12

Nachdem ich den Verkaufspavillon geschlossen hatte, war ich eifrig damit beschäftigt, mit einem hübschen Mädchen zu flirten, da bemerkte ich, daß Miß Schindler das Kasino betrat. Ich beobachtete sie verstohlen, als sie bei der Türe stehenblieb und sich umsah. Ich hatte sie vorher nur ein einziges Mal gesehen, als ich zum Bungalow hinübergelaufen war, um einige Kartons Zigaretten zu holen, die ich für den Verkaufspavillon brauchte. Es war eine jener Nächte, in denen man glaubt, man brauche nur die Hand auszustrecken, um die Sterne zu berühren, die so strahlend über unsern Köpfen hängen - eine jener Nächte, die man in einer Stadt nie erlebt. Sie hatte auf den Stufen des Bungalows gesessen, und der Rhythmus der Musik wehte leise vom Kasino herüber. Sie hatte mich angesehen, und einen Moment hatte ich gedacht, sie wolle etwas sagen, aber offenbar hatte sie sich's überlegt. Sie sprach kein Wort - sondern sah mich bloß mürrisch und stumm an, während ich die Kartons an mich nahm und mich wieder entfernte. Ich sprach gleichfalls kein Wort. Ich sah auf die Uhr. Elf Uhr dreißig. Der Abend mußte dort drüben für sie endlos gewesen sein. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, ob sie nicht doch herüberkommen werde.

Ihr Blick blieb an mir haften, dann kam sie auf mich zu. Ich schüttelte das Mädel, mit dem ich mich befaßt hatte, rasch ab. »Dort kommt die Frau vom Boß, Baby«, log ich, »ich muß mich bei ihr melden.«

Ich ließ das Mädchen einfach stehen; sie machte zwar ein ärgerliches Gesicht, aber das war mir egal. Ehe Miß Schindler die Hälfte des Saals durchschritten hatte, befand ich mich bereits an ihrer Seite. »Hallo«, sagte ich lächelnd. »Ich hab mir schon überlegt, wie lang es noch dauern wird, bis Sie hier herüberkommen.« Sie erwiderte mein Lächeln. Es war ein echtes Lächeln und ich wußte jetzt, daß sie ihren Zorn überwunden hatte. »Hallo, Danny«, sagte sie. Unsre Blicke trafen sich. »Es tut mir leid, daß ich heute nachmittag so unausstehlich war.«

Ich sah ihr prüfend in die Augen und bemerkte, daß sie es wirklich ernst meinte. Auf einmal war ich wieder froh und heiter und hatte nur noch warme, freundschaftliche Gefühle für sie. »Es macht nichts, Miß Schindler«, erwiderte ich leise. »Sie waren eben etwas erregt.«

Sie berührte meine Hand. »Mir war schrecklich einsam drüben im Bungalow.«

»Ich kenne das, ich weiß genau, wie Ihnen zumute war«, sagte ich langsam und sah auf ihre Hand, die auf meinem Arm lag. »Manchmal habe ich hier oben genau dasselbe Gefühl. In der Stadt bemerkt man's nicht, aber hier auf dem Land ist der Himmel so weit - da fühlt man sich auf einmal so entsetzlich klein.«

Wir standen einen Moment in verlegenem Schweigen, dann hörte ich, daß die Kapelle in einen Rumba überging. Ich lächelte. »Wollen Sie tanzen, Miß Schindler?«

Sie nickte und ich führte sie auf das Tanzparkett. Sie schmiegte sich in meine Arme, und wir gaben uns dem Rhythmus der Musik völlig hin. Sie tanzte leichtfüßig, und es war ein Vergnügen, mit ihr zu tanzen.

»Du tanzt sehr gut, Danny«, sagte sie lächelnd. »Kannst du alles so gut?«

»Ich fürchte nein, Miß Schindler«, sagte ich, traurig den Kopf schüttelnd. Ich wußte natürlich, daß ich ein ausgezeichneter Tänzer war; nach drei hier verbrachten Sommern mußte man es einfach sein. »Aber Sam sagt, ich habe ein ausgeprägtes rhythmisches Gefühl. Er meint, daß ich deshalb auch ein guter Boxer werde.«

»Willst du noch immer Boxer werden?« fragte sie neugierig. »Ich selbst wollte nie einer werden«, erwiderte ich. »Aber Sam meint, ich wäre der geborene Boxer und könnte, wenn ich alt genug bin, damit eine Menge Geld verdienen.«

»Ist dir Geld denn so wichtig?«

Ich fühlte die sichere Bewegung ihrer Hüfte unter meiner Hand, während ich mit ihr eine komplizierte Tanzfigur ausführte. »Beantworten Sie mir's, Miß Schindler«, parierte ich, »ist's nicht wichtig?«

Darauf wußte sie keine Antwort. Niemand weiß eine Antwort, wenn vom Geld gesprochen wird. Sie sah wieder zu mir auf. »Wir müssen hier oben nicht so förmlich sein, Danny«, sagte sie lächelnd, »ich heiße Ceil.«

»Ich weiß«, sagte ich gelassen.

Dann tanzten wir wieder, und ich summte den Schlager leise mit. Siboneytum turn, ti tumtum tum, ti tum-Siboney. Es ist schon was los mit einem Rumba! Liebt man diese Musik wirklich, dann verliert man jedes Zeitgefühl, wenn man dazu tanzt. Mir gefiel dieser Rumba sehr und ich merkte ihr an, daß sie ihn ebenfalls mochte. Die Musik brachte uns einander viel näher. Es war, als hätten wir vorher schon oft miteinander getanzt.

Plötzlich ging das Orchester in Aula Lang Syne über, und wir waren ziemlich überrascht. Wir sahen einander verlegen lächelnd an. »Für heute ist's damit leider Schluß, Ceil«, sagte ich. »Es muß zwölf Uhr sein.«

Sie sah auf ihre Uhr. »Genau.«

»Danke für den Tanz, Miß Schindler.«

Sie lachte. Ich war überrascht, sie lachen zu hören. Es geschah zum erstenmal, seit sie hier heraufgekommen war. »Ich hab dir doch schon gesagt, daß ich - Ceil heiße.«

Froh und befreit, lachte ich auch. »Ich hab unseren Tanz sehr genossen - Ceil«, sagte ich rasch, »aber jetzt muß ich für mich noch ein Zimmer auftreiben, sonst muß ich auf der Veranda schlafen.«

Ihre Stimme klang bestürzt. »Hab ich dich aus deinem Zimmer vertrieben?«

Ich lächelte, »'s ist okay, Ceil, Sie haben's ja nicht gewußt.«

»Es tut mir wirklich leid, Danny«, sagte sie zerknirscht. »Wirst du noch ein Zimmer bekommen?«

Ich grinste, »'s wird mir nicht schwerfallen.« Ich wandte mich zum Gehen. »Gute Nacht, Ceil.«

Sie hielt mich am Ärmel zurück. »Ich möchte noch einen Drink, Danny«, sagte sie rasch. »Kannst du mir einen besorgen?« Ihr Gesicht hatte jetzt einen nervösen Ausdruck - so wie man aussieht, wenn man auf jemanden wartet und nicht weiß, ob er kommen wird oder nicht. Sie tat mir leid. »Ich hab für Sam etwas Bier kaltgestellt, das können Sie haben«, sagte ich. Dieses Bier war erst im Frühjahr gesetzlich zugelassen worden. Sie schauderte ein wenig. »Kein Bier. Gibt's nichts

andres?«

»Sam hat eine Flasche Old Overholt im Bungalow. Ich kann Ihnen dazu Selterswasser und ein paar Eiswürfel bringen.«

»Das wäre großartig«, sagte sie lächelnd.

Ich schloß den kleinen Eisschrank hinter der Theke des Verkaufspavillons auf, nahm eine Flasche Selterswasser und eine Tasse mit Eiswürfeln heraus; dann versperrte ich den Eisschrank wieder. Das Kasino war beinahe leer, als ich zu ihr zurückkehrte. »Hier«, sagte ich lächelnd. »Ich werde es zum Bungalow hinübertragen und Ihnen zeigen, wo der Whisky steht.«

Sie folgte mir in die Nacht hinaus. Als wir das Kasino verließen, drehte jemand die Beleuchtung ab und das ganze Gelände lag in tiefe Finsternis getaucht. Ich fühlte, daß sie zögernd stehenblieb. »Halten Sie sich an meinem Arm fest«, schlug ich vor. »Ich kenne hier jeden Schritt.«

Ich erwartete, daß sie ihre Hand auf meinen Arm legen würde, aber statt dessen hängte sie sich in mich ein und schritt dicht neben mir weiter. Ihre Nähe machte mich so befangen, daß ich mehrmals beinahe stolperte. Als ich das Licht im Bungalow anknipste, spürte ich, daß mein Gesicht heiß und blutrot war. Ich blieb stehen und sah sie an. In der Tiefe ihrer Augen geisterte unterdrücktes Lachen. Sie hatte mich jetzt völlig verwirrt. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

»Ich bin noch immer durstig, Danny«, sagte sie sarkastisch. Ich drehte mich hastig und verwirrt zum Schreibtisch um, zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Flasche.

Sie hielt bei ihrem dritten oder vierten Drink - wir saßen auf den Stufen des Bungalows -, als das Telefon zu läuten begann. Sie hatte mich eben ausgelacht und versuchte mich zu verleiten, ebenfalls etwas zu trinken.

Ich sprang auf, eilte hinein und nahm den Hörer ab. Sie folgte mir, aber nicht so rasch. Der Whisky hatte bei ihr schon ziemlich gewirkt, sie schwankte zwar leicht, stand aber dennoch bereits dicht neben mir, als ich mich am Apparat meldete.

Sams Stimme kam in dem finsteren Zimmer knatternd und dröhnend durch den Hörer. »Danny?«

»Ja, Sam.«

»Ich kann heut abend nicht mehr kommen, so wie ich's versprochen hab.«

»Aber, Sam.«, begann ich zu protestieren. Man hörte jetzt grelles Frauenlachen im Telefon. Ceil, dicht neben mir, zog den Atem scharf ein. Ihr Gesicht sah in der Dunkelheit sehr weiß aus.

Sam schien seine Worte sorgfältig zu wählen. »Sag dem Burschen, der auf mich wartet, daß ich hier festgehalten wurde und daß ich erst morgen nach dem Lunch komme, um das Geschäft abzuschließen. Verstanden?«

»Ja, Sam.« Ich verstand ihn nur zu gut. »Aber.«

»Okay, Junge«, brüllte Sam ins Telefon, »auf Wiedersehen morgen.«

Das Telefon verstummte, und auch ich legte den Hörer auf. Ich wandte mich ihr zu. »Sam ist geschäftlich aufgehalten worden«, sagte ich linkisch, »er kann heute abend nicht mehr kommen.« Leicht schwankend starrte sie mich an. Sie war aber noch nicht wacklig genug, um nicht genau zu verstehen, was hier gespielt wurde. »Lüg mich nicht an, Danny!« Ihre Stimme war heiser vor Wut. »Ich hab ihn genau gehört!«

Ich sah sie an. Ihr Gesicht hatte einen gepeinigten Ausdruck. Sie tat mir an diesem Abend zum zweitenmal leid. Ich ging auf die Türe zu. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe, Ceil.« Ich fühlte, wie sie mich am Arm festhielt und drehte mich überrascht um. Da sah ich, wie sie mit der andern Hand weit ausholte. Ich bückte mich rasch, war aber nicht schnell genug. Mein Gesicht brannte von ihrem Schlag, und jetzt holte sie wild

mit beiden Händen aus.

Im Finstern packte ich ihre Handgelenke und hielt sie fest. »Was zum Teufel, soll das heißen?« sagte ich atemlos. Sie versuchte ihre Hände freizubekommen, aber ich war zu stark für sie. Ihre Stimme klang heiser und erbittert, während sie die einzelnen Worte hervorstieß. »Du glaubst wohl, das ist komisch, was?« schrie sie. Ihre Stimme klang schrill durch die Nachtstille. Ich versuchte, sie mit einer Hand zu bändigen und ihr mit der andern den Mund zuzuhalten. Da grub sie ihre Zähne tief in meine Finger und ich zog sie mit einem Schmerzensschrei zurück. Sie lachte wild und hemmungslos. »Das tut weh, was? Jetzt weißt du wenigstens, wie mir zumute ist! Jetzt wird's dir vielleicht nicht mehr so komisch vorkommen!«

»Ceil!« flüsterte ich eindringlich und mit klopfendem Herzen. »Bitte seien Sie still. Sonst wirft man mich hier noch 'raus!« Der Nachtwächter kümmerte sich keinen Pfifferling darum, was hier geschah, solange man keinen Lärm machte.

