11

Wir standen dicht aneinandergedrängt im Hausflur, und unsre Lippen suchten einander mit wilder, verzehrender Heftigkeit. Maßloses Begehren flammte in mir auf, jetzt, da ich mich von ihr trennen sollte. Ich fand keine Ruhe. Und plötzlich begann sie zu weinen; lautloses Schluchzen schüttelte ihren zarten Körper. Behutsam hob ich ihr Gesicht zu mir. »Was hast du, mein geliebtes Herz?«

Sie umschlang meinen Hals leidenschaftlich mit den Armen und zog mein Gesicht an ihre Wange. »Oh, Danny, ich hab so entsetzliche Angst! Ich will nicht, daß du weggehst, denn dann kommst du nie wieder zurück!«

»Baby, mein Baby«, flüsterte ich, hielt sie eng an mich gepreßt und versuchte, ihr alles begreiflich zu machen. »Diesmal gehe ich doch nicht weg. Ich sage dir bloß gute Nacht. Ich komme zurück.« Ihre Worte glichen einem angstvollen Schrei. »Nein, Danny, du kommst nicht wieder! Ich weiß es bestimmt!« Ich fühlte ihre Tränen auf meiner Wange. Ich küßte sie. »Weine nicht, Nellie«, bat ich, »bitte, weine nicht.«

Doch sie sprach nur noch leidenschaftlicher und ängstlicher als zuvor. »Geh nicht weg, Danny, laß mich nicht wieder allein. Wenn du's tust, muß ich sterben.«

»Ich verlasse dich nicht, Nellie«, versprach ich und hielt sie in meinen Armen geborgen, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Ihr Gesicht ruhte an meiner Brust, und ich mußte mich anstrengen, um zu verstehen, was sie sagte. »Wenn ich bloß einen Ort wüßte, wohin wir gehen könnten, um beisammenzubleiben, wo ich bei dir sitzen, dich ansehen und mir sagen könnte: Er ist zurückgekommen! Er ist wieder da!«

Sie hob den Kopf und sah zu mir auf. In dem Dämmerlicht hatten ihre Augen einen tiefen, strahlenden Glanz. »Ich will heute nacht nicht nach Hause gehn und mit meiner Schwester schlafen, um am Morgen aufzuwachen und festzustellen, daß alles nur ein Traum war. Ich will bei dir bleiben und deine Hand halten, damit der Morgen dich mir nicht wieder nimmt.«

»Ich komme wieder zurück«, sagte ich leise. »Ich liebe dich doch.«

»Nein, du kommst nicht zurück«, erwiderte sie verzweifelt.

»Wenn ich dich diesmal gehen lasse, kommst du nie mehr zu mir zurück. Irgend etwas wird geschehen, und du wirst nicht mehr zurückkommen.« Tränen traten ihr wieder in die Augen. »Du hast's auch beim letzten Mal gesagt, Danny, erinnerst du dich, was du mir gesagt hast? >Was auch geschieht, Nellie, vergiß nie, daß ich dich liebe. < Und dann bist du nicht mehr zurückgekommen. Aber ich habe mich deiner Worte immer wieder erinnert.« Tränen stürzten ihr über die Wangen. Ihre Arme umklammerten mich verzweifelt, und ihre Stimme klang wie gebrochen von einem Kummer, den ich nicht verstand. »Ich kann's nicht nochmals ertragen, Danny, ich kann es nicht! Diesmal ginge ich daran zugrunde. Ich kann dich nicht von mir gehen lassen.«

Ich versuchte zu lächeln, über ihre Angst zu scherzen. »Mein Liebling, wir können doch nicht die ganze Nacht hier im Hausflur stehen bleiben.«

»Dann denk nach, Danny, ob's keinen Ort gibt, wo wir bleiben können«, sagte sie, und ihre Augen waren kühn und entschlossen. »Verschaff uns ein Plätzchen, wo wir bleiben können, wo ich mich zu dir setzen, wo ich mit dir sprechen und deine Hand halten kann.«

Die Blicke, mit denen uns der schläfrige Portier ansah, als wir die Halle eines schäbigen Hotels betraten, gefielen mir nicht. Sie gefielen mir noch weniger, als der Mann, nachdem ich »Daniel Fisher und Frau« ins Fremdenbuch eingetragen hatte, mich ansah und mit leisem Lächeln sagte: »Bitte, zwei Dollar im voraus.« Ich legte das Geld auf den Tisch und bat ihn um den Zimmerschlüssel. Ich fühlte Nellies Hand auf meinem Arm. Der Portier nahm die beiden Geldscheine in Empfang, behielt sie aber in der Hand. »Kein Gepäck?« fragte er. »Kein Gepäck«, erwiderte ich rasch, »wir hatten nicht die Absicht, heute nacht in der Stadt zu bleiben.«

Die Blicke des Portiers wurden jetzt ausgesprochen durchtrieben. »Tut mir leid, Sir«, sagte er in unverschämt höflichem Ton, »aber in diesem Fall kostet das Zimmer fünf Dollar.« Ich unterdrückte den Wunsch, ihn niederzuschlagen. Nicht, weil er mir die drei Dollar erpreßte, die die Hotelleitung nie zu sehen bekommen würde, sondern wegen seiner schamlosen Blicke. Er mußte in meinen Augen etwas von diesen Gefühlen gelesen haben, denn er wandte sich ab und sah auf sein Pult hinunter. Nach einem raschen Blick auf Nellie legte ich noch drei Dollar neben das Fremdenbuch.

