Ich blieb einen Moment vor dem Geschäft stehen und sah durchs Fenster. Mein Spiegelbild blickte mir entgegen. Mein Haar erhielt durch die Glasscheibe einen bläulichen Schimmer, so daß es beinahe weiß aussah. Der Laden war leer, und hinter den kleinen Schaltern befand sich nur ein einziger Mann. Ich trat ein.
Der Mann sah mich an. »Was willst du, Junge?« fragte er in mürrischem Ton.
»Ich möchte Mr. Fields sprechen«, erwiderte ich. »Schau, daß du 'rauskommst«, schnauzte mich der Mann an, »Fields hat für Halbstarke keine Zeit.«
Ich starrte ihn kalt an. »Für mich ist er zu sprechen«, sagte ich nachdrücklich, »ich bin Danny Fisher.«
Ich bemerkte, wie er die Augen aufriß. »Der Boxer?« fragte er, und seine Stimme nahm einen respektvollen Ton an. Ich nickte. Der Mann hob den Telefonhörer ab und sprach rasch hinein. Die Leute kannten also bereits meinen Namen. Das gefiel mir. Es hieß, daß ich kein Niemand mehr war. Aber wie lange würde das noch dauern? Nach dem nächsten Match würde ich wieder ein Niemand sein wie alle andern Burschen, die es
versucht und nicht erreicht hatten. Man würde mich vergessen.
Der Mann legte den Hörer zurück und wies auf die Türe im Hintergrund. »Fields sagt, Sie sollen gleich hinaufkommen.« Ich drehte mich schweigend um und schritt durch die Türe. Das Nebenzimmer war leer. Es war noch früh am Tage, für die Spieler zu früh, um bereits auszugehen. Ich durchquerte den Raum, ging die Treppe hinauf, blieb vor Fields Türe stehen und klopfte an. Die Türe öffnete sich, und Ronnie stand vor mir. Sie riß die Augen weit auf, dann trat sie zurück. »Komm herein«, sagte sie.
Ich ging an ihr vorbei ins Zimmer. Es war leer, und ich wandte mich wieder zu ihr zurück. »Wo ist er, Ronnie?« fragte ich. »Er rasiert sich, wird aber in ein paar Minuten hier sein.« Sie trat rasch dicht an mich heran. »Spit war heute früh hier«, flüsterte sie, »er hat Maxie erzählt, was du getan hast. Maxie kocht vor Wut.« Ich lächelte. »Er wird sich schon wieder beruhigen, Ronnie.« Sie ergriff meine Hand. »Gestern nacht hast du mich Sarah genannt. Ich habe geglaubt, du wirst nicht wiederkommen.«
»Das war gestern nacht«, sagte ich gleichfalls leise, »aber ich hab's mir überlegt.«
Sie sah mir tief in die Augen. »Danny«, fragte sie atemlos, »bist du meinetwegen zurückgekommen?«
Ich verschloß mich vor jeder Erinnerung. »Ja, Ronnie«, sagte ich unverblümt und schüttelte ihre Hand ab, »deinetwegen - und wegen dem Zaster.«
»Du wirst beides bekommen.« Fields Stimme dröhnte von der Türschwelle her. Ich drehte mich um, während er ins Zimmer trat. »Ich hab's ja immer gesagt, Danny, daß du ein smarter Junge bist. Ich hab gewußt, daß du wiederkommst.«
Er trug einen rotseidenen Hausmantel, der mit einer grell abstechenden blauen Kordel um seine massige Mitte gebunden war; unten sahen gelbe Pyjamahosen hervor. Seine bläulichen
Backen glänzten nach dem Rasieren, und zwischen die Zähne hatte er bereits eine seiner riesigen Zigarren geklemmt. Er sah genauso aus, wie ich mir immer vorgestellt hatte, daß Maxie Fields aussehen müsse. »Ich höre, Mr. Fields«, sagte ich gelassen, »daß Sie gat zahlen. Ich bin zurückgekommen, um festzustellen, ob das auch wahr ist.« Er ließ sich in einen Sessel fallen und sah zu mir empor. Er lächelte, aber der Ausdruck seiner Augen hatte sich nicht verändert. Sie blieben verschlagen. »Du hast Spit übel zugerichtet«, sagte er leise und ignorierte meine Feststellung. »Ich dulde nicht, daß man mit meinen Leuten so umgeht.«
Ich sah ihn unbewegt an. »Spit war mein Freund«, sagte ich langsam, »wir haben zusammen ein paar Geschäfte gemacht. Er hat aber unsern Vertrag gebrochen, um mich zu bespitzeln. Das dulde wiederum ich nicht von einem Freund.«
»Er hat nur das getan, was ich ihm befohlen habe«, sagte Fields ruhig.
»Jetzt ist das für mich okay«, sagte ich, und meine Stimme war ebenso ruhig wie seine. »Aber nicht, als ich ihn noch für meinen Freund hielt.«
Im Zimmer war es totenstill. Man hörte nichts als das schmatzende Geräusch, wenn Fields an seiner Zigarre
herumkaute. Ich starrte ihm in die Augen und überlegte, was dahinter vorgehen mochte. Er war kein Narr, das wußte ich, und ich wußte auch, daß er verstanden hatte, was ich sagen wollte, allerdings nicht, ob er mir's abkaufen würde.
Schließlich nahm er ein Streichholz aus der Tasche,
entzündete es und hielt es an seine Zigarre. »Ronnie, bring mir einen Orangensaft«, sagte er zwischen den einzelnen Zügen. Sie ging langsam aus dem Zimmer. »Und bring für Danny auch
welchen mit«, rief er ihr nach, »das schadet seinem Training
nicht.« Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lachte er zynisch. »Hat sie dich gut behandelt?« fragte er.
Ich gestattete mir den Anflug eines Lächelns, um die Erleichterung zu verbergen, die ich empfand. »Sehr gut.«
Fields lachte laut und schallend. »Ich hab ihr gesagt, daß ich sie erschlage, wenn sie's nicht tut. Aber sie versteht ihr Geschäft!« Ich ließ mich ihm gegenüber in einen Polsterstuhl fallen. In diesem Sessel hatte ich sie gestern nacht geküßt. Und sie hatte mich geküßt und mir so mancherlei erzählt. Und ich hatte ihr geglaubt. Auf einmal wollte ich das Ganze hinter mir haben »Wieviel?« fragte ich. Fields setzte eine Unschuldsmiene auf. »Wieviel? Wofür?«
»Wenn ich das Match schmeiße«, sagte ich hart. Fields lachte wieder. »Kluger Junge«, stieß er hervor, »du begreifst rasch.«
»Zweifellos«, sagte ich spöttisch und wurde immer selbstsicherer. »Mr. Fields vergeudet seine Zeit nicht, außer er kann dabei was verdienen. Ich könnt's weit schlechter treffen, als seinem Beispiel zu folgen. Was schaut also bei der Sache für mich heraus?« Ronnie kehrte in jeder Hand ein Glas mit Orangensaft ins Zimmer zurück. Stumm reichte sie jedem von uns ein Glas. Ich kostete - es schmeckte so herrlich, wie nur frisch ausgepreßte Orangen schmecken. Es war lange her, seitdem ich das letztemal Orangensaft bekommen hatte. Ich trank mein Glas auf einen Zug aus. Fields trank seinen Saft langsam, während er mich abschätzend ansah. Schließlich sagte er: »Was sagst du zu Fünfhundert?« Ich schüttelte den Kopf, denn ich befand mich auf bekanntem Gebiet. Wenn's ums Feilschen ging, wußte ich Bescheid. »Sie werden sch schon etwas mehr anstrengen müssen.« Er trank sein Glas aus und beugte sich in seinem Sessel vor. »Und was meinst du, daß es wert ist?«
»Einen Tausender«, sagte ich rasch. Nach seinen eigenen Worten blieben ihm dann noch immer glatt dreitausend. Er schwenkte seine Zigarre. »Siebenhundertfünfzig, und das süße Ding hier.«
»Reden wir von Geschäften«, sagte ich lächelnd, »die Puppe hab ich bereits gehabt. Mir ist sie übrigens zu temperamentvoll.«
»Siebenhundertfünfzig ist 'ne Menge Geld«, murrte Fields. »Aber nicht genug«, sagte ich, »denn es muß auch glaubhaft aussehen. Das heißt also, daß ich verteufelte Schläge einstecken muß, damit Sie Ihre dreitausend verdienen.«
Plötzlich stand er auf, trat zu meinem Stuhl und sah auf mich herunter. Seine Hand fiel schwer auf meine Schulter. »Okay, Danny«, sagte er mit dröhnender Stimme, »du kriegst deinen Tausender. Nach dem Match kannst du deinen Zaster sofort holen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Neiin. Die Hälfte jetzt und die Hälfte nachher.«
Er lachte schallend und drehte sich zu Ronnie um. »Hab ich dir nicht gesagt, daß der Junge hell ist?!« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Also abgemacht. Hol dir die Piepen am Nachmittag vor dem Match. Den Rest kriegst du am nächsten Tag.«
Ich stand langsam auf und machte ein gleichgültiges Gesicht, denn ich wollte nicht, daß er merkte, wie froh ich war. »Sie haben in mir einen Mitarbeiter gefunden, Mr. Fields«, sagte ich und ging auf die Türe zu. »Auf Wiedersehen.«
»Danny!« Beim Klang von Ronnies Stimme fuhr ich herum. »Wirst du zurückkommen?«
Mein Blick wanderte von ihr zu Fields und wieder zu ihr zurück. »Natürlich komm ich wieder«, sagte ich kühl, »mein Geld holen.« Fields Gelächter dröhnte durch den Raum. »Der Bursche gibt, weiß Gott, auch noch schlagfertige Antworten!«
Ihr Gesicht war zornrot, und die Hand zum Schlag erhoben, machte sie einen Schritt auf mich zu. Ich erwischte ihren Arm noch mitten im Schlag und hielt ihn fest. Eine Sekunde lang starrten wir einander in die Augen. Dann sagte ich so leise, daß nur sie es verstehen konnte: »Laß nur, Sarah, wir können uns keine Träume leisten.« Ich lockerte meinen Griff, und ihr Arm fiel langsam herab. Dann bemerkte ich etwas in ihren Augen, das wie eine Träne aussah, ich war meiner Sache aber nicht sicher, denn sie drehte mir sofort den Rücken und stellte sich neben Fields. »Du hast recht, Max«, sagte sie, »er ist ein schlauer Bursche. Zu schlau!« Ich schloß hinter mir die Türe und begann die Treppe hinunterzugehen. Jemand kam mir entgegen, und ich trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Es war Spit.
Er sah mich erschrocken an, als er mich erkannte, gleichzeitig fuhr er instinktiv mit der Hand in die Tasche, und als sie wieder zum Vorschein kam, hielt er sein Messer in der Hand. Ich lächelte und ließ ihn nicht aus den Augen. »An deiner Stelle würd ich das wieder einstecken, Spit«, sagte ich leise. »Der Boß könnte was dagegen haben.«
Er sah rasch zu Fields Türe hinauf, dann blickte er mich an. Unentschlossenheit malte sich in seinen Zügen. Ich wagte es nicht, ihn aus den Augen zu lassen. Plötzlich dröhnte Fields Stimme durch das Treppenhaus: »Gottverdammich! Spit, wo zum Teufel steckst du denn?«
Blitzschnell verschwand das Messer wieder in Spits Tasche. »Komme schon, Boß«, rief er und rannte die Treppe hinauf. Ich sah ihm nach, bis er verschwunden war. Es war ein klarer, strahlend schöner Tag, und ich beschloß zu Nellies Haus hinüberzugehen. Es war ziemlich früh, vielleicht blieb noch genug Zeit, um mit ihr zu sprechen, bevor sie zur Arbeit ging.
In meiner freudigen Stimmung konnte mir ein Beisammensein mit ihr nur guttun.
Ich erwachte durch die dröhnende Stimme meines Vaters. Ich lag schläfrig im Bett und versuchte, noch ganz schlaftrunken, den Sinn seiner Worte zu verstehen. Plötzlich war ich hellwach. Heute war der Tag. Und morgen wird alles vorbei sein, ich werde ins normale Leben zurückkehren und - wieder ein Niemand sein. Ich schwang die Füße über den Bettrand, tastete nach meinen Hausschuhen, stand auf und streckte mich. Vielleicht war's besser so. Mein Alter wird dann wenigstens wieder glücklich sein. Er bekam sein Geld, und ich werde das Boxen aufgeben. Dann wird's hier vielleicht wieder friedlich werden. Diese letzte Woche zwischen den beiden Kämpfen war die reinste Hölle gewesen; Papa hatte ständig auf mir herumgehackt.