Aber ich brauchte mir weiter keine Sorgen zu machen, denn jetzt lehnte sie sich, schwach geworden, an mich und begann herzzerreißend zu weinen. Ich stand regungslos, denn ich wagte nicht mich zu bewegen, aus Angst, sie könnte von neuem beginnen. Von Schluchzen geschüttelt, lehnte sie an meiner Brust und sagte mit erstickter Stimme: »Wertlos, ganz und gar wertlos. Einer wie der andre! Ganz und gar wertlos!«

Ich strich ihr übers Haar. Es fühlte sich sehr weich an. »Arme Ceil«, sagte ich leise. Sie tat mir aufrichtig leid.

Sie sah zu mir auf. Ihre Augen fanden in der Dunkelheit keinen richtigen Blickpunkt. Sie schwankte leicht hin und her, während ich sie festhielt. »Ja«, stimmte sie mir zu. Ihre Wut, vereint mit dem Whisky, bewirkte, daß sie jetzt viel stärker zu schwanken begann. »Arme Ceil. Nur Danny weiß, was sie fühlt.« Ihre Augen verengten sich nachdenklich. »Weiß Danny, weshalb Ceil hergekommen ist?«

Ich antwortete nicht. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Da umschlang sie mich mit den Armen und hob mir ihr Gesicht entgegen. »Danny bedauert die arme Ceil, nicht wahr«, flüsterte sie, »küß die arme Ceil.«

Ich stand hölzern da und wagte nicht, mich zu bewegen. Ich wollte nicht noch mehr Scherereien.

Sie umschlang meinen Hals noch enger und zog mein Gesicht zu sich hinunter. Ich fühlte, wie sie mit ihren Zähnen in meine Unterlippe biß und fuhr vor Schmerz zurück. Sie flüsterte: »Danny weiß, warum Ceil hergekommen ist. Er wird sie doch nicht ohne das weggehen lassen, nicht wahr?«

Ich starrte durch die Dunkelheit in ihr Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Lippen lagen weich auf meinem Mund. Plötzlich begann ich zu lachen. Es galt also wirklich mir! Meine Arme umfaßten sie fester, und ich küßte sie. Wieder und immer wieder. Sie versenkte ihre Zähne in meine Lippen. Plötzlich wurde sie in meinen Armen ganz schlaff und willenlos. Ich hob sie auf und trug sie zum Bett hinüber. Während ich sie aufs Bett legte, grub sie ihre Zähne in meinen Hals.

Ich stand vor ihr und sah auf sie hinab, meine Hände zerrten ungeduldig an meinen Kleidern. Dann beugte ich mich über sie und umschlang mit festem Griff ihre Mitte. Ihre Arme schlossen sich um meinen Hals. Ich hörte, wie ihr Kleid zerriß, als ich mich über sie warf.

Ihre Stimme war ein einziger wilder Aufschrei. Und meine, zuerst bloß stummes Echo, erhob sich langsam, um sich mit der ihren zu vereinen. »Dann!«

»O Gott! Miß Schindler! Ceil!«

Die Nacht war ganz still und ich horchte auf ihre leisen Atemzüge. Ich berührte zart ihre Augen, sie waren geschlossen. Aber ihre Wangen waren feucht, sie hatte geweint; ihre Lippen waren wund und leicht geschwollen und bewegten sich unter meinen Fingern. Ich beugte mich über sie, um sie zu küssen, doch sie wandte das Gesicht ab und flüsterte: »Nicht mehr, Danny, bitte nicht mehr.« Ich lachte und setzte mich im Bett auf. Ich streckte mich und fühlte ein warmes Prickeln, das mir durch den Körper lief. Ich stand auf, trat an die Türe und öffnete sie. Die Nachtluft war kühl und beruhigend.

Ich stieg die Stufen hinunter und trat ins Gras, preßte meine Zehen tief in den Boden und fühlte, wie die Kraft der Erde in mich überströmte. Ich hob meine Hände zum Nachthimmel empor und versuchte die strahlenden Sterne zu berühren. Ich sprang hoch in die Luft, fiel nieder, rollte, mich überschlagend, auf dem Rasen und ein befreiendes Gelächter drang aus meiner Kehle. Es war die Freude an meiner Entdeckung. Das war es also, wofür ich erschaffen worden war, das war es, weshalb ich auf der Welt war.

Ich kratzte eine Handvoll Erde zusammen und zerrieb sie zwischen den Handflächen. Sie rann zwischen meinen Fingern zu Boden. Das ist meine Erde, das ist meine Welt. Ich bin ein Teil von ihr, und sie ist ein Teil von mir.

Dann drehte ich mich um, kehrte in den Bungalow zurück und streckte mich neben ihrem nackten Körper aus.

Gleich darauf war ich fest eingeschlafen.

13

Eine Hand packte mich und schüttelte mich heftig. Ich setzte mich im Bett auf und rieb mir schläfrig die Augen. Sam brüllte mir in die Ohren. »Wo ist sie?«

Da riß ich die Augen auf. Das Bett neben mir war leer. Fahles Morgengrauen sickerte in den Bungalow. Sam starrte mich mit blutunterlaufenen Augen wütend an. »Wo ist sie?« brüllte er nochmals. Ich sah ihn verwirrt an. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Mein Herz begann heftig zu klopfen. Ich hatte Angst. Außer uns beiden befand sich niemand in dem Bungalow. Aber ich war zu erschrocken, um mir eine Lüge auszudenken.

Er packte mich mit beiden Händen an den Schultern und zerrte mich aus dem Bett. »Versuch nicht, mich anzulügen, Danny!« brüllte er wütend und fuchtelte mir mit seiner geballten Faust vor dem Gesicht herum. »Ich weiß, daß sie hier war. Der Portier hat mir gesagt, daß sie kein Zimmer genommen hat und hier unten geblieben ist. Du Schuft! Du hast mit meinem Mädchen geschlafen!« Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber so weit kam es nicht, denn Ceils Stimme ertönte von der Türe her. »Wer ist dein Mädel, Sam?«

Wir drehten uns beide um und sahen sie überrascht an. Als Sam bei ihrem Anblick seinen Griff lockerte, nahm ich hastig das Bettlaken und wickelte es um meinen Leib. Sie war im Badeanzug und kam tropfnaß aus dem Schwimmbassin. Ihre Füße hinterließen feuchte Spuren auf dem Boden, während sie nähertrat. Sie blieb vor Sam stehen und sah ihm ins Gesicht. »Wer ist dein Mädel, Sam?« wiederholte sie ruhig. Jetzt war's an ihm, verwirrt zu sein. »Du bist doch hergekommen, um mich zu besuchen«, sagte er bestürzt. Sie riß die Augen weit auf. »Das hab ich geglaubt, Sam«, sagte sie noch immer ruhig und leise, »ich wurde aber eines Besseren belehrt.« Sie trat einen Schritt von ihm zurück. »Den wirklichen Grund, weshalb ich hier heraufkam, kennst du wohl nicht, Sam, was?«

Er schüttelte den Kopf und sah mich an. Ich war eben dabei, in meine Hosen zu schlüpfen. Er wandte sich wieder zu ihr zurück. Ihre Stimme war zwar leise, klang aber schneidend und sie sah keinen von uns beiden an. »Ich kam her, um dir zu sagen, daß ich deinen Schwüren glaube und daß ich mich von Jeff scheiden lassen will, um zu dir zu kommen.«

Sam machte einen Schritt auf sie zu. Sie hob ihre Hand und stieß ihn zurück. Dann sah sie ihm in die Augen. »Nein, Sam«, sagte sie rasch. »Das war gestern. Heut sieht's ganz anders aus. Ich bin dicht neben dem Telefon gestanden, als du gestern abend mit Danny sprachst, und habe jedes Wort gehört.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln. »Und da begann ich zum erstenmal wirklich zu verstehen - dich und mich. Ich war zum erstenmal wirklich aufrichtig mit mir selbst. Es ist ja gar nicht wahr, daß du mich brauchst, oder ich dich! Es war nichts andres, als daß wir in einer gewissen Beziehung gleich veranlagt sind. Wir brauchen es. Punkt. Wer der Partner ist -spielt keine Rolle!« Sie nahm eine Zigarette vom Tisch und zündete sie an. »Und jetzt, schert euch beide zum Teufel! Ich will mich anziehen.« Ich drehte mich auf der Türschwelle nochmals um. Ich hatte nicht die Hälfte von dem verstanden, was sie gesagt hatte, aber irgendwie war ich ihr dankbar. Sie sah mich nicht an, sondern zog bloß an ihrer Zigarette.

Sam und ich gingen in verlegenem Schweigen auf das Hotel zu, unsere Schuhe knarrten in dem taufrischen Gras. Sam hatte den Kopf tief zu Boden gesenkt und schien in Gedanken versunken. »Es tut mir leid, Sam«, sagte ich. Er sah mich nicht an.

»Ich kann wirklich nichts dafür. Sie war ganz außer sich«, fuhr ich fort.

»Halts Maul, Danny!« Seine Stimme war rauh.

Unsre Schritte dröhnten auf den hölzernen Stufen der Hotelveranda; wir schritten weiter bis zur Theke des Verkaufspavillons. Ich griff nach der Abrechnung. »Sowie ich den Bericht für dich abgeschlossen habe, reise ich ab«, sagte ich steif.

Er starrte mich gedankenvoll an. »Weshalb?« fragte er.

Ich war überrascht. »Du weißt, weshalb«, erwiderte ich.

Er lächelte, streckte plötzlich die Hand aus und fuhr mir durchs Haar. »Reg dich nicht auf, Champ! Niemand hat was von deinem Fortgehn gesagt.«

»Aber, Sam.«

»Aber, zum Teufel!« Er lachte hellauf. »Ich konnte nicht erwarten, daß du ewig ein Unschuldslamm bleibst. Übrigens -vielleicht hast du mir sogar einen Gefallen getan.«

Nach dem Labor Day fuhr ich mit sechshundert Dollar in der Tasche wieder nach Hause. Ich legte das Geld auf den Küchentisch und fühlte mich dabei fast wie ein Fremder. Der Sommer hatte uns alle sehr verändert.

Ich war enorm gewachsen und jetzt um einen Kopf größer als Papa und Mama. Sie reichten mir nicht einmal mehr bis zu den Schultern. Sie schienen auf unerklärliche Weise zusammengeschrumpft. Beide waren seit dem Frühjahr stark abgemagert. Papas normalerweise rundliche Wangen waren hohl und unter den Augen hatte er völlig ungewohnte bläuliche Ringe. Und Mamas Haar war ganz grau geworden. Diesmal machten sie nicht einmal den Versuch, wegen des Geldes einen falschen Schein zu erwecken. Sie brauchten es zu dringend.

Wir sprachen bei dem ersten gemeinsamen Abendessen über vieles. gewisse Dinge blieben aber ungesagt. Es war besser so. Es hatte keinen Sinn, über etwas zu sprechen, was wir alle bereits wußten. Es war von unsern Gesichtern abzulesen, aus der Art, wie wir sprachen und uns betrugen.

Nach dem Abendessen ging ich auf die Veranda und setzte mich auf die Stufen. Rexie kam mir nachgelaufen und legte sich zu mir. Ich kraulte sie am Ohr. »Hast du mich vermißt, Mädel?« fragte ich leise. Sie wedelte mit dem Schwanz und legte ihren Kopf auf mein Knie. Sie hatte mich bestimmt vermißt. Sie war glücklich, daß ich wieder zu Hause war.

Ich sah auf die Straße. Auch sie hatte sich im Laufe des Sommers verändert. Sie war geteert worden, und die

Asphaltdecke verlieh ihr ein neues, gepflegteres Aussehen.

Mimi kam zu mir heraus und setzte sich neben mich auf die Stufen. Wir saßen lange, ohne etwas zu sagen. Der fette Freddie Conlon kam aus seinem Haus und rief mir einen Gruß zu, als er mich erkannte.

Ich winkte mit der Hand und sah ihm nach, während er den Häuserblock hinunterging.

Schließlich begann Mimi zu sprechen. »Marjorie Ann hat sich im Sommer verlobt.« Sie sah mich dabei aufmerksam an. »So?« sagte ich gleichgültig. Sie bedeutete mir nichts. Sie gehörte zu meinen Kindertagen.

»Mit einem Polizisten«, fuhr Mimi fort. »Sie heiratet im Januar, gleich nach der Reifeprüfung. Er ist bedeutend älter als sie, er ist schon in den Dreißigern.«

Ich sah sie jetzt auch an. »Wozu erzählst du mir das alles?« fragte ich rundheraus.

