbey.
»Nun, mein Freund, es hat mich gefreut, Euch wieder einmal zu begegnen, doch Eure Reise war umsonst. Geht zurück zu Eurem Herrn und richtet ihm aus, dass Frankreich nichts von Burgund benötigt.«
Ein anderer, einer, der zum Aufbrausen neigt, hätte bei diesen letzten Worten vielleicht geschrien. Nicht so Louis Valois. Er sprach sanft und leise, und doch vibrierten seine Worte wie ein Fanfarenstoß in Philippes Ohren.
Der junge Mann verneigte sich, die Ärmelspitzen seines Umhangs streiften den Boden. »Ich werde die Worte Ihrer Majestät genauso übermitteln, wie Euer Gnaden sie zu sprechen beliebte.«
Der König kicherte. »O ja, das werdet Ihr sicherlich tun. Ihr habt Euren Mut schon früher unter Beweis gestellt. Wir sind das lebende Zeugnis dafür. Eure Abreise ist ein großer Verlust für unseren Hofstaat, Philippe.«
Philippe blickte nicht auf, als er sich rückwärts aus dem Audienzsaal entfernte. Louis spielte auf sein besonderes Verhältnis zu ihm an, aber es waren noch andere Männer im Audienzsaal zugegen, die nichts lieber täten, als das, was sie sahen oder hörten, weiterzuerzählen. Man konnte nie sicher sein. Die höfliche Verabschiedung durch den König erforderte jedoch eine angemessene Erwiderung.
»Euer Majestät sind zu gütig, sich meiner unbedeutenden Dienste zu erinnern. Es war meine Pflicht als Gast Eures Hofes.«
Es war beinahe zwei Jahre her, dass er, Philippe de Commynes, das Leben genau jenes Königs gerettet hatte. Damals, ein Jahr nach der Eheschließung zwischen Karl von Burgund und Lady Margaret von England, weilte er mit seinem Herrn zu einem offiziellen Besuch im Louvre. Er hatte beobachtet, wie ein Page den Inhalt eines Giftringes in die Zimtsoße leerte, die dem König mit einer Schleie serviert wurde. Philippe hatte, wenn auch sehr diskret, sofort Alarm geschlagen und seinem Herrn flüsternd von seiner Beobachtung berichtet. Der Ausgang des Ganzen war Segen und Fluch zugleich. Ein Segen deshalb, weil der Page gefasst wurde. Die Soße wurde einem Hund zu fressen gegeben, der sich in Krämpfen windend verstarb, woraufhin der Knabe gefoltert wurde, um Informationen aus ihm herauszupressen. Dabei ging man aber so brutal vor, dass er starb, bevor er gestanden hatte, wer ihn zu der Tat angestiftet hatte. Mehrere Tage lang war der französische Hof in hellem Aufruhr, und schließlich fiel der Verdacht auf Karl von Burgund. Das war der Fluch, und das Verhältnis zwischen Philippe und seinem Herrn war seitdem immer etwas unterkühlt gewesen.
Die Höflinge tratschten, Philippe diene eigentlich mehr dem Franzosen als dem Burgunder. Das war natürlich völliger Unsinn, trotzdem war seine bis dahin privilegierte Stellung als rechte Hand des Herzogs komplizierter geworden und von Misstrauen vergiftet. Um seine Loyalität gegenüber dem Herzog zu demonstrieren, hatte er sich deshalb freiwillig für diese gefährliche Mission zum französischen Hof gemeldet.
Wenn er nur unbehelligt aus dem Audienzsaal käme.
»Philippe, noch eins zum Schluss.«
»Sire?«
»Wie lautet dieser lustige Name, mit dem man Euch ruft?«
Philippe errötete. Nein, das konnte er nicht sagen, das war zu peinlich. »Was für ein Name, Sire?« Er konnte seine Stimme kaum unter Kontrolle halten. War er ein Kind, dass seine Stimme so zitterte?
Angesichts seines Unbehagens ging eine beinahe greifbare Unruhe durch den Saal wie ein Wind, der über ein Weizenfeld streift.
»Stiefelkopf, nicht wahr?« Philippe hörte rings um sich prustendes Gelächter, das von Hüsteln überdeckt wurde. Er straffte seine Schultern, drückte sein Rückgrat durch und wagte es, dem König in die Augen zu sehen.
»Ein Scherz, Sire. Es gefiel Herzog Karl, nach einem Unfall diesen Scherz zu machen. Wir mussten alle herzlich darüber lachen.«
Er verneigte sich würdevoll und zog sich mit glühenden Ohren aus dem Audienzsaal zurück. Er konnte das Gekicher noch hören, als die Tür hinter ihm geschlossen wurde, doch dem wollte er keine Beachtung schenken. Ja, ein Reitstiefel des Herzogs war nach ihm geworfen worden und, ja, er hatte ihn am Kopf getroffen. War es eine bewusste Beleidigung gewesen oder nur ein Ausrutscher, wie es jedem passieren kann? Er hatte wie die anderen in Karls Gefolge über das Missgeschick gelacht. Der Herzog aber hatte den Vorfall noch verschlimmert, indem er ihn mit dem Spottnamen »Stiefelkopf« bedachte. Das war an ihm haften geblieben. Und nun wussten sie auch hier in Frankreich davon. Der König wusste davon. Philippes Herz wurde schwer wie ein Stein.
Wenn er in Burgund nicht geschätzt wurde, gab es auch andere Möglichkeiten für ihn. Wenn der Herzog und der Hof in Burgund an seiner Loyalität zweifelten, wenn sie weiter i hren Spaß mit ihm trieben, dann könnte er wirklich in die Dienste des französischen Königs treten, nicht nur gerüchteweise.
»Ein Sohn? Die Königin hat einen Sohn geboren?«
Louis de Gruuthuse nickte. »Eine leichte Geburt, Majestät. Und der Knabe, Euer Erbe, ist gesund und wohlauf.« Edward und seine Männer waren gerade auf dem Rückweg von der Jagd. Sie waren schmutzig und müde, hatten diesmal aber mehr Jagdglück gehabt. Da war ihnen im Galopp ihr Gastgeber entgegengeritten. Der König, schlechte Nachrichten befürchtend, hatte seinem Pferd hart in die Zügel gegriffen und dabei den Hengst erschreckt, den er mitführte - und auf dessen Rücken der flüchtige Hirsch vom Vortag festgebunden war. Die Geburt eines Sohnes änderte alles. Alles.
Edward Plantagenet jubelte. Vor Freude nahm er sein Pferd so hart an die Kandare, dass es sich schnaubend dagegen auf-lehnte. Doch dann verwandelte sich Edwards beglückter Gesichtsausdruck langsam in Trauer. Die Niederländer erklärten sich das mit der Trennung von der Königin in dieser Stunde, doch William Hastings und Richard von Gloucester kannten den wahren Grund. Sie wussten, dass Edward an einen anderen kleinen Knaben dachte. Und an dessen Mutter, Anne de Bohun, jene Frau, die dem König seinen wahren erstgeborenen Sohn geschenkt hatte.
Um den König aus seiner traurigen Stimmung zu reißen, rief Hastings: »Das ganze Land wird sich mit Euch freuen, Majestät!« Er lenkte sein Pferd dicht an das des Königs. »Jetzt kann sie sich winden, so viel sie will. Der Sohn von Margaret von Anjou ist nie als Henrys ehelicher Sohn anerkannt worden. Der neue Prinz wird den Fürsten einiges Kopfzerbrechen bereiten. Dies ist ein höchst glücklicher Tag für unsere Sache, Euer Majestät.«
Richard bekreuzigte sich inbrünstig. »Amen. Ein rechtmäßiger Sohn.« Er fing einen kurzen Blick seines Bruders auf.
»Welchen Namen hat die Königin dem Kind gegeben, Louis?«
»Euren Namen, soviel ich weiß, Euer Majestät. Edward.«
»Nun, wenn mein Schwager Euch diese Nachricht persönlich geschickt hat, wie lange ist es her, dass das Kind geboren wurde?«
»Vielleicht acht oder zehn Tage.« Edward wartete die Antwort kaum ab. Er ließ die Zügel des mitgeführten Pferdes los, gab seinem Pferd die Sporen und sprengte in Richtung Binnenhof davon.
»Edward?«, rief Richard seinem Bruder nach. Da er keine Antwort bekam, gab er seinem eigenen Pferd die Sporen und folgte dem König. William Hastings tat es ihm gleich.
Louis de Gruuthuse war überrascht. Er war über und über mit Lehm bespritzt und musste Hengst und Hirsch nun selbst nach Hause bringen. Die Zeit der Vorsicht war vorüber, das war ihm bewusst.
Hoch wie Berge türmten sich die Wellen, die Täler dazwischen waren tief und dunkel, dunkler als die Nacht im Westen. Inmitten des Tumults aus Wasser, Wind und gellenden Naturkräften, die das Schiff zu zerreißen drohten, drängte sich ein verräterischer Gedanke auf. Eine Frau an Bord. Der Fluch eines jeden Seemannes. Doch der Däne verscheuchte die abergläubischen Gedanken und wappnete sich zum Kampf gegen das Meer. Eisiges Wasser spritzte in sein Gesicht, der Himmel verdunkelte sich, und in sein Gedärm nistete sich die Angst ein. Er dachte an jene andere Reise vor vielen Jahren, als er Anne und Deborah aufder Lady Margaret nach Whitby gebracht hatte. Seine Ängste und die Ängste seiner Männer waren damals schon unbegründet gewesen und waren jetzt, bei diesem Sturm, ebenso unbegründet. Er wollte seinen Ängsten nicht nachgeben, und er wollte auch nicht aufgeben, denn er wollte leben. Und er wollte, dass Anne lebte. Damals, aufjener ersten Reise, hatte er sich in Anne verliebt, und seine Gefühle waren auch nach Jahren noch dieselben. Er würde sie sicher an Land bringen. Das war seine Pflicht. Er hatte schon so oft den Kampf gegen Wind und Meer gewonnen, er würde wieder gewinnen. Heute.
Trotz der rasch hereinbrechenden Dämmerung wusste er, dass die Küste nah war. Sie waren fast im sicheren Hafen, wenn sie nur durchhielten und die Lady Margaret nicht entzweibräche.
»Schöpfen! Schöpfen - alle Mann Wasser schöpfen!«
Aber der Bug tauchte wieder unter, und die Kogge hatte
sich gerade erst wieder nach oben gekämpft und die Last des Wassers von sich geschüttelt, das in Strömen von ihren Planken floss, als schon wieder ein schwarzer Wellenberg vor ihr auftauchte und Schaum speiend vornüberkippte.
Leif hatte sich bereits vor Stunden an der Ruderpinne festbinden lassen, aber selbst er war wie betäubt, als er die Welle auf sich zurasen sah. Er hatte die Segel so eng wie möglich getrimmt, so dass sie gerade noch auf das Ruder reagierten. Doch als er sich nun mit aller Kraft gegen die Ruderpinne warf, hörte er ein fürchterliches Krachen - das Hecksegel hatte sich losgerissen und blähte sich wild auf, und die Rahe schlugen hin und her.
