Ich saß verlegen in Mimis Wohnzimmer und blickte meinen Vater an. Es war eines ihrer größten Anliegen, uns eines Tages zu versöhnen. Ich wünschte, sie hätte nie daran gerührt, denn es hatte keinen Sinn. Zu viele Dinge lagen zwischen uns, wir hatten uns zu weit voneinander entfernt. Jetzt saßen wir wie zwei Fremde im selben Zimmer - und machten Konversation! Obwohl sich jeder von uns der Nähe cfes andern aufs stärkste bewußt war, richteten wir das Wort nie direkt aneinander.
Nellie und Mama waren mit Mimi ins Kinderzimmer gegangen, um dabeizusein, wenn die Kleinen zu Bett gebracht werden, und nur Sam, Papa und ich waren vor dem Dinner im Wohnzimmer zurückgeblieben. Papa und ich sprachen nur, wenn Sam etwas zu einem von uns sagte. Dann antworteten wir einsilbig und verkrampft, als hätten wir Angst, daß unsre Worte zu einem gefährlichen Thema führen könnten.
Schließlich wußte auch Sam nichts mehr zu sagen, was uns beide interessieren könnte. Er zog sich gleichfalls in ein unbehagliches Schweigen zurück. Er griff nach seiner Zeitung und blätterte in den Sportnachrichten. Einige Sekunden war das Rascheln der Zeitung das einzige Geräusch im Zimmer.
Ich hatte durchs Fenster in den gegenüberliegenden Park geschaut. Es war beinahe ganz dunkel geworden, die Lichter flammten in den Gebäuden auf und leuchteten wie goldgelber Topas auf purpurnem Samt.
»Danny, erinnerst du dich an den Burschen, gegen den du im Finale gekämpft hast - an Joey Passo?« Ich wandte mich Sam zu. Ich erinnerte mich sehr gut. »Das war im Semifinale, Sam«, korrigierte ich ihn, »es war dieser Bursche, der mich um ein Haar besiegt hätte. Er war sehr gut.« Sam nickte. »Stimmt. Ich hab ja gewußt, daß du einmal gegen ihn angetreten bist. Hier steht, daß er soeben einen Vertrag für die
Leichtgewichtsmeisterschaft im kommenden Herbst unterschrieben hat.«
Ich fühlte, daß mich mein Vater gespannt ansah. »Hoffentlich gewinnt er«, sagte ich, »er hat viel Talent, ist tapfer und kann das Geld brauchen.«
»Du hättest sie auch gewinnen können«, sagte Sam, ohne von der Zeitung aufzublicken, »du hattest ebenfalls Talent und die besten Chancen, die ich je wahrgenommen habe.«
Ich schüttelte den Kopf. »Mir war's eine zu robuste Angelegenheit.«
Sam sah von seiner Zeitung auf. »Dir fehlte bloß der Instinkt des Killers. Noch ein paar Kämpfe, dann wäre dir auch dafür der Knopf aufgegangen.«
Ehe ich zu antworten vermochte, sagte mein Vater: »Ein Beruf, in dem ein Mann den Instinkt eines Killers haben muß, ist kaum das, was ich für meinen Sohn wünsche.«
Sowohl Sam als auch ich starrten ihn überrascht an. Soweit wir uns erinnern konnten, geschah es zum erstenmal, daß er sich in ein Gespräch, das wir führten, einmischte.
Papas Gesicht war wieder sehr rot. »Wenn ein Mann ein Killer sein muß, um Erfolg zu haben, dann ist's ein dreckiges Geschäft!« Sam und ich wechselten verständnisinnige Blicke, dann sagte Sam: »Aber Dad, das ist doch bloß eine Redensart, die die Boxer verwenden, es bedeutet nichts andres als daß man, wenn man seinem Gegner genügend zugesetzt hat, auch weiß, wie man ihn rasch und sicher k. o. schlägt.«
»Auch eine wortreiche Entschuldigung bleibt eine Entschuldigung«, sagte Papa eigensinnig, »wenn sich's aber bloß um eine Redensart handelt, wieso kommt es, daß ich immer wieder in der Zeitung lese, daß ein Boxer getötet worden ist?«
»Das sind unglückliche Zufälle, Dad«, sagte Sam, »du liest doch auch täglich von Menschen, die bei einem Autounfall umgekommen sind. Deshalb ist doch nicht jeder, der ein Auto fährt, ein Killer.« Papa schüttelte den Kopf. »Das ist etwas ganz andres.« Jetzt wurde auch Sam starrköpfig. »Das ist gar nichts andres, Dad«, fuhr er fort, »Boxen ist ein Sport, der ungemein viel Geschicklichkeit erfordert. Es gibt sehr wenig Menschen, die alle dafür nötigen Eigenschaften besitzen: geistige und körperliche Koordination, vereint mit einer zähen Entschlossenheit zu gewinnen. Das sind angeborene Talente, und wenn du jemanden entdeckst, der sie alle besitzt, dann hast du einen außergewöhnlichen Menschen vor dir. Dein Sohn Danny gehörte zu ihnen.«
Er sah mich einen Moment an, ehe er fortfuhr. In seinen Augen war tiefe Zuneigung zu lesen. »Danny gehörte zu diesen Menschen, Dad, denen man nur einmal im Leben begegnet.« Er sprach jetzt sehr leise, beinahe wie zu sich selbst. »Als ich ihn zum erstenmal sah, war er ein hochaufgeschossener schlaksiger Junge, sehr groß für sein Alter, der in der Schule einen Boxkampf ausfocht. Vorher war er nichts andres als eben irgendein Junge in seiner Klasse, aber nachher war er etwas Besonderes. Er hatte das gottgegebene Talent.« Papa knurrte: »Ein Teufelstalent, behaupte ich.« Sams Augen blitzten. »Darin irrst du dich, Dad, so wie du dich schon in vielen Dingen geirrt hast. Wie sich alle Menschen gelegentlich irren. Wenn du wüßtest, wie wenig Männer es auf der Welt gibt, deren Arme und Beine sich ebenso exakt und rasch bewegen, wie ihr Gehirn es ihnen befiehlt, dann würdest du verstehen, was ich meine.«
Papa stand auf. »Ich will nichts mehr davon hören«, sagte er abschließend. »Es interessiert mich nicht. Für mich bleibt das Boxen eine Art Mord!« Jetzt wurde Sam wütend.
»Wenn du so darüber denkst«, schnauzte er ihn an, »wieso hast du es dann in Ordnung gefunden, daß Mimi mich geheiratet hat? Ich war Boxer.«
Papa sah auf ihn hinunter. »Damals warst du kein Boxer mehr«, antwortete er.
»Aber ich wäre es gewesen, wenn ich mir die Kniescheibe nicht gebrochen hätte«, entgegnete Sam heftig.
Papa zuckte die Achseln. »Mimi wollte dich heiraten. Es war nicht meine Sache, ihr zu sagen, was sie tun soll. Sie konnte heiraten, wen sie wollte, ich hatte kein Recht, mich einzumischen.« Sams Gesicht wurde krebsrot. Jetzt war er wirklich wütend. »Und wann hast du das Recht, dich einzumischen, Dad? Immer dann, wenn es dir paßt? Du hast dich keineswegs daran gehalten, als Danny.«
»Hör doch auf, Sam«, sagte ich, ihn hastig unterbrechend. Diese Angelegenheit spielte zwischen meinem Vater und mir; es war sinnlos, daß auch er sich in diesen Streit einmischte. Sam wandte sich kampflustig gegen mich. »Warum soll ich schweigen?« fragte er. »An dieser Sache bin ich ebenfalls beteiligt. Bei diesem Fiasko hab ich einen Haufen Geld verloren.« Er sah Papa eigensinnig an. »Alles war okay, solange der Junge das tat, was du ihm sagtest, als er aber nicht mehr auf dich hören wollte, war's nicht mehr gut. Aber das Geld, das er von seinen Kämpfen nach Hause brachte, hast du nie verschmäht. Und die fünfhundert Dollar, die er in der Nacht, als du ihn ausgesperrt hast, für dich zurückließ, die haben mich fünftausend gekostet und den Jungen beinahe das Leben! Das hast du alles nicht gewußt, was?«
Papa war totenblaß geworden. Er sah mich fast schüchtern an. »Es ist nur in Ordnung, wenn ein Sohn auf das hört, was sein Vater ihm sagt«, behauptete er.
»In Ordnung, ja«, sagte Sam, »aber er ist nicht verpflichtet, das zu tun, was du ihm sagst. Ich werde das nie von meinen Kindern verlangen, was sie auch tun mögen: recht oder unrecht. Sie haben mich nicht gebeten, in die Welt gesetzt zu werden. Da ich sie mir gewünscht habe, bin ich verpflichtet, ihnen
beizustehen, ob ich mit ihren Wünschen übereinstimme oder nicht.«
Papa winkte aufgeregt mit der Hand. »Ich will nichts mehr hören«, sagte er, »wir werden ja sehen, wie du dich
gegebenenfalls verhalten wirst.«
»Du wirst es nie erleben, daß ich einem meiner Söhne die Türe weise«, schrie Sam.
Papa starrte ihn einen Moment an und wurde wieder sehr blaß. Dann ging er stumm aus dem Zimmer.
Ich sah zu Sam hinüber. Sein Gesicht war noch immer
zornrot. »Warum hast du das getan?« fragte ich. »Du
verschwendest nur deine Zeit.«
Sam machte eine ärgerliche Handbewegung. »Ich hab es satt, dem Alten immer wieder zuzuhören. Er versteht immer alles besser. Ich hab es satt, seine Anspielungen auf dich zu hören, was er von dir erwartet hat und welche entsetzliche Enttäuschung du für ihn bist.«
»Aber warum warst du denn so wütend?« fragte ich. »Das hat doch nichts mit dir zu tun. Das sagt er doch über mich.«
»Er weiß ganz genau, daß ich aus dir einen berühmten Boxer machen wollte«, sagte Sam, »und das ist seine Art, mit mir abzurechnen, weil du nämlich auf mich statt auf ihn gehört hast. Eines Tages werde ich ihm schon noch klarmachen, daß er sich in vielen Dingen im Irrtum befunden hat.«
Ich starrte Sam an, dann wandte ich mich ab und zündete mir eine Zigarette an. »Das wird dir nie gelingen, Sam«, sagte ich über die Schulter, »du wirst's nie erreichen, daß er in irgendeinem Punkt seine starren Ansichten ändert. Glaub mir, ich muß es wissen. Schließlich ist er mein Vater.«
Ich sah auf meine Uhr, während ich durch die kleine Werkstatt schritt. Der Mechaniker reparierte soeben einen Zigarettenautomaten.
»In zwei Stunden funktioniert er wieder, Mr. Fisher«, sagte er grinsend.
»Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte ich, »es hat keinen Sinn, ihn wieder 'rauszuschicken.«
Der Mann sah mich mit einem verstehenden Blick an. »Kommt nichts mehr 'rein?«
Ich schüttelte den Kopf. »In einer ganzen Wagenladung nicht eine einzige Zigarette.« Damit verließ ich den Raum. Das wir milde ausgedrückt. Seit nahezu sechs Monaten waren Zigaretten schwerer erhältlich als Geld, und wenn es sich herumsprach, daß irgendwo Zigaretten zu haben waren, stellten sich die Leute in riesigen Schlangen an. Wäre ich nicht so schlau gewesen und hätte erraten, daß es so kommen wird, müßte ich jetzt glatt zusperren. Aber ich hatte richtig spekuliert und mit Hilfe einiger Männer, die nicht abgeneigt waren, sich einige Extra-Dollar zu verdienen, war ich in der Lage gewesen, mir einen beträchtlichen Vorrat anzulegen. Wie ich die Situation jetzt überblickte, konnte ich nichts dabei verlieren, was auch geschah. Mir blieb immer die Möglichkeit, die Zigaretten durch meine Automaten an den Mann zu bringen. Aber sie waren Mangelware geworden, und jetzt gehörte ich zu den wenigen Leuten in dieser Branche, die ein Vorratslager besaßen. Jetzt war ich an der Reihe, Geld zu machen.
Ich steckte den Kopf in das kleine Hinterzimmer, das als Büro diente. »Hat Sam Gordon schon angerufen?« fragte ich meine Sekretärin. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Fisher.«
»Gut, sagen Sie mir Bescheid, wenn er anruft.« Ich kehrte in den Laden zurück. Ich wußte, daß Sam anrufen würde, denn er mußte anrufen, ob er nun wollte oder nicht.