Ich knüpfte meinen Bademantel zu und ging ins Badezimmer. Ich sah in den Spiegel und betastete mein Gesicht. Hat keinen Sinn, mich heute zu rasieren, es macht die Haut bloß empfindlich, und dann platzt sie um so leichter.
Ich war bereit, das Match zu verlieren, hatte aber keine Lust, zusätzlich auch noch halb zu verbluten.
Ich bürstete meine Zähne sorgfältig, wusch das Gesicht und kämmte meine Haare. Duschen wollte ich erst am späten Nachmittag in der Sporthalle, denn dort hatten sie heißes Wasser. Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, verfolgte mich die Stimme meines Vaters durch das Vorzimmer. Ich zog mich an und ging in die Küche. Papa verstummte im selben Augenblick, in dem ich den Raum betrat. Er betrachtete mich mit kaltem Blick über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg.
Mama kam rasch auf mich zu. »Setz dich und trink deinen
Kaffee.« Ich setzte mich schweigend an den Tisch, Papa gegenüber. War der heutige Abend einmal vorbei, dachte ich, würde er sich über nichts mehr zu beschweren haben. »Hallo, Mimi«, sagte ich, als sie eintrat. Die Atmosphäre war so bedrückend, daß ich mich sogar mit ihr unterhielt.
Ihr Lächeln war warm und herzlich. »Hallo, Champion«, sagte sie scherzend, »wirst du heute siegen?«
Papas Faust fiel krachend auf den Tisch. »Verdammt!« schrie er, »sind denn in diesem Haus alle verrückt geworden? Ich will von der Boxerei nichts mehr hören, sag ich euch!«
Mimi sah ihn trotzig an. »Er ist mein Bruder«, sagte sie gelassen, »ich kann mit ihm sprechen, worüber ich will!« Ich bemerkte, daß meinem Vater der Mund vor Erstaunen offenblieb. Ich glaube, es war das erstemal im Leben, daß Mimi ihm widersprochen hatte. Er rang nach Atem, während Mama ihre Hand beruhigend auf seine Schulter legte.
»Keinen Streit heute, Harry«, sagte sie entschlossen, »bitte keinen Streit.«
»A. aber hast du gehört, was sie gesagt hat?« Papa schien jetzt völlig verwirrt.
»Harry!« Mamas Stimme war jetzt scharf. »Wir wollen unser Frühstück in Frieden essen.«
Eine gespannte Stille breitete sich über den Raum, die nur vom Klappern der Teller unterbrochen wurde, wenn sie auf den Tisch gestellt oder wieder weggeräumt wurden. Ich aß rasch und schweigend; dann schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf. »So«, sagte ich und sah zu ihnen hinunter, »jetzt muß ich in die Sporthalle.«
Niemand sagte etwas. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Wird mir denn keiner von euch Glück wünschen?« fragte ich. Ich wußte zwar, daß es für mich bedeutungslos war, es wäre aber doch nett gewesen, diese Worte zu hören.
Mimi ergriff meine Hand, zog mich an sich und küßte mich. »Viel Glück, Danny«, sagte sie.
Ich lächelte dankbar, dann wandte ich mich an Papa. Er hielt den Kopf über seinen Teller gebeugt und sah mich nicht an. Mama sah mich mit bekümmerten, weitoffenen Augen an. »Wirst du bestimmt vorsichtig sein, Danny?«
Ich nickte schweigend. Ein Klumpen saß mir in der Kehle, als ich sie ansah, denn plötzlich bemerkte ich alle Veränderungen, die Kummer und Sorgen der letzten Jahre bei ihr bewirkt hatten. Sie nahm mein Gesicht in beide Hände und küßte mich auf die Wange. Sie weinte.
Ich fischte in meiner Tasche. »Ich hab zwei Eintrittskarten für euch«, sagte ich und hielt sie ihr hin.
Papa sagte scharf: »Wir brauchen sie nicht!« Dabei starrte er mich wütend an. »Behalt sie!«
Ich hielt die Karten noch immer in der Hand. »Ich hab sie für euch bekommen«, sagte ich.
»Hast du nicht gehört?! Wir wollen sie nicht!!« Ich sah Mama an, doch sie schüttelte leicht den Kopf. Langsam steckte ich die Karten wieder in die Tasche und ging auf die Türe zu.
»Danny!« Papa rief mich zurück. Hoffnungsvoll drehte ich mich auf dem Absatz um, denn ich war überzeugt, daß er sich's anders überlegt hatte und griff sogleich in die Tasche, um die Karten wieder herauszunehmen. Dann sah ich in sein blasses grimmiges Gesicht und wußte, daß sich nichts geändert hatte. Er starrte mich aus tiefliegenden Augen an.
»Du bist also noch immer fest entschlossen, heut abend zu boxen?« Ich nickte.
»Nach allem, was ich gesagt habe?«
»Ich muß, Pa«, sagte ich nachdrücklich.
»Gib mir deinen Wohnungsschlüssel, Danny«, er streckte die Hand aus. Seine Stimme hatte kalt und ausdruckslos geklungen.
Ich starrte ihn einen Moment an, dann sah ich zu Mama hinüber. Sie wandte sich mechanisch an Papa. »Harry, doch jetzt nicht.« Papa sagte mit zitternder dumpfer Stimme: »Ich habe ihm gesagt, daß er mir nicht mehr ins Haus kommt, wenn er noch einmal boxt. Es war mein voller Ernst!«
»Aber, Harry«, beschwor ihn Mama, »er ist doch nur ein Kind.« Jetzt wurde Papa wütend. Seine Stimme dröhnte durch die Küche wie Donner. »Er ist Mann genug, um jemanden totzuschlagen! Er ist alt genug, um zu entscheiden, was er will! Ich habe seinetwegen genug ertragen, jetzt hab ich aber genug!!« Er sah mich wieder an. »Du hast noch eine Chance!«
Ich starrte ihn einen Moment erschüttert an. Ich dachte dabei immer nur, er ist doch dein Vater, bist aus seinem Blut, und das alles ist ihm gleichgültig. Beinahe überrascht sah ich, daß die Schlüssel aus meiner Hand klirrend auf den Tisch flogen. Ich starrte eine Sekunde auf ihren Silberglanz, dann drehte ich mich um und ging hinaus.
Ich stand vor Fields Schreibtisch, während er das Geld abzählte und auf die Schreibtischplatte warf. Jetzt war auf seinen Lippen kein Lächeln mehr zu finden; und seine Augen, unter den Fettwülsten fast ganz verborgen, waren kalt und verschlagen. Er schob mir das Geld mit seinen feisten Fingern zu. »Da hast du, Junge«, sagte er mit heiserer Stimme, »nimm's.«
Ich sah darauf hinunter. Es waren fünf nagelneue Hundertdollarscheine. Ich nahm sie in die Hand, sie fühlten sich gut an. Jetzt würde Papa bestimmt ein andres Lied singen, wenn ich ihm das da zeige. Ich faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche. »Danke«, sagte ich widerwillig.
Er lächelte. »Du brauchst mir nicht zu danken, Danny«, sagte er gelassen, »aber hüte dich, mich zu hintergehen!« Ich sah ihn überrascht an. »Das würde ich nie tun«, antwortete ich rasch.
»Ich hab's auch nicht geglaubt«, sagte Fields; »aber Spit
glaubt es.«
Ich sah zu Spit hinüber, der an der Wand lehnte und seine Nägel mit dem Messer reinigte. Er begegnete meinem Blick. Seine Augen waren kalt und mißtrauisch.
»Wie kommt's, daß er sich so was ausdenkt?« fragte ich Fields spöttisch.
Jetzt lachte Fields laut heraus. Sein Sessel krachte, als er aufstand. Er kam um den Schreibtisch herum und schlug mir schallend auf die Schulter. »Schlauer Bursche«, sagte er und seine Stimme klang wieder aufrichtig. »Vergiß bloß nicht, daß es mein Geld ist, um das es dabei geht, Danny«, rief er mir nach.
Auf der Türschwelle drehte ich mich um. Er sah ungeheuer dick und massig aus, wie er dort vor seinem Schreibtisch stand. »Was soll das heißen?« fragte ich.
Seine Augen wurden auf einmal groß und enthüllten eine achatfarbene Iris mit winzigen Pupillen. »Ich werde dir genau zusehen«, erwiderte er, und seine Stimme klang bedrohlich.
Ich öffnete die Türe der Sporthalle und plötzlich trat in dem großen Raum tiefe Stille ein. Vorher waren alle geräuschvoll gewesen, jetzt aber war es totenstill im East Side Boys Club. Mr. Spritzer stand in einer Ecke der Halle. Langsam wandte auch er mir sein Gesicht zu. Ich ging zu ihm hinüber und fühlte, daß alle Augen auf mich gerichtet waren. Ich wollte, sie sähen mich nicht alle so an, als wären sie stolz auf mich, denn in meiner Tasche befanden sich fünfhundert Dollar, die ihnen keinen Grund dazu gaben. »Ich... ich bin schon hier, Mr. Spritzer«, sagte ich nervös, denn nun hatte ich die Überzeugung, daß mich alle Anwesenden bereits durchschaut hatten.
Ein strahlendes Lächeln überflog sein Gesicht. »Hallo, Champ!« Das wirkte wie ein Signal, und ein wahres Tollhaus brach los. Alle, die sich in der Sporthalle versammelt hatten, umdrängten mich, schrien durcheinander und versuchten meine
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich bemühte mich, ihnen zuzulächeln, brachte es jedoch nicht fertig. Mein Gesicht schien zu einer seltsamen Maske gefroren zu sein.
Mr. Spritzer schob jetzt seine Hand unter meinen Arm, bahnte uns einen Weg durch die mich umdrängenden Burschen und führte mich in sein Büro.
»Später, Jungens, später!« überschrie er die ändern. »Wartet mit eurem Geschrei bis nach dem Match!« Stumpf und fühllos ließ ich mich von ihm in sein Büro führen.
Das heisere Gebrüll der Menge drang bis in die Umkleidekabine und schlug erregend an meine Ohren. Dieses Schreien klang wie schweres monotones Meeresrauschen und war so alt wie die Zeit. So schrien die Menschen im Dschungel, wenn zwei wilde Tiere miteinander kämpften; sie schrien so, als Cäsar im Kolosseum seine Feste feierte. Fünftausend Jahre hatten dieses Schreien nicht verändert.
Auf dem Massagetisch liegend drehte ich meinen Kopf so, daß ich meine Ohren mit den Armen bedeckte, um das Getöse zu verringern, ganz ausschalten konnte ich es jedoch nicht. Es war da, wenn auch etwas schwächer, so daß ich's gerade noch hören konnte. Würde ich den Kopf aber nur ginz wenig drehen, käme es im selben Augenblick wieder zurück.
Jetzt ertönte ein scharfes Summgeräusch. Ich fühlte Mister Spritzers Hand auf meinem Rücken. »Das gilt uns, mein Junge.« Ich setzte mich auf und schwang meine Beine über den Massagetisch. Ich hatte das Gefühl, als läge mir ein Bleiklumpen im Magen. Ich schluckte heftig.
»Nervös, mein Junge?« fragte Spritzer. Ich nickte.
»Das geht vorüber«, sagte er zuversichtlich, »jedem Boxer geht's so, wenn er zum erstenmal in den Gardens kämpft, 's liegt hier in der Luft.«
Ich fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn er alles wüßte. Es war nicht der Ort, der mich fertig machte, es war das Match, das ich verlieren mußte.
Wir traten aus der Ankleidekabine und standen am Rand einer Rampe, von der aus ich in die Gardens sehen konnte. Es war ein Meer unbekannter Gesichter, die auf das Resultat eines soeben beendeten Kampfes warteten. Sam war irgendwo draußen und -Fields. Und Nellie. Selbst sie war gekommen. Nur meine Eltern die waren nicht gekommen.
Das Gebrüll der Menge wurde wieder lauter, als die Entscheidung bekanntgegeben wurde. »Los, Danny«, sagte Spritzer. Wir schritten die Rampe hinunter, auf eine blendend weiße Lichtflut zu: das war der Ring.