Automatisch brüllte Leif: »Wind fangen lassen und dann fest machen! Richtig fest!« Die wenigen Matrosen, die an Deck geblieben waren, stürzten herbei. Hier ging es für alle um Leben und Tod.
Eifrige Hände griffen nach dem Segeltuch, und Leif holte Luft, atmete tief ein, und dann warf er sich mit der Kraft der Verzweiflung wieder gegen die Ruderpinne, gerade als die Welle auf den Bug herabstürzte. Und da reagierte das Ruder, und die Lady Margaret drehte sich diagonal zu der Welle und stieg hinauf! Und dann war sie oben auf dem Wellenkamm und schlitterte wieder nach unten, glitt in das Tal hinab, ohne vollzulaufen. Ein Wunder! Gedankt sei Gott! Denn bevor die Lady Margaret wieder in die Dunkelheit hinabglitt, hatte Leif einen Stück Himmel gesehen. Zwischen Gischtspritzern sah er im letzten Licht des Abends, wonach er suchte: die Wellenbrecher des Delfter Hafens. Er musste es schaffen, er würde es schaffen.
»Kapitän!«, schrie sein Maat. »Noch eine!« Noch eine Riesenwelle, und die Lady Margaret hielt direkt darauf zu.
»Geht nach unten!« Seine Stimme war so laut, dass sie das Getöse des Sturms durchdrang. Er wusste, dass die Männer ihm gehorchen würden, denn es gab nichts, was sie hätten tun können, nachdem sie das Segel festgezurrt hatten. Nun lag alles an ihm, ihm allein. Als die Welle auf ihn zurollte wie ein heulendes Ungeheuer, begann er zu zählen: »Eins, zwei, drei«, und drückte die Ruderpinne vorsichtig und mit aller Kraft herum ...
Unter Deck half Anne den Männern beim Wasserschöpfen. Sie stand schenkeltief im Wasser. Sie hatte keine Zeit zu beten, aber sie spürte auch keine Angst. Hier würde sie nicht den Tod finden. Noch nicht. Dies waren nur unglückliche Umstände, weil sie zur falschen Jahreszeit reisten. Sie hatte ihren Auftrag noch nicht erfüllt. Noch nicht.
Mit Schlagseite und arg beschädigt, lief die Lady Margaret in den Hafen von Delft ein. Die letzte Woge hatte zwei Männer über Bord gespült und Teile des Seitenruders zerbrochen. Leifs ganzes Können war gefordert, sie, ohne Schaden zu verursachen, zwischen den im Hafen liegenden Karacken, Holks, Koggen und sogar einer großen Karavelle hindurchzusteuern.
Unter dem klaren Delfter Nachthimmel machten sie den ramponierten Achtersteven der Lady Margaret mit einer Bugleine am Kai fest. Nachdem Sturm, Angst und Kälte überstanden waren, wandte sich Anne in Gedanken dem nächsten Teil ihrer Reise zu. Wenigstens war es ihr wieder wärmer, nachdem sie ihr letztes, trockenes Kleid angezogen hatte. Ihre Kleider waren schlicht, aber von guter Qualität, es waren Kleider, wie sie die Frau eines Kaufmanns tragen würde. Anne wandte sich dem erschöpften Kapitän zu.
»Leif, ich muss Euch sehr danken und habe viel wiedergutzumachen. Nur dank Eures großen Könnens und Eurer Kraft sind wir hier. Ich bin Euch sehr, sehr dankbar.«
Leif antwortete nicht, sein Blick schweifte über das Deck seines Schiffs. Es war ein quälender Anblick, der ihm sehr zu schaffen machte. Er schüttelte den Kopf. »Mein Können? Ich bezweifle, dass mein Herr das so sieht.«
Die Lady Margaret sah aus wie ein Trümmerfeld. Die Hände eines riesigen Ungeheuers hatten sie auseinanderreißen wollen, und nachdem dies nicht gelungen war, hatten sie alles zerbrochen, was auf Deck zu finden war. Am schlimmsten hatte es den ganzen Heckaufbau getroffen.
»Leif, ich weiß, dass es Zeit und Geld kosten wird, den Schaden zu beheben. Ich kann das Geld dafür aufbringen.«
Er drehte sich ihr zu, seine Augen waren schwarz vor Zorn. »Ich hoffe, er ist das alles wert, Lady, für das Land und für Euch. Seinetwegen sind heute zwei Männer gestorben.«
Anne schwieg. Der Däne hatte recht. Seine Männer waren gestorben, damit sie zum König gelangen konnte. Noch eine Last, mit der sie leben musste. Aber auch sie war erschöpft. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und ihre Kiefermuskeln verkrampften sich. Sie alle brauchten jetzt vor allem Essen, Wärme und Schlaf.
»Lasst uns morgen darüber reden. Und sucht Männer, die das Schiff reparieren können, solange wir« - sie unterbrach sich, weil sie ihr Reiseziel nicht aussprechen wollte - »solange wir fort sind. Und nun, was meint Ihr, finden wir hier einen Gasthof, der einigermaßen respektabel ist?«
Leif führte sie den Landungssteg hinunter, seine Finger verschränkten sich mit den ihren. »Kommt darauf an, was Ihr als respektabel bezeichnet, Lady.«
Anne lachte wider Willen. »Seehäfen. Ich muss dabei an Whitby denken. Damals, erinnert Ihr Euch?«
Er wünschte, sie hätte es nicht gesagt, ihn nicht daran erinnert. Er hatte seine Gefühle für sie im Kampf gegen den Sturm in den Hintergrund gedrängt. Und hier nun auf dem dunklen Kai - aus einer lärmenden Schänke stolperte ein Trunkenbold und schimpfte auf die, die drinnen saßen und vor Lachen brüllten - hier sah Anne Leif einen Moment lang in die Augen und gestand sich endlich ein, was sie bisher verdrängt hatte: dass dieser Mann mit Haut und Haaren der ihre war.
Als sie ihren Blick von ihm losriss, merkte sie, dass ihre Finger immer noch in seiner Hand lagen, in seiner großen, starken, vernarbten Hand. Ihre Hand sah im Vergleich dazu winzig aus. »Es tut mir so leid, dass alles so gekommen ist, Leif. Und es tut mir sehr leid um Eure Männer.« Vorsichtig löste sie ihre Hand aus der seinen und versuchte, einen scherzhaften Ton anzuschlagen, aber es gelang ihr nicht recht. »Ich habe den Sturm nicht bestellt. Bitte glaubt mir das.« Es sollte ironisch klingen, aber ihre Stimme brach, und sie sah plötzlich so aus, wie sie wirklich war: jung, verletzlich und von der Verantwortung niedergedrückt. Im Herzen des Seemanns vermischten sich Mitleid und Leidenschaft und nahmen ihm fast den Atem. Unwillkürlich streckte er seine Hände aus, um Anne zu umarmen - sie zu trösten und selbst Trost zu finden -, doch ein Blick von ihr hielt ihn zurück. »Essen. Und eine warme Stube?« Sie hatte ihre Stimme fast wieder unter Kontrolle. Sie durfte nicht nehmen, was sich ihr bot. Denn das hätte bedeutet, alles zu zerstören ... was alles? Jedenfalls zu viel, das wusste sie. Zu viel. Auch sich selbst.
»Aber warum nicht? Warum wollt Ihr mir keine Eskorte stellen? Fünf Tage im Sattel - vielleicht weniger -, und ich könnte in Brügge sein. Dann hätte dieser Unsinn endlich ein Ende. Zehn Männer, Louis, nur zehn von Euren Männern. Oder ich könnte die Franzosen nehmen, die wir mitgebracht haben. Gebt Euch einen Ruck, Louis. Dann wäre uns beiden geholfen.«
Louis de Gruuthuse befand sich in einer schwierigen Lage. Er verstand die Haltung des Königs nur zu gut. Weder Feste noch Jagdausflüge konnten Edward Plantagenet jetzt noch halten, da sein Sohn geboren war.
»Majestät, mein Herr bittet Euch um Geduld. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für so eine Reise. Die Straßen sind viel zu gefährlich, und eine Handvoll Banditen zu Euren eigenen Männern wird Euch kaum richtig schützen können, wenn Ihr meine Länder erst einmal hinter Euch gelassen habt.«
Edward sah seinen Gastgeber zynisch an. »Eure Länder, Louis? Dünkt sich der treueste Diener meines Schwagers jetzt mehr als ein Verwalter der Niederlande?« Edwards Provokation war beabsichtigt. Er wollte mit allen Mitteln die Selbstbeherrschung seines Gastgebers erschüttern. Und das gelang ihm auch.
Mijnheer de Gruuthuse errötete vom Hals bis unter die Haarwurzeln. Seine Geduld war am Ende. Er sah den König zornig an. »Das ist ungerecht, Euer Majestät. Mir ist die Ehre zuteil geworden, diese Länder für Euren Schwager, den Herzog, zu verwalten. Ich bin sein treuer Verwalter, der Aufseher seiner Länder. Und mehr strebe ich nicht an.«
»Oho, Louis, so beleidigt und selbstgerecht? Ihr zählt Flandern zu den Ländern des Herzogs, und doch war es meine Schwester, die es als Mitgift eingebracht hat. Da ich weder von ihm noch von Euch Hilfe bekomme und unser altes Bündnis ganz offensichtlich zu Ende ist, sollte ich vielleicht so frei sein und es wieder zurücknehmen. Ich benötige einen eigenen Stützpunkt, da weder er noch Ihr mir einen zur Verfügung stellt.« Der König steigerte sich absichtlich in Rage. Er wollte Louis' Zurückhaltung sprengen, mit welchen Mitteln auch immer.
Mijnheer de Gruuthuse wusste sehr wohl, dass Edward ihn provozieren wollte, aber da er sich bitter gekränkt fühlte, vergaß er seine angeborene Höflichkeit und schluckte den Köder. »Ach ja? Und das würde bedeuten, dass Ihr mit - wie viel? -mit dreißig Mann eine ganze Provinz einnehmen wolltet?« Eine Spur von Ironie schwang in seiner Stimme mit.
Der Zorn trieb Edward das Blut ins Gesicht. »Dreißig Männer für ein Königreich, wenn Ihr mir nicht helfen wollt, Mijnheer de Gruuthuse. Aber ich warne Euch. Versagt Ihr meiner Sache die Unterstützung, wird Burgund vernichtet werden!«
Die Plantagenets waren für viele Eigenschaften bekannt - für ihre stattliche Größe, für ihren besonderen Charme -, aber man erzählte sich auch, sie seien mütterlicherseits Nachfahren von Melusine, der Geliebten des Teufels. Als Edward mit versteinertem, bleichem Gesicht und roten Augen auf ihn herabsah, dachte Louis plötzlich, dass an der Geschichte etwas Wahres sein musste.
Der König legte seine Hand auf den großen Saphir, der seinen Schwertgriff zierte. »Wählt, Louis. Entscheidet Euch jetzt.«
Louis de Gruuthuse war weder ein Feigling noch ein Schwächling, aber er wusste, welch eine rasende Wut Edward im Kampf entwickeln konnte. Wut, die, wie die einen sagten, ein Geschenk Gottes war, oder, wie andere behaupteten, ganz anderen Ursprungs war. Die Personifizierung dieser unmäßigen Wut stand hier vor ihm. Ein angsteinjagender Anblick.