Sie wurde rot. »Ich wollte dir bloß die Neuigkeiten berichten, die sich im Sommer hier ereignet haben«, sagte sie abwehrend. Ich wandte mich wieder der Straße zu. »Na und?« fragte ich ruhig. Darin hatte sich wenigstens nichts geändert. Kaum war ich einige Stunden zurück, hatte ich mit Mimi schon wieder Krach. Ihre Stimme wurde hart und nahm eine häßliche Schärfe an. »Ich dachte, du hast Marjorie Ann gern.« Ich lachte beinahe heraus. »Wie kommst du darauf?« Sie sah Rexie an, die zwischen uns lag und streichelte ihren Kopf. »Ich dachte, du warst in sie verliebt. Sie hat mir erzählt.«

»Was hat sie dir erzählt?« unterbrach ich sie. In stummem Zweikampf starrten wir einander an. Sie senkte den Blick, während ich sie noch immer, ohne zu blinzeln, mit weitgeöffneten Augen ansah.

»Sie. sie hat mir gesagt, daß du Dinge mit ihr getrieben hast«, stotterte sie.

»Was für Dinge?« fragte ich beharrlich.

»Ach, eben Dinge, die man nicht tun darf«, sagte sie und betrachtete aufmerksam ihren Nagellack. »Nachdem du im Juni weggefahren warst, hat sie mir gesagt, sie hat Angst, ein Baby zu bekommen.« Plötzlich mußte ich lachen. »Die ist ja verrückt!« platzte ich heraus. »Ich hab sie doch nie berührt.«

Mimi sah sehr erleichtert aus. »Ist das wirklich wahr, Danny?« Ich lachte noch immer. Ich erinnerte mich an das, was sich dort oben auf dem Land ereignet hatte. Marjorie Ann ist ein verdrehtes Frauenzimmer. Von einem so kindischen Geknutsche hat noch kein Mädel ein Kind bekommen. Ich sah Mimi in die Augen. »Es ist wirklich wahr, Mimi«, sagte ich gelassen. »Du weißt, ich würde dich nie anlügen.«

Jetzt lächelte auch sie. »Ich hab ihr's nie wirklich geglaubt, Danny. Sie erfindet ständig solche Geschichten.« Sie glitt leicht über meine Hand. »Ich bin froh, daß sie heiratet und von hier wegkommt. Ich mag sie nicht mehr.«

Wir sahen wieder stumm auf die Straße. Es wurde dunkel, und die Straßenbeleuchtung flammte plötzlich in strahlender Helligkeit auf. »Die Tage werden schon kürzer«, sagte ich.

Sie antwortete nicht und ich sah sie an. Wie sie hier im Lichte der Straßenbeleuchtung saß und das schwarze Haar ihr über die Schultern flutete, sah sie beinahe noch wie ein Kind aus. Obwohl sie um zwei Jahre älter war als ich, fü hlte ich mich bedeutend älter. Vielleicht machten es ihre Gesichtszüge. Sie hatte zarte Knochen, und ihr Mund sah völlig unberührt aus. Ich fragte mich, ob sie je geküßt worden ist. Ich meine wirklich geküßt. Doch dann verscheuchte ich hastig diesen Gedanken. Meine Schwester war nicht so - sie gehörte nicht zu dieser Sorte Mädchen.

»Papa und Mama sehen müde aus«, sagte ich, um das Thema zu wechseln. »Es muß in der Stadt sehr heiß gewesen sein.«

»Es ist nicht nur das, Danny«, antwortete sie. »Es steht nicht gut um uns. Das Geschäft geht miserabel und wir sind die Rechnungen überall schuldig. Vor genau einer Woche hätte die Milchgesellschaft beinahe ihre Lieferungen eingestellt. Es ist ein wahres Glück, daß ich im A&S eine Halbtagsbeschäftigung bekommen hab; sonst stünde es noch weit ärger.«

Ich riß die Augen auf. Ich hatte zwar gewußt, daß es mit uns nicht zum besten bestellt war, es wäre mir aber nie eingefallen, daß es so schlimm um uns stand. »Das hab ich nicht gewußt«, sagte ich. »Mama hat mir nie was davon geschrieben.« Sie sah mich sehr ernst an. »Du weißt ja, wie die Mama ist. Sie würde nie über so etwas schreiben.«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich griff verlegen in die Tasche und holte eine Zigarettenpackung hervor. Ich steckte mir eine Zigarette in den Mund und war im Begriff sie anzuzünden, als Mimi mich unterbrach. »Mir auch, Danny«, sagte sie.

Ich hielt ihr die Packung hin. »Ich hab nicht gewußt, daß du rauchst«, sagte ich überrascht.

»Und ich hab wieder nicht gewußt, daß du rauchst«, entgegnete sie. Sie sah ins Haus hinein. »Aber wir müssen sehr vorsichtig sein, damit uns die Mama nicht erwischt, sonst kriegen wir's alle beide.«

Wir lachten und verbargen unsre Zigaretten in den Handhöhlen.

»Ich bin froh, daß ich im Sommer die Schule beende«, sagte Mimi, »dann bekomm ich vielleicht eine gute Anstellung und kann wirklich helfen.«

»Steht's tatsächlich so schlimm, wie?« fragte ich nachdenklich. »Ja«, antwortete sie unumwunden. »Mama spricht sogar schon davon, das Haus hier aufzugeben. Wir können die Zinsen für die Hypothek nicht mehr aufbringen.«

»Das dürfen wir nicht!«

Jetzt war ich aufrichtig erschrocken. Doch nicht mein Haus!

Ich konnte es einfach nicht glauben.

Mimi zuckte ausdrucksvoll mit den Achseln. »Ob wir's tun dürfen oder nicht, hat nichts damit zu tun. Wir haben einfach kein Geld.« Ich schwieg einen Moment. Ich war kein Kind mehr und hatte auch nie wirklich geglaubt, daß es mein Haus sei, wie Papa einmal gesagt hatte, aber ich wollte auch nicht gezwungen werden, von hier auszuziehen. Irgendwie quälte mich der Gedanke, daß andre Leute in diesem Haus leben, eine andre Familie in unsrer Küche essen, jemand andrer in meinem Zimmer schlafen sollte. Ich war gern hier und wollte nicht weg.

»Vielleicht wir's gut, wenn ich aus dem Gymnasium austräte und mir eine Stelle suchte«, sagte ich nach einiger Überlegung. »Nein, Danny, das darfst du nicht!« rief Mimi, heftig protestierend. »Du mußt das Gymnasium beenden. Mama und Papa haben ihr Herz daran gehängt.« Ich schwieg.

»Mach dir keine Sorgen, Danny«, sagte sie tröstend und legte mir ihre Hand auf die Schulter. »Es wird sich noch alles wunderbar lösen. Ich weiß es ganz bestimmt.« Ich sah sie hoffnungsvoll an. »Glaubst du's wirklich?« Sie lächelte. »Natürlich.« Damit stand sie auf und warf ihre Zigarette in den Rinnstein. »Ich geh jetzt lieber hinein und helfe beim Geschirrspülen, sonst gibt's mit der Mama noch Krach.« Ich hoffte, daß sie mit ihrem Optimismus recht behielt. Sie mußte recht behalten! Wir durften von hier nicht wegziehen! Für mich gab's doch keinen andern Ort, an dem ich leben wollte.

14

Mein Name ist Danny Fisher und ich bin fünfzehn Jahre und vier Monate alt. Ich gehe in die sechste Klasse des Erasmus-

Hall-Gymnasiums und besuche die Vormittagsstunden. Jetzt ist's ein Uhr nachmittag, und damit ist die Schule für heute vorbei. Ich stehe an der Ecke der Flatbush und Church Avenue und lasse die Schüler auf ihrem Heimweg an mir vorbeipassieren.

Man behauptet, daß mehr als dreitausend Schüler das Gymnasium besuchen, und in diesem Augenblick sieht es so aus, als würden alle auf einmal gerade an dieser Ecke vorbeigehen. Sie lachen und reden durcheinander, und einige necken die Mädel. Ich sehe ihnen mit neidischen Blicken zu. Sie haben keine Sorgen. Sie brauchen sich bis morgen, wenn sie wieder in ihre Schulklasse müssen, um nichts zu kümmern. Nicht so wie ich. Denn ich habe ein Haus, mein kostbarstes Gut, das ich mir erhalten will. Folglich muß ich arbeiten. Ich blicke auf die Schaufensteruhr. Es ist bereits einige Minuten nach eins. Ich hab's jetzt eilig, denn ich muß um halb zwei an meinem Arbeitsplatz sein.

Ich gehe die Flatbush Avenue entlang. Es ist spät im Oktober und die erste Winterkälte durchschauert mich. Ich ziehe meinen Lumberjack fester um mich. Vor einem Lichtspieltheater bleibe ich einen Augenblick stehen, um die Bilder zu betrachten. Scheint ein prima Film zu sein - während ich noch dort stehe, gehen einige Schulkameraden hinein, um sich ihn anzusehen. Ich würd mir ihn auch gern ansehen, aber ich hab keine überflüssige Zeit. Und dann gehe ich wieder weiter.

Das gute Geschäftsviertel liegt jetzt hinter mir. Hier sind die Geschäfte kleiner und beziehen ihren Kundenkreis bloß aus der nächsten Umgebung, nicht wie die großen Warenhäuser der Avenue, die sich weiter aufwärts, in der Nähe des Gymnasiums befinden. Ich beschleunige meine Schritte. Es gibt hier auch nicht viel zu sehen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen und mich zum Stehenbleiben zu veranlassen. Ich bin bereits eine halbe Stunde unterwegs, wenn ich die sechs Ecken erreiche, wo sich Flatbush und Nostrand treffen. Es ist die Endstation der Flatbush-U-Bahn.

An dieser Ecke befinden sich zahlreiche Lebensmittelgeschäfte: A&P; Bohack; Roulston; Daniel Reeves; Fair-Mart. In das letzte trete ich ein. Ich durchschreite einen langen schmalen Geschäftsraum.

Ein Mann hinter dem Ladentisch sieht auf und schreit mich an: »Beeil dich, Danny. Wir haben eine Menge auszuliefern.« Ich rase ins Hinterzimmer des Geschäfts. Dort lege ich meine Schulbücher aufein Regal, nehme meine Schürze herunter uid binde sie um, während ich schon in den vorderen Raum zurücklaufe. Die Lieferware steht neben der Türe auf dem Boden, und ich trage sie zu dem Handwagen hinaus, der vor der Türe steht. Einer der Schreiber kommt heraus und prüft mit mir gemeinsam die Rechnungen nach. Dann übergibt er mir das genau abgezählte Wechselgeld für die Nachnahmewaren, und ich mache mich auf den Weg. Der Handwagen und ich schlängeln uns in die Straßen hinein und wieder heraus, und so geht es den ganzen Nachmittag, mitten durch den Verkehr, bis die Sonne untergeht und es sechs Uhr schlägt. Dann nehme ich einen Besen und fege den Laden aus. Um sieben Uhr kann ich meine Schürze abnehmen. Ich lege sie sauber gefaltet auf das Regal, um sie morgen wieder griffbereit zu haben. Ich greife nach meinen Schulbüchern und eile in das vordere Geschäftslokal; der Geschäftsführer läßt mich hinaus und sperrt die Türe hinter mir sorgfältig zu. Ich gehe eilends die Nostrand Avenue nach Newkirk hinauf. Ein Bus wartet beim U-Bahn-Ausgang und ich steige ein. Ich stehe, denn der Bus ist mit Menschen überfüllt, die alle von ihrer Arbeit heimfahren.

An meiner Ecke steige ich aus und gehe noch einen Häuserblock hinauf. Meine Füße schmerzen und meine Hals-und Schultermuskeln sind empfindlich von dem Heben schwerer Kisten. Aber ich vergesse meine Schmerzen, wenn Rexie die Straße heruntergelaufen kommt, um mich stürmisch zu begrüßen. Sie wedelt in ihrer Aufregung glückselig mit ihrem Schwänzchen, und ich streichle ihren Kopf. Noch immer lächelnd und erwärmt von der freudigen Begrüßung, betrete ich mein Haus.

Ich schütte eine Handvoll Kleingeld auf den Küchentisch. Langsam rechne ich die Fünf- und Zehncentstücke zusammen. Fünfundachtzig Cent. Heute sind die Trinkgelder gut gewesen. Ich stecke fünfundzwanzig Cent in meine Tasche und fülle den Rest des Kleingelds in das Glas oberhalb des Spültisches.

Mama hat mir dabei zugeschaut. Jetzt sagt sie: »Geh hinauf, Danny und wasch dich. Das Abendbrot wartet.«

Papa sitzt schon am Tisch. Er sagt nichts, ebensowenig wie ich. Wir wissen aber beide, was in uns vorgeht. Ich bin zufrieden. Denn ich bringe tagtäglich das kleine Häufchen Kleingeld nach Hause, und am Samstag, wenn ich einen ganzen Tag von sieben Uhr morgens bis elf Uhr nachts gearbeitet habe, gibt mir der Geschäftsführer meinen Wochenlohn. Dreieinhalb Dollar. In guten Wochen verdiene ich zusammen mit den Trinkgeldern zehn Dollar. Es ist gut, daß ich in der Schule so leicht lerne, denn meistens schlafe ich bei meinen Hausaufgaben ein und muß sie am nächsten Tag während der Pause fertigmachen. Ich sinke immer ins Bett und schlafe den Schlaf des Erschöpften, wenn ich aber am nächsten Morgen erwache, bin ich wieder frisch und munter. Mir kommt die unerschöpfliche Kraft der Jugend zugute.