Ich hörte sie schreien. Einige riefen meinen Namen. Stumpf folgte ich Spritzer, mit gesenktem Kopf, mein Gesicht von einem riesigen weißen Handtuch umrahmt, es sah beinahe so aus wie die Scheuklappen eines Pferdes. Dicht in meiner Nähe hörte ich Zeps aufgeregtes Atmen. Seine Stimme übertönte das Gebrüll der Menge. »Schau, Danny!« rief er aufgeregt, »dort sitzt Nellie!« Ich hob den Kopf und sah, wie sie mir zulächelte, mit einem zitternden, süßen und ängstlichen Lächeln. Dann verschwand sie in dem Meer der anderen Gesichter.
Ich stand jetzt vor dem Ring und kletterte durch die Seile. Nach dem Halbdunkel auf der Rampe blendete mich das grelle weiße Licht. Ich blinzelte. Der Ansager rief jetzt meinen Namen, und ich trat in die Mitte des Rings. Ich vernahm zwar seine Stimme, hörte aber nicht zu. Ich kannte seine Ansage bereits auswendig. »Trennt euch sogleich, wenn ich es sage. bei einem Knockout hat sich der Angreifer sofort in die nächste neutrale Ecke zu begeben. Und jetzt geht zurück in die euch bestimmte Ecke und kommt wieder heraus, um zum Kampf anzutreten! Möge der bessere Mann gewinnen.«
Haha! Das war ein Witz. Möge der bessere Mann gewinnen! Ich schlüpfte aus meinem Bademantel. Die fünfhundert Dollar in meiner Tasche waren der Bleiklumpen in meinem Magen.
Spritzer flüsterte mir ins Ohr. »Mach dir keine Sorgen, mein Junge, das Ärgste, was passieren kann, ist, daß du das Match verlierst!« Ich sah ihn überrascht an. Er wußte nicht, wie recht er hatte. Meine größte Sorge war ja nur, daß mir jemand in der Ankleidekabine die fünfhundert aus der Hosentasche stehlen könnte. Um das Match brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, ich hatte den Sieger bereits bestimmt.
Ich sah mich neugierig im Ring um. Während ich in der Mitte gestanden hatte und dem Schiedsrichter zuhören sollte, hatte ich mir den Burschen, gegen den ich kämpfen sollte, nicht angesehen. Er starrte mir jetzt mit nervösgespannter Miene entgegen. Ich lächelte zu ihm hinüber. Wenn er's bloß wüßte, dann brauchte er nicht nervös zu sein. Es war ein Italiener, Tony Gardella, der drüben in der Bronx kämpfte.
Der Gong ertönte. Ich trat in die Mitte des Rings und fühlte mich sonderbar leichtfüßig und selbstsicher. Das Bewußtsein, diesen Kampf verlieren zu müssen, gab mir die ungeheure Zuversicht, mit Leichtigkeit siegen zu können, die ich nie zuvor gehabt hatte. Ich machte mir ja keine Sorgen mehr um den Verlauf des Kampfes, da mir das Resultat bereits bekannt war.
Ich stieß mit einer geraden Linken vor, um den Burschen etwas abzutasten und überlegte, ob er tatsächlich etwas konnte. Denn er war langsam mit seiner Parade, und ich stieß automatisch mit einer blitzschnellen Rechten in seine ungeschützte Verteidigung nach. Er taumelte. Instinktiv drängte ich nach, um ihn zu erledigen. Die Menge brüllte. Der Sieg war mein, das wußte ich. Doch plötzlich erinnerte ich mich: ich durfte ihn nicht erledigen, ich mußte ja verlieren. Ich ließ es daher zu, daß er sich in einen Clinch rettete und mich dadurch festhielt. Zur Täuschung brachte ich auf Gardellas Rücken ein paar leichte Schläge an. Als ich spürte, daß ihm die Kräfte zurückkehrten, schob ich ihn von mir und hielt ihn mir für den Rest der Runde fern. Ich durfte nicht riskieren, ihn zu schwer anzuschlagen.
Der Gong ertönte, und ich kehrte in meine Ecke zurück. Spritzer kochte vor Wut und schrie mich an : »Du hast ihn doch schon gehabt, warum hast du ihn nicht erledigt?«
»Ich konnte nicht richtig an ihn 'ran«, antwortete ich rasch. Ich mußte vorsichtiger sein, sonst erriet er, was hier gespielt wurde. »Halt's Maul!« schnauzte er mich an, »spar deinen Atem!« Als der Gong ertönte, kam Gardella vorsichtig aus seiner Ecke. Ich senkte meinen Arm ein wenig und erwartete, daß er dort angreifen werde. Er blieb jedoch vorsichtig und hielt sich ständig außer Reichweite. Ich starrte ihn verwundert an. Wie, zum Teufel, erwartete er, das Match auf diese Art zu gewinnen? Sollte ich mich vielleicht selbst k.o. schlagen? Da ging ich zum Angriff über. Vielleicht konnte ich ihn so aus seiner Reserve herauslocken. Er zog sich aber sogleich zurück. Es war scheinbar schwerer, diesen Kampf zu verlieren, als ihn zu gewinnen.
Als wir uns wieder in unsre Ecken zurückzogen, begann die Menge zu pfeifen. Ich setzte mich mit gesenktem Kopf auf meinen Sessel, die Augen auf den Segeltuchbelag geheftet.
Spritzer schrie wieder auf mich ein. »Stürz dich auf ihn! Laß ihm keine Zeit zurückzuweichen. Du hast ihn bereits schwer angeschlagen, deshalb weicht er dir aus.«
Beim Gongzeichen kam ich rasch aus meiner Ecke und war bereits über die Mitte des Rings, als ich ihn traf. Er schlug wild auf mich los. Auch er hatte Befehl erhalten, endlich zu kämpfen. Einige Schläge fing ich durch reine Reflexbewegungen ab. Wie dieser Bursche je ins Finale kommen konnte, würde mir ewig ein Rätsel bleiben; er war ja viel zu langsam. Es war eine Affenschande, so einen armseligen Kerl gewinnen zu lassen; doch es mußte sein, ich hatte den Handel abgeschlossen. Mit voller Absicht vernachlässigte ich einen Moment lang meine Verteidigung. Seine Schläge trafen meinen Arm. Es war fast wie eine Belohnung. Mir war, als bestünde ich gleichzeitig aus zwei Personen. Eine war froh und erleichtert, daß die andre die Schläge erhielt.
Jetzt war's für mich aber an der Zeit, mit einem Gegenangriff zu beginnen. Es mußte ja korrekt aussehen. Pfeifend stieß meint Rechte vor. Sie wurde leicht abgefangen, und ich bekam einen Schlag in den Magen. Und jetzt lächelte der Bursche selbstsicher. Das reizte mich maßlos. Er hatte kein Recht, so anmaßend zu sein. Ich würde ihm ein paar Schläge zu kosten geben, die ihm Respekt vor mir beibringen sollten. Ich schoß mit meiner Linken vor und ließ einen Kinnhaken mit der Rechten folgen, beides konnte er leicht abwehren. Jetzt wurde ich richtig wütend. Ich verfolgte seine tänzelnde Gestalt. Schmerzhafte Schläge trafen mich, ich schüttelte sie aber ab. Ich mußte diesem lächerlichen Nichtskönner einen Schlag versetzen, der ihn lehren sollte, wer hier der Boß ist; dann konnte er dieses gottverdammte Match gewinnen. Plötzlich erfolgte in meinem Gesicht eine betäubende Explosion, und ich fühlte, daß ich auf die Knie ging. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine versagten. Ich schüttelte wild den Kopf und horchte auf das Zählen des Schiedsrichters. Sieben! Da fühlte ich, daß mir die Kraft in die Beine zurückkehrte. Acht! Und jetzt gelang es mir, aufzustehen, mein Kopf war wieder ganz klar. Ich wußte, daß ich mir's zutrauen konnte. Neun! Aber wozu? Ich mußte ja doch verlieren. Ebensogut konnte ich mich schon jetzt auszählen lassen. Als sich die Hand des Schiedsrichters wieder aufwärtsbewegte, stand ich dennoch wieder auf den Beinen. Wozu, zum Teufel, hab ich das getan? Ich hätte liegenbleiben sollen. Der Schiedsrichter hielt mich an den Handgelenken und wischte meine Handschuhe an seinem Hemd ab. Dann trat er zurück und Gardella kam auf mich zugestürzt. Da ertönte der Gong, ich trat rasch zur Seite und begab mich in meine Ecke zurück.
Ich sank auf meinen Sitz. Ich wünschte mir sehnlichst, daß Spritzer, der mir in die Ohren schrie, endlich den Mund halten würde. Es hatte ja doch keinen Zweck. Plötzlich trafen mich seine Worte bis ins innerste Mark: »Was willst du sein, Danny? Dein ganzes Leben ein jämmerlicher Niemand? Du kannst diesen Burschen mit Leichtigkeit k. o. schlagen. Schüttle deine Lethargie endlich ab und setz ihm tüchtig zu!«
Ich hob den Kopf und starrte in die andre Ecke hinüber. Gardella grinste selbstbewußt. Ein jämmerlicher Niemand? Das war genau das, was sich abspielen würde. Ich würde genauso sein wie alle übrigen auf der East-Side - unbekannt und namenlos, ein Bursche, der seine Karten falsch gemischt hat.
Als der Gong ertönte, sprang ich auf und trat in die Mitte des Rings. Gardella kam ohne Deckung auf mich.losgestürzt. Er hatte alle Vorsicht vergessen. Beinahe war ich versucht zu lachen. Er glaubte den Sieg bereits in der Tasche zu haben. Zum Teufel mit dir, Gardella! Zum Teufel mit Fields! Er kann seine fünfhundert zurückhaben und sich von mir aus aufhängen.
Ich fühlte den Schmerz der Erschütterung fast bis zu meinem Ellbogen hinaufschießen. Der Schlag hatte es in sich! Da steckte Kraft dahinter. Und gleich noch einen! Aber wenn du geglaubt hast, daß der vorige wehgetan hat, du Schweinekerl, dann will ich dir noch diesen verpassen!!
Ich fing seine schwachen Schläge beinahe lässig ab und ließ meine Faust mit einem Uppercut meiner Rechten emporschnellen. Und jetzt war meine Faust durch das rasante Tempo meiner Schläge, trotz grellster Beleuchtung, nur noch undeutlich zu sehen. Plötzlich taumelte Gardella, und ich trat
zurück.
Er fiel. Ich sah zu, wie er fiel, denn es geschah beinahe im Zeitlupentempo. Er stürzte der Länge nach vor meine Füße. Eine Sekunde lang starrte ich auf ihn hinunter, dann ließ ich die Hände sinken, schob meine Shorts zurecht und begab mich sicheren Schrittes in meine Ecke. Ich hatte keine Eile, ich hatte unendlich viel Zeit. Für heute abend war's bei dem Burschen mit dem Boxen vorbei. Der Schiedsrichter winkte mir, und ich eilte zu ihm zurück. Er hielt meinen Arm in die Höhe. Die Menge rief meinen Namen, als ich grinsend in meine Ecke zurückkehrte. Champion! Ich schwebte im siebenten Himmel! Dieses Hochgefühl beflügelte mich den ganzen Weg zur Umkleidekabine. Ich war trunken vor Glück und schritt wie über Wolken.
Plötzlich war alles vorbei, die freudige Erregung entwich, wie die Luft aus einem Kinderballon entweicht, in den man mit einer Nadel sticht. An der Wand der Ankleidekabine lehnte eine vertraute Gestalt. Das Brüllen der Menge verklang, während ich ihn anstarrte. Es war Spit. Er lächelte mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck. Er hatte die Nägel mit seinem Messer gereinigt. Jetzt hob er es, noch immer lächelnd und wies auf mich. Ich fühlte, wie es mich eiskalt überlief. Dann verschwand er in der Menge. Ich blickte mich rasch um, ob jemand etwas bemerkt hatte. Niemand hatte ihn beachtet, alle sprachen aufgeregt durcheinander. Ihre Flut riß mich weiter fort.
Sam war bereits in der Ankleidekabine, sein Gesicht zerfloß in einem breiten Grinsen. Er ergriff meine Hand. »Ich hab's immer gewußt, mein Junge, daß du's in dir hast! Ich hab's geahnt! Schon damals, beim erstenmal, in der Schule.«
Ich starrte ihn stumm an. Ich konnte nicht sprechen. Ich wollte nichts als von hier wegkommen, und zwar so schnell wie möglich.