Langsam sank Louis auf ein Knie, neigte aber nicht sein Haupt. »Euer Majestät, Ihr tut Euch in dieser Sache keine Ehre an. Ich bin nicht Euer Feind. Aber Ihr seid auch nicht mein Herr. Ich bin Euch nichts schuldig.«
Im Saal herrschte einen Augenblick lang bestürztes Schweigen. Ein Schweigen, das wie ein Bienenschwarm summte. Louis hörte das leise Zischen, das entsteht, wenn Schwerter aus der Scheide gezogen werden.
»Doch Herzog Karl, mein Herr, ist durch Heirat mit Euch verbunden. Ich werde Eurer Sache und der Eurer Familie dienen, wie ich ihm diene. Aber ich kann nicht geben, was mir nicht gehört.«
»Lasst uns allein«, sagte Edward ruhig, und dann, da niemand sich rührte, brüllte er: »Lasst uns allein!« Wie ein Donnerschlag prallte der Schrei von den Wänden ab, und einige der
Umstehenden schüttelten ihre Köpfe, um das Dröhnen aus ihren Ohren zu verscheuchen.
Louis nickte seinen empörten Männern zu und winkte sie zu der großen Saaltür hinaus. Edward zögerte kurz, dann warf er Hastings sein Schwert zu, der es mitten im Flug auffing. Der König wollte Frieden. Wenigstens im Augenblick. Die beiden Gruppen von Männern zogen sich unter bedrohlichem Schweigen und wachsam um sich blickend aus dem Saal zurück. Edward Plantagenet war kein König mehr, doch sein unbeherrschtes Auftreten und seinen Selbstsicherheit zeigten, dass er sich darüber noch nicht ganz klar war.
»Herr Gott, steht auf. Steht endlich auf, Mann!«
Louis erhob sich vorsichtig, ohne den König auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen. Es war ihm gelungen, eine ruhige, distanzierte Haltung zu bewahren, aber nun wollte er nur noch tief einatmen, denn Angst und Wut hatten ihm die Luft abgedrückt. In dem Bemühen, diesen Drang zu unterdrücken, bekam er einen Hustenanfall. Der König klopfte seinem Gastgeber mit aller Kraft auf den Rücken und schimpfte: »Ich habe es ernst gemeint, Louis. Wenn Euer Herzog mich nicht sehen will und Ihr mir keine Männer mitgebt, dann fürchte ich, muss ich mir nehmen, was immer ich kann. Ihr könnt von mir nicht erwarten, dass ich mich nach dieser langen Zeit immer noch geduldig einsperren lasse!« Die letzten Worte schrie Edward durch den kalten Raum und schlug Louis dabei noch einmal schmerzhaft auf den Rücken. Die Welt hielt den Atem an, vor der Tür erstarb jedes Geräusch. Louis schloss seine schmerzenden Augen. Er konnte sich die Männer im Vorzimmer so genau vorstellen, als stünden sie neben ihm: die Engländer und die Flamen, die einander anstarrten und warnten, ja nicht den ersten Schritt zu tun.
»Euer Majestät, ich kann wenig ausrichten. Das schmerzt mich aufrichtig, aber es ist die Wahrheit. Ihr müsst meinem
Herrn mehr Zeit geben. Ich bitte Euch, übereilt nichts.« Womit er meinte, macht keine Dummheiten.
Der Binnenhof war einst eine große Festung der Grafen von Holland gewesen. In ihren Mauern gab es immer noch Verliese. Louis überlegte sich, auch wenn er diesen Gedanken verabscheute, ob er Edward Plantagenet nicht doch Quartier in einem dieser fensterlosen Zimmer anbieten sollte. Dann wäre er ein offizieller Gefangener und nicht nur ein frustrierter Gast. Wäre er dazu bereit? Einen Augenblick lang sah Louis vor seinen inneren Augen diesen prächtigen Mann in Ketten gelegt und hungernd. Aber er kannte die Antwort auf diese Frage, wie er auch seine Pflicht gegenüber dem Herzog kannte. Ja, wenn es sein musste, wäre er dazu bereit.
Der König packte Louis schmerzhaft an der Schulter und kam ihm mit seinem Gesicht ganz nah. Den Gouverneur schwindelte. Gleich würde er ohnmächtig werden! Da zog sich ein Schatten von Verzweiflung über die strahlend blauen Augen des Königs. »Louis, ich flehe Euch an.« Es war nur ein Flüstern, die Männer vor der Tür hörten nichts, so sehr sie sich auch anstrengten. Die Stille erfüllte sie mit Furcht. Furcht war es auch, was ihre Herren drinnen im Saal empfanden.
De Gruuthuse zuckte die Achseln und lächelte verkrampft. »Edward, Ihr müsst Geduld haben. Mehr kann ich Euch nicht bieten. Ich bin Euer Freund, und mein Herr möchte ebenso Euer Freund bleiben. Nein!« Der Ritter erhob seine Hand, als Edward ihn wütend anblitzte. »Das ist die Wahrheit! Ihr müsst das verstehen. Jetzt ist nicht die Zeit für übereiltes Handeln. Wir, wir alle, brauchen genauere Informationen über die Pläne des französischen Königs. Ihr müsst Euch zusammenreißen, Edward. Diese Spinne wäre doch überglücklich, wenn Ihr ohne ausreichenden Schutz, ohne ausreichende Waffen von hier losziehen würdet. Dann hätte er leichtes Spiel, Euch zu vernichten! Und was wäre dann mit Eurem Land?«
»Mein Land? Mein Land will mich nicht oder braucht mich nicht. Und meinem Volk wäre das wahrscheinlich egal.«
Nun war es heraus. Die Angst, die Unsicherheit, das Entsetzen hatte endlich eine Stimme bekommen.
Louis lächelte. Es war ein Lächeln, das der liebende Vater seinem Sohn schenkt, wenn dieser zum ersten Mal seine Kräfte mit ihm messen möchte. »Majestät, das ist nicht wahr. Ihr und ich wissen, dass die wichtigsten Magnaten Eures Reichs geduldig abwarten werden, ob es sich lohnt, gemeinsame Sache mit Warwick zu machen. Vor allem jetzt, wo Ihr einen Sohn habt und Eure Nachfolge gesichert ist.«
Louis de Gruuthuse wunderte sich, als der König bei seinen Worten in Lachen ausbrach. Er lachte, bis er nach Atem rang und sich beinahe verschluckte. »Ja, ich habe einen Sohn. Den Sohn, den ich mir immer gewünscht habe!«
Der Tonfall, in dem er dies sagte, war seltsam. Es klang, als betrauerte der König eher einen Verlust, als dass er sich über sein Glück freute. Louis dachte nicht weiter darüber nach, denn offensichtlich stand Edward kurz vor einem Zusammenbruch.
»Ihr müsst meinem Herrn vertrauen. Wenn Ihr akzeptiert, dass er Euch wohlgesinnt ist, so könnt Ihr auf seine Unterstützung hoffen. Kommt, ich glaube, das Festmahl ist bereitet. Seid Ihr hungrig? Ich jedenfalls könnte jetzt etwas essen, wenigstens um meinen Magen zu beruhigen.«
Louis schlug einen scherzhaften Ton an, um den König ein wenig aufzuheitern. Aber Edward Plantagenet war mit seinen Gedanken woanders. Er schüttelte den Kopf.
»Nein, Louis. Ich möchte jetzt beten. Könntet Ihr einen Geistlichen rufen lassen, der die Messe liest?«
»Ein Dankgottesdienst für die Geburt Eures Sohnes? Ich dachte, der sollte morgen stattfinden?«
Der König nickte. »Ja, morgen werden wir Gott für meinen neuen Sohn danken. Diese Messe soll für mich sein. Ich möchte
Gott um Kraft bitten. Und darum, dass ich bei meinen Feinden Verwirrung stiften kann, denn Feinde habe ich mehr als genug, mehr als Sandkörner im Meer.«
»Wo geht es nach s'Gravenhage, junger Herr?«
Der Gänsehirte mühte sich gerade damit ab, seine widerspenstige Herde durch das Delfter Stadttor zu treiben. Er fühlte sich sehr geschmeichelt, dass der riesige Mann mit den freundlichen Augen ihn mit »Herr« ansprach. »Hier die Uferstraße entlang. Es ist nicht sehr weit. Wenn Ihr Euch sputet, könnt Ihr noch vor Torschluss dort sein.«
Die Frau des großen Mannes - eine zierliche Person in einem Reisemantel, dessen Kapuze ihr Gesicht fast völlig verbarg -steckte dem Gänsehirten einen englischen Penny zu und fragte: »Ist die Uferstraße denn sicher, Master?«
Der Knabe antwortete mit stolzgeschwellter Brust, denn auch »Master« hatte ihn noch nie jemand genannt. »Zu dieser Jahreszeit ist die Straße wenig befahren, meine Dame. Der Herr de Gruuthuse hält Ordnung in seinen Ländern. Zwischen Delft und s'Gravenhage haben Wegelagerer keine Chance. Er lässt sie aufhängen und im Wind baumeln.«
»Wir danken Euch.« Die Frau knickste und eilte hinter ihrem Mann her, der den Dünen in Richtung Norden folgte. Der Morgen war kalt, der Himmel verhangen, die Wolken von einem milchigen Grau. Der Knabe war schon spät dran, der Geflügelhändler erwartete ihn. Trotzdem stand er einen Moment da und beobachtete die beiden Gestalten, die in der Ferne kleiner und kleiner wurden. Er wunderte sich. In diesen Zeiten gab es selten Fremde auf den Straßen, aber die Frau war eindeutig eine Ausländerin und ihr Mann ebenso. Der Mann hatte wie ein Nordländer gesprochen, aber der Akzent der Frau hatte seltsam geklungen. Vielleicht französisch? Schwer zu sagen. Vielleicht waren sie gefährlich, und er sollte besser die Behörden in Delft verständigen? Er schnaubte verächtlich bei dem Gedanken. Einem Gänsejungen würden sie nicht einmal zuhören.
Außerdem, seit wann führten sich Spione so freundlich auf? Die Hände der Frau hatten sich weich angefühlt. Er spürte noch immer ihre Fingerspitzen in seiner Hand, wo sie den Penny hineingelegt hatte. Schade, dass er ihr Gesicht nicht hatte sehen können. Bestimmt war sie sehr hübsch, sonst würde sie sich nicht so anstrengen, sich zu verbergen. Wahrscheinlich auf Geheiß ihres Mannes. Oder vielleicht war sie schrecklich entstellt? War es das? Hatte sie vielleicht Lepra? Der Knabe zitterte und hatte plötzlich Angst. War er wirklich von einer Leprakranken berührt worden?