Natürlich gibt's Zeiten, in denen ich gern mit den andern Jungen mitspielen möchte, besonders, wenn sie auf der Straße Fußball spielen. Manchmal erwische ich so einen Fußball, den einer verfehlt hat. Dann hebe ich ihn auf und streiche mit den Fingern zärtlich über das weiche glatte Schweinsleder. Ich erinnere mich, wie heftig ich mir gewünscht hatte, ins Schulteam aufgenommen zu werden. Dann werfe ich den Ball zurück. Ich sehe ihm nach, wie er spiralenförmig durch die Luft segelt, bis er in die Hände des andern Jungen gelangt. Dann wende ich mich ab. Ich habe keine Zeit für Spiele. Ich bin in düsterer, gedankenvoller Stimmung, denn ich bin an einem weit größeren Spiel beteiligt. Ich arbeite, um mein Heim zu schützen und es mir zu erhalten.

Aber es sind Kräfte am Werk, von denen ich nichts ahne. Der kalte, leidenschaftslose Mechanismus des Finanz- und Kreditwesens, von Handel und Verkehr, der das Niveau aller Gesellschaftsschichten im Gleichgewicht hält, bedeutet für mich nichts als Worte aus einem Lehrbuch. Aber es gibt Menschen, die diesen Mechanismus aufmerksam beobachten.

Es sind Menschen, genauso wie Papa und Mama, wie Mimi und ich. Sie sind gleichermaßen Opfer wie Vollzugsorgane. Sie sind den Niveaugesetzen ebenso unterworfen wie die Menschen, auf die sie sie anwenden. Ist das Niveau zu stark aus dem Gleichgewicht geraten, notieren sie etwas auf einem Blatt Papier. Diese Notiz geben sie an andre Leute weiter. Stimmt sie mit den Aufzeichnungen der ersten Beobachter überein, werden wieder andre Papiere ausgefüllt und abgeschickt. Und dann entfallen alle Regeln. Denn das, was sie tun, stört das Gleichgewicht so sehr, daß es unmöglich ist, die Balance wiederzufinden.

Dann werden wir zur Statistik. Statistiken sind sehr kalte Angelegenheiten. Hier handelt sich's um Balancen ganz andrer Art. Und danach werden viele Entscheidungen getroffen, Begründungen werden daraus abgeleitet, und Schlüsse gezogen, so auch die Ursache für unser Versagen, in unserm Wirtschaftsleben ein gleichmäßiges Niveau aufrechtzuerhalten. Aber nichts davon rechnet mit meinen Gefühlen und Stimmungen, wenn ich von diesem Versagen höre. Weder mit meinen noch mit denen meiner Familie. Denn sie interessieren sich lediglich für ihre Kalkulationen, nicht aber für das, was wir fühlen. Und bestimmt nicht für die Art der Gefühle, die ich Ende Oktober an jenem Abend empfand, als ich nach Hause zurückkehrte und meine Mama weinend vorfand.

ICH WAR NICHT DABEI, ALS...

Mama sah auf die Uhr. In wenigen Minuten würde es Zeit für den Lunch sein. Sie überlegte, wo der Vormittag hingekommen war. Sie war mit so bösen Vorahnungen, mit dem unabweisbaren Gefühl bevorstehenden Unheils, das sie bedrohte, erwacht, daß sie sich die ganze Zeit zu einer Beschäftigung zwingen mußte, um ihren Gedanken zu entrinnen. Sie hatte jeden Winkel des Hauses durchstöbert und geputzt, ja sie war sogar in den Keller hinuntergestiegen und hatte die Asche durchgesiebt, um die halbverbrannten Kohlestückchen, die beim Rütteln des Rostes durchfielen, herauszuklauben. Aber trotz aller Geschäftigkeit war sie das unheimliche Gefühl nicht losgeworden.

Sie kehrte in die Küche zurück, stellte einen Topf Wasser auf den Herd und zündete das Gas an. Vom Flur her hörte sie ein Geräusch. Es war Rexie, die unter dem Küchentisch hervorgekrochen und zur Türe gelaufen war, wo sie schweifwedelnd stehenblieb und Mama ansah.

»Du willst wohl hinaus, was?« fragte Mama den Hund, während sie ihm die Küchentüre öffnete.

Der Hund lief laut bellend hinaus und sie wandte sich wieder dem Herd zu. Sie legte ein Ei ins Wasser, das eben zu kochen begann. Nachdem sie gegessen hatte, räumte sie den Tisch wieder ab und stellte die Teller auf den Spültisch. Sie war müde und starrte auf die Teller hinunter. Nein, sie war zu müde, um sie abzuwaschen.

Plötzlich begann ihr Herz so heftig zu klopfen, daß ihr ganzer Körper zu vibrieren schien. Sie bekam Angst. Sie hatte oft

gehört, daß Menschen ohne jede Warnung von Herzkrämpfen überfallen wurden. Sie begab sich ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und lehnte sich in die Kissen zurück. Ihre Handflächen waren in Schweiß gebadet. Sie schloß die Augen, um zu ruhen. Langsam beruhigte sich das Herz. Der Atem ging wieder leichter und das Angstgefühl verschwand. »Ich bin einfach übermüdet«, sagte sie laut. Die Worte hallten in dem menschenleeren Zimmer. Sie beschloß, ein warmes Bad zu nehmen; das würde sie bestimmt entspannen und ihr guttun. Nichts als Nerven, sagte sie sich. Während sich die Badewanne füllte, entkleidete sie sich im Badezimmer, faltete ihre Kleider sauber zusammen und legte sie über die Handtuchstange. Dann betrachtete sie sich im Spiegel. Sie berührte überrascht ihr Haar. Soviel Grau war darin und das Schwarz sah verblichen und stumpf aus. Und doch war es ihr, als wären sie noch gestern voll Leben und glänzend schwarz gewesen. In ihr Gesicht hatten sich winzige Fältchen gegraben, und ihre Haut war nicht mehr so weich und glatt, wie sie sie im Gedächtnis hatte. Ihr war beinahe so, als sähe sie jemand andrer aus dem Spiegelglas an.

Sie hakte ihren Büstenhalter auf. Die Brüste, ihrer Stütze beraubt, sanken welk und schlaff auf ihren Leib. Sie betrachtete sich aufmerksam im Spiegel. Wie stolz war sie immer auf ihren schönen Busen gewesen! Sie erinnerte sich, wie wohlgeformt er immer war, wie fest und strotzend vor Leben, wenn sie ihre Kinder stillte. Papa hatte ihr dabei immer gern zugesehen. Voll Bewunderung saß er neben ihr, um nach einiger Zeit lachend zu dem Säugling zu sagen: »He, du kleiner Genießer, hast du noch immer nicht genug? Willst du für Papa denn nichts mehr übriglassen?« Dann errötete sie und sagte lachend, er solle sich schleunigst trollen und kein solches Ferkel sein. Es erfüllte sie aber doch immer mit ungeheurem Stolz. Und wie sah sie jetzt aus?! Jetzt konnten sie ihm wahrhaftig keine Freude mehr spenden. Wen sollte so was noch reizen? Sie wandte sich vom Spiegel ab und trat zur Badewanne. Jetzt spielte auch das keine

Rolle mehr. Weder er noch sie trugen nach diesen Dingen noch Verlangen. Der Kampf der letzten Jahre hatte ihnen jeglichen Appetit dafür genommen. Sie hatte nur noch eine schwache Erinnerung an diese Freuden. Am besten war's, man überließ diese Dinge der Jugend und denen, die keine Sorgen hatten.

Sie ließ sich behutsam in die Wanne sinken. Langsam durchströmte die Wärme ihren ganzen Körper. Jetzt war sie beinahe heiter und unbeschwert. Das leise Rauschen des Wassers schien ihre Angst verscheucht zu haben, und sie fühlte sich wieder behaglich und geborgen. Sie lehnte sich in der Wanne zurück und fühlte entzückt, daß sie das Wasser bis zu den Schultern umspielte. Sie stützte den Kopf auf die Kacheln über dem Wannenrand, denn sie war schläfrig und ihre Lider wurden schwer.

»Ich bin ein dummes altes Weib«, dachte sie, während sie die Augen schloß. Sie schlummerte ein.

Plötzlich begann ihr Herz wieder zu hämmern. Sie versuchte die Arme zu bewegen, aber sie waren schwer und leblos wie Blei. Ich muß aufstehen, dachte sie verzweifelt, ich muß! Mit ungeheurer Anstrengung hob sie den Kopf und öffnete die Augen. Sie sah sich erschrocken um.

Denn jetzt hörte sie auch das Klingeln des Telefons. Und plötzlich war sie hellwach. Sie erinnerte sich, nach oben gegangen zu sein, um zu baden. Sie mußte ziemlich lange geschlafen haben, denn sie bemerkte, daß das Wasser fast ganz kalt geworden war. Unten läutete das Telefon mit einer Dringlichkeit, die sie nicht ignorieren durfte. Sie stieg rasch aus der Wanne, trocknete ihre Füße hastig an der Badematte und lief, nachdem sie das Badetuch über ihren nassen Körper geworfen hatte, die Treppe hinunter, um sich zu melden. Als sie den Hörer abgenommen und Papas Stimme gehört hatte, wußte sie sogleich, daß etwas geschehen war. Irgendwie hatte sie es schon den ganzen Tag erwartet.

»Mary«, rief er mit zitternder Stimme, »die Bank hat gegen mich eine gerichtliche Entscheidung erwirkt, die mir morgen zugestellt werden wird.«

Sie versuchte ruhig zu bleiben.

»Hast du nochmals mit ihnen gesprochen?« fragte sie und der Ton ihrer Stimme spiegelte ihre Angst wider.

»Ich hab alles Menschenmögliche getan«, antwortete er resigniert. »Ich hab sie gebeten, ich hab sie angefleht, mir noch etwas Zeit zu geben, aber sie haben gesagt, sie können nichts mehr für mich tun.«

»Hast du mit deinem Bruder David gesprochen?« fragte Mama. »Vielleicht kann er dir das Geld geben.«

»Ich hab auch mit ihm gesprochen«, antwortete er. Nach einem Moment des Schweigens sagte er mit entsetzlicher Endgültigkeit. »Wir sind am Ende - erledigt!«

»Harry, was soll denn jetzt aus uns werden?« Vor ihren Augen tauchte die Vision ihrer Familie auf, wie sie in Lumpen gehüllt durch die Straßen zog. Sie unterdrückte tapfer die aufsteigende Hysterie. »David kommt heute abend mit seinem Wagen«, erwiderte Papa. »Wir werden versuchen, soviel Waren wie möglich aus dem Laden herauszuschaffen. Dann werden wir das Zeug bei ihm verstecken, bis ich Mittel und Wege gefunden habe, irgendwo ein neues Geschäft zu eröffnen.«

»Wenn man euch dabei erwischt, kommst du noch ins Gefängnis«, rief sie.

»Dann geh ich eben ins Gefängnis«, antwortete er mit tonloser Stimme. »Viel Ärgeres kann mir ja kaum noch passieren.« Nachdem er ihr das, was sich ereignet, erzählt hatte, schien er jegliche Fähigkeit, eine Gemütsbewegung zu empfinden, verloren zu haben. »Sie beschlagnahmen auch das Haus.« Er verfiel ins Jiddische, was nicht oft geschah. »Alles is forloren«, sagte er, »alles is weg.«

Das war der Abend, an dem ich heimkam und Mama weinend am Küchentisch sitzend vorfand, während Mimi, gleichfalls tränenüberströmt, ihre Hand hielt.

Das war der Abend, an dem ich ohne Abendbrot in Papas Geschäft ging, um dabei zu helfen, die hastig verpackten Warenkisten in Onkel Davids Wagen hinauszutragen.

Das war die Nacht, in der ich um zwei Uhr morgens auf der verdunkelten Straße stand und mein Vater, der die ganze Zeit bitterlich weinte, die Schaufenster zusperrte und dabei unaufhörlich murmelte:    »Fünfundzwanzig    Jahre.

fünfundzwanzig Jahre!« Das war die Nacht, in der ich mit ansehen mußte, wie Papa und Mama einander weinend in die Arme stürzten, in der ich lernte, daß auch sie Gefühle hatten, die sie nicht zu kontrollieren vermochten. Zum erstenmal sah ich Angst, Verzweiflung und völlige Hoffnungslosigkeit in ihren Gesichtern.