»Gute Nacht, Champ!« Zep lächelte, als er uns in dem schwach beleuchteten Hausflur verließ und die Treppe hinaufstieg. Wir sahen, wie er um die Biegung des ersten Treppenabsatzes verschwand. Dann drehten wir uns um und sahen einander an. Sie lächelte zu mir empor und legte ihre Arme um meinen Hals. »Zum erstenmal sind wir heute abend allein«, flüsterte sie vorwurfsvoll, »und du hast mich noch nicht geküßt.«
Ich beugte mich zu ihr, um sie zu küssen, aber als sich unsere Lippen berührten, hörten wir von der Stiege her ein knackendes Geräusch. Ich schrak zurück und lauschte gespannt. »Danny, ist etwas los?« Ihre Stimme klang besorgt. Ich sah zu ihr hinunter. Sie blickte mich forschend an. Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen. »Nein, Nellie.«
»Weshalb bist du denn so nervös?« fragte sie und zog mein Gesicht wieder zu sich hinunter. »Willst du mich denn gar nicht küssen?«
»Ich bin noch immer schrecklich durcheinander«, antwortete ich ziemlich lahm. Ich konnte ihr nicht sagen, was in mir vorging, nein, das konnte ich niemandem sagen.
»Zu durcheinander, um mich zu küssen?« neckte sie mich lächelnd. Ich versuchte darauf einzugehen, vermochte es aber nicht und küßte sie statt dessen. Ich preßte meinen Mund leidenschaftlich auf ihre Lippen und fühlte, wie ich sie beinahe zerdrückte. Sie schrie verzückt auf.
»Und wie denkst du jetzt darüber?« fragte ich. Sie fuhr mit einem Finger über ihre wunden Lippen. »Du hast mir wehgetan«, klagte sie.
Ich lachte wild auf. »Das ist noch nicht alles, was ich dir antun will«, versprach ich und zog sie eng an mich. Ich küßte sie auf den Hals und den Nacken, und meine Arme umklammerten sie erbarmungslos.
»Danny, ich liebe dich!« flüsterte sie mir ins Ohr. »Und ich liebe dich«, flüsterte auch ich und ließ sie nicht los. Ich fühlte, wie ihr Körper, dicht an mich gepreßt, in meinen Armen schlaff wurde. Und wieder fanden sich unsre Lippen, und in ihrem Kuß war eine Glut, die mein Blut in wilden Aufruhr versetzte. »Nellie!« rief ich heiser und drehte sie mit hartem Griff herum. Ihr Rücken preßte sich jetzt an meinen Leib, und meine Arme lagen gekreuzt über ihren Brüsten. Ihre Bluse hatte sich am Nacken verschoben, und ich drückte meine Lippen gierig auf ihre zarte Schulter.
Sie wandte mir ihr Gesicht zu, und ihre Hand fuhr mir liebkosend über die Wange. Sie sprach sehr leise. »Danny«, murmelte sie, »Danny, meine Beine werden so schwach, daß ich kaum noch stehen kann.«
Ich zerrte an ihrer Bluse, und ihre Brüste lagen warm in meinen Händen. Sie seufzte tief auf und sank willenlos gegen mich. So standen wir, wie es mir schien, lange, lange Zeit. Schließlich bewegte sie sich in meinen Armen und wandte mir im Dämmerlicht ihr Gesicht zu. Der Ausdruck ihrer Augen war voll Liebe und Zärtlichkeit. »Mein Rücken tut weh«, sagte sie leise, in entschuldigendem Ton.
Ich lockerte meine Umarmung, sie drehte sich zu mir herum und hielt meine Hände fest an ihre Brust gedrückt. Sie lächelte glücklich. »Fühlst du dich jetzt wieder wohler?«
Ich nickte. Es war wahr, denn für kurze Zeit hatte ich alles andre vergessen.
Sie küßte mich und schob meine Hände von ihrer Bluse. Ihr Gesicht war erhitzt und gerötet, ihre dunklen Augen sprühten, auf ihren Lippen lag ein süßes Lächeln. »Jetzt wirst du vielleicht auch nach Hause gehen und schlafen können?« fragte sie. »Du warst den ganzen Abend so nervös.«
Ich nickte wieder. Sie hatte recht, ich war den ganzen Abend nervös und gereizt gewesen. Im Restaurant, in das uns Sam alle zu einem Dinner eingeladen hatte, war ich bei jedem Schritt aufgefahren. Ich hatte kaum etwas essen können. Ich hatte mir eingebildet, daß es niemand bemerkte. Jetzt ergriff ich ihre Hand und küßte die Handfläche. »Was auch immer geschieht, Nellie«, sagte ich rasch, »vergiß nie, daß ich dich liebe.«
»Und ich liebe dich, was immer auch geschieht«, erwiderte sie feierlich und bot mir ihr Gesicht zum Kuß. »Gute Nacht, Danny.« Ich küßte sie. »Gute Nacht, mein Herz.«
Ich sah ihr nach, bis sie über die Treppe verschwunden war, dann trat ich auf die Straße.
Ich war nur wenige Schritte den Häuserblock entlang gegangen, als ich das Gefühl hatte, von jemandem beobachtet zu werden. Ich blieb stehen und sah zurück. Die Straße war völlig verlassen. Ich ging wieder weiter, doch das merkwürdige Gefühl war geblieben. zu schauen. Es war zwei Uhr vorbei. Plötzlich glaubte ich im Schatten hinter mir eine Bewegung zu bemerken. Ich drehte mich um, und mein Herz begann wie rasend zu schlagen. So stand ich sprungbereit, um die Flucht zu ergreifen.
Da trat aus dem tiefen Schatten eine kleine graue Katze. Ich lachte beinahe vor Erleichterung. Als nächstes werde ich wohl noch Gespenster sehen. Ich setzte meinen Weg fort.
Die Lichter der Delancey Street tauchten vor mir auf. Ich mischte mich unter die Menge und freute mich. Hier konnte mir nichts geschehen. Langsam ließ ich mich in dem Strom mittreiben, und nach und nach begann ich mich wieder normaler zu fühlen. An der nächsten Straßenecke schrie ein Zeitungsjunge: »Morgenzeitung! Die Sieger im Boxmatch!« Ich ließ zwei Pennys in seine Hand fallen, nahm eine Zeitung und überflog die letzte Seite mit den Sportnachrichten. Ich betrachtete die Bilder der Boxer mit großem Interesse. Meines befand sich rechts oben in der Ecke. Die Kamera hatte mich in der Haltung des Siegers erfaßt, nachdem ich Gardella eben k. o. geschlagen hatte. Ungeheurer Stolz bemächtigte sich meiner. Box-Champion! Nichts und niemand konnte mir diesen Titel wieder streitig machen. Ich fragte mich, ob einer unter all den Leuten, die an mir vorbeiströmten, mich erkannte, ob jemand wußte, daß ich, Danny Fisher, hier mitten unter ihnen stand. Urplötzlich verschwand mein Lächeln. Ich sah unmittelbar in die Augen eines Menschen, der mich erkannte: es war Spit. Er lehnte sich gegen das Fenster der Paramount Cafeteria und sah mir grinsend entgegen. Die Zeitung entfiel meinen kraftlos gewordenen Händen und flatterte in den Rinnstein. Ich hatte die ganze Zeit über recht gehabt, sie hatten mich verfolgt und warteten hier, bis sie mich allein zu fassen bekamen.
Spit nickte einem Mann zu, der am Straßenrand stand. Ich erkannte ihn sofort. Er war hier in der Gegend als der Kassierer bekannt. Fields verwendete ihn dazu, um hinter den Leuten her zu sein, die sich zu zahlen weigerten. Nachdem er sie in der Arbeit gehabt hatte, waren sie gewöhnlich froh, ihre Rechnungen noch zahlen zu können. Falls sie nämlich noch dazu imstande waren. Ich mischte mich rasch wieder unter die Menge und unterdrückte den übermächtigen Wunsch davonzulaufen. Solang ich mich unter Menschen befand, war ich in Sicherheit. Als ich über die Schulter zurücksah, schlenderten Spit und der Kassierer lässig hinter mir drein, wie zwei Männer, die aus der letzten Kinovorstellung kamen und jetzt nach Hause gingen. Obwohl sie mir scheinbar keine Aufmerksamkeit schenkten, wußte ich, daß sie mich keine Sekunde aus den Augen ließen.
Ich bog in die Clinton Street ein, wo die Menschenmenge bereits erheblich dünner war, ich befand mich aber noch immer in Sicherheit. Gefährlich wurde es erst beim nächsten Häuserblock. Um diese Nachtstunde war er gewöhnlich menschenleer. Kam ich glücklich über diese Strecke hinweg, dann brauchte ich nur noch um die Ecke zu biegen und war zu Hause.
Ich überblickte die Menschen, die noch vor mir gingen, und mein Mut sank. Der nächste Häuserblock war tatsächlich wie ausgestorben. Ich verlangsamte meine Schritte und spielte mit dem Gedanken, in die Delancey Street zurückzukehren. Ein Blick nach hinten veranlaßte mich, diesen Gedanken wieder fallenzulassen. Sie waren mir zu dicht auf den Fersen. Sie würden mir den Weg verstellen. Mir blieb nur ein einziger Weg: geradeaus. Meine Gedanken jagten wild durcheinander. Ich befand mich jetzt beinahe an der Ecke. Das Bild des folgenden Häuserblocks erstand vor meinem geistigen Auge. Nach etwa dreiviertel der Strecke zweigte ein ganz schmaler Weg ab, der zwischen zwei Häusern entlanglief. Er war für eine Person gerade breit genug. Konnte ich ihn erreichen, dann hatte ich eine Chance. Eine sehr schwache zwar, aber meine einzige.
An der Ecke wechselte eben das Licht der Verkehrsampel, und ein riesiger Lastwagen mit Anhänger bog direkt vor mir ein. Ich stürzte mich vor ihm über die Fahrbahn. Hinter mir kreischten die Bremsen, während ich die andre Seite glücklich erreichte. Ich blickte nicht zurück. Spit schrie auf den Lastwagenfahrer ein, der die beiden von mir abgeschnitten hatte. Ich war beinahe die Hälfte der Strecke bis zu dem schmalen Weg gelaufen, ehe ich es wagte, einen Blick über meine Schulter zu werfen.
Spit und der Kassierer hatten soeben den Gehsteig erreicht und liefen jetzt hinter mir her. Angst beschleunigte das Tempo meiner Beine noch mehr. Ich lief in der Dunkelheit beinahe an dem Weg vorbei. Doch dann bog ich scharf ein und stieß mit meiner Schulter an die Hausmauer. Ein Ziegelstein fiel krachend zu Boden, und ich floh tiefer in den Schatten der beiden Häuser. Es war stockfinster hier, so finster, daß ich nicht mehr erkennen konnte, wohin ich lief. Ich bewegte mich jetzt vorsichtiger und tastete mich mit einer Hand an der Mauer entlang, um so den Weg zu finden. Er lief die ganze Länge der beiden Gebäude entlang - es waren nahezu zwölf Meter von der Straße -, um schließlich an einer Mauer als Sackgasse zu enden. Plötzlich berührte ich mit der vorgestreckten Hand diese Mauer. Ich blieb stehen und tastete mit den Fingern darüber hin. Nicht viel höher mußte sich ein schmaler Sims befinden. Da! Da ist er!! Ich kletterte geräuschlos hinauf, dann drehte ich mich um, das Gesicht der Straße zugewandt. Dann streckte ich meine Hand aus und suchte die Stahlstange, die sich, wie ich wußte, zwischen den beiden Häusern befand.
Meine Augen hatten sich jetzt an die Finsternis gewöhnt, und ich fand die Stange in dem schwach reflektierten Licht der Straßenbeleuchtung. Ich umklammerte sie und saß nun zusammengekauert wartend da. Ich bemühte mich, die Finsternis mit meinen Blicken zu durchdringen. Nur einer der beiden konnte hier an mich herankommen. Mein Herz hämmerte zum Zerspringen. Ich zwang mich, ruhig zu atmen.
Jetzt drang vom Eingang des Weges Stimmengemurmel zu mir. Ich bemühte mich, die Worte zu verstehen, konnte aber nicht einmal die Stimmen voneinander unterscheiden. Dann verstummten sie, und ich hörte das scharrende Geräusch der Schritte, die langsam den schmalen Weg auf mich zukamen.