Ein plötzliches Zischen und Kreischen brachten ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Seine Gänseschar hatte sich in alle Richtungen zerstreut und stritt sich um die wenigen Halme, die es zu fressen gab. Drei oder vier der größten Vögel hackten - die Flügel ausgebreitet und die Hälse lang gestreckt - mit den Schnäbeln aufeinander ein und machten sich die paar dürren Büschel streitig, die der erste, harte Frost ihnen gelassen hatte. Der Lärm ließ den Knaben alles andere vergessen. Seine Gänse wussten nicht, dass dies ihre letzte Mahlzeit auf Erden war. Zu einer anderen Zeit hätte er sie aus Mitleid ihrem Streit überlassen. Aber jetzt musste er die Gänseschar zum Geflügelhändler bringen, und zwar schleunigst, sonst würde er etwas ganz anderes zu spüren bekommen!
Anne hörte die Rufe des Knaben, der seine Herde wieder zusammentrieb. Sie lächelte. Wie einfach doch das Leben dieses Kindes war. So wenige Sorgen, so wenige Pflichten. Er hatte nur die Gänse und musste sie irgendwie zum Markt bringen. Sie dagegen sorgte sich mittlerweile, wie sie mit ihrem Begleiter Schritt halten konnte, der zügig voranschritt. »Leif? Leif! Bitte geht etwas langsamer!«
Der Seemann blieb stehen und drehte sich nach Anne um. Sein Herz krampfte sich zusammen. Die Kapuze ihres Mantels war ihr vom Kopf geweht worden, und gegen ihre sonstige Gewohnheit hatte sie ihr Haar darunter nicht verhüllt, nicht einmal mit einem Tuch. Der unerwartete Anblick ihrer im Wind flatternden, glänzenden, bronzefarbenen Locken versetzte Leif einen Stich. Für ihn war ihr unverhülltes Haar eine Provokation, die er als gemein und unschicklich empfand.
Leifs finstere Blicke schüchterten Anne ein. War er immer noch böse auf sie, weil die Lady Margaret beschädigt war? Ihre Stimme bebte, als sie ihn einholte. Sie übertönte es mit einem Husten. »Was ist los, Leif? Haben wir uns verlaufen?« Sie hatte gedacht, er sei ihr Freund, aber jetzt war ihr plötzlich unheimlich. Hatte sie sich getäuscht? Wenn das der Fall war, dann war ihre Situation mehr als schwierig.
»Leif?«
Er antwortete nicht, sondern untersuchte geschäftig die Sohlen seiner Stiefel.
»Leif, ist es wegen der Lady Margaret? Ich dachte, die Männer, mit denen Ihr gesprochen habt, seien vertrauenswürdig. Ich bin sicher, sie tun genau das, was Ihr ihnen aufgetragen habt. Und der Preis schien doch auch ganz in Ordnung zu sein.« Sie hatte ihre Stimme wieder unter Kontrolle. Es war wichtig, keine Angst zu zeigen.
Leif unterdrückte die harsche Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Woher wollte dieses Mädchen ehrliche von unehrlichen Seeleuten unterscheiden können? »Wir werden sehen«, sagte er. »Man kann schlecht um den Preis feilschen, wenn etwas eilig getan werden muss.« Er sprach barsch und herablassend.
Anne errötete, und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Antwort verärgert klang. »Ihr vergesst, dass ich Sir Mathews Handelsflotte zusammen mit Mijnheer Boter in Brügge geleitet habe. Ich habe durchaus gewisse Kenntnisse auf diesem Gebiet.«
Leif schämte sich, aber bei Annes trotzigem Blick fiel seine Erwiderung kleinlich aus. »Bedeckt Eure Haare, Frau. Wenn wir anderen Leuten begegnen, werden sie sich wundern, warum meine Frau so unschicklich umherläuft.«
Anne hatte den gutmütigen Seemann noch nie so erlebt. »Ich hatte keine Zeit, weil Ihr so eilig aufbrechen wolltet. Und alles war nass vom Sturm, sogar meine Kopftücher. Aber wenn Ihr meint, ich sollte mich bedecken, Herr >Gemahl<, dann werde ich das natürlich tun.« Sie probierte es mit einem kleinen Scherz, um die Stimmung ein wenig aufzulockern.
»Nennt mich nicht so. Das ist töricht. Mehr als töricht.«
Anne sah Leifs gekränkten Blick und bückte sich schnell, um in dem kleinen Bündel mit ihren Habseligkeiten zu kramen. »Ah, da ist es ja. Feucht, aber es wird schon gehen. Ihr habt recht, wir sollten auf keinen Fall Misstrauen erregen.«
Flink schlang sie das weiße Leinen um ihren Kopf und verhüllte ihr Haar. »So. Bin ich wieder schicklich?«
Der Seemann knurrte: »Wir müssen uns beeilen, wir müssen noch ein ganzes Stück gehen, bevor es dunkel wird.«
Anne wickelte ihr Ersatzkleid um den schweren Beutel, den Margaret von Burgund ihr gegeben hatte, und verstaute ihn wieder tief unten in ihrem Bündel. Darüber packte sie das zusätzliche Unterkleid und ihren Lieblingsschal - den fröhlichen, blau-gelben Schal, den sie oft bei der Hausarbeit trug. Und ganz oben legte sie vorsorglich einen kostbaren Knochenkamm und ein zweites Paar warmer Wollstrümpfe. Auchjetzt trug sie Wollstrümpfe wegen der Blasen an ihren Zehen, die sie in den neuen Holzpantinen bekommen hatte. Zur Not konnte sie das zweite
Paar Strümpfe noch darüber ziehen. »Ich bin fertig.« Ruhig und gefasst stand sie neben Leif, den Kopf hoch erhoben. Ihre Ledertasche hatte sie zugeschnallt und wieder auf ihrem Rücken gehoben. »Geht voran, mein Freund! Ich werde versuchen, diesmal mit Euch Schritt zu halten.«
Einen Augenblick lang arbeitete es in seinem Gesicht, und es hatte den Anschein, als ob er seine Hand nach Anne ausstrecken wollte ... doch Anne hatte sich schon dem Norden und der Zukunft zugewandt, und die ausgestreckte Hand verharrte in der Luft. Er zog sie zurück, bevor sie sie sehen konnte.
»Also gut. Wir werden von Zeit zu Zeit eine Rast machen, aber wir müssen uns sputen, sonst sind die Stadttore zu, bevor wir ankommen.«
Er küsste Thors Hammer, der an einer Kette um seinen Hals hing. Das sollte ihnen Glück bringen und Stürme von ihnen fernhalten. Aber nicht nur die Kraft des Donnergottes brauchte er auf dieser Reise, auch die Schlauheit des Feuergottes Loki war nötig, wenn sie überleben wollten, sowie die Schnelligkeit von Sleipnir, dem Pferd des Gottes Odin. Und um die Zukunft zu erkennen und den richtigen Weg einzuschlagen, brauchte er den weisen Rat des Großen Vaters persönlich. Und so wan-derten sie gemeinsam weiter, von Nordwesten blies ein scharfer Wind, ein eisiger Wind, der ihnen den Sand ins Gesicht peitschte, scharf wie Glassplitter.
Aber Anne beschwerte sich in den folgenden Stunden nicht ein einziges Mal. Und kein einziges Mal, auch nicht, wenn sie strauchelte, bot Leif ihr seine Hilfe an. Sie wusste, warum. Natürlich. Und er wusste es auch.
Wieder schlugen die Glocken, immer wieder die Glocken. Edward versuchte, sie nicht zu beachten. Sie waren eine schwere Heimsuchung für ihn, denn sie zählten erbarmungslos die qualvollen Stunden seines ungewissen Daseins.
Die Stadt s'Gravenhage war immer noch voll von Menschen, die den ersten Advent feierten. In lärmenden Grüppchen schien-derten die Städter durch die hereinbrechende Dunkelheit nach Hause. In den Häusern flammten die Lichter auf und glitzerten wie zahllose, kleine Sterne. Edward und Richard ritten gemächlich durch die engen Straßen und unterhielten sich leise über ihre Pläne.
Seit Edwards peinvollem Gespräch mit Louis de Gruuthuse war er entschlossener denn je. Die Geburt seines Erben würde seine Anhänger in England ermutigen, das Schicksal würde sich nun doch noch zu seinen Gunsten wenden. Gleichgültig, ob es ihnen an Geld oder Unterstützern mangelte, am nächsten Morgen in aller Früh wollten er und Richard sich durch das Stadttor schlagen und nach Brügge reiten. Darum ging es hauptsächlich bei ihrer geflüsterten Unterhaltung. Über das Was und Wie und das Wann. Karl musste sie anhören, und so Gott es wollte, würde der Rest auch noch gelingen: Männer, Geld, Waffen und England.
Aber dann schlugen wieder die Glocken, sie riefen, sie befahlen. Zurück zum Palast, zurück zum Palast, kehrt Ihr nicht zurück, werden die Soldaten unseres Herrn Euch suchen. Geht, geht, die Stadttore müssen geschlossen werden, die Straßen müssen geleert und für die Nacht gesichert werden. Geht nur, noch seid Ihr sicher, noch schützt Euch der Klang unserer Stimmen ...
Glocken und Menschen wissen um die Nacht. Die Zeit der Schatten ist eine Zeit unerwarteter Ereignisse, eine Zeit, in der Seelen sich im hämischen Grinsen des Satans, in der unkontrollierten Lust des Fleisches verlieren können. Eine Zeit, in der das große Schicksalsrad sich zu drehen beginnt.
»Wir sollten zum Rittersaal zurück, Bruder, sonst macht sich unser überaus edler Gastgeber noch Sorgen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht gerade heute sein Misstrauen erregen.«
Edward schnaubte verächtlich. »Ha! Wenigstens könnten wir Louis' Männern ein wenig Bewegung verschaffen, wenn sie uns zwischen all den vielen Leuten durch die Gassen jagen müssten. Mein Gott, ich weiß, wie eng die Straßen von London sind, Richard, aber diese hier sind geradezu lächerlich. Und gefährlich.«
Sie ritten langsam hinter einer Gruppe von Städtern her, die gehorsam nach Hause eilten, als etwas oder jemand die Aufmerksamkeit des Königs erregte. Er bemerkte den Mann wegen seiner Größe. In der rasch hereinbrechenden Dunkelheit konnte er ihn nicht so genau erkennen, aber der Fremde hatte ungefähr seine Größe. Edward Plantagenet war es gewöhnt, immer der Größte in einer Gruppe zu sein. Einen Mann zu treffen, der ebenso groß war, erregte sein Interesse. Der große Mann schritt zielstrebig aus, gefolgt von einer zierlichen Frau. Er ging so schnell, dass der Abstand zwischen dem Paar und dem König immer größer wurde.
Edward zeigte in seine Richtung. »Dieser Mann dort. Siehst du ihn, Bruder? Er sieht aus, als könnte er uns von Nutzen sein.«
Richard reckte den Hals und nickte. »Seemannsstiefel. Seeleute können wir gebrauchen. Was meinst du? Wie wäre es mit einer Presspatrouille zu zweit?«
Mehr musste Edward nicht hören. Der König spornte sein Pferd an, verbeugte sich eilig nach links und nach rechts und preschte, von Schreckensschreien und Flüchen begleitet, nach vorn. »Verzeiht, meine Dame, mein Herr ... verzeiht uns, aber .« Schon bald war er nur noch eine Pferdelänge von dem großen Kerl entfernt und rief ihm auf Französisch zu: »Herr, würdet Ihr bitte einen Augenblick stehen bleiben? Herr!«
Vielleicht lag es am Gedränge der Menschen in der engen Straße oder am letzten Schlag der Glocken oder an der lauten Stimme des Königs, die sein nervöses Pferd erschreckte, als er rief: »Ihr da, Herr. Bleibt stehen!« Aber was dann geschah, würde Edward Plantagenet bis zu seinem Tod nicht vergessen.