Ich war recht zufrieden mit mir. Hielt dieser Warenmangel noch kurze Zeit an, dann konnte ich einen gewaltigen Schnitt machen und nach dem Krieg ins wirklich große Geschäft kommen. Es mußte mir gelingen, durch diese Unternehmung genug Geld hereinzubringen, um mir die besten Lokale der Stadt für meine Automaten zu sichern.
Ich wanderte wieder in die Werkstatt und sah dem Mechaniker eine Weile zu. Hinter ihm auf der Bank lag eine Zeitung. Ich griff mechanisch danach. »Wie steht's mit dem Krieg?« fragte ich lässig und überflog die Spalten.
»Ziemlich schlecht«, meinte der Mechaniker, »diese Nazis sind nicht so leicht kleinzukriegen.«
»Wir werden's schon schaffen«, sagte ich, ohne mich wirklich mit diesem Gedanken zu befassen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir zu überlegen, ob Sam auf den Preis eingehen würde, den ich mir vorgestellt hatte. Ich holte tief Atem. Er mußte es tun, denn andernfalls hatte er keine Ware, die er in seinen Läden verkaufen konnte. Ich überflog die Schlagzeilen. In Frankreich zogen sich die Deutschen zurück, und Pattons
Dritte Armee war ihnen hart auf den Fersen. »Wir werden's schon schaffen«, wiederholte ich. »Das hoffe ich, Mr. Fisher«, erwiderte der Mechaniker in dem Ton, in dem ein Angestellter mit seinem Boß spricht. Ich lehnte mich bequem an die Werkbank und blätterte in der Zeitung. Eine kleinere Schlagzeile erregte meine Aufmerksamkeit. »OPA behauptet, es besteht keine Zigarettenknappheit.« Ich grinste verstohlen, während ich die Spalte bis zu Ende las. Wieso rauchten so viele Leute getrocknete Blätter, wenn keine Knappheit bestand?
Die Zeitung zitierte die OPA, welche behauptete, die Schuld liege einzig und allein bei den Hamsterern. Skrupellose Leute stapelten die Zigaretten in Warenhäusern auf, um den Schwarzmarkt damit zu versorgen, anstatt sie in die normalen Verteilungskanäle fließen zu lassen.
Fast hätte ich laut herausgelacht. Ich fragte mich, was diese Maulhelden wohl tun würden, hätten sie dieselbe Chance, daran zu verdienen, wie ich. In die normalen Kanäle fließen lassen? Den Teufel würden sie tun! Sie würden genau dasselbe tun wie ich: sie kaufen, einlagern und zur richtigen Zeit zum höchsten Preis verkaufen. Derartige Chancen hat man nicht so häufig, und ich war nicht dumm genug, zum behördlich festgesetzten Preis damit herauszurücken, wenn ich das Doppelte oder noch mehr bekommen konnte. »So, Mr. Fisher«, rief der Mechaniker, »jetzt ist er wieder okay.«
»Ist recht, Gus«, sagte ich, »wenn Sie sonst nichts mehr zu tun haben, machen Sie für heute Feierabend.«
»Schönen Dank, Mr. Fisher«, sagte der Mann und grinste dankbar. Dann wandte er sich wieder dem Automaten zu. »Zu dumm, daß wir nich genug Zigaretten kriegen, um ihn wieder in Betrieb zu setzen«, sagte er.
»Ja«, bestätigte ich, »es ist wirklich zu dumm. Aber vielleicht machen wir uns unnütze Sorgen. Die OPA behauptet, daß es gar keine Zigarettenknappheit gibt.«
Der Mann nickte. »Hab's gelesen«, antwortete er erbost, »nur diese lausigen Hamsterer sind schuld! Uns ehrliche Männer lassen die nichts verdienen!«
Ich pflichtete ihm bei, er habe ganz recht. Ich sah ihm zu, wie er seinen Overall auszog, und überlegte dabei, was er wohl sagen würde, wenn er etwas von den Zigaretten wüßte, die ich eingelagert hatte. Wahrscheinlich würde er nach der Polizei schreien. Er war einer von diesen ehrlichen armen Teufeln. Ich war froh, daß ich vorsichtig genugwar, sie nicht im Geschäft, sondern in einem privaten Lagerhaus einzulagern. Auf diese Art wußte niemand, was und wieviel ich hatte.
Und jetzt meldete mir meine Sekretärin: »Mr. Gordon ist am Telefon.«
»Ich komme.« Ich ließ die Zeitung auf die Werkbank fallen und eilte in das Büro. Ich griff nach dem Hörer. Die Sekretärin ordnete Briefe auf ihrem Schreibtisch, achtete aber nicht auf mich. »Hallo, Sam«, rief ich.
»Wie steht's heut mit den Zigaretten auf dem Schwarzmarkt, Danny?« fragte er.
Ich grinste ins Telefon. »Nur ruhig, Sam, nur ruhig. Du weißt, wie empfindsam ich bin. Du verletzt meine zarte Seele.«
»Dich kann nichts und niemand verletzen«, schnauzte mich Sam scharf an, »außer wenn du blechen mußt.«
»Ist das die Art, wie du mit deinem einzigen Schwager sprichst?« frozzelte ich ihn, »besonders, wenn ich mir's angelegen sein lasse, dir einen Gefallen zu tun?«
»Blöder Quatsch! Ich kenne dich«, erwiderte Sam, »also sag schon, wieviel bekommst du heute dafür?«
»Das hängt von verschiedenen Umständen ab«, sagte ich ausweichend, »wieviel brauchst du?«
»Fünftausend Kartons«, antwortete Sam.
Ich stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist 'ne Menge
Rauchzeug«, sagte ich, »aber ich glaub, um dreieinhalb pro Stück kannst du sie haben.«
»Was?! Dreieinhalb Dollar für einen Karton?« Sams Stimme sprengte fast die Membrane.
»Was soll diese Handelei?« fragte ich leichthin, »deine Mädels bekommen für 'ne kleine Gefälligkeit einen halben Dollar oder noch mehr.« Ich wußte Bescheid. Nicht umsonst hatte ich all die Jahre für ihn gearbeitet. Diese hübschen halbnackten Dinger, die in den Nachtklubs die Bauchläden vor sich her tragen, kannten sich aus, wie man die Männer um 'nen Dollar schröpft. »Dreieinviertel«, begann Sam zu handeln, »laß mich auch leben. Wenn ich nicht wäre, dann wärest du überhaupt nicht in dem Geschäft.«
»Dreieinhalb«, sagte ich beharrlich, »ich halte zwar enorm viel von dir, Sam, und ich schulde dir noch immer die sechstausend - aber Geschäft ist Geschäft.« Das stimmte. Ich hatte Sam bisher noch nichts zurückgezahlt, weil ich das ganze eingehende Geld sofort in die Mietverträge für die neuen Lokale steckte. »Danny«, sagte Sam in flehendem Ton.
»Wohin willst du sie geliefert?« fragte ich, seinen Ton völlig ignorierend. Ich wußte, daß er sich diesen Preis leisten konnte. Sam scheffelte Geld wie nie zuvor.
Einen Moment war's ganz still. Dann sagte er mit müder Stimme: »An den gewohnten Platz.«
»Bezahlung per Nachnahme?«
»Ja«, antwortete Sam ohne jegliche Begeisterung, »und ich hoffe, daß dich die OPA erwischt, du Lump! Auf Wiedersehen.« Lächelnd legte ich den Hörer hin. Das waren rasch verdiente Zehntausend. Mich selbst kostete der Karton bloß eineinhalb Dollar. Ich griff in die Schreibtischlade und holte mein Notizbuch heraus. Ich studierte es aufmerksam. Ich hatte eine Liste aller Lokale aufgestellt, die ich mieten wollte. Dieses Geld kam mir sehr gelegen. Fast die ganze Liste meines Büchleins war bereits ausgestrichen, bald war es so weit, daß ich darangehen konnte, meine Automaten in Auftrag zu geben. Ich blickte auf den Kalender, es war bald Ende Mai. In wenigen Tagen würde ich siebenundzwanzig Jahre alt sein. Die Zeit verflog unheimlich rasch.
Ich sah wieder in mein Buch. Es wäre wohl am besten, die Bestellung der Automaten sofort in Auftrag zu geben, wenn ich mir für die Zeit, da die Fabriken mit der Lieferung begannen, eine Vorzugsstelle auf der Liste sichern wollte. Denn die ganze Sache wäre keinen Schuß Pulver wert, wenn ich die Automaten nicht rechtzeitig bekäme.
Ich betrat lächelnd unsere Wohnung. Nellie beugte sich eben über den Herd und blickte in einen Topf. Ohne sich aufzurichten, wandte sie mir ihr Gesicht zu, und ich küßte sie auf die Wange. »Was gibt's zum Dinner, Baby?« fragte ich fröhlich. »Schmorbraten mit gedämpften Zwiebeln«, antwortete sie. Ich beugte den Kopf über ihre Schulter und schnupperte die köstlichen Düfte, die aus dem Kochtopf aufstiegen. »Mensch! Das riecht aber gut!« rief ich grinsend. »Wie bringst du das bloß fertig?«
»Es ist schon so nahe zum Monatsende, daß der Metzger einige Marken vom nächsten Monat dazugenommen hat«, erklärte sie. »Ich weiß nicht, wie dir das immer gelingt«, sagte ich in bewunderndem Ton, »arbeitest den ganzen Tag in dieser stinkenden Fabrik und kommst dann nach Hause und kochst noch eine so großartige Mahlzeit.«
»Na, das sind mir aber viele Komplimente auf einmal«,
neckte sie mich, »da willst du doch bestimmt 'was.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich mein's wirklich. Wir brauchen das Geld nicht mehr, warum gibst du's denn nicht auf?«
»Ich hab auch schon daran gedacht«, sagte sie, »aber die Burschen dort brauchen uns, jetzt mehr denn je.«
»Und ich brauche dich noch viel dringender«, sagte ich rasch. »Was soll aus mir werden, wenn du dich derart aufreibst.«
»Ach, sei doch nicht töricht, Danny«, sagte sie. »Ich bin nicht töricht, aber ich mag Schmorbraten mit gedämpften weißen Zwiebelchen.«
Sie schob mich zum Badezimmer. »Geh jetzt und wasch dir die Hände«, sagte sie lachend. »Das Essen ist beinahe fertig.«
Ich ging froh ins Badezimmer. Es tat mir wohl, sie so guter Stimmung zu sehen. Es war schon lange her, seit ich sie in so guter Laune gesehen hatte.
»Soll ich dir beim Spülen helfen?« fragte ich, ohne vom Abendblatt aufzuschauen.
»Du suchst dir immer die richtige Zeit aus, mich das zu fragen«, antwortete sie trocken, »ich bin nämlich bereits fertig.« Ich knurrte etwas, lehnte mich im Sessel zurück und wandte mich den Sportnachrichten zu. Die Yankees schienen so früh in der Saison bereits ausgezeichnet in Form zu sein. Nellie kam jetzt auch ins Wohnzimmer und ließ sich mir gegenüber auf die Couch fallen. »Wie war's denn heute?« fragte sie mit müder Stimme. Ich vermochte die Genugtuung nicht ganz zu unterdrücken. »Ich hab Sam fünftausend Kartons angedreht. Das sind glatt verdiente zehntausend!«
Sie sah mich besorgt an. »Danny«, sagte sie rasch, »ich habe Angst. Was, wenn sie dich erwischen?!«
Ich zuckte die Achseln. »Mach dir keine Sorgen. Sie werden schon nicht.«
»Aber, Danny«, wendete sie ein, »ich hab in der Zeitung gelesen, daß.«
»In der Zeitung steht immer eine Menge Unsinn«, unterbrach ich sie, »sie wollen bloß auf den Busch klopfen. Außerdem: was können sie mir tun? 's ist ja nicht verboten, Zigaretten zu verkaufen.« Sie sah noch immer besorgt drein. »Das Geld ist so ein Risiko nicht wert«, sagte sie nüchtern. »Es ist jetzt schon so weit, daß ich in der Nacht nicht mehr schlafen kann.«
Ich ließ die Zeitung sinken und sah sie an. »Hättest du's lieber, wenn ich wie die übrigen armen Teufel wäre? Davon haben wir reichlich gehabt, erinnere dich nur. Hat's dir so gut behagt, nicht mal genug Geld fürs Essen zu haben? Mir nicht. Ich hab's für alle Zeiten satt bekommen.«
Sie sah mir unverwandt in die Augen. »Daraus mache ich mir nichts«, sagte sie ruhig, »ich will nur, daß du nicht wieder in Schwierigkeiten gerätst.«
»Ach, Nellie, mach dir bloß keine Sorgen um mich«, sagte ich zuversichtlich und griff wieder nach der Zeitung, »mit mir ist alles okay. Und ehe du dich's versiehst, Baby, trägst du Nerzmäntel und Diamanten.«
»Ich kann auch ohne sie leben«, sagte sie, immer noch bekümmert, »ich will nichts andres, als daß du bei mir bist.« Sie holte tief Atem, und ich sah, wie sich ihre Hände zu festen kleinen Fäusten ballten. »Schließlich will ich meinem Jungen nicht sagen müssen, daß sein Vater im Gefängnis sitzt.«
Die Zeitung fiel mir aus der Hand und zu Boden. »Was hast du da gesagt?« fragte ich atemlos.