Die Straßenbeleuchtung umriß die Silhouette eines Mannes. Er bewegte sich vorsichtig in der Finsternis und tastete sich, ebenso wie ich, mit der Hand an der Mauer entlang. Jetzt tauchte ein zweiter Schatten im Eingang auf. Ausgezeichnet. Einer wartete also auf der Straße. Ich fragte mich, welcher der beiden mir da entgegenkam. Ich brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Eine rauhe Stimme zischte durch die Finsternis. »Wir wissen, daß du hier bist, Fisher. Komm mit uns zum Boß, dann hast du noch 'ne Chance.« Ich zog die Luft scharf ein. Es war der Kassierer. Ich antwortete nicht. Die Chance, die sie mir geben würden, kannte ich. Jetzt war er etwa bis zur Hälfte des
Weges zu mir vorgedrungen. Er ließ sich jetzt wieder vernehmen, diesmal ungefähr zehn Schritte von mir entfernt. »Hast mich gehört, Fisher? Komm 'raus, und du kriegst 'ne Chance!« Das schwache Licht der Straßenbeleuchtung ließ mich seine massige Gestalt erkennen. Ich richtete mich, gespannt in allen Muskeln, auf, und meine Hand umklammerte die Stahlstange. Nun war er nur noch sechs Fuß von mir entfernt. Fünf Fuß. Vier! Er konnte mich in der Dunkelheit nicht sehen, aber ich sah ihn.
Drei Fuß. Zwei. Jetzt!!
Ich stieß mich mit den Füßen von dem Mauersims ab, die Stange hielt ich noch immer fest umklammert, und schwang mich durch die Luft, wobei ich mit den Füßen auf seinen Kopf zielte. Zu spät fühlte er die plötzlich hereinbrechende Gefahr. Er versuchte seitwärts auszuweichen, hatte aber keinen Platz. Meine schweren Schuhe trafen ihn mitten aufs Kinn und ins Gesicht. Man hörte einen dumpfen Schlag und unter meinen Füßen gab etwas nach. Der Kassierer stürzte zu Boden. Über ihm an der Stange in der Luft hängend, sah ich hinunter und versuchte in der Finsternis etwas von ihm zu erkennen. Er lag zusammengekrümmt wie ein Schatten auf dem Boden. Er stöhnte leise. Ich ließ die Stange los und ließ mich neben ihm zu Boden fallen. Da fühlte ich an meinem Bein eine Bewegung und stieß sofort mit dem Fuß wild auf ihn los. Es gab einen sonderbar knirschenden Ton, als er mit dem Kopf an die Wand stieß. Dann trat tiefe Stille ein.
Ich tastete rasch über sein Gesicht. Er war ganz still und lag völlig reglos da. Er war ohnmächtig geworden.
Ich sah wieder zum Eingang. Spit stand noch immer dort, in der Haltung eines aufmerksam Lauschenden. Sein Körper zeichnete sich gegen das Licht ab, während er versuchte, die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchdringen. Seine Stimme drang jetzt bis zu mir. »Hast ihn geschnappt?«
Ich grunzte eine Zustimmung. Ich mußte ihn hier hereinlocken, wenn ich mit gesunden Gliedern wieder herauskommen wollte. Es war meine einzige Chance. Ich kauerte mich auf den Boden. Spits Stimme ertönte aufs neue, und er bewegte sich langsam den schmalen Weg entlang. »Halt ihn fest. Ich möchte dem dreckigen Betrüger mein Zeichen verpassen!« Ein Lichtschimmer traf etwas Blitzendes in seiner Hand. Es war sein Messer. Ich kauerte mich noch mehr zusammen, kroch vorwärts und hielt den Atem an. Nur noch einige Schritte.
Und jetzt sprang ich von dem dunklen Boden auf, meine Fäuste zielten auf Spits Kinn. Durch seinen Instinkt vor einer Gefahr gewarnt, zuckte er mit dem Kopf zurück, und meine Faust streifte bloß sein Gesicht.
Im Licht der Straßenbeleuchtung fuhr sein Messer blitzend auf mich herab. Verzweifelt griff ich danach und hielt es fest. Er wehrte sich in meinem Griff, seine freie Hand suchte meine Augen. Betäubender Schmerzdurchfuhr meinen Arm, als Spit die Schneide des Messers, das ich festhielt, in meiner Handfläche umdrehte. Als Reflexbewegung zuckte ich mit der Hand zurück und ließ das Messer los. Und schon fühlte ich einen brennenden Schmerz in der Seite, Spit hatte das Messer sofort abwärts gestoßen.
Durch den plötzlichen Schock atemlos, griff ich dennoch nach seiner Hand mit dem Messer. Ich fand sie und hielt sie fest. Spit begann das Messer wieder zu drehen, und die Nerven meiner Hand schrien vor Schmerz - ich wagte es aber nicht, nochmals loszulassen. Mit der freien Hand suchte er jetzt meine Kehle zu fassen. Endlich gelang es mir, trotz der Dunkelheit einen Schlag in seinem Gesicht anzubringen. Ich fühlte in den Knöcheln einen scharfen Schmerz, als sie gegen seine Zähne stießen, aber es war ein willkommener Schmerz. Mit dem Knie stieß ich nun heftig nach seiner empfindlichsten Stelle. Er schrie auf und krümmte sich vor Schmerz zusammen.
Mit einem Ruck riß ich seine Hand mit dem Messer nach hinten und riß ihn damit wieder hoch. Jetzt stand er mit dem Rücken gegen die Wand, und meine Schulter rammte sich tief in seine Kehle. Und dann prasselte Schlag auf Schlag auf sein Gesicht nieder. Schließlich sank er vornüber.
Ich ließ seinen Arm los und trat zurück. Mein Atem fuhr rasselnd durch die Kehle, während er wie eine Marionette auf dem Boden lag. Ich beugte mich über ihn und suchte sein Messer. Ich fand es, aber die Spitze war zwei Zoll tief in seine Seite eingedrungen. Das mußte geschehen sein, als ich ihn gegen die Wand drückte. Ich war keines Gefühls mehr fähig. Ich war weder froh noch bedauerte ich etwas, dann es hatte geheißen: er oder ich. Ich erhob mich und verließ langsam den schmalen Weg. Dabei überlegte ich, ob Spit tot war. Irgendwie war's mir aber gleichgültig. Es war völlig bedeutungslos. Für mich schien überhaupt nichts mehr Bedeutung zu haben, außer nach Hause zu gehen und mich ins Bett zu legen. Dann würde alles wieder in Ordnung sein, denn morgen würde ich aufwachen und feststellen, daß alles nur ein böser Traum war.
Ich stand im Treppenhaus vor unserer Wohnungstüre und suchte in der Tasche nach meinen Schlüsseln. Sie waren nicht da. Nichts war in meinen Taschen als fünfhundert Dollar und ein Bleistiftstummel. Müde versuchte ich mich zu erinnern, was ich mit ihnen gemacht hatte.
Plötzlich erinnerte ich mich. Ich hatte sie heute früh meinem Vater auf den Tisch geworfen. Wir hatten Streit gehabt. Ich konnte mich aber nicht einmal erinnern, worüber wir gestritten hatten. Unter der Türe drang ein Lichtschimmer hervor. Jemand mußte noch wach sein und würde mich einlassen. Ich klopfte leise an die Türe. Ich hörte, wie im Zimmer ein Sessel scharrte, dann näherten sich auf der anderen Seite der Türe schwere Schritte. »Wer ist da?« wurde gefragt. Es war die Stimme meines Vaters. Als ich bemerkt hatte, daß mir die Schlüssel fehlten, war in meine Kehle ein Klumpen aufgestiegen, und jetzt weinte ich beinahe vor Erleichterung. »Ich bin's, Papa«, sagte ich, »laß mich 'rein.« Jetzt wird alles wieder gut werden.
Einen Moment war es totenstill, dann hörte ich die Stimme meines Vaters: »Mach, daß du fortkommst!«
Langsam kam mir der Sinn seiner Worte zum Bewußtsein. Ich schüttelte den Kopf, um ihn ganz klar zu bekommen, ich begann ja Unsinn zu hören. So etwas würde mein Vater doch niemals sagen. »Ich bin's, Danny«, wiederholte ich. »Laß mich rein.« Papas Stimme klang jetzt entschiedener. »Ich hab gesagt, mach, daß du fortkommst!«
Kalte Angst schüttelte mich. Ich hämmerte gegen die Türe, und meine verwundete Hand hinterließ blutige Abdrücke. »Laß mich 'rein, Papa!« schrie ich hysterisch. »Laß mich 'rein! Ich weiß doch nicht, wohin ich sonst gehen soll!«
Jetzt hörte ich auch Mamas Stimme. Sie schien ihn anzuflehen, zu beschwören. Dann war wieder Papas Stimme zu vernehmen, sie war rauh und heiser und unerbittlich. »Nein, Mary, ich bin fertig mit ihm. Ich habe im Ernst gesprochen. Diesmal ist's endgültig!« Durch die Türe hörte ich ihr Schluchzen, und gleich darauf das Knipsen des Lichtschalters. Der Lichtschimmer unter der Türe war verschwunden, und das Schluchzen verklang langsam im Innern der Wohnung. Dann herrschte tiefe Stille.
Einen Moment stand ich tief erschüttert und in grenzenloser Verwirrung vor der Türe. Dann begriff ich. Es war vorbei - alles war vorbei. Papa hatte Ernst gemacht.
Langsam stieg ich die Treppe hinunter, einsam, verlassen und wie ausgebrannt. Auf dem Vorplatz schlug mir die Nachtluft kühl entgegen. Ich sank auf die Stufen und lehnte meinen Kopf an das Eisengitter. Tränen liefen mir über die Wangen, und in meinem Arm fühlte ich brennende Schmerzen. Ich strich mit der Hand darüber hin, meine Finger wurden feucht und klebrig.
Meine Handfläche war zerschnitten und blutete, und mein rechter Ärmel war aufgeschlitzt. Durch den Riß konnte ich bei dem schwachen Lichtschein den Schnitt in meinem Arm sehen. Blut quoll langsam hervor, aber auch das war ohne Bedeutung. Mir war alles gleichgültig, ich war zu müde. Ich stützte meinen Kopf gegen das Gitter und schloß die Augen.
Sie blieben aber nur einen Moment geschlossen, denn ich riß sie mit einem Ruck wieder auf. Das sonderbare Gefühl, das ich schon früher am Abend gehabt hatte, war wiedergekehrt. Jemand beobachtete mich. Mit aufgedunsenen, verschwollenen Augen spähte ich die Straße entlang.
Auf der gegenüberliegenden Seite parkte ein Auto. Die Scheinwerfer waren abgeblendet, doch der Motor lief leise. Sie waren wieder hinter mir her! Spit und der Kassierer mußten bereits Bericht erstattet haben.
Ohne mich zu erheben, rollte ich auf den Bauch und kroch in den Hausflur zurück. Dort blieb ich einen Augenblick zusammengekauert liegen und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Vielleicht konnte ich durch den Hinterhof schleichen und ihnen über das Dach des nächsten Hauses entkommen.
Doch ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkam mich. Was wäre damit erreicht? Sie werden ja doch so lange hinter mir her sein, bis sie mich gefunden haben. Sie hatten überall ihre Freunde. Es gab keinen Platz, an dem ich mich verbergen konnte. Ich griff in die Tasche. Das Geld war noch da. Vielleicht lassen sie mich noch einmal davonkommen, wenn ich ihnen das Geld zurückgebe? Doch während ich noch überlegte, wußte ich bereits, daß es nichts nützen würde. Ich hatte es zu weit getrieben. Ich wußte auch zuviel.
Doch das Geld kann dem Zweck, für den ich es gewollt hatte, noch zugeführt werden. Der Alte konnte sich das Geschäft damit kaufen. Mindestens aber bekommen Mama und Mimi auf diese Art eine Chance. Wenn sie mich mit dem Geld erwischen, dann würden sie alles haben. Wozu ihnen den ganzen Gewinn überlassen? Neben mir auf dem Boden lag ein Reklamezettel. Ich hob ihn auf und betrachtete ihn. »Großer Ausverkauf in Berners Drugstore.« Ich drehte ihn um, die Rückseite war leer. Ich griff in die Tasche und holte meinen Bleistift heraus. Meine Worte standen mit Bleistift und Blut auf dem Papier:
Liebe Mama - das Geld ist für das Geschäft. Laß nicht zu, daß er's wegwirft. Grüße, Danny.
Ich faltete die Banknoten in das Papier, stand auf und schob es in unsern Briefkasten. Jetzt war ich froh, daß die Regierung unsern Hausherrn gezwungen hatte, neue Briefkästen aufzustellen, denn die alten waren zerbrochen gewesen, und jedermann konnte sie öffnen. Mama wird das Geld morgen früh finden, wenn sie die Post holt.