Ich eilte rasch in mein Zimmer, kleidete mich aus, kroch ins Bett und starrte schlaflos in die Finsternis. Das gedämpfte Murmeln ihrer Stimmen drang bis zu mir herauf. Ich konnte nicht einschlafen; ich sah, wie das Morgengrauen ins Fenster gekrochen kam, und ich hatte noch nichts gefunden, was ich tun konnte. gar nichts! Das war die Nacht, in der ich mir zum erstenmal eingestand, daß es nicht mein Haus ist, daß es in Wirklichkeit jemand ganz anderem gehört, und daß ich kein Herz mehr hatte, um Tränen zu vergießen.

Umzugstag I.Dezember 1932

Alles ging schief. Alles ging schief, nichts ging glatt. Ich wußte es in derselben Minute, in der ich die U-Bahn-Station in der Church Street betrat, anstatt zu Fuß nach Hause zu gehen. Am Morgen, beim Aufstehen, hatte ich das dumpfe beklemmende Gefühl gehabt, als hätte mich jemand in den Solarplexus gestoßen. Und dieses Gefühl hatte sich den ganzen Tag über immer noch verstärkt. Jetzt merkte ich, wie sich dieser Schmerz über den ganzen Körper verbreitete. Ich war auf dem Weg von der Schule nach Hause - aber nicht mehr in unser Haus.

Als ich den Bahnsteig betrat, stand ein Expreßzug da, und ich begann automatisch zu laufen. Ich konnte gerade noch hinein, ehe sich die Türen schlossen. Da kein Sitzplatz frei war, lehnte ich mich auf der gegenüberliegenden Seite an die Türe, die sich auf der ganzen Strecke nur ein einziges Mal in der Atlantic Avenue öffnet, so daß ich wenigstens möglichst unbehelligt stehen konnte. Es war kalt im Zug, und ich stellte den Kragen meiner Schaffelljacke auf. Es hatte vor einigen Tagen geschneit, aber die Straßen waren schon wieder völlig gesäubert. Nur in den Alleen des Prospect Parks sah ich, während der Zug hindurchfuhr, noch etwas Schnee. Jetzt verschlang uns der Tunnel und erstickte das Tageslicht. Ich holte tief Atem und versuchte das krankhafte Gefühl loszuwerden, das mich so sehr quälte. Es half aber nichts. Wenn sich überhaupt etwas geändert hatte, so war es bloß, daß ich mich noch elender fühlte.

Am frühen Morgen hatten mich die Kisten und Koffer, die in den bereits fremdgewordenen Zimmern herumstanden, an das Schreckliche erinnert: heute ist Umzugstag. Ich hatte mein Zimmer verlassen, ohne einen Blick zurückzuwerfen, und Rexie folgte mir dicht auf dem Fuß. Ich wollte alles vergessen -vergessen, daß ich je kindisch genug war zu glauben, es sei in Wirklichkeit mein Haus. Ich war jetzt alt genug, um zu wissen, daß das Geschichten sind, die man kleinen Kindern erzählt.

Plötzlich flutete das Tageslicht wieder durch den Zug. Ich sah aus dem Fenster: wir befanden uns auf der Manhattan Bridge. An der nächsten Station, Canal Street, mußte ich aussteigen und in den Broadway-Brooklyn-Zug umsteigen. Der Zug fuhr wieder durch einen Tunnel, und gleich darauf öffneten sich die Türen. Ich mußte zwar ein paar Minuten auf den anderen Zug warten, aber es war erst ein Viertel vor vier, als ich an der Kreuzung der Essex und Delancey Avenue auf die Straße hinaustrat.

Ich befand mich wie in einer andern Welt. Die Straßen waren dicht gedrängt mit Menschen, die ruhelos hin und her gingen und sich in den verschiedensten Sprachen unterhielten. Dann gab es Straßenverkäufer mit Handkarren und Hausierer, die in ihren kleinen Buden an den Straßenecken schreiend ihre Waren anpriesen, jederzeit bereit, sie wieder abzuräumen und sich davonzumachen, wenn die Polizisten ihnen befahlen weiterzugehen. Es war kalt, aber viele Männer gingen ohne Hut und Mantel, und die Frauen hatten oftmals bloß einen Schal über die Schultern geworfen. Überall umgab mich die stumme Sprache der Armut. Außer von Kindern hörte man wenig Lachen auf der Straße, und selbst die Kleinen waren zurückhaltend in ihren Freudenausbrüchen.

Ich ging die Delancey Street entlang, vorbei an billigen Geschäften mit geschmacklosen Waren, am Lichtspieltheater, vor dem eine große Reklametafel noch immer eine Matinee für Frühaufsteher zum Eintrittspreis von zehn Cent ankündigte. Ich wandte mich nach links in die Clinton Street und wanderte gesenkten Hauptes die beiden Häuserblocks bis zur Stanton Street weiter. Ich wollte mich nicht umschauen. Das grauenhafte Gefühl in meiner Magengrube wurde die ganze Zeit über

beständig ärger, bis ich fühlte, daß es mir bis in die Kehle stieg.

Plötzlich blickte ich auf. Da war es: ein altes graues Haus mit trüben schmalen Fenstern, das sich fünf Stock hoch gegen den Himmel erhob. Einige Stufen führten zur Eingangstüre. Zu beiden Seiten waren Geschäfte, das eine eine Schneiderwerkstatt mit düsteren staubbedeckten Fenstern, das andre stand leer.

Langsam, widerwillig stieg ich die Stufen hinauf. Oben drehte ich mich nochmals um und sah auf die Straße. Hier also sollten wir leben! Eine Frau kam aus dem Haus und drängte sich an mir vorbei, um die Stufen hinabzugelangen. Knoblauchgeruch strömte von ihr aus. Ich sah, wie sie die Straße überquerte und auf einen der Handwagen zuging, dort stehenblieb und mit dem Hausierer zu feilschen begann.

Ich drehte mich um und betrat das Haus. Der Eingang war finster, und ich stolperte über etwas, das am Boden lag. Mit einem gemurmelten Fluch bückte ich mich, um es aufzuheben. Es war eine mit Abfi'llen gefüllte Papiertüte. Ich ließ sie rasch wieder dorthin fallen, wo ich sie gefunden hatte, und begann die Treppe emporzusteigen.

Drei Treppen hoch, und auf jedem Treppenabsatz sah ich eine Papiertüte vor der Türe stehen, die so lange dort blieb, bis der Hausbesorger sie abholte. Schwerer Küchengeruch hing in der abgestandenen kalten Luft des Treppenhauses. Ich erkannte unsre Wohnung an den Koffern, die auf dem Treppenabsatz neben der Türe standen. Ich klopfte.

Mama öffnete die Türe. Wir standen einen Moment regungslos und sahen einander bloß an, dann betrat ich schweigend die Wohnung. Mein Vater saß am Tisch. Ich hörte die Stimme von Mimi, die sich in einem der Vorderzimmer aufhielt.

Ich blieb in der Küche stehen. Die Wände waren mit einer seltsam stumpfweißen Farbe übertüncht, die erfolglos versuchte, die darunter befindliche Schmutzschicht zu verdecken. Die hellgelben Vorhänge, die Mama bereits an dem kleinen Fenster neben dem Tisch angebracht hatte, gaben dem Raum einen gewaltsam heiteren Anstrich.

Sie sah mich besorgt an. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. In diesem Augenblick kam Rexie aus einem der Zimmer gelaufen, sie wedelte heftig, und ich kniete mich nieder, um sie zu streicheln. »Es ist sehr hübsch hier«, sagte ich, ohne aufzuschauen. Einen Moment herrschte tiefe Stille, als ich aber verstohlen aufblickte, bemerkte ich, wie Papa und Mama einander ansahen. Dann sagte meine Mutter. »Ach, Danny, es ist nicht gar so arg. Für eine kurze Zeit wird's schon gehen, nur so lang, bis dein Vater wieder auf die Beine kommt. Und jetzt will ich dir den Rest der Wohnung zeigen.«

Ich folgte ihr durch die Zimmer. Es gab nicht viel zu sehen, ich glaube auch nicht, daß es in einer kleinen Vierzimmerwohnung je etwas zu sehen gibt. Mein Zimmer war ungefähr halb so groß wie mein altes Zimmer, und das Schlafzimmer der Eltern war auch nicht viel größer. Mimi mußte auf der Couch im Wohnzimmer schlafen.

Ich schwieg, während ich mir alles ansah. Die Zimmer waren alle mit derselben abstoßenden weißen Farbe gestrichen. Was sollte ich da sagen? Die Miete war niedrig, und das war die Hauptsache:    achtundzwanzig    Dollar    im    Monat    mit

Dampfheizung und Warmwasserversorgung.

Wir kehrten in die Küche zurück, Rexie folgte mir noch immer auf dem Fuß. Mein Vater hatte kein Wort gesprochen. Er saß bloß am Tisch, rauchte eine Zigarette und sah mich stumm an.

Ich kraulte dem Hüridchen die Ohren. »Hat Rexie euch viel Mühe gemacht?« fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf. »Sie hat nicht gestört«, sagte er, beinahe formell. Seine Stimme klang ganz verändert, nicht mehr wie früher, sie klang, als hätte er alle Selbstsicherheit verloren.

»Du solltest sie jetzt hinunterführen, Danny«, sagte meine Mutter. »Sie war den ganzen Tag nicht unten. Ich glaube, sie ist ein bißchen nervös.«

Ich war froh, etwas zu tun zu haben. Ich ging zur Türe und rief nach ihr.

»Nimm die Leine mit, Danny, 's ist eine fremde Gegend, und sie könnte sich verlaufen«, sagte mein Vater und hielt mir die Leine entgegen.

»Ja, richtig«, sagte ich. Rexie und ich traten in die düstere Vorhalle, und ich begann die Treppe hinabzusteigen.

Etwa in der Mitte der ersten Treppenflucht bemerkte ich, daß sie mir nicht nachkam. Sie stand auf dem oberen Treppenabsatz und sah zu mir hinunter. Ich rief: »Komm, Mädel.« Sie rührte sich nicht. Ich rief nochmals. Da kauerte sie sich auf den Boden, sah mich an, wedelte nervös mit dem Schwanz. Ich kehrte um, ging zu ihr hinauf und befestigte die Leine an ihrem Halsband. »Komm jetzt«, sagte ich, »sei doch kein Baby.«

Ich begann die Treppe wieder hinabzusteigen, und sie folgte mir vorsichtig. Bei jedem Treppenabsatz mußte ich sie von neuem antreiben, die folgenden Stufen hinunterzugehen. Endlich waren wir auf dem Vorplatz, von dem aus sie auf die Straße hinaussehen konnte. Da versuchte sie plötzlich wieder zurückzulaufen. Die Leine hielt sie mit einem Ruck zurück, und sie kauerte sich wieder auf den Boden. Ich kniete mich zu ihr und nahm ihren Kopf zwischen meine Hände. Da fühlte ich, wie sie am ganzen Körper zitterte. Ich hob sie auf und trug sie die wenigen Stufen hinunter. Auf der Straße schien sie keine Angst mehr zu haben. Als wir uns aber der Clinton Street zuwandten, sah sie sich ängstlich um. Der Verkehrslärm flößte ihr Furcht ein.

Am andern Ende des Häuserblocks schien mir weniger Verkehr zu sein, ich beschloß daher, mit ihr dorthin zu gehen. Vor einer Konditorei wartete ich auf das Wechseln des

Verkehrszeichens. Ein riesiger Lastwagen rasselte vorbei, und Rexie begann ängstlich an der Leine zu zerren. Ich hörte, wie sie keuchte, als sich die Leine um ihre Kehle zusammenzog. Jetzt hatte sie tatsächlich Angst, sie zitterte am ganzen Körper und hatte den Schwanz zwischen die Beine geklemmt. Als ich mich zu ihr niederbeugte, um sie zu beruhigen, hörte ich hinter mir rohes Gelächter. Ich sah über die Schulter zurück.

Drei Burschen, etwa in meinem Alter, standen vor der Konditorei. Einer von ihnen machte sich über die Angst meines Hundes lustig. Sie bemerkten, daß ich sie ansah.

»Was is'n los, Kam'rad«, sagte der Bursche, der gelacht hatte, höhnisch. »Ist dein Köter feig?«

»Nicht mehr als du, Kam'rad«, erwiderte ich sarkastisch, während ich weiter bemüht war, Rexie zu beruhigen. Die beiden andern Burschen wurden bei meiner Antwort ganz still. Sie sahen den Burschen, mit dem ich gesprochen hatte, erwartungsvoll an. Er warf ihnen blitzschnell einen verständnisinnigen Blick zu, dann kam er wiegenden Schrittes zu mir herüber. Ich kannte dieses Spiel nur zu gut. Er mußte seinen Worten jetzt den nötigen Nachdruck verleihen. Ich lachte grimmig. Na, der wird ja keine schlechten Überraschungen erleben! Jetzt war mir plötzlich viel leichter. Die Gelegenheit zur Gewalttätigkeit, die sich mir nun bot, linderte den Schmerz in meinem Innern.