Sie blickte mich ruhig lächelnd an, und in ihren Blick trat der geheimnisvolle Stolz der Frau, die ein Kind unter dem Herzen trägt. »Du hast schon ganz richtig verstanden«, sagte sie nüchtern, »wir werden ein Kind bekommen.«
Ich war im Bruchteil einer Sekunde von meinem Sessel aufgesprungen und stand jetzt aufgeregt vor ihr. » Wwarum hast
du mir nichts davon gesagt?« stieß ich hervor.
Ihre braunen Augen sprühten vor Vergnügen. »Ich wollte zuerst meiner Sache ganz sicher sein«, antwortete sie. Ich fiel neben ihr auf die Knie. »Warst du schon beim Arzt?« fragte ich und faßte ihre Hand.
Sie nickte. »Heute vormittag, auf dem Weg in die Fabrik.« Ich zog sie behutsam an mich und küßte sie auf die Wange. »Und du bist trotzdem noch hingegangen? Mindestens hättest du mich anrufen und mir's erzählen können!«
»Sei nicht töricht«, sagte sie lachend, »du wärest doch nicht mehr imstande gewesen, ernsthaft zu arbeiten.«
»Und ich bin wie ein verdammter Pascha dagesessen und hab's geduldet, daß du dich abrackerst.« Ich machte mir die bittersten Vorwürfe. Dann blickte ich sie wieder an. »Wann können wir's erwarten?«
»In etwa sieben Monaten«, erwiderte sie, »gegen Ende November.« Ich setzte mich zu ihr auf die Couch. Ich war maßlos glücklich, denn ich hatte in so vielen Dingen recht behalten. Irgendwie hatte ich immer gewußt, daß Nellie, sobald sie sich sicher und geborgen fühlte, wieder ein Kind würde haben wollen. Ich seufzte zufrieden. »Glücklich, Danny?« fragte sie.
Ich nickte und erinnerte mich an das erstemal, als wir es erlebt hatten. Heute sah es ganz anders aus, nun war alles bedeutend leichter. »Jetzt werden wir aber von hier wegziehen«, sagte ich. »Warum?« fragte sie, »hier ist's doch ganz nett.«
»Für ein heranwachsendes Kind ist's nicht die richtige Umgebung, besonders, wenn du dir eine bessere leisten kannst«, sagte ich zuversichtlich. »Wir wollen uns ein Heim suchen, in dem wir frische Luft und viel Sonnenschein haben.«
Sie lehnte sich in die Kissen zurück. »Solche Wohnungen sind zu teuer«, protestierte sie nur schwach, »und du weißt, wie schwer sie zu bekommen sind. Außerdem mußt du jetzt für jede
Wohnung Schleichhandelspreise bezahlen.«
»Wer hat von einer Wohnung gesprochen?« fragte ich, »ich werde ein Haus kaufen!«
»Ein Haus?!« Jetzt war es an ihr, erstaunt zu sein. »Das kommt überhaupt nicht in Frage, ist ja viel zu teuer. Ich möchte lieber hierbleiben und das Geld sparen.«
»Zum Teufel damit!« sagte ich entschieden. »Wozu mache ich denn das Geld, wenn nicht für dich und... unser Kind?«
Die drückende Augustsonne brannte mir auf Hals und Schultern und preßte mir den letzten Schweißtropfen ab, während ich mich in meinen Wagen setzte und die Zündung einschaltete. Ich drückte auf den Anlasser. Der Motor spuckte und starb ab. Ich zog den Choke heraus, dann drückte ich wieder auf den Anlasser. Der Motor hustete, begann sich langsam in Schwung zu setzen, dann spuckte er wieder und starb schließlich ab. Ich blickte auf das Armaturenbrett. Die Nadel des Amperemeter zitterte über >entladen<. Ich drückte nochmals auf den Anlasser, aber es war zwecklos, die Batterie war leer. Resigniert schaltete ich die Zündung aus und stieg aus dem Wagen. Ich starrte das Auto an, als hätte es mich verraten. Ich fluchte leise vor mich hin. Ich hatte Nellie versprochen, früher nach Hause zu kommen.
Ich sah auf meine Uhr. Halb fünf. Es würde eine Stunde dauern, bis die Batterie wieder aufgeladen oder ersetzt ist, und Nellie wäre fuchsteufelswild. Ich sperrte den Wagen ab und machte mich auf den Weg zur U-Bahn. Die nächste Station war sechs Häuserblocks weit, und ich schwitzte jämmerlich, als ich sie endlich erreichte. Ich ließ meine fünf Cent in das Drehkreuz fallen und ging auf den Bahnsteig hinunter.
Als ich ihn erreicht hatte, fühlte ich, wie durstig ich war. Ich sah mich nach einem Zeitungsstand um, da einige von ihnen auch Coca-Cola verkauften. In meiner augenblicklichen Verfassung würde mir so ein Trunk wahrhaftig guttun. Am entferntesten Ende des Bahnsteigs befand sich ein Stand und ich hatte bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, ehe ich bemerkte, daß er geschlossen war. Ich blieb enttäuscht stehen. Nichts glückte mir an diesem Nachmittag. Zuerst hatte mir der Wagen diesen üblen Streich gespielt, und jetzt konnte ich nicht einmal ein Getränk bekommen. Durch die Enttäuschung angefacht, quälte mich der Durst ärger denn je. Ich fischte in meiner Tasche nach einem Penny und warf ihn in den Kaugummiautomaten. Vielleicht würde mir ein Stück Kaugummi ein wenig helfen. Ein Zug fuhr donnernd in die Station ein, ich bestieg ihn und betrachtete müßig die übrigen Passagiere. Ihre Gesichter glänzten durch die feuchte Hitze schweißnaß und gespenstisch in dem gelben Licht.
Nach kurzer Zeit begann mich auch das zu langweilen. Ich wünschte mir, ich hätte eine Zeitung gekauft, denn alle Gesichter sahen hier in der U-Bahn völlig gleich aus: stumpf, müde und ausdruckslos. Es war ihnen allen wahrscheinlich ebenso heiß wie mir, sie litten an Durst wie ich und fühlten sich ebenso unbehaglich. Ich begann die Plakate zu studieren, die seitlich im Wagen über meinem Kopf angebracht waren. Als erstes bemerkte ich eine Coca-Cola-Reklame. Es war das bekannte Bild des hübschen lächelnden Mädels. Sie sah frisch und kühl aus, und hinter ihr sah man den üblichen blaugrünen Eisblock. In der Hand hielt sie eine Flasche Coca-Cola, und darunter standen die wohlvertrauten Worte: >DIE PAUSE, die erfrischt. < Der Mund wässerte mir. Plötzlich war der Kaugummi trocken und geschmacklos. Es ist ein teuflischer Spaß, wenn man vor Durst verschmachtet, ein solches Bild ansehen zu müssen. Es ist ein verdammter Hohn!
Der Zug war wieder stehengeblieben, und ich sah aus dem Fenster. Ein Mann warf eine Münze in den Kaugummiautomaten. Sein Gesicht war glühendrot und von der Hitze aufgedunsen. Ich hörte, wie die Münze, während der Mann am Griff zog, klirrend hinunterfiel.
Die Türen schlossen sich abermals, und ich sah wieder zu dem Coca-Cola-Plakat hinauf. Zum Teufel mit den Kaugummiautomaten, dachte ich müde; das einzige, was man bei der U-Bahn brauchen könnte, wären ein paar von meinen Getränkeautomaten. Die könnten wahrhaftig ein Bombengeschäft sein. Plötzlich traf ich mitten ins Schwarze. Ich erinnerte mich an etwas, das ein Mädel einmal zu mir gesagt hatte, als ich noch am Sodaautomaten arbeitete. Ich erinnerte mich auch an das Mädel. Sie hatte einen ganz tollen Busen, und ich erinnerte mich auch an die Art, mit der sie mir dieses Prachtstück über den Bartisch entgegenhob. »Auf der U-Bahn sollte es Stellen geben, wo man ein Coca-Cola bekommen kann, wenn man durstig ist«, hatte sie gesagt.
Ich starrte verwundert auf das Plakat. Wenn man von Idioten spricht, kriege ich bestimmt den ersten Preis! Die ganze Zeit war es hier unter meiner Nase gewesen, und ich hatte es nicht bemerkt! Der beste Platz der Welt: die New Yorker U-Bahn. Ich brauchte nichts andres zu tun, als einen Vertrag mit der Stadtverwaltung abzuschließen und war ein gemachter Mann. Ich brauchte mein ganzes Leben keinen Finger mehr zu rühren. Alle Leute im Zug waren verschwitzt und durstig. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie sie ihre Fünfcentstücke in meinen Coca-Cola-Automaten warfen. Zum Teufel, es handelte sich nicht bloß um kalte Getränke! Im Winter konnte ich sie mit heißem Kaffee bedie nen.
Ich war ganz aufgeregt. Ich konnte mir's nicht leisten, diese Sache zu überschlafen. Das war der große Wurf, nach dem ich die ganze Zeit ausgeschaut hatte! Jetzt war ich froh, daß mein Wagen gestreikt hatte. So etwas mußte erst geschehen, um einen aufzurütteln. Wollte man wirklich Geld scheffeln, dann mußte man sich unter die große Masse mischen. Wo sie ist, ist auch Geld zu verdienen. Woolworth hatte die richtige Idee: nimm die fünf Cents und die zehn Cents. Gelingt dir das, dann bist du ein gemachter Mann. Und die fünf Cents und die zehn Cents in der U-Bahn würden zusammen mehr einbringen als alle Warenhäuser der Fifth Avenue.
Ich drückte ungeduldig auf die Glocke und sah auf Nellie hinab, die in dem matten Licht der Hallenbeleuchtung neben mir stand. Ich drückte nochmals auf die Glocke und betrachtete sie lächelnd. Sie gefiel mir ausnehmend gut. Ihr leicht gewölbter Leib ließ sie nicht weniger attraktiv erscheinen.
»Ich verstehe noch immer nicht, weshalb du durchaus hierherkommen wolltest, um mit Sam zu sprechen«, sagte sie in leicht verärgertem Ton. »Das hättest du auch noch morgen tun können.« Ich hatte für ihren Unmut Verständnis. Es war heiß und sie fühlte sich sehr unbehaglich. »Vielleicht«, antwortete ich, »aber da ich die Idee hatte, ist's wahrscheinlich, daß sie auch jemand anderer bekommt, und daher duldet die Sache keinen Aufschub. Wirmüs.« Ich unterbrach mich, als sich die Türe öffnete. Mimi stand vor uns.
Als sie uns erblickte, glitt ein überraschter Ausdruck über ihr Gesicht. »Danny! Nellie! Wir haben euch gar nicht erwartet.« Sie wich lächelnd zurück, um uns eintreten zu lassen. Ich trat ungestüm in die Halle. »Ich bin gekommen, um mit Sam ein Geschäft zu besprechen«, erklärte ich und suchte ihn mit den Blicken im Wohnzimmer. »Ist er zu Hause?« Sams laute Stimme, die irgendwo aus dem Innern der Wohnung kam, gab mir die Antwort. »Wer ist's denn, Mimi?«
»Danny und Nellie«, antwortete Mimi, »Danny will dich sprechen.« Sie wandte sich wieder zu uns zurück. »Kommt herein«, lud sie uns ein, »Sam kommt in einer Minute herunter.« Wir folgten ihr ins Wohnzimmer. »Wie fühlst du dich?« fragte sie Nellie teilnehmend.