Der Wagen stand noch immer mit leise laufendem Motor auf der Straße. Ich klopfte den Staub von meinen Hosen. Während ich langsam die Stufen hinabging, stieg mir vom Magen ein dumpfes Gefühl entsetzlicher Übelkeit auf. Ich kehrte dem Wagen absichtlich den Rücken und schritt die Straße hinunter. Als ich die Hälfte des Häuserblocks hinter mir hatte, hörte ich, wie sie den Gang einschalteten und gleich darauf das leichte Geräusch der Reifen, als sich der Wagen vom Straßenrand entfernte. Ich unterdrückte den heftigen Wunsch davonzulaufen und blickte rasch über die Schulter. Der Wagen schwenkte plötzlich auf die andre Straßenseite und fuhr direkt auf mich zu.
Der unwiderstehliche Wunsch davonzulaufen wurde noch stärker. Ich unterdrückte ihn. Zum Teufel mit ihnen! Ich blieb stehen und sah dem Wagen, der auf mich zukam, entgegen. Tränen liefen mir in Strömen über die Wangen, und die Todesangst hatte meinen Körper zu Eis erstarren lassen. Ich schluckte verzweifelt und versuchte den Brechreiz, der mir vom Magen aufstieg, zurückzudrängen.
Ich trat ein paar Schritte zurück und fühlte mit der Hand das kalte Metall eines Laternenpfahls. Völlig entkräftet sank ich dagegen. Ich spürte bereits den bitteren Geschmack des Mageninhalts, der mir in den Mund stieg, und Fetzen verrückter Gedanken jagten mir durch den Kopf.
Wann wirst du endlich erwachsen sein, Danny Fisher?
Im Leben jedes Menschen gibt es einen Punkt, an dem er diese Frage zu beantworten hat. Und in dieser kalten düsteren Nacht fand ich die Antwort.
Ich hatte Angst vor dem Tod. Und während diese gestaltlose Angst meinen Körper schüttelte, mein Magen sich in wilder Rebellion umdrehte, meine Nieren zu einem eisigen Klumpen wurden und meine Blase sich in einen undichten, unkontrollierbaren Hahn verwandelte - da wurde ich plötzlich erwachsen.
Ich wurde erwachsen, weil mir zu Bewußtsein kam, daß ich nicht unsterblich war, daß ich aus Fleisch gemacht war, das verfaulen und sich in Dreck verwandeln, und aus Blut, das sich nach meinem Tod schwarz verfärben würde. Und dann hatte ich dem Tag des Gerichts entgegenzusehen. Ich erkannte auch, daß meine Eltern nur die Werkzeuge waren, die mich entstehen ließen, und nicht die Hüter meiner Seele. Ich war nichts andres als ein Zufall der Schöpfung. Ich war einsam und allein in meiner eigenen Welt, und in dieser Welt mußte ich sterben, und niemand würde sich meines Namens erinnern. Der Tod würde sich auf mich herabsenken, Schmutz mich bedecken, und ich würde nicht mehr sein.
Meine Beine wurden weich, und obwohl ich mich verzweifelt an den Laternenpfahl klammerte, sank ich dennoch auf dem Gehsteig in die Knie. Ich schloß die Augen fest zu, und meine Lider preßten Tränen hervor, während der Wagen zum Stillstand kam. Ich hörte wie sie die Türe öffneten, die Schritte dumpf auf
dem Pflaster hallten und sie auf mich zukamen.
Ich wandte mein Gesicht zum Laternenpfahl und verbarg es in der Armbeuge. Ich spürte, wie mir Blut aus der Unterlippe hervorquoll. Und dann begann ich zu beten. Nicht um mein Leben, nur um meinen Tod, daß er mir gnädig sei und mich vor dem Grauen und Entsetzen befreie, in dem zu leben mir unmöglich war. Eine weiche Hand legce sich auf meinen Arm, und eine Stimme flüsterte mir ins Ohr: »Danny!«
Ich versuchte mein Gesicht noch tiefer zu verbergen. Ein Angstschrei erstickte in meiner Kehle. Die Stimme des Todes war sanft wie die einer Frau, aber nur, um mich noch mehr zu quälen. Die Stimme fuhr beharrlich fort: »Danny, ich habe auf dich gewartet. Du mußt weg von hier!«
Das war nicht die Stimme des Todes. Es war eine Frauenstimme, voll Wärme und Mitleid. Es war die Stimme des Lebens! Langsam hob ich den Kopf, ich wagte kaum aufzuschauen. Ihr Gesicht war im Licht der Straßenbeleuchtung kreideweiß. »Ich bin gekommen, um dich zu warnen«, flüsterte sie rasch. »Max hat dir Spit und den Kassierer auf den Hals gehetzt!« Ich starrte sie einen Moment an, während ich den Sinn ihrer Worte nur langsam begriff. Dann aber vermochte ich mich nicht mehr zu beherrschen. Das ist doch Sarah, genannt Ronnie! Ich begann kraftlos und völlig hysterisch zu lachen. Ich befand mich also noch immer in Sicherheit!!
Sie starrte mich an, als wäre ich plötzlich verrückt geworden. Dann schüttelte sie mich an den Schultern. »Du mußt dich vor ihnen verstecken«, flüsterte sie eindringlich, »sie können jede Minute hier sein!«
Ich sah zu ihr auf, und die Tränen liefen mir noch immer übers Gesicht. Ich streckte ihr meine Hände entgegen. »Hilf mir auf die Beine«, bat ich, und die Worte kamen nur heiser aus meiner brennenden Kehle, »aber sie werden nicht kommen.« Sie legte beide Hände unter meine Achseln und half mir auf die
Füße.
»Was meinst du damit, wenn du sagst, sie werden nicht kommen?« fragte sie.
Jetzt stand ich wieder auf den Beinen. Plötzlich ließ sie mich los, und ich taumelte gegen den Laternenpfahl. Sie starrte mich entsetzt an. »Du blutest ja!« schrie sie. Ich nickte. »Sie haben mich bereits erwischt!« Sie betrachtete mich mit ängstlicher Miene. »Was ist geschehen?« fragte sie atemlos.
»Was geschehen ist?« wiederholte ich mit rauher Stimme und begann wieder zu lachen. »Ich weiß nicht, was geschehen ist. Ich hab sie in einer Sackgasse liegen lassen. Ich glaub, Spit ist tot. Vielleicht auch der andere. Die ganze Sache ist maßlos komisch. Sie sind gekommen, um mich umzubringen, statt dessen hab ich sie umgebracht!«
Lachen gluckste hemmungslos in meiner Kehle, während ich mich mit geschlossenen Augen an den Laternenpfahl lehnte. Es war ein höllischer Spaß auf Maxie Fields Kosten!
Sie zog mich aufgeregt am Arm. Ich stolperte und fiel beinahe wieder hin. »Du mußt von hier weg! Fields wird dich töten, wenn er's erfährt!«
Ich starrte sie, noch immer lachend, an. »Wohin soll ich denn gehen?« fragte ich. »Es gibt keinen Ort, an dem ich mich verbergen könnte. Selbst mein Vater läßt mich nicht mehr ins Haus.« Sie starrte mich an. »Keinen Ort, an dem du dich verbergen kannst?« fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Keinen Ort.« Und ich begann wieder auf den Gehsteig zu gleiten.
Doch da umklammerte sie mich mit beiden Armen und zerrte mich zu ihrem Wagen. Ich ließ es wie betäubt geschehen. Sie öffnete die Türe, und ich stolperte in den Rücksitz. Die Türe schloß sich hinter mir, und sie schob sich hinter das Steuer. Als ich fühlte, wie sich der Wagen in Bewegung setzte, lehnte ich meinen Kopf gegen den Polstersitz und schloß die Augen.
Einmal öffnete ich sie wieder, und da befanden wir uns auf einer Brücke. Sie sah wie die Manhattanbrücke aus, aber ich war zu erschöpft, um genauer hinzuschauen. Ich schloß die Augen wieder. Mir war jetzt sehr warm, und ich veränderte unbehaglich meine Stellung.
Dann zog sie wieder an meinem Arm. Ich erwachte und spürte den Salzgeruch in der Luft. Ich stolperte müde aus dem Wagen und versuchte etwas zu erkennen. Wir parkten in einer dunklen Straße. Wenige Schritte von uns entfernt sah ich einen Promenadeweg, und dahinter schneeweißen Sand. Vom Strand her hörte ich das donnernde Geräusch des Ozeans. Sie führte mich zu einem kleinen Pavillon. Auf einer Tafel war zu lesen:
BENS ERFRISCHUNGSPAVILLON SODA HEISSE WÜRSTCHEN HAMBURGER SÜSSWAREN
»Wo sind wir?« fragte ich.
Ihre Augen überflogen flüchtig mein Gesicht. »Coney Island«, antwortete sie.
Sie führte mich jetzt weiter zu einem kleinen Bungalow hinter dem Pavillon. Ich schwankte unsicher hin und her, und sie hielt einen Arm um meine Schulter gelegt, während sie an die Türe klopfte. »Ben! Wach auf!« rief sie leise.
Licht flammte im Innern des Bungalows auf, und man hörte ein tappendes Geräusch. Dann drang eine Stimme durch die geschlossene Türe. »Wer ist da?«
»Sarah«, erwiderte sie, »beeil dich, Ben, mach auf!« Die Türe wurde rasch geöffnet, und Licht überflutete uns. Mit lächelndem Gesicht stand ein Mann vor uns. »Sarah!« rief er, »ich hab dich nicht so bald zurückerwartet!« Doch als er meiner ansichtig wurde, verschwand das Lächeln von seinen Lippen. »Sarah, wer ist das?«
»Laß uns hinein«, sagte sie und half mir über die Türschwelle.
Schweigend trat der Mann zur Seite. An der Wand befand sich ein schmales Bett, und ich sank dankbar darauf nieder, und sie wandte sich wieder zu dem Mann zurück. »Bring mir heißes Wasser«, sagte sie hastig.
Ich starrte erst sie, dann ihn an. Als er durch das Zimmer schritt, hörte ich wieder das tappende Geräusch. Aus einem Hosenbein ragte ein Holzstumpf hervor, und als er sich umdrehte, sah ich verwundert auf. An einer Seite war sein Ärmel festgesteckt. Ich schloß die Augen, ich mußte das alles träumen! Doch als ich sie wieder öffnete, waren alle beide noch immer da, Sarah und der Mann mit einem Arm und einem Bein.
»Er ist verletzt, Ben«, sagte sie. »Wir brauchen heißes Wasser, um die Wunden zu reinigen.«
Ich setzte mich auf. Mir war schrecklich heiß, und das Zimmer schien vor meinen Augen zu verschwimmen. »Mir ist schon wieder ganz gut«, sagte ich, »mach dir weiter keine Mühe, mir ist ganz gut.«
Doch auf einmal begann sich das Zimmer vor mir zu drehen und beide standen auf den Köpfen. Ich konnte mir das nicht erklären. Vielleicht war ich überhaupt nicht aus der Sackgasse entkommen. In der Ecke sah ich einen Lichtstrahl.
»Papa, laß mich 'rein!« schrie ich und stürzte der Länge nach in das Licht. Dann glitt ich, behende wie ein Fisch, durchs Wasser hindurch und kam auf der ändern Seite in pechschwarzer Finsternis wieder heraus.
Das dritte Buch Mein Alltagsleben
Als ich den Promenadeweg hinunterging, kam die Julisonne gerade aus dem Wasser gestiegen, und ihre goldroten Strahlen verliehen den Wellen ein frischgewaschenes Aussehen. Der Sand unter meinen Füßen war weiß und sauber. Später am Tag wird er wieder schmutzig und mit allerlei Abfall bedeckt sein, aber jetzt war er frisch und kühl, und ich genoß es, ihn unter den Füßen zu spüren. Die Promenade lag ganz verlassen. In zwei Stunden wird der erste Menschenstrom eintreffen. Ich sog die frische Morgenluft mit tiefen Atemzügen ein und trabte zum Wasser hinunter. Jetzt war die einzige Tageszeit, um richtig zu schwimmen. Man hatte den ganzen Atlantischen Ozean für sich allein.
Ich ließ das Handtuch von meinen Schultern fallen und sah an meinem Körper hinab. Auf meinem Arm war nur eine schwache weiße Narbe zurückgeblieben, wo Spit mich getroffen hatte. Alles übrige war verschwunden und verlor sich in der dunklen Sonnenbräune, die meinen Körper bedeckte. Ich habe wahrhaftig Glück gehabt. Mit einem Hechtsprung war ich im Wasser und schwamm rasch auf das weit draußen verankerte Floß zu. Der Geschmack des Salzwassers drang mir in Mund und Nase. Es war erfrischend und belebend. Der Strand schien weit entfernt und nur noch ganz klein. Ich legte mich auf den
Rücken uid ließ mich treiben. Es war beinahe so, als wäre ich allein auf der Welt.