Der große Mann blieb stehen, dann drehte er sich rasch um. In einer Hand glitzerte kampfbereit ein Messer, die andere Hand streckte er automatisch aus, um die Frau an seiner Seite zu schützen. Diese drehte sich überrascht zum König um, sie wollte sehen, wer da gerufen hatte. Aber ihre Bewegung war zu schnell. Das Kopfsteinpflaster war vom Regen glitschig geworden, und weil sie sich so plötzlich umdrehte, verlor sie den Halt auf der schmierigen Oberfläche.
Sie fiel hin, aber im Fallen sah sie den König, und der König sah sie. Er sah flüchtig ihr weißes Gesicht, als ihr die Kapuze nach hinten rutschte, sah ihr bronzenes Haar, als ihr das Tuch vom Kopf glitt, und sie rief ihn, sie rief seinen Namen: »Edward!«
Und dann war sie verschwunden, von den Hufen von Edwards unzuverlässigem Pferd niedergetrampelt. Anne!
»O Gott, o Gott!« Später wusste er nicht mehr, wie er vom Rücken des Hengstes hinabgeglitten war, er wusste nicht mehr, dass er das sich aufbäumende, verängstigte Tier in die aufgebrachte Menge zurückgestoßen hatte. Aber in seinen Träumen, in seinen Albträumen, die ihn nach diesem schrecklichen Tag heimsuchten, sah er immer und immer wieder, was dann ges chehen war. Anne, nachdem er sie von der schmutzigen Straße aufgehoben hatte, lag schlaff und gebrochen in seinen Armen. Anne still, und er, wahnsinnig vor Angst. Er presste sie an seine Brust und blies Leben in ihren zarten Leib. Anne stöhnte, Blut sickerte in ihr Haar. Anne öffnete ihre Augen, ihre Augen blickten traurig, erschreckt, verwirrt, als sie sein Gesicht so nah sah .
Aber dann kam das Glück. Sie lächelte. Nie würde er das vergessen, ihr Lächeln in diesem Augenblick erschien ihm immer wieder in seinen Träumen. »Ah, mein Liebster, mein Geliebter«, flüsterte sie und streckte einen Finger aus und berührte leicht sein Gesicht, seinen Mund. Dann seufzte sie und schloss ihre Augen. Und er dachte, sie sei tot, dachte, dass er sie durch seine Unvorsichtigkeit, seinen Ehrgeiz getötet hatte.
Und im wirklichen Leben wie in seinen Träumen stand Edward Plantagenet wie ein Fels in der wütenden, fassungslosen Menschenmenge, die ihn umgab. Er stand da, hielt Annes zerbrechlichen Körper umschlungen und heulte wie ein untröstliches Kind.
Er hatte die Frau getötet, die er liebte.
Der Binnenhof brodelte vor Lärm und Geschrei, aufgescheucht versuchten die Dienstboten, der plötzlichen Aufregung Herr zu werden.
»Ist sie am Leben? Wer ist sie?«
»Ja, sie hat knapp überlebt. Ich weiß es nicht. Jedenfalls keine Hochgeborene, nach ihren Kleidern zu urteilen.«
Gudrun und Hawise, zwei Küchenmägde des Mijnheer de Gruuthuse, waren andere Aufgaben zugewiesen worden. Diensteifrig huschten sie im Rittersaal aneinander vorbei. Gudrun hatte gerade Annes Zimmer mit einem Berg schmutziger Wäsche verlassen, und Hawise eilte mit sauberen, gebleichten Leintüchern zum drittbesten Gästezimmer.
»Weiß sonst jemand etwas?«, zischte Hawise.
»Nein. Nicht einmal einen Namen«, flüsterte Gudrun über ihre Schulter zurück. »Aber für ein Niemand wird sie behandelt wie eine von Stand.«
Das stimmt, dachte Hawise, als sie keuchend die breite Haupttreppe hinaufrannte, die zu den Zimmern in den alten
Festungsmauern führten. Normalerweise hätte sie eine der Hintertreppen benutzt, aber für gesellschaftliche Feinheiten war an diesem Tag keine Zeit. Sie klopfte leise an die Schlafzimmertür, und da sie außer dem Murmeln von Männerstimmen nichts vernahm, öffnete sie die Tür und schlüpfte hinein.
Anne lag ohnmächtig auf einem der größten, vornehmsten Betten der Burg. Sie war vom Straßenschmutz gesäubert worden - dafür hatte Gudrun gesorgt -, aber sie war bleicher als das milchweiße Nachtgewand, das Gudrun ihr angezogen hatte.
Sehr merkwürdig!, dachte Hawise. Sie knickste und legte den Leinenstapel auf eine Truhe neben dem Bett. Dort würde er liegen, bis jemand ihr die Erlaubnis gäbe, die blutigen Bettbezüge zu wechseln. Warum wurde diese einfache Frau - sehr einfach, den Kleidern nach zu urteilen, die man ihr vom geschundenen Leib gezogen hatte - wie eine feine Hofdame bedient? Sieh an, sogar der Leibarzt des Mijnheer de Gruuthuse war anwesend. Er sah sehr ernst aus und versuchte gerade, den Puls des Mädchens zu finden, was anscheinend nicht einfach war. Und dann der englische König. Auch er war da und ging ständig vor dem Bett auf und ab. Dabei sah er so verzweifelt auf dieses Mädchen, dass man gerade meinen könnte, er hätte ein Mitglied seiner eigenen Familie getötet.
»Du!«
Hawise erstarrte. Graf Louis war ins Zimmer getreten. Die Magd sank in einen tiefen Knicks, ihre Röcke bauschten sich, als sie das Knie beugte.
»Ja. Dich meine ich. Kannst du nähen?«, fragte Louis barsch.
Sämtliche Männer im Zimmer drehten sich nach ihr um. Hawise errötete und blickte zu Boden, denn so viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewöhnt. »Ja, Herr. Ich kann nähen.« Zu jeder anderen Zeit hätte das Mädchen damit geprahlt, dass sie genauso flinke Finger besäße wie die feinen Damen, aber der strenge Ton ihres Herrn, das Gefühl, dass hier etwas Geheimnisvolles vorging, schüchterten sie ein.
»Sehr gut. Master Jacobi - habt Ihr gehört? Ihr habt eine Verbündete. Was benötigt Ihr?«
Der Doktor legte vorsichtig die Hand seiner Patientin auf die bestickte Überdecke, wo sie klein, weiß und bewegungslos liegen blieb.
»Weingeist, flüssigen Honig und Spinnweben. Das Erste zum Reinigen der Wunden, das Zweite und Dritte zum Verbinden. Dann Seidengarn. Gibt es hier im Schloss auch Hofdamen? Damen, die sticken?« Er ging auf das, was die Magd gesagt hatte, nicht ein, natürlich.
Louis de Gruuthuse fing Edwards Blick auf und schüttelte verneinend den Kopf. »Nein, Master Jacobi. Der Binnenhof ist eine Männerwelt. Wir sind hier eine Provinzgarnison.«
Plötzlich stand Edward neben dem Doktor. »Bestimmt könnt Ihr doch auch etwas anderes als Seide benutzen. Pferdehaar aus den Mähnen, zum Beispiel. Das wird in den Feldlazaretten benutzt - ich habe es selbst schon gesehen!«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Majestät, manch ein Mann stirbt im Kampf, aber viel mehr sterben, weil sie nach dem Kampf unzureichend verarztet werden. Ich finde Pferdehaar nicht gut genug. Ich brauche Seide, denn Seide ist besonders reißfest. Am besten wäre gekochtes Seidengarn.«
»Was redet Ihr für einen Unsinn? Gekocht? Wofür soll das gut sein? Dafür ist jetzt keine Zeit, selbst wenn wir Seide hätten ...« Hawise war sehr mutig, ja, geradezu tollkühn, wie sie später fand, als sie dem englischen König ins Wort fiel. »Majestät, ich habe etwas Seide.«
Alle drehten sich zu der Magd um und sahen sie verwundert an. »Ich nähe, wie gesagt. Nur ab und zu. Das haben die Nonnen mir beigebracht. Ich nähe für sie - zum Beispiel Altartücher«, sagte sie hastig. Es verstieß gegen das Luxusgesetz, wenn ein Mädchen ihres Standes auch nur daran dachte, sich in Seide zu kleiden. Das war das Privileg der Damen, vor allem der Hofdamen. Aber Hawise hatte ein Geheimnis, einen roten Unterrock, den sie sich verbotenerweise nähte. Wenn er fertig war, wollte sie ihn beim Frühlingsfest unter ihr Kleid anziehen. Als Glücksbringer, hatte sie Gudrun gesagt, nur als Glücksbringer.
»Welch ein Segen, Mädchen!«, sagte der Doktor. »Spute dich und hol deine Seide. Koche sie so lange, bis du zehn Mal auf zehn gezählt hast. Dadurch wird sie weich und lässt sich gut nähen. Hast du mich verstanden?«
Hawise nickte. Sie selbst konnte nicht gut zählen, aber bestimmt fand sie jemanden in der Küche, der ihr helfen konnte. Vielleicht den Koch, er machte auch die Zählstriche für die Speisekammer. Ohne ein weiteres Wort rannte sie aus dem Zimmer. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, um zu knicksen.
Der Doktor rief ihr noch nach: »Und schick die andere Magd mit einer Schale abgekochten Wassers herauf. Und vergiss den Honig nicht. Und die Spinnweben. Beeil dich!«
»Doktor?«, sagte Edward zögernd, ohne seinen Blick von Anne zu lösen. »Was könnt Ihr für sie tun?«
Master Jacobi, der gerade Annes Kopf untersuchte und vorsichtig die blutverklebten Haare beiseiteschob, sah kurz von seiner Arbeit auf.
»Das Pferd hat sie hier getroffen ...« Er zog einen Moment den Kragen des Nachtgewands zurück. Annes Brust und Schultern waren von blauvioletten Prellungen übersät. ». und auch hier am Kopf, glaube ich. Direkt über dem Ohr. Seht Ihr?«
Edward, der schon manche Kampfverletzung gesehen hatte, konnte es nicht mehr schrecken, wenn er einen Brei aus Knochen, Fleisch und Blut sah. Doch als der Jude von Annes Kopf einen Hautlappen abhob, an dem noch Haare waren, stieg eine Welle von Übelkeit in ihm auf.