»Wunderbar«, sagte Nellie glückstrahlend. »Hätte der Arzt mir nicht gesagt, daß ich ein Kind bekomme, hätte ich's nicht für möglich gehalten, so wohl fühle ich mich.«
»Da hast du aber Glück«, sagte Mimi, »ich fühle mich immer hundeelend.« Ihre Stimmen senkten sich zu dem vertraulichen Geflüster, in das Frauen immer verfallen, wenn sie sich über ihre Schwangerschaften unterhalten.
»Wo steckt denn Sam?« fragte ich, sie ungeduldig unterbrechend. Ich hatte die Geschichte von Mimis Schwangerschaften schon unzählige Male gehört, seit Nellie ihr die große Neuigkeit mitgeteilt hatte.
»Er duscht«, erwiderte Mimi, er kann die Hitze nicht vertragen, du weißt ja, wie dick er geworden ist.«
Ich nickte und begann die Treppe hinaufzusteigen, die das Doppelappartement verband. »Ihr beiden Schönen, laßt euch nur nicht stören und quatscht ruhig weiter«, rief ich über die Schulter zurück, »ich kann mich mit Sam ja auch unterhalten, während er duscht.« Sam stand vor dem Spiegel, ein Handtuch um die Mitte geschlungen und kämmte gerade sein Haar, als ich bei ihm eintrat. »Was willst du?« fragte er mürrisch.
»Was hältst du davon, eine Million Dollar zu machen?« fragte ich enthusiastisch.
Er blickte mich durch den Spiegel an, es war ein argwöhnischer Blick. »Bin nicht interessiert«, antwortete er rasch, »jedesmal, wenn du mit 'ner neuen Idee zu mir kommst, kostet's mich Geld.«
»Hör auf mit deinen dummen Witzen«, sagte ich, »diesmal hab ich den Volltreffer erwischt! Willst du's hören oder nicht?« Er legte den Kamm zurück und drehte sich müde zu mir herum.
»Also gut«, sagte er, »schieß los, ich krieg's ja doch zu hören.« Ich grinste. »Hast du schon mal versucht, dir in der U-Bahn ein Coca-Cola zu kaufen?« fragte ich.
Er sah mich verwundert an. »Wovon, zum Teufel, sprichst du eigentlich?« fragte er, »du weißt doch, daß ich seit Jahren nicht mit der U-Bahn gefahren bin. Die ist bloß für die Arbeiter da.« Ich klappte den Deckel über den Toilettesitz und ließ mich darauf nieder. »Das ist's ja eben, Sam«, sagte ich sanft, »du solltest dich manchmal mit den Arbeitern zusammensetzen, sonst vergißt du ganz, woher du gekommen bist.« Sam war verstimmt.
»Bisher hab ich noch nichts von einer Million-Dollar-Idee gehört«, schnauzte er mich an.
»Du hast sie soeben gehört, Sam«, sagte ich, »aber der Jammer ist, du warst zu lange von den Arbeitern weg, du hörst nicht mehr richtig zu. Mir wär's beinahe auch so gegangen, wäre mein Wagen heute nicht zusammengebrochen.«
»So?! Ich bin also zu lange von den Arbeitern weg«, sagte Sam ärgerlich, »jetzt hör aber endlich mit diesem idiotischen Geschwätz auf und red schon, oder schau, daß du 'rauskommst, damit ich mich anziehn kann.«
Ich zündete mir eine Zigarette an und blies ihm den Rauch mitten ins Gesicht. »Denke doch zurück, Sam«, sagte ich gelassen, »erinnere dich an die Zeit, als du noch einer der sechs Millionen Arbeiter dieser Stadt warst, die nicht im Central Park South wohnen, und erinnere dich, wie du von der Arbeit nach Hause fuhrst. Dir war heiß, du warst müde und durstig, und wie du in die U-Bahn kamst, hast du's plötzlich bemerkt. Du bist beinahe verschmachtet nach einem Getränk, aber als du dich umsahst, gab's was zu trinken, und du mußtest warten, bis du wieder ausgestiegen warst.« Ich machte eine Pause, um Atem zu schöpfen.
»Was beabsichtigst du eigentlich? Willst du dich um den
Akademiepreis für die beste Theatervorstellung des Jahres bewerben«, fragte Sam ironisch, ehe ich fortfahren konnte.
Ich fühlte, wie ich rot wurde, denn ich hatte nicht bemerkt, wie hochdramatisch ich geworden war. »Merkst du's noch immer nicht?« fragte ich. Ich konnte nicht verstehen, wie ihm diese Sache entgehen konnte. Er schüttelte den Kopf. »Ich merke nichts«, sagte er rundheraus, »ich bin eben der CentralPark-Typ! Ich bin dumm, ich bin keiner von diesen smarten Arbeitern.«
»Würdest du dir einen Drink kaufen, wenn einer meiner Coca-Cola-Automaten auf dem Bahnsteig stünde?« fragte ich rasch. Sam begann sein Gesicht mit einem Handtuch zu frottieren. Plötzlich ließ er es sinken und starrte mich an. In seinen Augen erschien ein Schimmer von Interesse. »Sag das noch mal, Danny«, meinte er bedächtig, »und sag's langsam. Jetzt hör ich dir nämlich zu!«
Es war tatsächlich ein Riesengeschäft. Selbst Sam mußte das zugeben. Er wollte auch gleich aufs Ganze gehen. Wir gründeten eine eigene Gesellschaft, die sich ausschließlich mit dieser Sache zu befassen hatte. Sam wollte das Geld beschaffen und sich um alle Formalitäten kümmern, und ich sollte das Geschäft führen. Es mußten eine Unmenge Formalitäten erledigt werden, mehr als ich je für möglich gehalten hatte. Seit ich damit befaßt war, gab es soviel Arbeit, daß ich Zep bei mir anstellte, um das laufende Geschäft abzuwickeln, während ich mich der neuen Gesellschaft widmete. Coca-Cola-Automaten in der U-Bahn! Wer hätte gedacht, daß eine so einfache Sache soviel Zeit und Mühe kosten würde? Aber es gab so viele Leute, die man aufsuchen mußte - Kommunalbeamte, Direktoren der U-Bahn und der Transportgesellschaft, Ingenieure, Beamte des Gesundheitswesens. Von so vielen Stellen mußten Genehmigungen erlangt werden, daß ich zeitweise völlig verwirrt war. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, blieben, als wir all dies unter Dach und Fach hatten, auch noch die Politiker. Man mußte für ein solches Bombengeschäft Verbindungen haben. Das war auch der Grund, weshalb ich in allererster Linie zu Sam gegangen war. Sam hatte die nötigen Verbindungen, aber selbst bei ihm hatte die Sache einen Haken: Mario Lombardi, ein stilles kleines Männchen, das sich einen eigenen Presseagenten hielt, um seinen Namen aus den Zeitungsberichten fernzuhalten und nicht, um ihn hineinzubringen. Allerdings gelangte sein Name dennoch in die Blätter. Man konnte aus einem Mann seiner Bedeutung kein Geheimnis machen. Er verfügte über zu große Macht. Ich fand heraus, daß man in der Stadt New York nichts wirklich Großzügiges unternehmen konnte, wenn Mario Lombardi nicht sein Okay dazu gab.
Und das trotz aller ehrlichen Bemühungen der Stadtregierung. Es gab aber nur einen einzigen Weg, der Sam offenstand, um zu Mario Lombardi vorzudringen: über Maxie Fields.
Ich wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben, zu ihm zu gelangen - jeden andern Weg, nur nicht über Maxie Fields. Aber Sam versicherte mir, es gäbe keinen andern, sonst hätte er selbst ihn gewählt. Wir hatten uns also mit Maxie Fields in Verbindung gesetzt und saßen jetzt im Wohnzimmer-Büro von Mario Lombardis Appartement in der oberen Park Avenue, und es sah so aus, als müßten wir im nächsten Augenblick zwei weitere Partner in unsre Gesellschaft aufnehmen.
Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück, und der Rauch meiner Zigarette stieg in leichten Wölkchen empor. Ich sah etwas skeptisch zu Lombardi hinüber, der hinter seinem
Schreibtisch saß. »Wir werden Sie also mit hineinnehmen, Mr. Lombardi«, sagte ich lässig. »Aber welche Garantie bekommen wir, daß der Vertrag, den wir schließen, auch nach dem Krieg Geltung hat? Schließlich ist Politik in dieser Stadt eine heikle Sache. Jetzt ist jemand drin - und im nächsten Moment draußen.« Lombardi klopfte die Asche seiner Zigarre behutsam in einen Aschenbecher, wobei der riesige Diamant an seinem Finger gewaltig blitzte und funkelte. Er erwiderte meinen Blick unbewegt. »Mario Lombardi macht keine Versprechungen, die er nicht halten kann, Danny«, antwortete er gelassen, »mir ist's egal, wer nach dem Krieg in dieser Stadt regiert. Es ist meine Stadt, und ich werde stets ein Wort mitzureden haben.«
»Das stimmt, Danny.« In Maxie Fields' dröhnender Stimme war ein kriecherischer Unterton, der mir Übelkeit erregte. »In dieser Stadt verdient man nicht - außer Mario gibt sein Okay.«
Ich sah Maxie kalt an. Ich konnte ihn noch immer nicht leiden, es war etwas an ihm, das mich immer wieder reizte. Sams Gesicht war undurchdringlich, er nickte bloß zustimmend. Da es für Sam okay war, wandte ich mich wieder an Lombardi. Der kleine dunkelhäutige Mann, sehr gepflegt in seinem konservativen grauen Anzug, schien sich mehr für seine Fingernägel zu interessieren als für unser Gespräch. Ich seufzte. Soweit konnten wir gehen, der Rest blieb dem Schicksal überlassen. Ich hatte bereits mit allen möglichen Politikern konferiert, und alle hatten mir versichert, daß Lombardi der einzige Mann war, der mächtig genug ist, um ein Geschäft dieses Umfangs zu schaukeln. Daher mußten wir ihn mit hineinnehmen. »Okay, Mario«, sagte ich schließlich - einen Partner spricht man nie mit dem Familiennamen an -, »es gilt, Sie erhalten zehn Prozent vom Reingewinn.«
Lombardi erhob sich und reichte mir die Hand. »Sie werden es nicht bereuen, Danny«, sagte er, »wann immer Sie etwas brauchen kommen Sie ruhig zu mir.«
Ich ergriff seine Hand. »Was es auch sei?« fragte ich lächelnd. Lombardi nickte gleichfalls lächelnd, und seine Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht überraschend weiß auf. »Das habe ich damit sagen wollen.«
»Dann«, sagte ich rasch, »verschaffen Sie mir eine Wohnung. Meine Frau hat sich die Füße wundgelaufen, um eine zu finden, und dabei ist sie bereits im sechsten Monat.« Nellie wollte mir noch immer nicht erlauben, mich für einen Hauskauf von unsern Ersparnissen zu trennen.
Lombardis Lächeln verwandelte sich in ein schiefes Grinsen. Er zuckte ausdrucksvoll mit den Achseln, sah sich im Zimmer um, und ein Anflug von verlegenem Humor trat in seine dunklen Augen. »Mit einer von der OPA gebilligten Durchschnittsmiete?« Ich nickte. »Etwa fünfundsiebzig bis hundert Dollar im Monat.« Das Grinsen breitete sich jetzt über sein ganzes Gesicht aus. Er hob die Hände mit einer ausdrucksvollen Geste. »Sehen Sie, Danny«, sagte er, »wenn Sie mich um etwas so Geringfügiges bitten, bin ich völlig ratlos. Heute vormittag habe ich mit einem Mann konferiert und erhielt von ihm das Okay für den Richter; ich hatte eine Konferenz mit andern Leuten und mit ihnen ein Geschäft für den Bau eines riesigen Gebäudekomplexes abgeschlossen; ich ging mit dem Bürgermeister zum Lunch und hatte bis zum frühen Nachmittag eine Anleihe von einer Million Dollar vermittelt. Aber Sie kommen daher und wollen mich um etwas so Einfaches bitten, und das kann ich nicht machen. Sagen Sie Ihrer Frau, Danny, sie soll sich nicht weiter den Kopf zerbrechen. Gehen Sie doch lieber und kaufen Sie sich ein Haus!«
»Fährst du an meinem Haus vorbei, Danny?« fragte Maxie, als wir auf die Straße traten.