Kaum glaublich, daß fast zwei Monate vergangen waren, seit mich Sarah in jener Nacht hierhergebracht hatte. In Wirklichkeit hatte nicht ich diese grauenvolle Nacht durchlitten, sie war einem ganz andern Menschen widerfahren, der in meinem Körper gelebt und meinen Namen getragen hatte. Doch das lag jetzt alles weit hinter mir. Sarah hatte mir einen neuen Namen gegeben, während sie die Leinenstreifen in heißes Wasser tauchte und mir den Schmutz und das verkrustete Blut von Arm und Hüfte wegwusch. Danny White. Diesen Namen hatte sie mir gegeben, als sie mich ihrem Bruder vorstellte. Ich lächelte, als mir diese Szene einfiel. Zunächst war ich zu schwach gewesen, um zu protestieren, als ich aber am folgenden Tag die Zeitungen las und meinen Namen unter den Bildern der Boxchampions sah, war ich ihr dankbar. Je weniger ihr Bruder oder sonst jemand von mir wußte, desto besser war es. Wir hatten die Zeitung eifrig nach einer Notiz über das Schicksal von Spit und dem Kassierer durchsucht, jedoch nichts gefunden.
Wir hatten verwunderte Blicke gewechselt, wagten aber bis am späten Nachmittag nicht darüber zu sprechen, bis Ben weggegangen war, um Eßwaren einzukaufen.
»Glaubst du, daß man sie schon gefunden hat?« fragte ich. Sie schüttelte mit einem sehr beunruhigten Ausdruck den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie, »heute abend werde ich mehr wissen.«
»Du gehst zu ihm zurück?« fragte ich ungläubig. »Ich muß«, antwortete sie gelassen. »Wenn ich nicht wiederkäme, würde er sofort wissen, daß etwas nicht stimmt, und mich suchen lassen. Es ist die einzige Möglichkeit für uns, in Sicherheit zu bleiben.«
Ich versuchte mich in dem schmalen Bett aufzusetzen, war aber noch zu schwach und fiel wieder in die Kissen zurück. »Ich muß von hier weg«, murmelte ich, »ich bring dir doch nichts als neue Sorgen.« Sie sah mich neugierig an. »Wohin willst du denn gehen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich, »aber ich werde schon was finden. Ich kann nicht hierbleiben, denn früher oder später werden sie's doch herausbekommen. Dann müßtest auch du darunter leiden.« Sie beugte sich zu mir und strich mir leicht über die Wange. »Du bleibst hier, Danny«, sagte sie ruhig, »du bleibst hier und wirst gemeinsam mit Ben arbeiten. Er braucht eine Hilfe, denn er kann das Geschäft nicht allein führen.«
»Wenn mich aber jemand erkennt?« fragte ich. »Niemand wird dich erkennen«, sagte sie mit Überzeugung. »Coney Island ist so weitläufig, im Sommer kommen über eineinhalb Millionen Menschen her, und in einer Menschenmenge kannst du dich am besten verbergen. Sie werden nie auf die Vermutung kommen, daß du hier bist.«
Ich starrte sie an. Was sie sagte, war zweifellos vernünftig. »Was geschieht aber mit dir?« fragte ich. »Er wird doch bestimmt wissen wollen, wo du die vergangene Nacht gewesen bist. Was wirst du ihm sagen?«
»Nichts«, sagte sie entschieden. »Schließlich hat jeder Angestellte das Recht, sich einen Tag freizunehmen. Wenn er mich fragen sollte, was ich getan habe, dann werde ich ihm sagen, daß ich meinen Bruder besucht habe. Er weiß, daß ich ihn jede Woche besuche.«
Jetzt war es an mir, neugierig zu sein. »Weiß dein Bruder etwas über Maxie?«
Sie nickte mit abgewandtem Blick. »Er glaubt, daß ich Maxies Privatsekretärin bin. Und zuvor, glaubt er, habe ich als Modell gearbeitet.« Sie sah mich wieder mit einem flehenden Blick an. »Als er vor fünf Jahren, nach seinem Unfall, erfuhr, daß er einen Arm und ein Bein verloren hatte, wollte er sterben. Er glaubte, nie mehr eine Arbeit finden zu können und daß er mir ständig zur Last fallen werde. Wir sind der Rest unsrer
Familie. Es geschah in dem Jahr, in welchem ich das Gymnasium beendete. Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen und daß ich arbeiten und ihn erhalten würde, bis er wieder wohl genug ist, um selbst etwas zu verdienen. Genauso wie er mich erhalten hatte, nachdem unser Vater gestorben war. Ich würde schon einen Job finden.«
Sie sah mich mit einem freudlosen Lächeln an. »Ich war damals noch ein naives Kind. Ich ahnte nicht, wieviel Geld wir für Medikamente und Ärzte benötigen würden, und ich wußte nicht, wie lächerlich wenig man Sekretärinnen und Stenotypistinnen bezahlt. Die fünfzehn Dollar wöchentlich reichten nicht einmal, um den kleinsten Teil der Kosten zu decken. Meine erste Anstellung war bei einem Boulevardtheater-Agenten. Ich lernte rasch,und als ich nach einigen Wochen zu meinem Boß ging und um eine Gehaltserhöhung bat, lachte er mich bloß aus. Ich verstand ihn nicht und fragte, weshalb er lache. >Sie sind zwar ein kluges Kinde, sagte er, >aber ich kann's mir nicht leisten, Ihnen mehr zu zahlen.< >Aber ich brauche das Geldc, rief ich.
Er überlegte einen Moment, dann kam er um den Schreibtisch herum. >Wenn Sie's wirklich so dringend brauchen<, sagte er, >dann kann ich Ihnen zu einer ordentlichen Bezahlung verhelfen. < >Wie?< fragte ich. >Ich will alles tun, denn ich brauche das Geld!< >Heute abend ist eine Party<, sagte er, >einige Freunde kommen in die Stadt und haben mich gebeten, ihnen für den Abend ein paar nette Mädchen zu schicken. Sie zahlen zwanzig Dollar. < Ich starrte ihn an. Ich glaube, ich habe gar nicht verstanden, was er in Wirklichkeit meinte, aber zwanzig Dollar sind eine Menge Geld. Ich ging also zu der Party. Bisher hatte ich etwas Derartiges noch nicht gesehen. Ich war eben im Begriff, wegzugehen, als mein Boß eintrat und mich steif an der Wand lehnen sah. Er lächelte mir verständnisinnig zu und brachte mir einen Drink. Darauf fühlte ich mich wesentlich besser und gelöster. Ich trank noch mehr davon. Und dann erinnere ich mich, mit ihm in ein anderes Zimmer gegangen zu sein.
Als ich am Morgen erwachte, befand ich mich allein in einem unbekannten Raum und hatte entsetzliche Kopfschmerzen. Ich taumelte blindlings aus dem Bett und suchte meine Kleider. Sie lagen auf einem Sessel. Ein Blatt Papier war angeheftet: >Du kannst heute etwas später kommen<, las ich. Und unter dem Papier befand sich eine Zwanzigdollarnote. Jetzt war ich also eine Nutte. Ich betrachtete mich im Spiegel. In meinem Gesicht war keine Veränderung zu entdecken, und auf meiner Stirn befand sich kein Mal. Nichts hatte sich verändert als die Tatsache, daß ich jetzt einen Weg kannte, mir zwanzig Dollar zu verdienen, wenn ich sie brauchte. Und im Laufe der Zeit brauchte ich sie sehr oft.«
Sie erhob sich und sah auf mich herab. Ihr Gesicht war unbewegt, ihre Stimme klang matt und leidenschaftslos. »Und so war es. Ich arbeitete und bezahlte die Arztrechnungen und die Medikamente, aber erst als ich Maxie Fields bei einer Party kennenlernte und ihm gefiel, bekam ich genug Geld zusammen, um Ben das Geschäft hier einzurichten.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Mein Mund war völlig ausgetrocknet, und ich sehnte mich nach einer Zigarette. Ich streckte die Hand nach einer Packung aus, die in meiner Nähe lag. Sie erriet, was ich wollte, und unsre Hände berührten sich. Ich faßte ihre Hand, und sie sah mir traurig in die Augen.
»So war das bis zu dem Abend, an dem du bei mir bliebst, weil ich dich darum bat und weil du nicht wolltest, daß Maxie glauben soll, ich hätte seinem Befehl nicht gehorcht, und weil du nicht wolltest, daß er mich bestraft. Nie ist's aus Liebe geschehen, immer nur für Geld! Nie um meiner selbst willen.. Bis. zu jener Nacht. Da wurde mir plötzlich klar, was ich so achtlos verschachert hatte. Doch jetzt ist's zu spät. Ich habe den Preis bezahlt und kann von dem Geschäft nicht mehr zurücktreten.«
Sie ließ meine Hand los und reichte mir eine Zigarette. Ich steckte sie in den Mund, und sie gab mir Feuer. »Sarah, mußt du wirklich zurück?« fragte ich. »Ich muß zurück«, antwortete sie tonlos und sah mich verloren lächelnd an. »Es kommt mir beinahe komisch vor, daß du mich Sarah nennst. Es ist so lange her, seit mich außer Ben jemand so genannt hat.«
»Du hast auch keinen andern Namen, ich erinnere mich an keinen andern«, sagte ich. Der traurige Blick verschwand. »Danny«, sagte sie, und ihre Miene heiterte sich auf, »dabei soll's zwischen uns beiden bleiben, immer. Wir wollen Freunde sein.«
Ich ergriff ihre Hand. »Wir sind Freunde, Sarah«, sagte ich ruhig. Bald darauf war Ben mit einem Topf voll heißer Suppe zurückgekommen. Ich kostete etwas davon, schlief aber bald wieder ein. Als ich erwachte, war Sarah gegangen und Ben saß neben meinem Bett. »Ist sie schon weg?« fragte ich und blickte suchend durch den Raum.
Er nickte. »Ihr Boß, Mr. Fields, erwartet sie am Nachmittag zurück. Sie hat bei ihm viel zu tun.«
Ich stimmte ihm zu. »Er ist ein sehr einflußreicher Mann.« Er zögerte einen Augenblick, dann räusperte er sich. »Sie sagt, daß Sie den Sommer über hier arbeiten wollen.« Ich nickte.
»Ich kann mir's aber nicht leisten, viel zu zahlen«, sagte er beinahe entschuldigend, »ich weiß noch nicht, wieviel wir dafür festlegen können.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte ich, »mir ist nicht wichtig, wis Sie mir bezahlen. Wichtig ist nur, daß ich euch beiden das vergelten kann, was ihr für mich getan habt.« Plötzlich grinste er übers ganze Gesicht und streckte mir die Hand entgegen. »Wir werden gut miteinander auskommen, Danny«, hatte er damals gesagt.
Und so war es auch gewesen, jetzt schon fast zwei Monate lang. Sarah kam einmal in der Woche, um uns zu besuchen. Das
Geschäft ging recht gut, Ben konnte seine Kosten decken und war darüber sehr glücklich. Und auch ich war glücklich, weil ich mich außer Fields Reichweite befand.
Als Sarah in der folgenden Woche herausgekommen war, fühlte ich mich wieder ganz wohl. Außer einer gewissen Empfindlichkeit im Arm fehlte mir nichts mehr. Sowie wir einen Augenblick allein waren, fragte ich sogleich, was mit Spit und dem anderen geschehen war.
In den Zeitungen hatte die ganze Woche über keine Zeile gestanden.
Sie befanden sich in der Privatklinik eines Arztes, den Fields gut kannte. Der Kassierer hatte von meinem Fußtritt einen gebrochenen Kiefer, und Spit mußte an der Stelle, in die das Messer eingedrungen war, mit neun Stichen genäht werden. Eineinhalb Zoll weiter - und das Messer wäre ihm ins Herz gedrungen. Irgendwie war ich froh und erleichtert. Die Aussicht auf eine lange Gefängnishaft oder den elektrischen Stuhl wäre entsetzlich gewesen. Fields war außer sich vor Wut. Er hatte geschworen, mich noch zu erwischen, und dann solle ich es büßen. Ehe die Nacht um war, hatte er die ganze Nachbarschaft durchgekämmt, um mich zu finden. Nach einer Woche tobte er noch immer.