»Nur ein oder zwei Rippen sind gebrochen, und auch ein
Finger. Für die Rippen kann ich nicht viel tun, außer ihre Brust einbinden. Aber sie muss ganz still liegen, so lange sie heilen. Auch den Finger kann ich verbinden, damit er wieder gerade zusammenwächst. Dann müssen wir die Wunde am Kopf säubern und den Hautlappen wieder richtig annähen. Die Dame« - bei diesem Wort zögerte er kurz - »ist jung und gesund, Majestät. Es besteht durchaus Grund zur Hoffnung, denn ich kann keinen Bruch des Schädelknochens feststellen. Das war meine Hauptsorge.«
Edward setzte sich plötzlich auf die Truhe neben dem Bett. Er war bleich und schwitzte. Mühsam stammelte er: »Sie wird doch nicht sterben, Master?«
»Ich habe eine heikle Aufgabe vor mir, aber nein, ich glaube nicht, dass sie sterben wird.« Bevor er weitersprechen konnte, kam Gudrun mit einem Ledereimer voll dampfenden Wassers in der einen und einem irdenen Krug in der anderen Hand zurück. Verlegen machte sie vor Louis de Gruuthuse einen Knicks. »Honig, Mijnheer, und gekochtes Wasser? Hawise sagte ...«
Der Doktor runzelte die Stirn. »Und Spinnweben? Ich brauche Spinnweben!«
Das Mädchen sah ihn verständnislos an. Verärgert bedeutete er ihr, die Sachen auf die Truhe neben den König zu stellen. »Wenn du keine Spinnweben hast, müssen wir uns eben anders helfen. Reiße eins dieser dünnen Leintücher in schmale Streifen, aber spute dich, Mädchen - und pass auf, dass sie nicht zu lang werden. Wenn deine Freundin wiederkommt, werdet ihr, sobald ich es euch sage, die Streifen in Honig tränken. Hast du verstanden?«
Gudrun nickte folgsam, auch wenn sie dachte, der Mann sei verrückt. Spinnweben? Honig? Auf Verbände? Wozu das alles? Da sie aber noch jung war und nicht so keck wie Hawise, hielt sie den Mund und tat wie ihr geheißen.
»Majestät und Ihr, Lord Louis, ich werde gleich auch Eure Hilfe brauchen.« Der Doktor untersuchte noch einmal genau die Wunde am Kopf. Diesmal benutzte er eine Kerze, denn das Zimmer war bis auf das Kaminfeuer dunkel. »Und mehr Kerzen, schnell, damit ich besser sehen kann!«
Louis ging zur Tür, vor der eine kleine Gruppe von Männern Wache hielt. Auch Leif Molnar war da, der vor Sorge immer wütender wurde.
»Du da! Geh in die Küche und hol Kerzen. Schnell. So viele, wie du tragen kannst.« Einer der Wachmänner verneigte sich und eilte davon.
Leif sah Louis geradewegs in die Augen. »Wie geht es meiner Frau, Mijnheer?« Er sprach ruhig und deutlich, und Edward drinnen im Zimmer hörte ihn. Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Anne war verheiratet?
Auch Louis de Gruuthuse war überrascht. Bei der ganzen Aufregung hatte er noch keine Zeit gehabt, Fragen zu stellen, seitdem der König mit dem schmutzigen, blutverschmierten Mädchen in den Armen in den Binnenhof gekommen war und der Herzog von Gloucester um Hilfe gerufen hatte. Aber es war nicht zu übersehen, dass diese Frau, die hier ohnmächtig im drittbesten Schlafzimmer des Schlosses lag, für den König sehr wichtig war. Edwards Augen und Miene drückten einen quälenden Schmerz aus.
Edward ging zur Zimmertür und sah sich den Mann an, der behauptete, Annes Gemahl zu sein. Leif Molnar starrte ihn unversöhnlich und voller Misstrauen an. Im ersten Augenblick war der König eingeschüchtert. In den Augen seines Rivalen glitzerte ein Funkeln, das hatte er genau gesehen, als dieser sich auf der Straße zu ihm umgedreht hatte.
»Ihr seid ihr Gemahl?«
Leif nickte, ohne sich jedoch zu verneigen. Er wusste nun mit absoluter Sicherheit, dass er diesen Mann hasste. Weder der König noch die Pflicht gegenüber seinem Herrn, noch das Schicksal Englands hatten für Leif Molnar noch Bedeutung.
»Ich möchte meine Frau sehen.« Keine Spur von Ehrerbietung, kein Bitten.
Edward stand stumm da, als der Nordländer an ihm vorbeiging. Er hatte richtig vermutet, sie waren gleich groß.
Im Zimmer war es still, nur das Feuer zischte und knisterte. Der Doktor ging leise seiner Arbeit nach und wusch die letzten Spuren von Blut von Annes Gesicht. Leifs Gesicht war unbeweglich wie eine Maske, als er zu dem geschnitzten Bett trat, in dem Anne lag. Einen qualvollen Augenblick lang dachte er, einen Leichnam zu erblicken, aber dann hob und senkte sich ihre Brust kaum wahrnehmbar, und sie öffnete ihre Augen.
»Leif?« Es gelang ihr, seinen Namen auszusprechen und sogar zu lächeln, auch wenn sie unter Schmerzen schluckte. »Gebt Edward, wofür wir gekommen sind«, flüsterte sie. Dann flatterten ihre Lider, ihre Augen fielen zu, und sie wurde wieder ohnmächtig.
Leif drehte sich auf dem Absatz um. Edward beobachtete ihn von der Feuerstelle aus. »Ihr seid das gewesen.«
Das war nicht nur eine deutliche Anschuldigung, das war ein Fluch, der mit solcher Verachtung ausgesprochen wurde, dass Louis de Gruuthuse sich persönlich angegriffen fühlte. Auch von einem besorgten Ehemann konnte er so etwas nicht dulden.
»Wachen!«
»Wartet!«, rief Edward mit einem Krächzen in der Stimme, als die Wachen erschienen. »Was hat sie gemeint?«
In Leifs Augen standen Tränen, was ihn seinen Zorn und seine Erniedrigung nur noch stärker empfinden ließen. »Sie hat Euch nichts zu geben. Nichts!«
Vier, dann sechs und schließlich acht Männer aus der Leibwache des Mijnheer de Gruuthuse waren nötig, um Leif Molnar aus dem Zimmer zu entfernen, trotz der Proteste Edwards.
Louis de Gruuthuse bewahrte eine eisige Höflichkeit. »Auch wenn dies der Gemahl dieser Frau ist, Majestät, aber eine solche Unverschämtheit gegenüber Eurer Person kann ich in meinem Haus nicht dulden. Ihm wird nichts geschehen. Und wenn seine Frau wieder gesund ist, wird er entlassen, und sie können beide wieder nach Hause gehen.«
In dem Durcheinander, das bei Leifs Festnahme entstand, kam Hawise mit einem Holzgefäß voll nasser, roter Seidenfäden in das Zimmer. Hinter ihr betraten zwei Soldaten mit mannshohen, schmiedeeisernen Kerzenständern den Raum. Jeder von ihnen hatte noch mindestens ein Dutzend dicker Kerzen aus teurem Sommerwachs dabei. Als sie angezündet waren, breitete sich im Zimmer ein beruhigender Duft von Honig aus.
Die Kerzenständer wurden beiderseits des Bettes aufgestellt, so dass der Doktor Licht von beiden Seiten und von oben bekam.
»Und wenn ihr mir jetzt helfen würdet?« Dr. Jacobi bedeutete den Mägden, Gudrun und Hawise, die Decken zurückzuschlagen, damit er Anne anders hinlegen könnte.
»Nein! Rührt sie nicht an.« Edward trat ans Bett, und die beiden Mägde wichen erschrocken zurück. »Ich werde diese Dame anheben.«
Er barg Anne sanft an seiner Brust und hob sie zärtlich hoch, wie ein Vater sein schlafendes Kind trägt. Dann beugte er sich hinab, um sie, wie der Doktor befohlen hatte, flach auf die Matratze zu legen. Ihr bernsteinfarbenes Haar ergoss sich zwischen seine Finger und fing das Kerzenlicht ein. Rotbraun und golden rahmte es Annes weißes Gesicht ein. Oh, welche Erinnerungen.
»Euer Majestät?« Der Doktor wurde unruhig. Der König hielt die junge Frau immer noch in seinen Armen, als würde er sie nie mehr loslassen wollen.
Louis de Gruuthuse räusperte sich geräuschvoll. Das wirkte.
Edward legte Anne so vorsichtig auf die Matratze, als sei sie aus zerbrechlichem Glas. Und das war sie gewissermaßen auch. Im Schein der Kerzen war ihr Gesicht fast durchscheinend wie Milchglas, und auf ihren Schläfen und unter ihren Augen lagen bläuliche Schatten.
»Kommt, Majestät. Wir sollten Meister Jacobi nun seine Arbeit tun lassen. Das Abendessen wartet.« Louis zuckte zusammen, als er sah, wie der Doktor den Hautlappen von Annes Schädel hob und darunter kurz der Knochen sichtbar wurde. Vielleicht war Essen im Moment doch nicht das Richtige.
Gudrun hielt Annes Kopf fest, während der Doktor eine Reihe winziger Stiche an der Kopfhaut anbrachte, was für die anderen aussah, als säumte er eine Decke ein.
Louis de Gruuthuse musste heftig schlucken. »Wir können die junge Dame besuchen, wenn der Doktor seine Arbeit beendet hat und sie wieder bei sich ist, mein König.«
Edward rührte sich nicht vom Fleck. Fasziniert sah er dem Doktor zu und vergaß darüber fast alles andere. Er hatte auf dem Schlachtfeld oft genug den Ärzten zugesehen, um zu erkennen, dass dieser Mann sein Handwerk perfekt beherrschte. Sein ursprüngliches Misstrauen verwandelte sich in Dankbarkeit. Dr. Jacobi nähte Annes Kopfhaut so vorsichtig und so präzise wieder an, wie es eine Herzogin mit ihrer Stickerei nicht besser hätte machen können, auch wenn sich der rote Seidenfaden brutal von der weißen Haut abhob. Nach einigen Minuten konzentrierter Arbeit stieß der Doktor ein Seufzen aus, richtete sich auf und drehte sich zu Louis de Gruuthuse und dem König um. Trotz seiner sonst so reservierten Art lächelte er beinahe. »Eigentlich eine einfache Wunde. Wir müssen bis zum Morgen abwarten, wie es ihr geht.«
Der König nickte, seine Augen ließen die stille Gestalt auf dem Bett nicht los. »Ich werde hierbleiben, Lord Louis. Verzeiht mir, aber mir ist nicht nach Nahrung. Jetzt müssen für
Lady de Bohun Gebete gesprochen werden, und das kann ich tun, hier an ihrem Bett.«
Louis war verblüfft. Das war die legendäre Lady de Bohun? Wieso hatte er die Frau nicht erkannt, die drei oder vier Jahre zuvor wie ein Meteor in die Kaufmannschaft von Brügge eingeschlagen war? Er entließ den neugierig gewordenen Arzt mit einem Wink und eilte an das Bett, jedes Zartgefühl vergessend. Und dann begriff er.
In Brügge hatte er diese Frau nie anders als in höfischer Kleidung gesehen und natürlich nie mit offenem Haar wie jetzt. Und an diesem Abend, als sie inmitten einer aufgeregten Menge von Höflingen und Dienern vom König hereingetragen worden war, war ihr Gesicht unkenntlich durch das Blut gewesen und ihre Kleidung alles andere als vornehm.