Ich nickte und wandte mich an Sam. »Sehe ich dich morgen?«
»Natürlich«, erwiderte Sam, während er in sein gelbes Cadillac-Kabriolett stieg, »am Vormittag.«
Wir blickten Sam nach, als er davonfuhr, dann drehten wir uns um und gingen zu meinem Wagen. Ich war sehr schweigsam und rechnete. Zehn Prozent bekam Lombardi, und fünf Prozent Maxie Fields für seine Vermittlung. Seine Stimme unterbrach meinen Gedankengang.
»Dieser Sam ist ein gerissener Bursche mit einem ungemein hellen Kopf«, sagte er und zwängte seinen gewichtigen Körper neben mich auf den Sitz.
Ich starrte ihn überrascht an, denn Fields sagte zum erstenmal ein anerkennendes Wort über jemanden. »Ja«, antwortete ich, schaltete den Gang ein und lenkte den Wagen in den Verkehrsstrom. »Er hat sich da ein verflucht großes Unternehmen aufgebaut«, fuhr Maxie in schmeichelnden Tönen fort, »und dabei wächst es beständig weiter.«
Ich überlegte, worauf er hinzielte und beschränkte mich auf eine nichtssagende Antwort. »Er arbeitet viel«, sagte ich, »er schuftet eben die ganze Zeit.«
»Das stimmt«, gab Fields bereitwillig zu. Zu bereitwillig! »Ich habe gehört, daß auch du ziemlich tief in dem Trubel steckst. Du arbeitest wohl eng zusammen mit ihm.«
Ich sah ihn verstohlen an. Maxies Gesicht war glatt, er sah unbeteiligt aus dem Wagenfenster. »Ja«, antwortete ich. »Falls ihm etwas zustoßen sollte, müßtest du, schon wegen deiner Schwester, wohl alles übernehmen?« fuhr Maxie fort. Einen Augenblick war ich zu überrascht, um auch nur denken zu können. »Nun ja«, stotterte ich, »ich... ich glaube, das müßte ich schon.« Wir hielten vor einer Straßenkreuzung, und ich fühlte, daß Maxie mich scharf beobachtete. »Solltest du in dieser Richtung irgendeinen Ehrgeiz hegen, Danny«, schlug er nonchalant vor, »warum sagst mir's nich einfach? Vielleicht kann ich dir in dieser Beziehung nützlich sein.«
Mir wurde entsetzlich schlecht. Ich umklammerte das Steuerrad so fest, daß sich meine Knöchel schneeweiß vom
Handrücken abzeichneten. Es gelang mir aber, meine Stimme ebenso leicht klingen zu lassen, wie seine gewesen war. »Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe, Maxie. Ich verdien recht schön.«
»Na, der Schwarzhandel mit Zigaretten wird auch nicht ewig dauern, mein Junge«, sagte er in gutmütigherzlichem Ton, »dafür kann der Krieg noch lange dauern. Falls du dir's überlegen solltest - dann denk an das, was ich gesagt hab.«
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Ich konnte es kaum erwarten, daß er den Wagen verließ. Es war schlimm genug, daß ich mit ihm Geschäfte machen mußte; ich konnte es aber nicht ertragen, ihn länger zu sehen, als unbedingt nötig war.
Als ich die Wohnung leise aufschloß, hörte ich das Summen eines elektrischen Ventilators aus dem Schlafzimmer und trat auf Zehenspitzen ein. Durch die offenstehende Tür konnte ich auf dem Bett eine Gestalt erkennen.
Nellie schlief, ihr Kopf ruhte auf einem Arm, und der sanfte Luftzug des Ventilators bewegte die leichte Decke. Ich blickte sie einen Moment an, dann drehte ich mich um und verließ leise das Zimmer. Doch ihre Stimme rief mich zurück. »Danny?« Ich wandte mich wieder um. Ihre dunklen Augen ruhten auf mir. »Ich war so schrecklich müde«, sagte sie mit ganz kleiner Stimme, »ich bin eingeschlafen.«
Ich setzte mich auf den Bettrand. »Ich wollte dich nicht aufwecken.«
»Du hast mich nicht aufgeweckt«, widersprach sie, »ich muß sowieso das Essen herrichten. Ich bin den ganzen Tag herumgelaufen, um eine Wohnung zu finden, 's ist mir aber nicht gelungen. Nachher war ich derart erschöpft, daß ich mich hinlegen mußte.« Ich lächelte nachsichtig. »Warum läßt du's denn nicht sein? Komm, Liebling, wir wollen uns ein Haus kaufen. Selbst ein Mario Lombardi kann uns keine Wohnung verschaffen.«
»Ach, Danny«, protestierte sie, »es kostet doch soviel Geld.« Sie setzte sich im Bett auf.
Ich lehnte mich zu ihr hinüber. »Mach dir wegen des Geldes keine Sorgen mehr, Herzchen«, sagte ich leise, »Lombardi hat uns heute für das Riesengeschäft mit der U-Bahn sein Okay gegeben. Jetzt können wir's uns wirklich leisten!«
Sie blickte mich forschend an. »Bist du ganz sicher, Danny, daß du dir's wirklich wünschst?«
Ich nickte. »Ich habe mir mein ganzes Leben lang ein eigenes Haus gewünscht.« Während ich das sagte, kam mir zu Bewußtsein, wie wahr meine Worte waren. Ich war nie wieder so glücklich gewesen wie damals in meinem eigenen Haus. »Das wünsche ich mir wirklich«, fügte ich hinzu.
Nellie holte plötzlich tief Atem, dann schlang sie ihre Arme um meinen Hals. »Okay, Danny«, flüsterte sie mir ins Ohr, »wenn du dir's so sehr wünschst, dann wollen wir's kaufen.«
»Die Bäume sind jetzt alle groß geworden«, dachte ich, während ich den Wagen in die Straße lenkte. Nellie sah schweigend aus dem Fenster, dadurch konnte ich, während ich den Wagen langsam die Straße entlangrollen ließ, ihrer Miene nicht entnehmen, was sie dachte.
Nahezu zwanzig Jahre hatten viel verändert. Die Häuser des Blocks waren richtige Heime geworden. Etwas älter zwar und verwitterter, und einige von ihnen müßten frisch gestrichen werden. Aber eines hatte sich nicht verändert. Trotz aller individuellen Unterschiede glich ein Haus im wesentlichen noch immer dem andern. Ich lenkte den Wagen dicht an den
Randstein vor dem Haus, stellte den Motor ab und wandte mich erwartungsvoll Nellie zu. Sie schwieg noch immer und hielt den Blick auf das Haus gerichtet. Ich sah mir's gleichfalls an.
Eine beglückende Wärme stieg in mir auf und eine so überwältigende Genugtuung, wie ich sie lange Zeit nicht gefühlt hatte. Jetzt würde es tatsächlich mein Haus sein. »Der Agent hat mir gesagt, daß er drinnen auf uns warten wird«, sagte ich. Nellies Augen waren sehr dunkel und nachdenklich. »Danny«, sagte sie zögernd, »vielleicht sollten wir doch noch etwas länger warten, den Kauf nicht so überstürzen, es könnte sich noch was andres ergeben.«
»Was denn?« fragte ich skeptisch, »wir haben eineinhalb Monate damit zugebracht, uns umzuschauen. Dennoch haben wir nichts Passendes gefunden, das uns gefiel. Jetzt ist's bereits Mitte September und wenn wir ein Haus haben wollen, um am ersten Oktober einzuziehen, müssen wir uns endlich entschließen.«
»Wir brauchten's doch nicht so zu überstürzen«, sagte sie, »wir könnten doch noch warten, bis das Baby da ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich will alles bereit haben.« Damit öffnete ich die Türe. »Komm, gehn wir hinein.« Sie stieg schwerfällig aus dem Wagen und blieb auf dem Gehsteig stehen. Sie streckte die Hand aus und berührte meinen Arm. Ihre Augen drückten Besorgnis aus und sie fröstelte leicht. Ich sah sie ängstlich an, denn es lag kein Grund vor zu frösteln. Es war beinahe heiß, die Sonne brannte auf uns herab. »Was ist denn mit dir los?« fragte ich, »fühlst du dich nicht wohl?« Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist ganz gut.«
»Wieso fröstelst du dann?« fragte ich, »ist dir denn kalt?«
»Nein«, sagte sie leise, »mich überkam in diesem Augenblick nur ein entsetzliches Vorgefühl. Ich habe Angst.« Ich lächelte. »Wovor brauchst du denn Angst zu haben?« Sie wandte sich wieder dem Haus zu und betrachtete es. »Ich hatte plötzlich
Angst um dich, Danny. Ich hatte das Gefühl, daß etwas
Schreckliches geschehen würde.«
Jetzt lachte ich hellauf. »Was soll denn geschehen?« fragte
ich, »unsre Zukunft ist gesichert. Jetzt kann nichts mehr
schiefgehen.« Sie hielt meinen Arm krampfhaft fest. »Bedeutet dir dieses Haus sehr viel, Danny?« fragte sie und ließ es nicht aus den Augen. »Ja«, sagte ich, »es war mir von Anfang an bestimmt, und war doch niemals wirklich mein. Jetzt aber wird's wirklich mir gehören.« Sie blickte mich mit plötzlich erwachtem tiefem Verständnis an. »Und du hast dein ganzes Leben versucht, mit dem Schicksal quitt zu werden?«
Ich verstand sie nicht. »Was meinst du damit?«
»Du hast die ganze Zeit nur das hier gewollt - mehr als alles andre«, erklärte sie.
Ich dachte einen Moment nach. Vielleicht hatte sie recht, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Es war ein reiner Zufall gewesen, daß mein altes Haus gerade zu der Zeit verkäuflich war, als wir eines suchten. Und wie die Dinge lagen, waren eben keine neuen Häuser erhältlich. Es ist sonderbar, wie der Zufall manchmal mitspielt. Doch daß das Haus gerade jetzt zum Verkauf stand, fand ich nur recht und billig.
Ohne zu antworten, wollte ich auf das Haus zugehen. Nellie hielt mich jedoch am Arm fest. »Danny, vielleicht sollten wir das Haus lieber nicht kaufen«, sagte sie eindringlich, »vielleicht war es vom Schicksal so bestimmt, daß du nicht mehr darin leben sollst. Ich habe das Gefühl, daß wir das Schicksal herausfordern, wenn du hierher zurückkehrst.«
Ich lächelte überlegen. Schwangere Frauen werden ständig von bösen Vorahnungen gequält und ergehen sich oft in düsteren Prophezeiungen. Dieser Zustand scheint ihre Vorhersagen immer in eine falsche Richtung zu lenken. »Sei doch nicht töricht, Nellie«, sagte ich, »wir wollen doch nichts anderes, als ein Haus kaufen.« Sie wollte auf die Haustüre zugehen, aber ich führte sie über den Fahrweg, und wir gingen zwischen den beiden Häusern hindurch, nach rückwärts in den Garten, denn dort hatte sich gleichfalls viel verändert. Als wir noch hier gewohnt hatten, war der Hinterhof kahl gewesen, aber jetzt war er ganz verwandelt und mit Bäumen, Sträuchern und Blumen bepflanzt. Ich suchte eine bestimmte Ecke in der Nähe des Zauns und gedachte der Nacht, in der ich mit Rexie hierhergekommen war, um sie zu begraben. Ein mächtiger Rosenstrauch bedeckte die Stelle. Ich frage mich, ob man ihre Ruhe gestört hatte.
»Mr. Fisher!« rief eine Stimme.
Ich drehte mich um. Der Häusermakler kam hinter uns den Fahrweg entlang. Ich winkte ihm.
»Sind Sie jetzt bereit, sich das Haus anzusehen, Mr. Fisher?« fragte er. Ich nickte. Ich war bereit.
Der Holzboden knackte gemütlich unter meinen Füßen. Es klang wie ein Willkommensgruß. »Hallo, Danny Fisher«, schien mir das Haus leise zuzuflüstern. Die bisher durch alle Fenster strahlende Sonne verschwand hinter einer Wolke, und das Zimmer wurde dunkel.