Im Laufe der Zeit hatte er aber, wie Sarah erzählte, immer weniger über mich gesprochen. Fields war überzeugt, daß ich mit dem Geld aus der Stadt geflohen war. Ich war froh, daß er das annahm. Ich hatte oft den Wunsch, Sarah zu bitten, ob sie über Nellie und meine Familie etwas in Erfahrung bringen könnte, wagte es aber nicht. Ich versuchte nicht einmal ihnen zu schreiben, denn Fields hatte sie lange Zeit überwachen lassen, wie mir Sarah berichtete. Ich hätte gern gewußt, ob Papa das Geschäft mit dem Geld gekauft, ob Mimi eine Anstellung hatte, wie es Mama ging, ob sie mich vermißten und ob sie sich kränkten, daß ich verschwunden war. In der Nacht lag ich auf meinem schmalen Bett und dachte an sie. Manchmal, wenn ich die Augen schloß, stellte ich mir vor, ich sei wieder zu Hause, Mama koche gerade das Abendessen, und im Haus verbreite sich der köstliche Duft einer Hühnersuppe. Dann kam wohl Papa nach Hause, und Bitterkeit stieg wieder in mir auf. Ich öffnete die Augen, und alle waren wieder verschwunden. Ein anderes Mal dachte ich an Nellie. Ihr Gesicht stand in der Nacht deutlich vor meinen Augen, wie sie mir mit warmem zärtlichem Blick lächelnd in die Augen sah. Ich überlegte, ob sie wohl verstand oder erriet, weshalb ich weggehen mußte. Ich fragte mich, ob sie sich meiner Worte erinnerte: »Was immer auch geschieht, Nellie, vergiß nie, daß ich dich liebe.« Und dann nickte sie in der Dunkelheit, und ich konnte beinahe ihr Flüstern wieder hören: »Und ich liebe dich, Danny, was immer auch geschieht.«
Dann schloß ich die Augen wieder, und das sägende Schnarchen Berts schläferte mich ein. Wenn ich am Morgen erwachte, schien mir die Sonne bereits strahlend in die Augen. So wie sie jetzt schien, während ich, auf dem Rücken liegend, im Wasser dahintrieb. Mein Körper glitt leicht durch die Wellen, ich paddelte ein wenig mit den Händen, und die Wellen plätscherten sanft an mir vorbei. »Danny!« Eine vertraute Stimme rief mich vom Ufer. Als ich mich hastig umdrehte, bekam ich den Mund voll Wasser. Sarah stand am Strand und winkte mir. Ich winkte zurück und schwamm froh ans Ufer.
Sie hatte mein Handtuch gefunden und warf eben ihren Bademantel daneben, als ich aus dem Wasser kam. Ich grinste freudig. »Was tust du heute schon hier?« fragte ich, »wir haben dich erst übermorgen erwartet.«
»Maxie hat außerhalb der Stadt zu tun«, erklärte sie, »so hab ich das ganze Wochenende zu meiner Verfügung.« Ich war neugierig. »Was ist denn passiert?«
Sie schob ihre Haare unter die Bademütze. »Woher soll ich das wissen?« sagte sie achselzuckend. »Es geht mich nichts an, und bei der ganzen Sache interessiert mich einzig und allein, daß ich das Wochenende mit dir verbringen kann.«
Ich erfaßte die volle Bedeutung ihrer Worte erst, als wir wieder im Wasser waren. Sie hatte nichts von Ben gesagt, sie hatte nur von mir gesprochen. Ich wandte ihr mein Gesicht zu und sah sie an. Sie hatte einen recht annehmbaren Kraulschlag, mit dem sie rasch vorwärtskam.
»Hast du schon mit Ben gesprochen?« rief ich ihr zu. »Ja«, erwiderte sie, »er hat mir gesagt, daß du hier bist.« Sie hörte auf zu schwimmen und begann Wasser zu treten. »Das Wasser ist wunderbar«, rief sie, »aber ich bin ganz außer Atem.« Ich schwamm zu ihr hinüber und schob meine Hände unter ihre Achseln. »Ruh dich einen Moment aus«, sagte ich, »dann wirst du gleich wieder ruhig atmen können.«
Ich fühlte die Festigkeit ihres Körpers, während uns die Wellen hin und her schaukelten. Eine wohlbekannte Wärme stieg in mir auf, und ich ließ sie rasch wieder los.
Sie drehte sich im Wasser herum und sah mich an. Sie hatte es wohl auch gefühlt. »Warum hast du mich so plötzlich losgelassen, Danny?« fragte sie.
»Die Wellen waren mir zu stark«, erklärte ich verlegen. Sie schüttelte den Kopf. »Und was war der wirkliche Grund?« Ich starrte sie an. Ihr Gesicht unter der gelben Bademütze war klein und unschuldig, ihre Augen waren jung und klar, so als hätte das Wasser alles weggeschwemmt, was ihr je geschehen war, alle Kränkungen, alle bitteren Erfahrungen. Es hatte keinen Sinn, ihr etwas verbergen zu wollen. Einen Freund kann man nicht täuschen. »Ich hab's mir leichter machen wollen«, sagte ich
aufrichtig. »Inwiefern?« fragte sie beharrlich weiter.
Ich starrte sie noch immer an. »Ich bin nicht aus Holz«, sagte ich, »und du bist schön.«
Ich bemerkte, daß meine Worte sie freuten. »Sonst nichts?« fragte sie.
»Was sollte sonst noch sein?« Ich war verwirrt. Sie zögerte einen Moment. »Was ich bin«, sagte sie langsam. Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Du bist mein Freund«, sagte ich. »Nichts andres zählt.«
Sie umklammerte meinen Arm und hielt sich an mir fest, während ihre Augen mein Gesicht durchforschten. »Bestimmt nicht, Danny?«
Ich nickte. »Bestimmt nicht.« Ich atmete tief ein. »Ich möchte unsre Freundschaft nicht aufs Spiel setzen, das ist alles.« Sie sah ins Wasser. »Du meinst, wenn du mich küssen würdest, könnte das unsre Beziehung zerstören? Ist's das, Danny?«
»Es wäre immerhin möglich.«
Sie sah mir wjeder in die Augen. »Weil du in jemand andern verliebt bist, Danny?« Ich nickte stumm.
Ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihre Augen. »Aber wie kannst du's wissen, Danny, wenn du's nicht einmal versuchst?« fragte sie. »Es gibt soviel verschiedene Arten der Liebe, von denen du vielleicht nicht einmal etwas ahnst.«
Ihre Lippen zitterten, und in ihren Augen schimmerte eine Feuchtigkeit, die nicht nur vom Salzwasser kam. Ich zog sie näher an mich und küßte sie. Ihr Mund war weich, er schmeckte salzig und war dennoch süß und warm. Sie schloß die Augen, während ich sie küßte, und lag willenlos in meinen Armen. Ich sah ihr ins Gesicht. Doch sie wandte den Kopf ab und blickte aufs Meer hinaus. Ich beugte mich nahe zu ihr, um zu verstehen, was sie sagte, denn sie sprach sehr leise. »Ich weiß, daß du mich nie so lieben wirst, wie du sie liebst, Danny, und so soll's auch sein. Aber auch wir können einander etwas geben. Vielleicht ist's nicht sehr viel und nicht für sehr lange, aber was es auch ist, solange es dauert, soll's uns wichtig sein.«
Ich antwortete nicht. Es gab keine Antwort. Sie wandte mir ihr Gesicht wieder zu. Sie sah jetzt sehr jung aus. »Erinnerst du dich, Danny, was ich dir einmal gesagt habe? Es war folgendes: >Nie ist's aus Liebe geschehen, immer nur für Geld. Nie um meiner selbst willen.< Aber einmal im Leben möchte ich, daß es anders ist, einmal möchte ich, daß es für mich ist, weil ich mir's wünsche, nicht weil ich dafür bezahlt werde.« Ich drückte meine Lippen sanft auf ihren Mund. »Es soll genauso sein, wie du dir's wünscht, Sarah«, sagte ich weich. Etwas hatte ich bereits gelernt: man kann eine Freundschaft nicht damit vergelten, daß man einfach sagt, man könne das nicht geben, was der andre von einem verlangt. Und ist der andre bereit einen Ersatz zu
akzeptieren, dann täuscht man ihn nicht; dann täuscht er nur sich selbst. Sarah mußte etwas finden, um sich für vieles zu
entschädigen, und das war ich.
Sie trocknete mir den Rücken mit dem Handtuch. »Es ist mir bis jetzt nicht so aufgefallen«, sagte sie, »aber du bist beinahe so schwarz wie ein Neger, und deine Haare sind von der Sonne ganz ausgebleicht. Jetzt würde dich wohl niemand
wiedererkennen.« Ich sah sie über die Schulter grinsend an. »Du hast mich aber wiedererkannt.«
»Weil ich gewußt habe, wo ich dich finden kann«, sagte sie rasch. Ein nachdenklicher Ausdruck breitete sich über ihr
Gesicht. »Da fällt mir ein: kennst du Sam Gottkin?«
»Ja«, antwortete ich, »was ist mit ihm?«
Sie sah mir in die Augen. »Er war gestern deinetwegen bei Maxie.«
»Was wollte er?« fragte ich rasch.
»Er wollte wissen, wo du bist. Ein junger Italiener war mit ihm gekommen, ich glaube er hieß Zep. Kennst du ihn?« Ich nickte. »Er ist der Bruder meines Mädels. Wie sind sie bloß an Maxie geraten?«
»Sie hatten gehört, daß Maxie in der Nacht nach dem Match überall nach dir gesucht hat und waren gekommen, um den Grund zu erfahren. Sam und Maxie sind alte Freunde. Sam sagte, er habe überhaupt nicht gewußt, daß du verschwunden bist, ehe deine Schwester zu ihm kam. Warum, glaubst du, ist sie zu ihm gegangen?«
»Ich habe früher für Sam gearbeitet«, erklärte ich ihr rasch. »Außerdem sollte Sam, wenn ich Profi würde, mein Manager werden. Was haben sie gesagt?«
»Maxie sagte ihm das, was er wußte. Und das war - nichts.«
»Hat er ihnen gesagt, weshalb er mich gesucht hat?« fragte ich. Sie nickte. »Sam war außer sich vor Wut. Er schrie, Maxie solle die Hände von dir lassen, und beschimpfte ihn nach allen Regeln der Kunst.«
Ich sah sie erstaunt an. »Und Maxie ließ sich das gefallen?«
»Nicht ganz«, antwortete sie. »Maxie behauptete, Sam hätte ihm einen Anteil anbieten müssen, da du aus seinem Territorium bist. Sie begannen heftig zu streiten, und Maxie brüllte, wenn er dich je erwischte, würde er mit dir nach Gebühr verfahren. Darauf sagte Sam, er solle ja nichts unternehmen, ohne es ihn zuerst wissen zu lassen, da er selbst eine Rechnung mit dir zu begleichen habe.« Ich starrte sie an. Das war das Ende. Jetzt gab's niemanden mehr, auf den ich zählen konnte. »Ist Maxie darauf eingegangen?« fragte ich.
»Offenbar hat er schließlich doch eingewilligt«, antwortete sie, »denn nachher haben sie sich bei einigen Drinks zusammengesetzt und über Geschäfte unterhalten. Am Ende rief Sam deine Schwester an, machte mit ihr für den Abend ein Rendezvous aus, und empfahl sich. Nachdem er gegangen war, trampelte Maxie im Zimmer auf und ab und schwor, wenn er
dich finden sollte, würde Sam erst >nachher< etwas erfahren.«
So ungefähr hatte ich es auch von ihm erwartet. Er konnte nicht anders handeln. Ihre nächste Frage überraschte mich sehr. »Ist deine Schwester mit Gottkin verlobt?«
Mir blieb der Mund offenstehen. »Wieso kommst du ddarauf?« stotterte ich.
»Weil Sam als Grund, weshalb er nicht will, daß man dir etwas tut ehe er mit dir gesprochen hat, angab, daß du der Bruder seiner Braut bist, und wenn dir etwas zustieße, würde das seine diesbezüglichen Pläne vernichten.« Ihr Ton war jetzt sehr neugierig. »Hastdu's denn nicht gewußt?«
Ich schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich hab nicht einmal gewußt, daß sie sich kennen.« Ich überlegte, wie das zustande gekommen sein konnte. Es schien mir merkwürdiger als alles übrige, was ich von ihr erfahren hatte. Sam und Mimi... irgendwie konnte ich es nicht glauben.
Vom Strand her rief uns eine Stimme. Ben stand dort und winkte uns. »He!« rief er, »kommt ihr denn überhaupt nicht mehr arbeiten? Was glaubt ihr denn? Ist jetzt vielleicht Weihnachten?«