»Ja. Es ist Lady de Bohun. Ich erkenne sie jetzt.«
Er und Edward sahen sich an. Louis de Gruuthuse verstand nun alles. Er verbeugte sich mit dem Takt des geborenen Höflings.
»Ich werde dafür sorgen, dass Ihr nicht gestört werdet, Euer Majestät«, sagte er und bewegte sich ehrerbietig hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.
Im Zimmer war es still. Edward Plantagenet beugte sich vor und strich vorsichtig eine Haarsträhne aus Annes Gesicht. Sie rührte sich nicht. Er nahm ihre bleiche Hand und hielt sie an sein Gesicht. Ihre Haut fühlte sich kühl und weich an. »Mein Liebling. Ich bin hier. Ich werde die ganze Nacht bei dir bleiben. Und auch morgen - so lange du mich brauchst. Aber wenn du mich hören kannst, sag mir, Anne, was du für mich hast.«
Er bekam keine Antwort, nur das Feuer knisterte, als ein Holzscheit verrutschte und Funken im Kamin hochwirbelten. Und bei diesem plötzlichen Aufflackern des Feuers sah Edward Annes kleines Lederbündel. Es war gedankenlos in eine Ecke geworfen worden, und nun erhaschte der König aus den Augen-winkeln einen Streifen Hellblau mit einem Schuss Gelb. »Vergib mir, mein Liebling.«
Mit zwei Schritten war er dort, hob das Bündel auf und löste die Schnallen, die es zusammenhielten. Und dort, ganz unten, unter einem Schal aus fein gesponnener, blauer und gelber Wolle, eingewickelt in ein Kleid, fand er, wonach er suchte.
Das milchbleiche Mädchen im Bett rührte sich nicht, als Edward Plantagenet den Brief seiner Schwester vorn in seinem Wams verbarg. Er wollte ihn später lesen. Er wog die schwere Börse in seinen Händen und sah auf Annes geschlossene Lider, auf ihren bandagierten Kopf. Anne hatte für seine Freiheit teuer bezahlt.
Das Neugeborene wimmerte, es hatte schon wieder Hunger. Herzogin Jacquetta hob den Prinz aus der Wiege und schaukelte ihn in ihren Armen. Aber das beruhigte ihn nicht. Auch nicht, als sie ihm einen Finger zum Lutschen gab.
»Mutter?«, kam es missmutig vom Bett her. »Es hilft nichts, ich kann nicht einschlafen. Der Mohn hat nichts genützt. Gib ihn mir. Dann ist wenigstens einer von uns zufrieden.«
Das Kind war fest eingewickelt, die Ärmchen an die Seite gebunden. Wie eine kleine Seidenraupe, dachte seine Großmutter zärtlich, als sie den Knaben, der eigentlich als Prinz von Wales auf die Welt hätte kommen sollen, zu ihrer Tochter brachte. Elizabeth Wydeville setzte sich mühsam auf und entblößte eine pralle Brust. Sie war stolz, dass sie so viel Milch hatte. Sie legte das Kind in ihre rechte Armbeuge und klopfte leicht auf seine Wange, damit es seinen Kopf zu ihr drehte. Es roch die Milch und schloss seine Lippen um die Brustwarze.
Das Wimmern hörte auf, und das Kind saugte und schniefte und saugte wieder, so gierig, dass es sich verschluckte. Empörtes Brüllen erfüllte das kleine Zimmer.
»Nein, Edward, nicht so ungeduldig. Also wirklich. Genau wie dein Vater, manchmal ...« Elizabeth sah hoch und fing den belustigten Blick ihrer Mutter auf. Die Andeutung eines Lächelns spielte um die Lippen der Königin, das erste Lächeln seit vielen Wochen. Sie wiegte ihren Sohn und leitete ihn mit der Routine einer erfahrenen Mutter an. »Hier, ja, so ist gut ... langsamer, nicht verschlucken.« Sie entspannte sich, als das Saugen des Knaben in einen gleichmäßigen Rhythmus überging und er konzentriert die Augen schloss.
»Es tut mir leid, dass wir dir keine Amme besorgen konnten, mein Kind.«
Die Königin schüttelte den Kopf. »Das macht doch nichts. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Es ist irgendwie . anders. Ich bin froh, dass ich dieses Kind stillen kann.«
Die Herzogin wurde neugierig. »Aber deine Brüste, Tochter. Sorgst du dich nicht, dass sie durch das Stillen welk werden könnten?«
Das liebliche Gesicht der Königin verzog sich zu einer verbitterten Fratze. »Das ist mir egal. Sollen sie doch verdorren wie alte Äpfel. Er saugt auch meinen Zorn in sich ein. Und meinen Wunsch nach Gerechtigkeit. Das wird ihn stark machen. Außerdem, was macht es schon, wenn meine Brüste welke Lappen werden? Ich werde den König nie mehr wiedersehen, wenn Louis sich durchsetzt, und dann spielt Schönheit für mich sowieso keine Rolle mehr.«
Jacquetta lächelte. »Du wirst deine Meinung noch beizeiten ändern. Außerdem glaube ich, dass es einen Ausweg gibt, bevor Louis sich nimmt, was er begehrt. Ich habe interessante Neuigkeiten für dich.«
Elizabeth sah ihre Mutter neugierig an. »Was?«
»Karl von Burgund weiß nicht, was er tun soll, welche Seite er unterstützen soll. Und wenn das so ist, gibt es noch eine Chance.«
Elizabeth Wydeville schnaubte verächtlich, was den Kleinen aus seinem Rhythmus brachte. Er schrie gellend auf. Sie legte ihn flink an ihre andere Brust, woraufhin er wieder in ernstes Schweigen fiel und weitersaugte.
»Wer hat das gesagt?«, fragte sie.
»Ich habe eine Nachricht erhalten - von Sir Mathew Cutti-fer. Er sagt, er habe eine zuverlässige Informationsquelle in Brügge. Eine Freundin der Herzogin.«
Das Gesicht der Königin lief rot an. »Warum sollten wir ausgerechnet ihm trauen? Er und sein Haus waren nie auf unserer Seite. Und diese Frau, Anne de Bohun, war sein Mündel. Sie hat versucht, mir Edward wegzunehmen.«
Jacquetta schüttelte nachsichtig den Kopf. »Versucht, ja, aber gelungen ist es ihr nicht. Ach Tochter, Tochter, das ist doch alles vergangen und vergessen. Reg dich nicht auf. Der König hat Anne de Bohun seit der Hochzeit seiner Schwester nicht mehr gesehen. Sie ist endgültig aus unserem Leben verschwunden. Aber die Information ist nützlich, egal, aus welcher Quelle sie stammt.«
Das Kind seufzte tief, und sein kleiner, roter Mund löste sich sanft von der Brust der Mutter. Es schlief, sein Gesicht-chen glühte rosig von der Anstrengung des Saugens. Automatisch wiegte Elizabeth ihren Sohn hin und her, hin und her.
»Na und?« Sie klang mürrisch.
»Begreifst du denn nicht? Wenn Karl sich nicht sicher ist, wie er sich gegenüber Edward und England verhalten soll, dann kann er noch beeinflusst werden. Zu unseren Gunsten beeinflusst werden, damit er dem König zu Hilfe kommt. Aber zuerst müssen wir uns um Louis kümmern.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
In der Zelle des Abts gab es wenig Licht, obwohl das Fenster nach Osten hinausging. Elizabeth Wydeville blinzelte und beugte sich vor, um den Gegenstand zu betrachten, den ihre Mutter aus ihrer Gürteltasche gezogen hatte. »Was ist das?«
Jacquetta hielt den Gegenstand in das Licht, das durch das einzelne, hohe Fenster fiel.
»Ein Spielzeug für den Knaben?«
Die Herzogin schüttelte den Kopf und sprach mit leiser Stimme: »Schau es dir genau an, meine Tochter. Das ist kein Spielzeug.«
Die Königin legte das schlafende Kind sacht auf die Bettdecke und streckte die Hand aus, um den Gegenstand zu untersuchen. Es handelte sich um eine männliche Figur in der Größe einer Puppe, die auf einem kleinen, mit blauem Stoff behängten Holzpferd saß. Auf den Stoff waren mit Goldfarbe die Lilien Frankreichs gemalt. Die Puppe trug einen winzigen Goldreif um den Kopf.
»Wer soll das sein, Mutter?« Obwohl sie fragte, wusste sie die Antwort sehr wohl.
Jacquetta blickte sich um. Die Tür war geschlossen. Sie waren allein. Sie beugte sich zu ihrer Tochter vor und flüsterte nur ein Wort: »Louis.« Die Königin sah ihre Mutter ängstlich an. Jacquetta hatte plötzlich noch etwas anderes in ihrer Hand: zwei winzige Silberdolche, die Klingen spitz wie Dornen.
»Streck deine Hand aus, meine Tochter.«
Das Kindchen wimmerte im Schlaf, wand sich und kräuselte seine Stirn. Die Frauen drehten sich zu ihm um.
»Wir haben keine andere Wahl, meine Tochter. Um deines Sohnes willen. Er wird eines Tages König sein, aber nur, wenn wir ihm jetzt helfen.«
Elizabeth blickte auf ihr Kind hinab und nickte. Langsam streckte sie ihre Hand aus und ergriff einen der teuflischen, kleinen Dolche.
»Gemeinsam. Gemeinsam müssen wir es tun. Jetzt.«
Was dann geschah, geschah in einem instinktiven Gleichklang. Ein Atemzug, dann noch einer, und beim dritten Atemzug stieß die entthronte Königin von England das kleine Messer tief in die Brust der Puppe hinein. Im selben Augenblick stach ihre Mutter das andere Messer in den Unterleib der Puppe. Ein Geräusch wie von entweichender Luft war zu hören. Vielleicht war es der Wind.
Das Kind wachte auf und schrie, wie ein Kind schreit, wenn die Mutter nervös und angespannt ist. Und so sehr sich Mutter und Großmutter auch mühten, das unruhige Kind ließ sich nicht trösten. Den ganzen Tag und die ganze Nacht war es wach, bis schließlich Thomas Milling, der Abt von Sankt Peter, seine Brauen mit Weihwasser netzte.
Dann schlief es ein.
Louis XI. war kein sportlicher Mann, und Reiten mochte er überhaupt nicht, weil die Pferde ihn nicht mochten. Das allerdings beruhte auf Gegenseitigkeit, was nicht nur lästig, sondern ein Skandal war. Immerhin hatte der König von Frankreich Le Grand Chevalier zu verkörpern. Doch dies konnte man von diesem König nicht behaupten, denn er zog es vor, in Sänften getragen zu werden.
An einem eiskalten Abend, nicht lange nach dem zweiten Adventssonntag, traf Louis de Valois, hinter den Vorhängen seiner abgenutzten Sänfte kauernd, in einem einsam gelegenen, von ihm aber gern genutzten Jagdschlösschen ein. In seiner Begleitung befanden sich eine kleine Schar von Wachsoldaten und ein paar missmutige, durchnässte Höflinge. Er selbst war übel-launig und müde, und er hatte Leibschmerzen, was nicht selten vorkam.