Ich blieb auf der Schwelle meines alten Zimmers stehen. Nellie und der Agent befanden sich in einem anderen Teil des Hauses. Ich trat leise in das Zimmer und schloß hinter mir die Türe. Das hatte ich schon einmal, vor langer Zeit, getan. Ich hatte mich damals auf den Boden geworfen und meine glühenden Wangen auf das kühle Holz gepreßt. Heute war ich zu erwachsen dazu, aber eines Tages würde es mein Sohn an meiner Stelle tun. »Es ist sehr lange her, Danny«, schien mir das Zimmer zuzuflüstern. Ja, es ist eine sehr lange Zeit gewesen. Ich betrachtete den Boden, aber es war kein dunkler Fleck mehr zu sehen, wo Rexie zu liegen pflegte. Vieles Scheuern und viel Politur hatten ihn verschwinden lassen. Auch der
Originalbewurf der Wände war unter vielen Farbschichten verschwunden, ebenso wie die Farbe der Decke unter vielen Kalkschichten. Das Zimmer erschien mir wesentlich kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Vielleicht deshalb, weil ich es aus einer Zeit im Gedächtnis behalten hatte, in der ich selbst noch klein war und alles aus meiner eigenen Perspektive sah. Ich schritt durch das Zimmer und öffnete eines der Fenster. Instinktiv sah ich über den Fahrweg hinweg zum andern Haus hinüber. Vor vielen Jahren hatte dort drüben in dem Zimmer ein Mädchen gewohnt. Ich bemühte mich, auf ihren Namen zu kommen, es gelang mir aber nicht, ich erinnerte mich bloß daran, wie sie ausgesehen hatte, wenn sie im Licht der elektrischen Beleuchtung stand. Als ich in die gegenüberliegenden Fenster blickte, glaubte ich wieder ihre verschleierte Stimme zu hören, die mich rief. Doch sie waren leer und die Jalousien herabgelassen.
Ich wandte mich wieder in das Zimmer zurück. Es schien von Eigenleben erfüllt. »Ich habe dich vermißt, Danny«, flüsterte es, »bist du jetzt für immer nach Hause zurückgekehrt? Ohne dich war's schrecklich einsam.«
Ich war sehr müde und lehnte mich an die Fensterbank. Auch ich war einsam gewesen. Ich hatte das Haus stärker vermißt, als ich dachte. Jetzt wußte ich, was Nellie gemeint hatte. In diesem Haus gab es eine Verheißung, die, wie ich ahnte, in Erfüllung gehen würde. Sie war überall aufgezeichnet, wohin ich mich auch wendete. »Ich werde deinen Sohn behüten, Danny, wie ich dich behütet habe. Ich werde ihm dabei helfen, groß und stark zu werden, glücklich und zufrieden, weise und verständig. Ich werde ihn lieben, wie ich dich liebe, Danny, wenn du gekommen bist, um hier zu bleiben.« Von der Halle her war ein Geräusch zu vernehmen und gleich darauf öffnete sich die Tür. Nellie und der Agent traten ins Zimmer. Sie warf mir einen Blick zu und kam auf mich zugeeilt. »Danny, fühlst du dich ganz wohl?« Ihre Stimme klang in dem leeren Zimmer herzlich
und warm.
Langsam fand ich in die Wirklichkeit zurück. Tiefe Besorgnis stand in ihren Augen, als sie zu mir aufsah.
»Ganz wohl?« wiederholte ich ihre Frage, »natürlich fühle ich mich ganz wohl.«
»Aber du bist so blaß«, sagte sie.
In diesem Augenblick kam die Sonne wieder hinter den Wolken hervor. »Ach, das ist bloß die Beleuchtung«, sagte ich lachend und fühlte mich auch wieder ganz normal.
Sie wandte die Augen nicht von mir ab. »Bist du noch immer überzeugt, Danny, das Richtige zu tun?« fragte sie besorgt. »Gibt's keine quälenden Gespenster?«
Ich sah sie überrascht an. Ich glaubte nicht an Gespenster. »Keine Gespenster«, sagte ich leise.
Der Häusermakler sah mich neugierig an. »Ihre Frau erzählte mir, daß Sie früher hier gewohnt haben, Mr. Fisher.« Ich nickte.
Da grinste er übers ganze Gesicht. »Nun, in dem Fall brauche ich Ihnen ja nichts über das Haus zu erzählen, und wie gut es gebaut ist. Die Häuser, die in letzterer Zeit gebaut wurden, sind nicht annähernd so solide konstruiert. Was halten Sie davon, Mrs. Fisher?« Sie blickte ihn einen Moment an, dann wandte sie sich wieder an mich. »Was glaubst du, Danny?«
Ich holte tief Atem, dann sah ich mich um. Ich wußte, was ich sagen würde. Ich hatte es von Anfang an gewußt. Und die Geräusche in diesem Haus ließen mich vermuten, daß es die Antwort gleichfalls kannte.
»Ich glaube, wir werden es nehmen«, sagte ich. »Wollen Sie dafür sorgen, daß die Maler morgen beginnen, damit wir am ersten Oktober hier einziehen können.«
Ich erhob mich überrascht, als Sam so unerwartet in mein Büro trat, denn er kam zum erstenmal zu mir heraus. »Sam!« rief ich, und man hörte die Überraschung aus meiner Stimme, »was verschafft mir diese hohe Ehre?«
Er warf einen ausdrucksvollen Blick auf meine Sekretärin, die in dem kleinen Büro neben mir saß.
Ich schickte sie hinaus und wandte mich wieder Sam zu. »Was hast du also auf dem Herzen?«
Er ließ sich in den Sessel sinken, den das Mädchen soeben verlassen hatte. »Ich hab's satt, dich jede Woche wegen der Zigaretten anrufen zu müssen. Ich möchte mit dir ein festes Abkommen treffen.« Ich lächelte erleichtert, denn ich hatte einen Moment gefürchtet, er sei gekommen, um sich über die Aufträge zu beschweren, die ich für die Getränkeautomaten der U-Bahn vergeben hatte. Ich hatte über sein Geld so großzügig verfügt, als wär's mein eigenes. »Du müßtest es doch besser wissen, Sam«, sagte ich vorwurfsvoll, »kein Mensch kann derzeit etwas garantieren. Das Zeug ist viel zu schwer zu bekommen.«
»Du bekommst es«, sagte er zuversichtlich. »Ich wollt, ich wär auch so sicher«, sagte ich rasch. »Ich brauch zweihundert Kisten in der Woche«, sagte er, und seine Stimme wurde hart und kalt, »sieh, daß du sie auftreibst!«
»Und wenn's mir nicht gelingt?« fragte ich herausfordernd. Ich konnte sie natürlich ohne weiteres liefern, ich wollte aber herausbekommen, weshalb Sam so selbstsicher war.
Erzog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und warf es auf den Schreibtisch. »Sieh dir das mal an«, sagte er. Ich griff danach und öffnete es. Es war eine Kopie meiner Lagerhausquittungen. Das bedeutete, daß er genau wußte, und
zwar bis auf die letzte Packung, wo ich meine Zigaretten aufgestapelt hatte. Ich blickte ihn erstaunt an. »Woher hast du das?« fragte ich. Er lächelte selbstzufrieden. »Man hat so seine Quellen«, sagte er ausweichend. »Wie steht's also? Bekomm ich meine Zigaretten?«
»Setzen wir den Fall, ich sage dennoch nein?« fragte ich. »Die OPA wäre über eine Kopie dieser Quittungen bestimmt hocherfreut«, sagte er grinsend.
»Das könntest du mir doch nicht antun, Sam«, sagte ich in empörtem Ton.
Er grinste noch immer. »Natürlich nicht, Danny«, erwiderte er gelassen, »ebensowenig, wie du Mimi von der andern Sache was erzählen würdest.«
Es gelang mir, einen verletzten, tief enttäuschten Ausdruck auf mein Gesicht zu zaubern. »Ich hätte mir nie träumen lassen, Sam, daß du etwas Derartiges tun könntest«, sagte ich traurig und unterdrückte den unwiderstehlichen Zwang zu lachen. Sam sah mich triumphierend an. »Du hast's scheint's gar nich gern, wenn's mal anders 'rum ist, was, du kleiner erpresserischer Lump?«
Das genügte. Ich konnte das Lachen beim besten Willen nicht mehr unterdrücken. Es schallte laut in dem kleinen Büro. Sam starrte mich überrascht an.
»Was ist denn mit dir los, Danny?« fragte er mürrisch, »bist du verrückt geworden?«
Ich sah ihn durch die Tränen an, die mir in die Augen getreten waren. Schließlich kam ich wieder zu Atem. »Ich hab mir bloß gedacht, mein geliebter Schwager«, sagte ich, noch immer keuchend, »was für 'ne nette Art das von zwei Kompagnons ist, miteinander zu verhandeln.«
Nun merkte auch er den Humor der Sache und begann gleichfalls zu lachen.
Nach einer Weile traten wir in den Laden hinaus, und ich führte ihn herum. Was er zu sehen bekam, schien ihm die Augen doch ein wenig zu öffnen. Bisher war ihm nämlich nicht klargeworden, daß sich dieses Geschäft zu einem so großen Unternehmen entwickelt hatte. Danach kehrten wir ins Büro zurück, und ich zeigte ihm die Liste der Lokale, die ich mir bereits gesichert hatte, und bemerkte, daß sich ein neuer Respekt für mich in seinen Augen spiegelte. »Du verdienst hier beinahe soviel, wie wir an dem Geschäft mit der U-Bahn verdienen«, sagte er überrascht.
»Mehr«, sagte ich rasch, »wenn ich das zu Ende gebracht haben werde, bin ich doppelt so groß.« Ich bot ihm eine Zigarette an und reichte ihm Feuer. »Geschenk des Hauses«, sagte ich. Er dachte noch immer an das, was er soeben von mir erfahren hatte. »Jetzt verstehe ich, weshalb du immer so knapp bei Kasse bist«, sagte er. Ich nickte. »Ich hab's ebenso rasch wieder investiert, wie's eingegangen ist.«
Er blickte mich durch eine Rauchwolke an, die aus seinen Nasenlöchern quoll. »Wie wir's, wenn wir beide Unternehmen zusammenwerfen würden, mein Junge?« schlug er vor. »Für dich war's bedeutend leichter.«
Ich spielte den Vorsichtigen. »Du wirfst deine Unternehmungen doch dann auch hinein, Sam, nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich mein nur das hier. Ich zahl dir für die Hälfte 'nen anständigen Preis und stell dafür den Zaster, genauso wie beim Geschäft mit der U-Bahn.« Jetzt war ich an der Reihe, nein zu sagen. »Das wir mir zu groß, ich könnte es nicht allein machen, Sam«, sagte ich, »aber dies hier gehört mir allein. Ich hab's Steinchen für Steinchen aufgebaut und ich will's auch behalten.« Er schwieg einen Moment. Ich kannte diese Miene: er überlegte, ob er mich nicht doch 'reinlegen könnte. Als er schließlich wieder zu mir aufsah, konnte ich seinem Ausdruck entnehmen, daß er's aufgegeben hatte. »Okay, Danny«, sagte er freundlich, »solltest du dir's je überlegen, dann brauchst du's bloß zu sagen. Übrigens«, fragte er, während er sich zum Gehen wandte, »wie steht's mit dem Haus?«
»Okay. Wir ziehen nächste Woche Dienstag ein, wie wir's uns vorgenommen haben.«
Er trat nochmals an den Schreibtisch. »Du hättest das Gesicht deines Alten sehen sollen, als ihm Mimi davon erzählte.«
»Was hat er gesagt?« fragte ich und konnte mein Interesse nicht verbergen.
»Zuerst wollte er's nicht glauben, als Mimi aber schwor, daß es wahr ist, konnte er kaum sprechen. Und deine Mutter fing an zu weinen.« Das war mir rätselhaft. »Was gibt's dabei zu weinen?«
»Sie sagte immer wieder zu deinem Vater, daß du dir das die ganze Zeit gewünscht hast, und er wollte es nicht glauben. Er konnte nicht sprechen, sondern kaute bloß an seiner Zigarre, und nach einer Weile ging er zum Fenster und sah hinaus. Während des ganzen Dinners war er sehr still und gegen Ende der Mahlzeit sah er Mimi an, und dann sagte er etwas sehr Komisches.« Sam unterbrach sich, um Atem zu schöpfen und sah mich an. Ich schwieg.