Jetzt stand er dicht vor mir. Neben dem Hund kauernd, sah ich zu ihm auf, während ich noch immer damit beschäftigt war, Rexie durch Streicheln zu beruhigen. »Was hast du gesagt, Kam'rad«, sagte er betont langsam. Ich lächelte dünn. »Du hast schon beim erstenmal richtig verstanden, Kam'rad«, erwiderte ich, indem ich seine Sprechweise nachäffte. Gleichzeitig wollte ich mich erheben. Ich sah seinen Fuß zwar kommen, konnte ihm aber nicht rasch genug ausweichen. Sein Schuh traf mich mitten auf den Mund, und ich fiel rücklings in den Rinnstein. Die Leine rutschte mir aus der Hand. Ich wälzte mich verzweifelt weiter, um sie wieder zu erwischen, sie war aber bereits außer Reichweite. Ich war durch den Stoß ein wenig betäubt ; da hörte ich den Schrei. Ich raffte mich erschrocken auf, der Streit war vergessen. Rexie lief auf der Fahrbahn, mitten im dichtesten Verkehr, und raste im Zickzack wie wahnsinnig hin und her. »Rexie!« schrie ich.

Sie wandte sich sofort um und begann auf mich zuzulaufen. Plötzlich hörte ich, wie sie hoch und spitz aufjaulte, während sie unter den Rädern eines kleinen Lieferwagens verschwand, der um die Ecke gekommen war, um noch vor dem roten Licht einzubiegen. Ich lief zu ihr hin. Sie schrie noch einmal auf, diesmal aber viel schwächer. Dann lag sie seitlich im Rinnstein, ihre Brust hob sich mühsam, und ihr schönes braunes Fell war mit Blut und Schmutz bedeckt. Ich fiel neben ihr im Rinnstein auf die Knie.

»Rexie!« rief ich mit erstickter Stimme. Als ich sie aufhob, entrang sich ihr ein leises Stöhnen, beinahe war es ein Seufzer. Ihre Augen waren sanft und schmerzgepeinigt. Ihre Zunge schlüpfte zwischen ihren Lippen hervor und fuhr mir leicht über die Hand, auf der sie eine Blutspur hinterließ.

Ich hielt ihren heftig zitternden Körper an mich gedrückt. Plötzlich schnappte sie nach Luft, dann war sie ganz still. Ihre Pfoten fielen kraftlos gegen meine Jacke. Das Licht ihrer Augen war erloschen. »Rexie«, rief ich beschwörend. Ich konnte es nicht glauben. Sie war doch so lebendig gewesen, so schön. »Rexie! Mädel!« Ein Mann drängte sich durch die Menge, die sich um mich gesammelt hatte. Sein Gesicht war ganz blaß. »Jesus, Junge, ich habe sie ja nicht mal gesehen!«

Ich starrte ihn einen Moment an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Ich kann mich auch jetzt an nichts erinnern, außer, daß sein Gesicht sehr blaß war - an sonst nichts. Ich erhob mich, um nach Hause zu gehen, Rexie noch immer in meinen Armen. Die Leute traten stumm zurück. Ich konnte nicht weinen, meine Augen brannten, aber ich konnte nicht weinen.

Jetzt war ich im Hausflur, jetzt auf der fremden Treppe mit den beklemmenden Gerüchen, und jetzt stand ich vor unserer Türe. Ich stieß sie auf. Mama schrie auf und erhob sich von ihrem Sessel. »Danny! Was ist geschehen?«

Ich sah sie stumm an. Einen Moment lang konnte ich nicht sprechen. Papa und Mimi kamen herausgelaufen, als sie Mama aufschreien hörten. Jetzt standen sie alle um mich herum und sahen mich an.

»Sie ist tot«, kam es schließlich von meinen Lippen. Ich erkannte meine eigene Stimme nicht mehr. Sie war heiser und rauh. »Sie ist überfahren worden.«

Auf dem Boden vor mir stand eine leere Pappschachtel. Ich kniete nieder und legte Rexie sanft hinein. Langsam schloß ich die Klappen über ihr. Dann stand ich wieder auf.

Mimis Augen standen voll Tränen. »Wwie ist's denn passiert?« Ich beneidete sie um ihre Tränen. Ich wünschte mir, auch weinen zu können, vielleicht würde es dann leichter. Bitterkeit stieg mir bis in die Kehle. »Es ist eben passiert«, sagte ich kurz, »was spielt es jetzt noch für eine Rolle, wie es passiert ist?«

Ich wusch mir am Spültisch das Blut von den Händen und trocknete mich an einem Küchentuch ab. Dann ergriff ich den Karton und öffnete die Türe.

Papas Stimme rief mich zurück. »Wohin gehst du?«

»Sie begraben«, antwortete ich in dumpfem Ton. »Sie kann nicht hierbleiben.«

Er legte mir die Hand auf die Schulter und sah mir in die Augen. »Es tut mir furchtbar leid, Danny«, sagte er teilnehmend. Seine Augen waren ganz dunkel geworden. Er verstand. Aber auch das hatte nichts mehr zu bedeuten - nichts konnte mir jetzt noch etwas bedeuten.

Müde schob ich seine Hand von meiner Schulter. »Es kann dir auch leid tun«, sagte ich mit bitterer Anklage. »Du bist an allem schuld! Hätten wir das Haus nicht verloren und hätten wir nicht ausziehen müssen, dann wäre das nie passiert!«

Ich sah den schmerzlichen Ausdruck in seinen Augen, während er die Hände sinken ließ. Ich trat in die Vorhalle hinaus und schloß die Türe hinter mir. Es war seine Schuld! Er hätte das Haus nie preisgeben dürfen!

Auf dem Platz neben der Brücke bestieg ich den Utica-Reid-Trolleybus. Während der ganzen langen Fahrt über die Brücke, durch Williamsburg und schließlich bis nach Flatbush hielt ich den Karton auf meinen Knien. Ich verließ den Trolleybus in der Clarendon Street, und der Karton wog schwer in meinen Händen, als ich durch die vertraute Straße schritt. Vor meinem geistigen Auge lief sie schweifwedelnd vor mir her, und ich vermeinte ihr freudiges Bellen zu hören, wenn sie mich sah. Ich sah ihr schönes rotbraunes Fell vor mir und fühlte die seidige Weichheit, wenn ich sie hinter dem Ohr kraulte. Ich fühlte ihre kühle feuchte Zunge, die mein Ohr leckte, wenn ich mich zu ihr niederhockte, um sie zu begrüßen. Es war bereits dunkel, als ich das Haus erreichte. Ich blieb auf der Straße stehen und sah hinauf. Die Fenster starrten mich groß und leer an. Wir waren erst an diesem Morgen ausgezogen, dennoch sah es bereits einsam und verlassen aus. Ich blickte die Straße auf und ab, um festzustellen, ob mich jemand gesehen hatte. Die Straße lag leer und verlassen. Im Haus der Conlons brannte ein Licht, aber es hörte mich niemand, als ich den Fahrweg leise hinaufschlich. Ich ging bis zum Hinterhof, dort stellte ich den Karton nieder. Mir schien das, was ich vorhatte, nur gerecht zu sein. Hier hatte sie gelebt, hier sollte sie auch ruhen. Dort, wo sie glücklich gewesen war. Ich sah mich suchend um. Ich brauchte eine Schaufel, um die Erde auszuheben. Ich überlegte, ob sich die Schaufel noch im Keller befand, die wir für die Feuerung verwendet hatten. Ich ging auf das Haus zu, blieb aber wieder stehen und kehrte zurück, um Rexie zu holen. Sie wollte nie

allein bleiben.

Ich hatte die Hausschlüssel noch in der Tasche und öffnete die Türe. Dann trug ich den Karton hinein und stellte ihn auf die Kellertreppe. Im Haus war es stockfinster, aber ich brauchte kein Licht, ich kannte jeden Zoll.

Ich stieg in den Keller hinunter; die Schaufel lehnte, wie immer, an der Kohlenkiste. Ich holte sie mir und stieg die Treppe wieder hinauf. Zuerst wollte ich Rexie mit hinausnehmen, während ich ihr Grab schaufelte, überlegte mir's dann wieder und ließ sie auf der Stufe der Kellertreppe. Sie hatte sich immer vor der Schaufel gefürchtet.

Ich grub, so leise es mir möglich war, denn ich wollte nicht, daß mich jemand hörte. Die kalte Nachtluft schlug mir ins Gesicht, ich beachtete es aber nicht, ja, ich schwitzte sogar unter meiner Schafpelz-Jacke. Als die Grube groß genug war, kehrte ich ins Haus zurück, nahm den Karton und trug ihn hinaus. Ich stellte ihn behutsam in die Grube. Ich erhob mich wieder, um nach der Schaufel zu greifen, da kam mir plötzlich ein furchtbarer Gedanke: Wie, wenn sie gar nicht tot wäre? Was, wenn sie noch lebte?!

Ich kniete mich wieder hin und öffnete die Klappen des Kartons, schob mein Gesicht ganz nahe zu ihr hin und lauschte. Ich hörte nichts, war aber noch immer nicht beruhigt. Ich griff in den Karton und tastete nach ihrer Schnauze. Die Wärme war bereits aus ihrem Körper entwichen. Langsam schloß ich den Karton und erhob mich wieder.

Als ich die feuchte Erde über sie häufte, traten mir die Tränen in die Augen. Betet man für einen Hund? Ich wußte es nicht, aber ich betete dennoch für sie. Das Gebet glitt lautlos über meine Lippen und in die Nacht hinaus. Schließlich war sie ganz mit Erde bedeckt, und ich trat die Erde wieder glatt und eben. Der Mond war aufgegangen, und sein kaltes winterliches Licht warf geisterhafte Schatten über den Hof. Sie hatte kaltes Wetter immer sehr geliebt, sie wurde übermütig und begann herumzutollen. Ich hoffte, daß ihr das Wetter, wo sie sich auch befinden mochte, ebenso gefiel.

Ich weiß nicht, wie lange ich mit der Schaufel in der Hand dort gestanden hatte, aber ich war völlig durchfroren, als ich mich endlich zum Gehen wandte. Tränen liefen mir lautlos über die Wangen, aber ich weinte noch nicht.

Ich trat ins Haus zurück und stieg, ohne zu überlegen, in mein Zimmer hinauf. Ich lehnte die Schaufel an die Wand und trat zu der Stelle, wo mein Bett gestanden war. Beim hellen Mondlicht, das durch die Fenster strömte, konnte ich die Stelle auf dem Boden genau erkennen, auf der Rexie unter meinem Bett geschlafen hatte. Da fiel ich auf den Boden, und jetzt weinte ich. Es waren bittere salzige Tränen, die mir in den Mund liefen, als mein Körper endlich auf meinen Schmerz reagierte.

Als ich völlig erschöpft war, stand ich schwerfällig auf und verließ, ohne nochmals zurückzuschauen, das Zimmer, schritt die Treppe hinunter und hinaus.

Der fette Freddie Conlon trat gerade aus seinem Haus, als ich den Fahrweg entlangging. Er sah mich überrascht an. »Danny! Was machst denn du hier?« fragte er. »Hast wahrscheinlich was zurückgelassen, nicht?«

Ohne zu antworten, ging ich an ihm vorbei und ließ ihn verdutzt auf der Straße stehen. Ja, ich hatte etwas zurückgelassen. Mehr als ich geahnt hatte.

Die Uhr im Schaufenster des Juweliergeschäfts nahe der Kreuzung der Clinton und Delancey Street zeigte neun Uhr, als ich um den Häuserblock kam. Ich bewegte mich wie im Traum. Menschen drängten sich an mir vorbei, und überall herrschte Lärm und Durcheinander, aber ich sah und hörte nichts. Im Körper tobte ein dumpfer Schmerz, und eine Gesichtshälfte, dort, wo mich der Schuh getroffen hatte, war überaus empfindlich. Ich befand mich bereits auf den Stufen unseres

Wohnhauses, als ich plötzlich aufwachte. Ich hörte den Verkehrslärm wieder und die Stimmen der Menschen. Ich blickte um mich, als sähe ich das alles zum erstenmal. Das Licht der Konditorei an der Ecke schien mir zu winken. Eine Bande junger Burschen lungerte noch immer davor herum. Ich stieg die Stufen wieder hinunter und ging auf die Kreuzung zu. Dort blieb ich stehen und sah mir die Bande vor dem Geschäft aufmerksam an. Er war nicht darunter. Nachdem ich sie einige Minuten unauffällig beobachtet hatte, war ich eben im Begriff, wieder wegzugehen, als ich ihn bemerkte. Er war im Innern des Ladens, saß vor der Theke und trank eine Schokolade.