Der König liebte diesen Ort, weil er unauffällig war und weil er so versteckt lag. Das Jagdschlösschen war zwar klein und ungemütlich, lag aber nah genug bei Paris, so dass ihn wichtige Nachrichten erreichen konnten, wenn er es wünschte. Gleichzeitig lag es so versteckt, dass man unter sich, also sicher war. Louis mochte seine Hauptstadt nicht. Mit Paris verband er zu viele schlechte Erinnerungen an seinen Vater, den er gehasst und gefürchtet hatte. Aus diesem Grund misstraute er auch der Loyalität der Stadt und mied sie, wann immer er konnte. Paris war auch der Ort, wo sich die Adligen gern einfanden, gerade jetzt in der Adventszeit. Und der Louvre war die Lieblingsresidenz von Königin Charlotte. Wenn Louis dort war, musste er mit ihr sprechen, ja, sogar das Lager mit ihr teilen, alles andere wäre ein Skandal gewesen.
Dies und die Tatsache, dass die mächtigen Fürsten und die niederen Edelleute sich gerade jetzt zur Adventszeit versammelten, um ihn um diese oder jene Gunst zu bitten, hatten ihn in seinem Entschluss bestärkt. Sie würden alle warten müssen. Er wollte sich von ihren Streitereien und Intrigen nicht ablenken lassen, denn er hatte Wichtigeres zu tun. An diesem Abend hatte ihn eine Nachricht erreicht, die ihm Sorge bereitete und er gab, obwohl es widersinnig war, seinen Beamten in Paris die Schuld daran. Sie hätten ihn früher informieren müssen! Ihre Aufgabe war es, ihn auf seiner Reise durch das Königreich ausfindig zu machen. Er würde keine Entschuldigung gelten lassen!
Edward Plantagenet und seine Männer waren aus dem Binnenhof verschwunden. Louis setzte sich zu Tisch und rief seinen Berater, um noch einmal alle Einzelheiten mit ihm durchzusprechen.
»Wie viele sind es?«
»Wir wissen nicht genau ihre Zahl, Sire.« Olivier le Dain, wegen seiner bescheidenen Anfänge als Kammerdiener des Königs der »Barbier« genannt, war äußerst nervös, hoffte aber, dass man ihm dies nicht anmerkte. Le Dain war im Zeichen des Saturn geboren und entsprach genau diesem Klischee: Er war finster, wachsam und gefährlich. In der Gegenwart dieses Königs aber, dem er ein wertvoller Berater geworden war, wurde er zu einer ängstlichen, schwitzenden, bebenden Masse, was seine Feinde bei Hof mit Schadenfreude erfüllte. Das Schreckgespenst des »Käfigs« war schuld daran.
Zwei Jahre zuvor hatte le Dain den König verärgert - er wusste bis heute nicht, warum - und musste einen ganzen, furchtbaren Winter lang in einem Käfig über den Zinnen von Nantes verbringen, Wind und Wetter ausgesetzt, am Leib nur das, was er bei seiner Festnahme getragen hatte. Er wäre beinahe verhungert, und seine beiden kleinen Finger waren erfroren, schwarz geworden und abgefallen. Schließlich aber, gelobt sei Gott, hatte Louis ihm seine Sünden, welche es auch immer gewesen sein mochten, verziehen. Aber was, wenn er wieder des Königs Missfallen erregte? Wie sollte er das wissen?
Le Dain beobachtete nervös, wie der König sich seinem Essen zuwandte. Louis wollte eine Gänsekeule abnagen, aber le Dain konnte sogar von seinem Platz aus sehen, dass das Fleisch schleimig aussah - ein Zeichen für Fäulnis. Er erbleichte, als der König das Gesicht verzog und die Keule auf den Silberteller warf. »Zu viel Pfeffer. Das verbrennt meinen Mund! Die Köche sind Idioten, denken sie etwa, ich würde das nicht merken? Das Fleisch ist verdorben. Wollen sie mich vergiften? Le Dain! Ich erwarte eine Antwort. Sofort!«
Le Dain eilte zur Tafel. Er schwitzte und zitterte vor Angst. Er musste Louis so schnell wie möglich ablenken, denn Gott allein wusste, wie weit die Wahnvorstellungen des Königs gehen mochten.
An diesem Abend speiste der König in einem kleinen Zimmer im hinteren Teil des Jagdschlösschens. Er war ganz allein, nur fünf Diener und der Barbier waren bei ihm. Louis wischte sich die fettigen Finger an den Ärmeln seines Gewands ab, bedeutete mit böser Miene, dass das Essen abgetragen werde, und rülpste seinen fauligen Atem direkt in das Gesicht seines Beraters. Dann krümmte er sich zusammen. Schon den ganzen Tag hatte er Leibschmerzen gehabt, und jetzt wurden sie schlimmer.
Dann fasste er le Dain ins Auge. »Warum seid Ihr Euch nicht sicher, wie viele Engländer es sind, Olivier? Was nützt es mir, wenn meine Diener weniger wissen, als sie sollen?«
Le Dain widerstand seinem dringenden Bedürfnis, sich einzunässen und überlegte, wie er dem König sein Wissen am besten präsentieren könnte. Die Verdauung seiner Majestät bedeutete an diesem Abend für Herrn und Diener eine Heimsuchung. Dem Barbier war jede Rüge recht, wenn sie nur nicht im Käfig endete.
»Sire, die Fakten sind folgende: Edward, der Thronräuber Graf von March, kam vor fast einem Monat mit einer Gruppe von ungefähr zwanzig Mann von England herüber. Mit ihm sein jüngerer Bruder Richard, der einstige Herzog von Gloucester, sein oberster Kammerherr, Lord William Hastings, sein Schwager Lord Rivers und eine Reihe von Bogenschützen und . «
»Das ist mir bekannt! Warum wiederholt Ihr Euch?«
Le Dain schluckte und atmete tief ein. Ruhig bleiben. Ruhig.
»Ich wollte die Namen der Edelleute noch einmal nennen, Sire, weil auch sie verschwunden sind, und auch die walisischen Bogenschützen des Grafen. Es sind nur wenige, aber es sind gefährliche Krieger.«
Louis knurrte und bedeutete le Dain, fortzufahren, während er mit seinem Messer in einem kantigen, schwarzen Zahnstummel stocherte. Eine Faser Gänsefleisch war darin hängen geblieben - er konnte sie mit der Zunge ertasten. Geschwollenes, wucherndes Zahnfleisch umgab den kaputten Zahn, und das Stochern störte das empfindliche Gleichgewicht im Mund des Königs. Plötzlich gab es eine Eruption von Eiter und Blut. Louis schrie auf und spuckte die widerliche Masse auf die Binsen. Der Barbier verstummte entnervt. Verärgert wischte der König sich den Mund mit einem Zipfel der Tischdecke ab und bedeutete le Dain fortzufahren.
»Anscheinend hat Mijnheer de Gruuthuse die Abreise seines Gastes nicht gebilligt. Wir wissen das, weil an dem Morgen, als der König ... äh, der Graf meine ich ... vermisst wurde, mehrere Wachmannschaften ausgesandt wurden, ihn wiederzufinden.«
»Und dann?«, nuschelte Louis und versuchte, den Eiterfluss in seinem Mund zu stoppen. Der Zahn hatte bei seiner Manipulation seinen dürftigen Halt aufgegeben und ein schmerzhaft entzündetes Loch hinterlassen, das dem König die Tränen in die Augen trieb.
Le Dain sah seinen Herrn argwöhnisch an. Der König stöhnte und schnaubte, unter seinen geschlossenen Lidern strömten Tränen hervor. Er sprach eilig weiter, wie ihm befohlen worden war. »Nun, der Graf wurde nicht gefunden. Louis de Gruuthuse hat deshalb dem Herzog Karl in Brügge eine eilige Nachricht zukommen lassen. Das wissen wir, weil wir einen der Boten abfangen konnten.«
»Nur einen?« Der König musterte die Überreste seines Zahns und hielt ihn ans Licht, als wäre er ein Edelstein oder eine kostbare Perle. Mit finsterer Miene drehte er ihn hin und her. »Daran sind die Köche schuld. Diese Gans war eine Schande!« Plötzlich warf er den kleinen, schwarzen Stummel mitten ins Feuer. »Ich habe nur noch sechs große Zähne. Und die halten vielleicht nicht einmal mehr bis zum Frühjahr. Dann muss ich mich von Brei ernähren. Oder muss mein Essen vorkauen lassen.« Eine widerliche und bedrückende Vorstellung, aber Louis war nicht auf Mitleid aus, er war zornig. Er wollte jemandem die Schuld daran geben, dass er alt wurde. Von der Feuerstelle war ein kurzer Knall zu hören, der Zahnstummel war zersprungen, und ein übler Gestank von faulendem, brennendem Bein zog durch den Raum. Das brachte den König erst recht in Rage. »Bringt mir den Koch, der diese Gans zubereitet hat!«
Le Dain zog sich eilig und unter vielen Verbeugungen zurück und pries den fauligen Zahn, der den König von der unangenehmen Nachricht über Edward Plantagenets Verschwinden abgelenkt hatte. Solange der König in dieser Stimmung war, würde Olivier le Dain sich freiwillig nicht wieder in seine Nähe begeben, nicht für alle Ländereien im Tal der Loire, auf die er es abgesehen hatte. Zum Glück würde wahrscheinlich der unglückliche Koch den Zorn des Königs auf sich ziehen, und er, Olivier, würde die nächste Nacht im eigenen Bett verbringen können und müsste nicht in einem Eisenkäfig frieren. Und morgen war ein anderer Tag. Morgen, das spürte er, würde er herausfinden, wo Edward Plantagenet sich versteckt hielt. Aber wie? Olivier le Dain stand in der Halle des Jagdschlösschens und brüllte. Es verschaffte ihm Befriedigung, als er sah, wie viele aus dem Gefolge des Königs herbeigerannt kamen, um zu hören, was er wünschte.
»Der Gänsekoch! Der Gänsekoch soll kommen. Der König wünscht ihn zu sehen!«
Der arme Koch wurde aus der Küche gezerrt und zu le Dain gebracht, wo er auf die Knie fiel und das Haupt senkte. Da kam diesem eine Idee. Er, Olivier le Dain, wollte den Kopf von Edward Plantagenet seinem Herrn auf einem Tablett servieren. Gerade so, wie dieser Mann, der vor ihm auf den Knien rutschte, die Gans serviert hatte. Dann würde er endlich mit den heiß begehrten Gütern im Tal der Loire belohnt werden. Voller Angst wagte der Koch, den Blick zu heben. Gegen jede Vernunft hoffte er, dass das Mahl, das eben serviert worden war, das Wohlgefallen des Königs gefunden hätte. Aber dann starb alle Hoffnung. In den Augen von Olivier le Dain sah er sein Schicksal geschrieben und stöhnte.
Der Barbier kannte kein Mitleid. »Mein Freund, Ihr habt gerade Eure letzte Gans zubereitet.«