»Er sagte: >Danny kehrt also heim. < Und deine Mutter sagte: >Das hat er sich die ganze Zeit gewünscht - heimzukehren. Und du hast's ihm nicht erlaubte Darauf sagte dein Vater: >Ich bin jetzt ein alter Mann, und für mich spielt's keine Rolle mehr. Meine Fehler nehme ich mit mir ins Grab. Aber ich bin glücklich, daß Danny den Weg zurückgefunden hat.< Dann standen sie auf, und dein Vater sagte, er sei müde, und sie gingen nach Hause.«
Meine Zigarette hatte mir beinahe die Finger verbrannt, und ich ließ sie jetzt in den Aschenbecher fallen.
»Weißt du, mein Junge«, sagte er leise, »ich glaub, wenn du zu ihm gingest, wäre der Alte jetzt bereit, sich mit dir auszusöhnen.« Ich atmete tief ein, dann schüttelte ich den Kopf.
»Es ist nicht das allein, Sam«, erwiderte ich, »er muß zuerst alles mit Nellie in Ordnung bringen. Er hat zu viel Schlimmes gesagt und getan. Das muß er zuerst aus der Welt schaffen.«
»Das wird er bestimmt, Danny, wenn du ihm dazu Gelegenheit gibst.«
»Er muß es aus eigenem Antrieb tun«, sagte ich, »ich kann's ihm nicht abnehmen.«
»Du weißt doch, wie er ist, mein Junge«, sagte Sam herzlich, »er ist stolz und eigensinnig und alt. Gott weiß, wieviel Zeit ihm noch bleibt, bis.«
»Sam, ich bin sein Sohn«, unterbrach ich ihn müde, »du brauchst mir nichts über ihn zu erzählen. Ich kenne ihn besser als du. Und ich hab viele seiner Eigenschaften. Auch ich bin stolz und eigensinnig. Und irgendwie bin auch ich alt, sogar älter als er. Ich hab durch sein Verhalten viel durchmachen müssen, und dadurch bin ich älter. Ich hab mein Kind begraben, Sam. Vickie starb in meinen Armen, weil wir niemanden hatten, an den wir uns um Hilfe wenden konnten. Glaubst du, man kann das alles durchmachen, ohne zu altern? Glaubst du, man kann so etwas vergessen? Nein«, antwortete ich mir selbst, »das kann man nicht. Du kannst's nie vergessen, und du kannst nie vergessen, daß alles damit begann, daß dir dein eigener Vater die Türe verschloß.« Ich schüttelte den Kopf. »Er muß, genauso wie ich, ganz allein damit fertig werden. Dann wird's vielleicht wieder möglich sein, eine gemeinsame Ebene zu finden, damit wir einander wieder nahekommen.«
Ich ließ mich in meinen Sessel fallen und zündete mir eine frische Zigarette an. Ich war grenzenlos müde. Wenn die ganze Aufregung mit dem Umzug und dem Geschäft etwas abgeklungen ist und Nellie ihr Kind zur Welt gebracht hat, werden wir für einige Zeit verreisen. Wir brauchten beide dringend eine Erholung. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein. Ich blickte wieder zu Sam auf und wechselte das Thema. »Wohin soll ich dir die Zigaretten zustellen lassen, Sam?« Er antwortete nicht gleich, sondern starrte mich einen Moment an. »An den üblichen Ort, Danny.«
»Du bekommst sie morgen vormittag«, sagte ich. Er starrte mich noch immer an. Nach ein paar Sekunden sagte er: »Okay, Danny«, und schritt zur Türe hinaus. Ich blieb noch eine Weile ruhig sitzen und dachte nach. Dann erhob ich mich und trat an die Türe des kleinen Büros. »Zep!« rief ich in den Laden hinaus.
Er kam sofort aus der Werkstatt gelaufen. »Ja, Danny?« Die Zeit war an keinem von uns spurlos vorbeigegangen. Zep war bloß das kurze Stück gelaufen und dennoch außer Atem. »Häng dich ans andre Telefon, Zep, und versuch in einem anderen Lagerhaus Platz für uns aufzutreiben«, sagte ich, »heut nacht müssen wir alles wegschaffen. Sam hat sämtliche Verstecke herausbekommen.«
Er nickte, setzte sich unverzüglich ans Telefon und begann zu wählen. Ich hatte ihn gern. Er war okay. Er wußte genug, um keine Zeit mit Fragen zu vergeuden; die konnten warten, bis die Sache erledigt war.
Ich griff nach meinem Apparat und rief Nellie an. Es widerstrebte mir, ihr sagen zu müssen, daß ich heute abend wieder spät nach Hause kommen werde, aber es blieb mir nichts andres übrig. Sie näherte sich jetzt dem letzten Stadium ihrer Schwangerschaft und alles schien sie in Aufregung zu versetzen. Sie beruhigte sich aber etwas, als ich ihr versprach, von jetzt an immer frühzeitig nach Hause zu kommen, damit sie sich nicht allein fühlte, bis das Baby da ist.
Ich stellte meine Kaffeetasse nieder und stand vom Tisch auf. Dann stieg ich behutsam über verschiedene vollgepackte
Pappkartons, ging um den Tisch herum, an dem Nellie saß, und beugte mich nieder, um sie zu küssen. »Auf Wiedersehen, Herzchen«, sagte ich, »ich muß jetzt an die Arbeit.«
»Komm heut abend bald nach Hause«, sagte sie und sah zu mir auf. »Ich möchte noch alles fertigpacken.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »morgen können wir auch noch was einpacken, bevor die Leute kommen. Sie werden vor elf nicht hier sein.«
»Ich kann's nicht leiden, alles bis zur letzten Minute zu lassen«, antwortete sie, »man vergißt immer noch was, und dann regt man sich bloß auf. Ich möchte alles ordentlich vorbereitet haben.« In Wirklichkeit war's recht wenig, was wir mitzunehmen hatten. Von unsrer Einrichtung kam überhaupt nichts mit. Wir hatten für das Haus alles neu gekauft und bereits hinschaffen lassen. Aber Frauen sind nun einmal so. Ich erinnere mich, daß meine Mutter, wenn wir umzogen, genauso war.
»Okay, Nellie«, sagte ich und ging zur Türe, »ich komme früh nach Hause.«
Sie rief mich zurück. Während ich noch in der Türe stand, kam sie unbeholfen auf mich zugelaufen. Ich streckte ihr beide Arme entgegen. Sie schmiegte sich zitternd an mich und legte ihren Kopf an meine Schulter. Ich stieß die Türe mit dem Fuß wieder zu und streichelte ihr Haar. »Baby, Baby«, flüsterte ich, »was ist denn mit dir los?«
Ich konnte ihre Stimme kaum vernehmen, da sie den Kopf in meiner Jacke verborgen hatte. »Ich hab so gräßliche Angst, Danny, ganz plötzlich hab ich eine entsetzliche Angst.«
Ich hielt sie eng an mich gedrückt. Die Jahre hatten auch vor ihr nicht haltgemacht. Ich bemerkte unter meinen Händen ein paar winzige graue Härchen, und je näher das Datum der Geburt heranrückte, desto nervöser wurde sie. Bei Vickie war's nicht so, damals war sie nicht so unruhig gewesen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Baby«, flüsterte ich, »in ganz kurzer Zeit ist
alles glücklich vorbei.«
Sie sah zu mir auf. »Du verstehst mich nicht, Danny«, sagte sie leise, »ich habe nicht meinethalben Angst, ich habe Angst um dich.«
Ich lächelte beschwichtigend. »Sei nicht nervös, Baby, mir geschieht schon nichts, ich bleib dir erhalten.«
Sie verbarg ihr Gesicht wieder an meiner Schulter. »Bitte, Danny, ziehen wir morgen nicht um, bitte ziehen wir nicht dorthin. Wir wollen uns ein andres Haus suchen, wir können doch warten.«
»Sprich keinen solchen Unsinn, Baby«, sagte ich, »du bist eben nervös und aufgeregt. Es wird dir großartig gefallen, wenn wir erst dort eingezogen sind.«
Sie begann zu weinen. »Geh nicht dorthin zurück, Danny«, bat sie, »bitte geh nicht zurück! Du kannst Vergangenes nicht zurückrufen und das nicht ändern, was dir bestimmt ist. Ich zittere um dich, weil du dorthin zurückkehren willst.«
Ich legte meine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu mir empor. »Nellie, bitte hör auf zu weinen«, sagte ich nachdrücklich, »das hat doch keinen Sinn. Du wirst wegen einem Nichts noch hysterisch. Es ist nichts als ein Haus, in dem man wohnt, wie jedes andre Haus - nicht mehr und nicht weniger. Versuche also nicht, etwas daraus zu machen, was es nicht ist, und bemühe dich, vernünftig zu sein.«
Allmählich hörte sie zu weinen auf. »Vielleicht habe ich unrecht«, gab sie in sprödem beherrschtem Ton zu, »aber ich habe eine so schlimme Vorahnung.«
»Ich erinnere mich, daß meine Mutter gesagt hat, es sei eines der Symptome einer Schwangerschaft - böse Vorahnungen zu haben. Alle Frauen leiden darunter.«
Durch Tränen lächelnd, blickte sie mich etwas ungläubig an. Ich zog mein Taschentuch hervor und trocknete zärtlich ihre
Tränen. »Verzeih mir, Danny«, sagte sie leise, »ich bin eben eine Frau.« Ich küßte sie auf den Mund. »Ich hab dir nichts zu verzeihen, Baby«, sagte ich, gleichfalls lächelnd, »so und nicht anders liebe ich dich doch.«
Während die Männer einen weiteren Automaten hereinbrachten, trat ich aus dem Büro und folgte ihnen in die Werkstatt, wo sie ihn niederstellten. Zep und der Mechaniker untersuchten in sofort.
»Was ist mit diesem hier nicht in Ordnung?« fragte ich.
Zep blickte auf. »Das übliche, Danny«, antwortete er, »irgendeiner wurde wütend, daß keine Zigaretten drin waren und hat seinen Zorn an ihm ausgelassen.«
Ich betrachtete den Automaten philosophisch. Ich war jetzt schon daran gewöhnt, denn das war der fünfzehnte Automat innerhalb von zwei Wochen, der uns beschädigt gebracht worden war. Wie komisch sind doch die Menschen, daß sie ihren Zorn an leblosen Dingen abreagieren.
Ich untersuchte den Automaten aufmerksam. Der hier war ziemlich arg zugerichtet. Ich wandte mich an Zep. »Stell ihn in den Lagerraum«, sagte ich, »es hat keinen Zweck, etwas damit zu machen, 's ist bloß Zeitvergeudung.«
Er nickte, und ich war eben im Begriff, ins Büro zurückzukehren, als meine Sekretärin aus der Türe trat. »Ein Ferngespräch aus Buffalo, Mr. Fisher«, sagte sie. Ich runzelte die Stirn und überlegte, wer mich von dort anrufen konnte. Dort oben kannte ich niemanden. »Wer ist's denn?« fragte ich.
»Er wollte mir seinen Namen nicht sagen«, antwortete sie und sah etwas verwundert aus, »er hat bloß darauf bestanden, mit Ihnen persönlich zu sprechen.«
»Okay«, sagte ich. Meine Neugierde war erregt. »Ich werde mit ihm sprechen. Melden Sie inzwischen bei der
Versicherungsgesellschaft wieder Schadenersatz wegen Vandalismus an«, sagte ich und griff nach dem Hörer, »Einzelheiten erfahren Sie von Zep.« Sie nickte und eilte in die Werkstatt. Ich wartete, bis sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, dann erst meldete ich mich. »Hier spricht Fisher«, sagte ich.
»Danny, hier spricht Steve Parrish«, kam eine Stimme knatternd durch den Hörer.
Dieser Bursche hatte wahrhaftig guten Grund, seinen Namen nicht zu nennen. Er war Verkäufer eines der mächtigsten Zigarettenspekulanten, der sich größtenteils auf Schwarzmarktgeschäfte spezialisiert hatte. Er war der erste gewesen, mit dem ich Fühlung bekam, als ich mich für dieses Geschäft zu interessieren begann. »Steve«, sagte ich freundlich, »wozu vergeuden Sie Ihr gutes Geld für Ferngespräche? Haben Sie's zum Rausschmeißen?« Seine Stimme nahm einen vertraulichen Ton an. »Ich hab hier ein Riesengeschäft an der Hand«, sagte er beinahe flüsternd, »und wollte zuerst Sie fragen, ehe ich wen andern einsteigen lasse.« Ich setzte mich in meinem Sessel zurecht und senkte gleichfalls die Stimme. »Wieviel Kisten?« fragte ich.