Ich schlenderte in das Geschäft. Er kehrte der Türe den Rücken und konnte mich daher nicht sehen. Ich tippte ihm leicht auf die Schulter. Er drehte sich um, und ein Blitz des Erkennens überflog sein Gesicht?

»Komm 'raus«, hieß die unmißverständliche Gebärde meiner Hand.

Er sah mich an, dann die andern Burschen im Laden. Ich ließ ihm keine Zeit zum Überlegen und klopfte ihm wieder auf die Schulter, diesmal recht kräftig. »Komm 'raus!« sagte ich mit harter tonloser Stimme.

Da schob er seine Tasse über die Theke und stand auf. »Heb mir das auf, Moishe«, sagte er zu dem Mixer hinter der Theke in anmaßendem Ton. »Bin gleich wieder zurück.«

Ich ergriff die Tasse und schüttete ihren Inhalt in den Ausguß hinter der Theke. Die Schokolade vermischte sich mit dem schmutzigen Wasser.

»Vergiß es, Moishe«, sagte ich mit derselben tonlosen Stimme. »Er wird's nicht mehr trinken.«

Ich kehrte ihm den Rücken und trat auf die Straße. Seine Schritte hallten hinter mir auf dem Betonboden. Am Straßenrand blieb ich stehen und drehte mich um. »Und jetzt heb deine Pfoten«, sagte ich beinahe gleichgültig.

Er sah mich einen Moment an, dann trat er dicht an mich heran. Seine Lippen hoben sich über seinen Zähnen, und es klang beinahe wie ein Knurren. »Zäher Bursche, was? Glaubst wohl, du bist zäh, he?« fragte er höhnisch.

Das seltsame Gefühl, das ich den ganzen Tag im Leib verspürt hatte, machte sich jetzt in einer sinnlosen Wut Luft. »Ja, für dich zäh genug.« begann ich, doch dann erinnerte ich mich wieder. Ich trat rasch zurück, doch nicht rasch genug. Sein Knie traf mich in der Leistengegend, und während er mir gleichzeitig mit der Faust ins Gesicht schlug, stürzte ich vornüber auf Hände und Knie. Ich sah noch, wie sich sein Schuh meinem Gesicht näherte, versuchte ihm auszuweichen, doch seine Schuhspitze erwischte mich hinterm Ohr, und ich stürzte der Länge nach auf das Pflaster.

Der Verkehrslärm schien nur noch von weit her zu mir zu dringen, und mein Kopf war wie betäubt. Ich schüttelte ihn heftig, und es gelang mir, mich wieder auf die Knie zu erheben. Und er. er lachte mich bloß aus. »Zäher Junge, was?« Ich klammerte mich an den Hydranten, der sich neben mir befand und zog mich wieder in die Höhe. Ich schüttelte den Kopf nochmals, er wurde rasch wieder klar, und ich spürte den Geschmack warmen Blutes in meinem Mund. Er lachte noch immer und stichelte weiter. »Glaubst auch jetzt noch, daß du zäh bist, Kleiner?« Ich ließ ihn nicht aus den Augen, blieb auf meiner Hut, während ich mich noch immer am Hydranten festhielt. Er soll nur weiterreden, damit erwies er mir einen Gefallen, denn ich gewann Zeit. Jetzt fühlte ich auch, wie die Kraft in meine Beine zurückkehrte. Langsam und bedächtig kam er wieder auf mich zu, er ließ sich Zeit, er war voll Zuversicht. Um noch etwas Zeit zu gewinnen, bewegte ich mich um den Hydranten herum. Ich brauchte nur noch wenige Sekunden. Jetzt war ich froh, daß Sam mich gelehrt hatte, meine Kräfte richtig abzuschätzen und zu bewahren. Er blieb wieder stehen und rief höhnisch: »Feig auch noch, was? Genauso wie dein Köter!«

Ich ließ den Hydranten los. Jetzt war ich wieder ganz in Form und ging auf ihn zu.

Er stürzte mit einem linken Schwinger auf mich los und deckte mit der Rechten ab. Er konnte das nicht wissen, aber es war sein zweiter schwerwiegender Fehler, der für den weiteren Verlauf ausschlaggebend wurde. Sein erster Fehler war gewesen, daß er mir Zeit gelassen hatte.

Mit meiner Linken stieß ich seine Rechte beiseite und traf ihn mit der Rechten genau unter dem Gürtel. Er krümmte sich nach vorn, seine Hände tasteten nach seiner Leiste, und in diesem Moment versetzte ich ihm einen Kinnhaken. Er drehte sich halb seitwärts und ging auf die Knie. Ich schlug ihm meine Faust noch achtmal aufs Kinn, ehe er auf den Gehsteig stürzte.

Nun lag er ausgestreckt zu meinen Füßen. Ich beugte mich über ihn. Er mußte die Kräfte eines Ochsen haben, denn er versuchte aufzustehen.

Doch jetzt stieß ich ihn mit dem Fuß in die Schläfe, und da verlor er das Bewußtsein.

Ich sah ihn ein paar Sekunden prüfend an, dann drehte ich mich um und wollte weggehen. Zum erstenmal bemerkte ich die Menschenmenge, die sich um uns gesammelt hatte. Plötzlich fühlte ich mehr, als ich sie hörte, eine Bewegung hinter mir.

Blitzartig wirbelte ich herum. Er war wieder auf den Beinen und kam hinter mir her. In seiner emporgehobenen Hand blitzte es auf und fuhr auf mich herab, während ich rasch zur Seite sprang. Ich spürte, wie mir etwas den Ärmel aufschlitzte. Ein Messer! Er wurde von der Schwungkraft seines eigenen Stoßes über mich hinausgetragen, und ich hieb ihm mit einem kurzen flachen Schlag über das Genick. Die Menge teilte sich vor ihm, als er gegen die Wand des Gebäudes taumelte. Ich folgte ihm rasch. Ich durfte ihm keine Gelegenheit geben, sich umzudrehen. Ich ergriff seine Hand, in der er das Messer hielt und drehte sie mit einem einzigen Ruck zu mir herum. Er schrie auf. Ich drehte nochmals und das Messer fiel klirrend zu Boden. Ich stieß es beiseite und drehte ihn zu mir herum. Sein Gesicht war vor Angst und Schmerz verzerrt, die Augen traten ihm fast aus den Höhlen. Während ich seinen Kopf an die Ziegelmauer preßte, begann ich sein Gesicht mit der freien Faust zu bearbeiten. Grausamkeit, die Lust zur hemmungslosen Gewalttätigkeit und eine wilde Freude tobten in mir. Zum erstenmal im Leben boxte ich mit unbeschreiblicher Wonne. Mit meiner Faust schlug ich ihm die Nase flach, ich spürte, wie der Nasenknochen unter meinen Schlägen knackte. Er schrie wieder auf.

Doch ich lachte nur, wild und hemmungslos und drosch auf seinen Mund ein. Als er nach Luft rang, bemerkte ich dort, wo sich früher seine Zähne befanden hatten, ein schwarzes Loch. Ich war glücklich! Ich war nie zuvor so glücklich gewesen! Blut lief ihm übers Gesicht, und ich wollte ihn zu Brei schlagen, ich wollte so lange auf ihn losschlagen, bis er kein menschenähnliches Gesicht mehr hatte. Roter Nebel senkte sich über meine Augen, und ich lachte und hieb auf ihn ein und brüllte vor Freude.

Dann spürte ich, daß mich Hände packten und von ihm wegrissen. Ich wehrte mich. Doch nun fühlte ich einen scharfen Schmerz im Hinterkopf und wurde merkwürdig schwach. Ich ließ ihn los, und er stürzte vornüber zu Boden. Kräftige Arme hielten meine Hände zu beiden Seiten fest. Ich sah auf, um festzustellen, wer mich festhielt. Als sich der rote Nebel etwas zu heben begann, erkannte ich die dunkelblauen Uniformen der Polizisten.

Sie brachten mich auf die Polizeiwache bei der Williamsburg Bridge und sperrten mich in eine Zelle. Ein Mann kam nach kurzer Zeit herein, um nach mir zu sehen. Es war der Arzt, der mir Heftpflaster auf den Arm klebte, um die Stichwunde zu versorgen. Dann ließ er mich wieder allein.

Ich saß fast vier Stunden in der Zelle, ehe sich wieder jemand zeigte. Ich war schrecklich müde, konnte aber nicht schlafen. Meine Augen waren schwer, wollten sich aber nicht schließen. Ich mußte immerfort denken. Und ich sah nichts andres vor mir als ein kleines rotbraunes Hündchen, das versuchte, hinter mir die Grubenwand hinaufzuklettern.

Die Zellentür öffnete sich klirrend, und ein Polizist stand vor mir. »Dein Vater ist hier, um dich abzuholen, mein Sohn«, sagte er freundlich.

Ich stand auf und nahm meinen Rock von der Pritsche. Mir war es fast so, als hätte ich das schon oft getan, aber ich war völlig stumpf und keines Gefühls fähig. Langsam folgte ich ihm über den grau gestrichenen Korridor und eine Treppe hinauf. Er öffnete eine Tür und winkte mir. Mein Vater und ein andrer Mann saßen in dem Raum. Papa sprang bei meinem Anblick hastig auf. »Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen«, sagte er.

Ich starrte ihn einen Moment verständnislos an. Nach Hause? In diese Wohnung? Für mich wird sie niemals ein Zuhause sein. Der Mann neben meinem Vater stand gleichfalls auf und sah mich neugierig an. »Da hast du aber Glück gehabt, mein Junge, daß wir herausgekriegt haben, was in Wirklichkeit passiert ist. Der Bursche, den du verprügelt hast, wird wochenlang im Krankenhaus liegen müssen. Aber er ist ein Lump, und vielleicht hast du uns sogar einen Gefallen getan. Jetzt geh und gib uns weiterhin keinen Anlaß zu Klagen.«

Ich antwortete nicht, sondern ging stumm auf die Türe zu. Hinter mir hörte ich die Stimme meines Vaters, der sich bei dem Mann für das, was er getan hatte, bedankte. Ich ging immer weiter durch die ganze Polizeistation und hinaus auf die Straße, wo mich mein Vater einholte und neben mir herging. Bei der Delancey Street mußten wir auf das grüne Licht warten.

»Deine Mutter und ich haben uns um dich sehr geängstigt, Danny. Wir konnten uns nicht erklären, was mit dir geschehen war.« Seine Stimme klang heiser, doch er versuchte unbekümmert zu sprechen. Sein im allgemeinen frisches Gesicht sah im Licht der Straßenbeleuchtung leichenblaß aus. Mir war es, als hätte ich diese Worte schon einmal gehört. Zu einer andern Zeit, an einem andern Ort. Ich antwortete nicht.

Die Ampel wechselte, und wir überquerten die Straße. Er begann wieder zu sprechen. »Warum hast du das getan, Danny?« fragte er mit besorgter Miene. Denn es hatte sich etwas ereignet, was er nicht verstehen konnte. »Es sieht dir doch gar nicht ähnlich, so etwas zu tun.«

Vielleicht hatte das früher gestimmt, aber jetzt war alles verändert. Ich lebte in einer andern Welt, und vielleicht war ich auch ein andrer Danny Fisher. Ich wußte es nicht. Und auch diesmal antwortete ich nicht.

Er versuchte nochmals etwas zu sagen, dann schwieg er gleichfalls. Wir gingen noch zwei Häuserblocks weit, dann bogen wir in unsre Straße ein. An der Ecke zögerten wir einen Augenblick, sahen einander an und hastig wieder weg.

Die Straße war jetzt leer und schmutzig und angefüllt mit allen Abfällen, die sich tagsüber angesammelt hatten. Unsre Schritte hallten auf dem Gehsteig.

Es hatte zu schneien begonnen. Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und sah dabei verstohlen meinen Vater an, der neben mir herging. Da tauchte zum erstenmal eine flüchtige Vision vor meinem geistigen Auge auf, wie es weiterhin sein würde: mein Vater und ich waren Fremde geworden, die schweigsam und stumm nebeneinander durch die Nacht schritten.

Das zweite Buch Mein Alltagsleben

1

Während wir aus dem dunklen Hausflur auf die Straße traten, sah Papa nervös auf seine Uhr. Er steckte sie rasch wieder in die Tasche und sah mich verlegen an. »Schon dreiviertel drei«, murmelte er, »ich muß mich beeilen, sonst komm ich zu spät.« Ich sah ihn völlig uninteressiert an. Wir hatten jetzt fünf Monate hier gelebt, doch es war, als hätten uns Jahre getrennt. Seit dem Tag unsres Umzugs war nichts geglückt. Papa hatte jetzt allerdings eine Anstellung in einem Drugstore der Delancey Street und erhielt dreiundzwanzig Dollar in der Woche. »Gehst du in meiner Richtung?« fragte Papa. Ich nickte stumm. Kann ich auch machen. Ich war mit meiner Bande verabredet, an der Ecke, in der Nähe des Fünf- und Zehn-Cent-Warenhauses. Ich beschleunigte meine Schritte, um mich ihm anzupassen, der hastig vorwärtsstrebte.