»Eine komplette Lastwagenladung«, antwortete er rasch, »alles Markenwaren. Eintausend Kisten. Sind Sie interessiert?«
Natürlich war ich interessiert. Wer wäre an tausend Kisten Zigaretten nicht interessiert, wenn's in der ganzen Stadt kaum soviel gab? »Wie steht's mit dem Preis?« fragte ich vorsichtig. »Zwei Dollar für den Karton, einen Hunderter für die Kiste«, antwortete er.
Ich stieß einen Pfiff aus. Das war eine Menge Geld: einhunderttausend! »Heiße Ware?« fragte ich.
Steve lachte klirrend. »Keine Fragen, Danny! Derlei Dinge kommen heutzutage nicht aus dem Eisschrank. Ich hab's bloß durch Zufall erfahren, weil die Burschen hier abladen müssen
und das Geld brauchen. Hab sofort an Sie gedacht.«
»Ein Barzahlungsgeschäft?«
»Nur Barzahlung«, erwiderte er, »deshalb bekommen Sie ja den Zwei-Dollar-Preis. Wenn die Leute genug Zeit hätten, könnten sie doch um dreieinhalb verkaufen.«
»Wo soll ich den ganzen Zaster hernehmen?« fragte ich. Seine Stimme hatte jetzt einen kaum merklichen Anflug von Herausforderung. »Wenn eine so große Sache Ihre Kräfte übersteigt, Danny, sagen Sie mir's ruhig. Sam Gordon ist schon längst hinter mir her, ihm was von der Ware zukommen zu lassen, aber das wollte ich nicht machen. Ich bin ja nicht drauf aus, Ihnen Ihr Geschäft zu vermasseln, ich weiß doch, daß er einer Ihrer Kunden ist.« Das mußte er allerdings wissen, denn ich hatte ihn kennengelernt, als ich für Sam arbeitete. »Das hab ich nicht gesagt, Steve«, sagte ich rasch, »ich hab bloß überlegt, wo ich das Geld auftreiben kann. Wie lange hab ich Zeit?«
»Gar keine Zeit, Danny«, erwiderte er, »die Burschen wollen ihr Geld noch heute. Vielleicht ist's doch besser, wenn ich Sam anläute, er hat es bestimmt!«
Auf meiner Uhr war es halb zwei. Die Banken waren noch offen, aber ich konnte dort nicht mehr abheben als neunzehntausend, die ich in meinem Bankfach eingeschlossen hatte. Alles übrige Geld hatte ich wieder ins Geschäft hineingesteckt. Ich suchte Zeit zu gewinnen.
»Können Sie 'ne halbe Stunde warten, damit ich das Ganze durchrechnen kann?«
»Wenn Sie das Geld nicht haben, Danny, dann schlagen Sie sich's aus dem Kopf«, antwortete er, »'s hat keinen Sinn, sich anzustrengen. Ich rufe lieber Sam an.« Ich schnalzte mit den Fingern. Jetzt hatte ich's. Ohne es zu ahnen, hatte er mich auf die Lösung gebracht. »Hören Sie«, sagte ich rasch, »ich hab nicht gesagt, daß ich das Geld nicht besitze. Ich hab bloß gesagt, daß ich 'ne halbe Stunde brauche, um mir's zu holen. Dann rufe ich
Sie an, und wir können vereinbaren, wo wir uns treffen. Wenn ich hier in ein Flugzeug steige, können Sie's noch heut abend haben.«
Ich hörte, wie am andern Ende der Leitung eine geflüsterte Beratung begann. Dann kam Steves Stimme wieder durch den Hörer. »Okay, Danny, die Leute sind einverstanden und warten eine halbe Stunde auf Ihren Anruf.«
»Gut«, sagte ich rasch, »geben Sie mir Ihre Nummer, und ich rufe gleich zurück.« Ich notierte mir die Nummer auf meinem Notizblock und legte den Hörer ab.
Wenn mir das gelang, steckten glatt fünfzigtausend für mich drin, und so ein Geschäft fiel einem nicht jeden Tag in den Schoß. Ich griff wieder nach dem Hörer und begann zu wählen. Wäre Steve nicht so rasch damit bei der Hand gewesen, von einem andern Abnehmer zu sprechen, wäre ich gar nicht auf diese Idee gekommen. Ich schuldete ihm unauslöschlichen Dank.
Jetzt hörte ich ein Knacken, und die Stimme der Telefonistin meldete sich: »Sam Gordons Unternehmungen.«
»Marne, hier spricht Danny, verbinden Sie mich mit dem Boß.«
»Okay, Danny.«
Wieder hörte ich ein Knacken, ein Klingeln und gleich darauf Sams Stimme: »Hallo.«
»Sam, hier spricht Danny«, sagte ich. »Ja, Danny? Was gibt's?«
»Wenn du sechshundert Kisten Markenware brauchen kannst, weiß ich ein Geschäft für dich«, sagte ich hastig.
Sams Ton wurde vorsichtig. »Kann ich immer brauchen - aber was kosten sie?«
»Drei Dollar für den Karton, hundertfünfzig für die Kiste. Zahlung im voraus, Lieferung morgen«, sagte ich. Er zögerte
einen Moment.
»Klingt okay«, antwortete er, aber noch immer vorsichtig, »allerdings bedeutet das einen Haufen Zaster. Und was ist, wenn du nicht liefern kannst?«
»Ich garantiere die Lieferung«, sagte ich zuversichtlich. »Angenommen, 's geht was schief?« fragte er, »dann bin ich um neunzigtausend leichter.«
Ich rechnete rasch nach. Sams neunzigtausend genügten beinahe, um alles zu bezahlen. Ich müßte ein Narr sein, um eine so einmalige Gelegenheit schießen zu lassen. »Hör mal«, sagte ich, »du kennst ja den ganzen Kram hier. Außerdem hab ich für nahezu sechzigtausend Ware eingelagert. Das Geschäft, die Optionen für die Lokale und die Aufträge für die neuen Automaten sind weitere vierzigtausend wert. Ich bring dir die Quittungen des Lagerhauses und die Überschreibung meines Geschäfts. Du kannst das Zeug als Pfand behalten, bis die Ware geliefert ist. Nachher gibst du mir's wieder zurück.«
»Und wenn du nicht lieferst?« fragte er vorsichtig. Ich lachte kurz auf. »Dann gehört der ganze Kram dir. Na, was sagst du?«
Er antwortete nicht sogleich. »Ich kann die Zigaretten natürlich gebrauchen, und ich bin auch an dem Geschäft interessiert. Aber nicht für mich selbst. Ich steck bis zum Ellbogen in Geschäften. Ich kann einfach nicht mehr nachkommen.«
»Dann gibst du mir eben wieder 'ne Anstellung bei dir« - ich lachte wieder - »und ich führ dann den Laden für dich.« Er zögerte noch immer. »Willst du's tatsächlich so haben, mein Junge?« frage er bedächtig.
Fünfzigtausend sind eine Menge Geld! »Ja, Sam, ich bin fest entschlossen«, sagte ich sehr selbstsicher, »wenn du einverstanden bist, bin ich bereit, das Risiko auf mich zu nehmen.« Er räusperte sich. »Also gut, Danny«, sagte er gelassen, »komm 'rüber, das Geld liegt für dich bereit.«
Ich drückte die Gabel des Apparats nieder, rüttelte eine Sekunde am Gestell, bis ich den Summerton wieder hörte, dann wählte ich die Überlandzentrale. Ich nannte die Nummer in Buffalo, die Steve mir gegeben hatte. Als ich Steves Stimme wieder hörte, sagte ich rasch: »Ich hab das Geld, Steve. Wo wollen wir uns treffen?«
»Gut, Danny.« Steves Stimme klang erleichtert, »Zimmer 224, Hotel Royal. Wann werden Sie hier eintreffen?«
»Ich komme mit dem ersten Flugzeug, das ich erwischen kann«, erwiderte ich, »ich werde voraussichtlich nicht später als um sieben Uhr dort sein. Ist alles vorbereitet?«
»Der Wagen ist beladen und steht zur Abfahrt bereit«, sagte er, »er fährt im selben Augenblick von hier ab, in dem Sie mit dem Geld bei uns aufkreuzen.«
»Okay«, sagte ich, »auf Wiedersehen heute abend.« Ich legte den Hörer auf und sah auf meine Uhr. Es war beinahe zwei. Ich mußte mich beeilen, wollte ich noch rechtzeitig in die Bank kommen. Ich trat vor die Türe des kleinen Büros und rief Zep zu mir. »Beschaffe Lagerraum für vierhundert Kisten«, sagte ich. Er riß die Augen auf. »Das ist 'ne Menge Rauchzeug, Danny. Woher hast du's?«
Ich berichtete ihm mit wenigen Worten von dem Geschäft. Er schien besorgt zu sein. »Danny, du riskierst da verdammt viel«, sagte er, »bei so 'ner Sache kann zuviel schiefgehen. Vielleicht war's doch besser, wenn du mich mitnähmest.«
Ich schüttelte den Kopf. »Jemand muß hierbleiben, um das Geschäft zu beaufsichtigen. Mir passiert schon nichts. Du bleibst hier. Ich ruf dich an, sobald ich mit dem Zeug eintreffe.«
Erst am Flughafen, während ich auf meine Maschine wartete, erinnerte ich mich, daß ich Nellie nicht angerufen hatte. Ich eilte in eine Telefonzelle und wählte unsre Nummer. Nellie meldete sich. Ich sprach sehr rasch, um ihr keine Gelegenheit zu lassen, auch nur ein Wort einzuwerfen. »Baby, mir ist etwas dazwischengekommen, ich muß geschäftlich nach Buffalo fliegen. Wart mit dem Essen nicht auf mich, ich bin erst morgen früh wieder zurück.«
»Aber, Danny«, rief sie, »wir ziehen doch morgen um!«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »ich bin rechtzeitig wieder zurück.«
»Geh nicht, Danny, bitte geh nicht! Ich hab solche Angst.« Aus ihrer Stimme war jetzt deutliche Furcht zu hören. »Kein Grund«, sagte ich, »morgen früh bin ich wieder bei dir.«
»Dann warte wenigstens, Danny«, beschwor sie mich, »warte bis wir umgezogen sind.«
»Das kann ich nicht aufschieben, Baby«, sagte ich hastig, »wir verdienen daran fünfzigtausend. Solche Geschäfte legt man nicht aufs Eis! Diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen!« Sie begann zu weinen. »Ich wußte ja, daß etwas geschehen würde«, jammerte sie, »ich hatte eine Vorahnung.«
»Aber Nellie«, unterbrach ich sie, »es handelt sich um fünfzigtausend! Fünfzigtausend schöne Dollar vom guten Onkel Sam! Damit können wir 'ne Menge anfangen.«
»Das ist mir ganz egal!« schluchzte sie, »manchmal wünsch ich mir, ich hätte nie was von Geld gehört! Seitdem du nur noch ans Geschäft denkst, bist du ganz verändert.«
»Nellie, hör doch, wenn ich das hinter mir hab, dann soll alles immer so sein, wie du's willst«, versprach ich, bereits am Rande der Verzweiflung.
»Das sagst du immer«, schluchzte sie in bitterer Anklage, »aber ich glaub dir nicht mehr. Du meinst es nicht ernst. Du wirst dich nie ändern! Im selben Moment, wo sich's um 'nen Dollar dreht, wirst du ein andrer Mensch. Du vergißt alles andre!«
»Sei doch nicht töricht!« rief ich aufgebracht, »wir leben in einer realistischen Welt. Ohne Geld bist du der letzte Dreck, wie alle übrigen! Wenn dir das genügt - mir nicht!«
Ich hörte, wie sie den Atem scharf einzog. Einen Moment herrschte tiefe, empörte Stelle, dann gab's ein Knacken im Hörer, und die Verbindung war unterbrochen. Nellie hatte abgehängt! Während ich in meinen Taschen nach weiteren Fünfcentstücken suchte, um sie nochmals anzurufen, begann ich leise vor mich hin zu fluchen. In diesem Augenblick ertönte jedoch die Stimme des Ansagers im Lautsprecher: »Flug Nummer vierundfünfzig nach Buffalo am Flugsteig drei. Abflug in fünf Minuten.« Ich sah zum Telefon zurück, dann auf die Uhr an der Wand. Rasch entschlossen, verließ ich die Telefonzelle. Sie würde sich schon beruhigen, wenn sie mich morgen mit dem Geld wiedersah. Fünfzigtausend heilen eine Menge Ängste.