Die Erinnerung an diese fünf Monate war noch in uns lebendig. Die Tage, an denen ich von der Schule heimkam und ihn in der Küche der schäbigen Wohnung sitzen sah, wie er mit dem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung die Wand anstarrte. Ich hatte mich bemüht, Mitleid für ihn zu empfinden, es war mir aber nicht gelungen. Er hatte sich's ja selbst zuzuschreiben. Wäre er nur ein bißchen tüchtiger gewesen!

Seine Miene hatte sich auch nicht geändert, als er vor wenigen

Tagen nach Hause gekommen war und uns von der Anstellung erzählte, die er gerade ergattert hatte. Das traf mich bis ins Innerste. Dreiundzwanzig Dollar in der Woche für einen Apotheker mit fünfundzwanzigjähriger Praxis! Das durfte nicht sein!! Es war kaum genug fürs Essen.

Wir bogen um die Ecke der Delancey Street und befanden uns vor dem Geschäft, in dem Papa arbeitete. Er blieb stehen und sah mich zögernd an. Ich wußte genau, daß er mich fragen wollte, was ich mit dem Rest des Nachmittags anfangen würde, aber zu stolz dazu war. Ich traf keine Anstalten, es ihm zu sagen.

»Richte der Mama aus, daß ich um halb drei zu Hause sein werde«, sagte er schließlich. - Ich nickte.

Er öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, dann schloß er ihn wieder, als hätte er sich's doch überlegt. Statt dessen schüttelte er leicht den Kopf und betrat, die Schultern zurücknehmend, den Laden.

Die Schaufensteruhr zeigte    genau drei Uhr,    als er eintrat.    Ich

hatte noch etwas Zeit.    Ich lehnte    mich    an    die

Schaufensterscheibe und betrachtete müßig die Vorbeigehenden. Da hörte ich im Geschäft jemanden sprechen, ich drehte mich um und sah hinein. Ein Mann trat hinter dem Apothekertisch hervor und zog seinen Mantel aus. »Jesus, Fisher«, sagte er in dem Flüsterton, der zwar zwanzig Meter weit nach vorn, aber keinen Zentimeter nach hinten trägt, »bin ich froh, hier 'rauszukommen! Der Boß ist wieder in einer höllischen Laune! Hat mich den ginzen Tag schikaniert.« Papa nahm ihm stumm den Mantel aus der Hand und sah auf die Wanduhr, um die Zeit zu kontrollieren. Ein Ausdruck der Erleichterung trat auf sein Gesicht.

Aus dem Hinterzimmer kam jetzt ein kleines, aufgeblasenes Männchen mit einem jähzornigen Gesicht. Es    blickte    durch    den

Raum, wobei seine dicken    Augengläser im    Licht    funkelten.

»Sind Sie's, Fisher?« fragte er in hohem gereiztem Ton. Er wartete die Antwort nicht ab. »Na, bißchen plötzlich«, fuhr er fort, »da sind zwei Rezepte, die schon längst auf Sie warten.«

Papas Stimme klang so ängstlich und unterwürfig, wie ich sie nie zuvor gehört hatte. »Jawohl, Mr. Gold«, antwortete Papa und eilte ins Hinterzimmer. Hut und Mantel hatte er bereits in der Hand, als er sich mit einem entschuldigenden Blick dem Männchen wieder zuwandte. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie warten zu lassen, Mr. Gold.«

Das Männchen sah ihn verächtlich an. »Sie hätten ja auch früher kommen können, das hätte Ihnen gewiß nichts geschadet!«

»Entschuldigen Sie, Mr. Gold«, sagte Papa unterwürfig. »Na, was stehen Sie denn hier rum wie ein Narr, Fischer?!« sagte Mr. Gold und schob Papa zwei Rezepte in die Hand. »Zieh'n Sie Ihren Mantel endlich an und machen Sie sich schleunigst an die Arbeit!« Damit drehte er ihm den Rücken und verschwand. Papa starrte ihm einen Augenblick mit völlig ausdruckslosem Gesicht nach. Dann betrachtete er die Rezepte in seiner Hand und begab sich langsam zum Apothekertisch. Er legte Hut und Mantel auf einen Sessel und schlüpfte rasch in seinen Arbeitsmantel. Er legte die Rezepte vor sich auf den Tisch, glättete sie mit der Hand und schaute sie sich einen Moment an. Dann nahm er eine Flasche und ein Meßglas vom Regal. Ich hörte beinahe das schwache klirrende Geräusch der Flasche, die gegen das Meßglas stieß, während er die Flüssigkeit mit zitternden Händen eingoß.

Auf einmal sah er auf und bemerkte, daß ich ihn anstarrte. Er wurde verlegen, und die Schamröte stieg ihm ins Gesicht. Ich sah unbeteiligt und gleichgültig vor mich hin, tat so, als hätte ich ihn überhaupt nicht gesehen und wendete mich wie zufällig wieder ab.

Die Bande wartete bereits auf mich, als ich mich ihr anschloß, und wir verließen schweigend die Ecke. Wir wollten keine Aufmerksamkeit erregen. Dann verschwendete ich aber keine Zeit mehr mit den Burschen.

»Ihr wißt also, was ihr zu tun habt«, sagte ich leise und vorsichtig. »Wir schlendern ganz unbefangen hinein. Immer nur zwei gleichzeitig und ganz ruhig. Wenn wir alle drin sind, geb ich das Zeichen und Spit und Solly beginnen hinten im Geschäft ihre Prügelei. Wenn dann alles in ihre Richtung sieht, habt ihr übrigen euch an die Arbeit zu machen. Denkt aber dran: packt ja keinen Ramsch zusammen, nur Sachen, die man wirklich verkaufen kann! Und treibt euch keinesfalls 'rum, um 'rauszukriegen, was die andern machen. Habt ihr euren Griff getan, verduftet! Verschwindet augenblicklich! Ihr wißt alle, wo wir uns nachher treffen. Und wartet erst eine Stunde, ehe ihr euch blicken laßt.«

Ich sah sie der Reihe nach an, alle hatten ernste Mienen. »Verstanden?« Es erfolgte keine Antwort. Ich grinste. »Dann ist's okay. Ich geh jetzt. Behaltet mich im Auge und fangt keinesfalls an, ehe ich das Zeichen gebe.«

Die Bande zerstreute sich, und ich schritt rasch weiter, bog um die Ecke und betrat den Zehn-Cent-Basar. Er war dichtgedrängt voller Menschen. Gut, das erleichtert unsre Sache. Ich drängte mich durch den schmalen Gang ans äußerste Ende des Bartisches bis zum Soda-Automaten durch. Dort kletterte ich auf einen Hocker und wartete, bis das Mädchen zu mir kam, um mich zu bedienen. Im Spiegel hinter der Theke sah ich, daß Spit und Solly an mir vorbeischlenderten.

Die Kellnerin blieb vor mir stehen. »Was soll's sein?«

»Was habt ihr denn, Baby?« entgegnete ich, denn ich wollte Zeit gewinnen. Es war noch nicht so weit. Sie sah mich müde an und strich ein paar Härchen aus der Stirn. »Dort drüben am Plakat steht alles«, erwiderte sie in ausdruckslosem gelangweiltem Ton, »Sie können ja sicher lesen.«

Ich gab vor, das Plakat zu studieren, das hinter ihr auf dem Spiegel klebte. Jetzt kamen wieder zwei meiner Burschen herein. »Eine doppelte Schokolade-Eiscreme-Soda«, sagte ich. »Für zehn Cent extra.«

Das Mädchen ging die Theke entlang und mischte das Getränk mit geübten Griffen. Sirup, Sodawasser, dann die Eiscreme - zwei Schöpfer voll, mit dem Stiel des Löffels zum Kunden, damit er nicht sieht, daß er in Wirklichkeit halbleer ist -dann nochmals Sodawasser. Ich sah mich im Laden um.

Die Burschen waren jetzt alle hereingekommen und sprungbereit. Ich wartete auf die Eiscreme und wünschte ungeduldig, daß sich das Mädchen etwas mehr beeilte. Plötzlich wollte ich mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben. Damals, als wir sie ausknobelten, schien es eine glänzende Idee zu sein, aber jetzt wurde ich doch nervös. Das Mädchen kam endlich zu mir zurück und stellte die Eiscreme vor mich auf die Theke.

Ich schob ihr zehn Cent zu und sie tippte sie auf der Registrierkasse. Die Burschen sahen verstohlen zu mir herüber. Ich steckte den Strohhalm in die Eiscreme, rührte um und begann zu saugen. Die Eiscreme war sehr süß - im selben Augenblick ging hinter mir der Krach los.

Ich grinste vor mich hin, während ich mich nach dem Getöse umdrehte. Solly stürzte soeben in einen Stapel Konserven. Der Krach war im ganzen Geschäft zu hören, und die Leute kamen neugierig gelaufen. Die Burschen arbeiteten sehr geschickt. Da begann das Mädchen hinter der Theke plötzlich zu sprechen, und ich schrak nervös auf. Sie sah neugierig über mich hinweg. »Was ist denn hier los?«

»Weiß nicht, scheinbar 'ne Prügelei.«

»Sieht aber aus, als wär's bloß gestellt«, sagte sie. Ich fühlte, wie sich mein Puls nervös beschleunigte. »Was meinen Sie damit?« fragte ich.

»Die Burschen tun sich gegenseitig nicht weh«, sagte sie rundheraus. »Ich wette, die haben hier noch Freunde, die inzwischen die Waren mitgehen lassen, 's ist ein uralter Trick.« Sie blickte durch den Raum. »Da, schaun Sie dort hinüber, sehen Sie?« Sie hatte eben einen der Burschen entdeckt, wie er verschiedene Gegenstände vom Kosmetiktisch in seine Taschen stopfte. In diesem Augenblick drehte sich der Junge um und sah mich an. Er lächelte, aber ich schüttelte rasch den Kopf, und er verschwand durch die Türe. Ich wandte mich wieder der Theke zu. Das Mädchen starrte mich mit weitaufgerissenen Augen an. »Sie gehören dazu!« flüsterte sie. Ich griff rasch über den Tisch und packte sie kalt lächelnd am Arm. »Und was werden Sie dagegen tun?« fragte ich gelassen. Sie starrte mich noch einen Moment an, dann lächelte sie gleichfalls. »Nichts«, antwortete sie. »'s geht mich nichts an und Barbara Hutton kann sich's leisten.«

Ich ließ ihren Arm los und sah wieder in den Laden. Die Burschen waren bereits verschwunden und Solly wurde soeben von zwei kräftigen Männern zur Türe hinausgeworfen. Ich war grenzenlos erleichtert. Noch immer lächelnd, wandte ich mich wieder um und nahm einen Löffel von meiner Eiscreme. Ich spürte, wie die Schokolade langsam in meinem Mund schmolz. »Ihr macht hier eine erbärmliche Eiscreme«, sagte ich. Sie lächelte wieder. Sie hatte dichtes schwarzes Haar und sanfte dunkelbraune Augen. Ihr Lippenstift stach auffallend grell gegen ihr schmales blasses Gesicht ab.

»Mir scheint, Sie sind hübsch gerissen, was?« flüsterte sie. Ich fühlte, wie eine beglückende Wärme in mir aufstieg. Ich wußte, daß ich bei diesem hübschen Mädchen gewonnen hatte. »Wie heißen Sie, Baby?« fragte ich. »Nellie«, antwortete sie.

»Und ich heiße Danny«, sagte ich. »Wohnen Sie hier in der Nähe?«

»Drüben, in der Eldridge Street.«

»Wann sind Sie hier fertig?«

»Um neun Uhr, wenn das Geschäft schließt«, erwiderte sie. Stolzgebläht stand ich auf. Ich war meiner Sache jetzt sehr sicher. »Ich werde an der Ecke auf Sie warten«, sagte ich. »Vielleicht bekommen wir noch was zu essen.« Ich wartete ihre Antwort nicht ab, sondern schlenderte zu der Stelle hinüber, an der einige Angestellte eifrig damit beschäftigt waren, den Stapel wieder aufzubauen, in den Solly hineingefallen war. Ich sah ihnen ein paar Minuten zu, dann kehrte ich zur Theke zurück.

Das Mädchen sah mich noch immer an. Ich grinste. »Auf Wiedersehen um neun, Nellie.«

Ein Lächeln blitzte rasch auf. »Ich komme an die Ecke, Danny.« Ich winkte ihr zu und schritt zum Eingang. Ich spürte, daß mir ihr Blick folgte. Als ich an dem Apothekertisch vorbeikam, zog ich meinen Kamm hervor und fuhr mir damit lässig durchs Haar. Dann schritt ich durch die Türe und ließ den Kamm in die Tasche meines Hemdes zurückgleiten.