Der Portier nahm das Geld. »Danke, Sir«, sagte er und schob mir einen Zimmerschlüssel über den Tisch, »Zimmer 402, Sir, am Ende der Halle befindet sich der Selbstbedienungsaufzug für den vierten Stock. Sie werden sich leicht zurechtfinden, es ist die zweite Tür vom Lift aus.«

Ich versperrte die Türe und drehte mich wieder um. Verlegenes Schweigen breitete sich aus, während wir uns umsahen. Es war nur ein kleines Zimmer. In einer Ecke, einer Schranktüre gegenüber, befand sich ein Waschbecken ; daneben stand ein winziger Toilettentisch mit einem Spiegel an der Wand, gegenüber ein schmales Doppelbett. Neben dem Bett war noch ein Sessel, und vor dem schmalen Fenster ein Ledersofa. Verlegen blickte ich aus dem Fenster. »Es regnet noch immer«, sagte ich.

»Ja«, bestätigte sie mit so leiser Stimme, als hätte sie Angst, man könnte sie durch die dünnen Wände hören. Sie sah mich nervös an. Ich legte Hut und Regenmantel ab. »Ich werde mich hier aufs Sofa legen«, sagte ich, während ich an den Schrank trat, »und du streckst dich auf dem Bett aus und versuchst noch ein bißchen zu schlafen, es ist ja schon bald Morgen.«

Ich hängte Mantel und Jacke in den Schrank, knüpfte rasch meine Krawatte auf und legte sie über einen Bügel. Als ich mich umdrehte, stand Nellie noch immer regungslos da und sah mich an. Sie hatte ihren Mantel noch nicht ausgezogen. Ich lächelte ermutigend. »Du brauchst doch keine Angst zu haben.«

»Ich habe keine Angst mehr«, antwortete sie leise, machte ein paar Schritte durch das Zimmer und blieb vor mir stehen. »Ich habe keine Angst, wenn du bei mir bist.«

Ich küßte sie flüchtig auf die Stirn. »Dann zieh deinen Mantel aus und leg dich hin, du brauchst jetzt Ruhe.«

Schweigend hängte sie ihren Mantel in den Schrank, während ich mich auf das Sofa setzte und die Schuhe auszog. Dann legte ich mich quer über das Sofa, ließ meine Beine über die Lehne hängen und beobachtete sie. Sie ist schon ein seltsames Kind. fürchtete sich davor, mich weggehen zu lassen, und hatte Angst, mit mir in einem Zimmer zu bleiben.

»Bequem?« fragte sie, als sie an der Couch vorbeiging. Ich nickte. »Ja.«

Jetzt hörte ich ihre Schritte hinter mir, gleich darauf ein leises Knacken, und das Zimmer versank in Dunkelheit. Ich bemerkte, daß sie auf die entferntere Seite des Bettes zusteuerte. Dann vernahm ich das leise Rascheln ihrer Kleider und das dumpfe Geräusch der Schuhe, als sie zu Boden fielen.

Ich versuchte die Dunkelheit mit den Blicken zu durchdringen, aber Nellie war nur ein weißer Schatten, der fast unhörbar auf das Bett niedersank. Ich hörte noch das Knacken der Bettfedern, und dann war unser Atem das einzige Geräusch im Zimmer. Ich schob die Hände unter den Kopf und versuchte mich dem kleinen Sofa anzupassen. Meine Beine, die über die Lehne baumelten, begannen zu schmerzen. Ich versuchte meine Lage unhörbar zu wechseln, aber als ich über das Leder rutschte, verursachte es doch ein leises Geräusch.

Der Klang ihrer Stimme erschreckte mich fast. »Danny.«

»Ja«, antwortete ich ruhig. »Bist du noch wach?«

»Ja.«

»Kannst du nicht schlafen?« Ich wechselte meine Stellung nochmals. »Doch, ich kann sehr gut schlafen.«

Einen Moment trat Stille ein, dann hörte ich ihre Stimme wieder. Sie sprach sehr leise, so daß ich sie kaum verstehen konnte. »Danny, du hast was vergessen.«

»Was?«

»Du hast mir keinen Gute-Nacht-Kuß gegeben«, flüsterte sie kläglich.

Ich sank neben dem Bett auf die Knie. Die Decke raschelte, als sie sich aufsetzte. Ihre Lippen waren weich und warm. Ihre Arme schlossen sich eng um meinen Hals, und die süße Wärme und der Duft ihres Körpers hüllten mich ein. Ich zog sie noch enger in meine Arme, und ihr Herz schlug gegen meine Brust. Die kleine kühle Schließe ihres Büstenhalters geriet mir unter die Finger, und ich öffnete sie. Und dann lag er locker in meiner Hand, und ihr Busen preßte sich nackt an meine Brust. Ich beugte mich hinunter und küßte die rosigen Spitzen. Sie hielt meinen Kopf eng umschlungen und ihre Stimme war ein weiches Flüstern. »Halt mich, Danny, halt mich fest, und laß mich nie wieder von dir gehen.«

Schluchzen erstickte meine Stimme. »Ich laß dich nie wieder von mir, mein Liebling.«

»Ach, Danny, ich bin glücklich, wenn du mich küßt, wenn du ganz nah bei mir bist. ich liebe es unsagbar, wenn du so nahe bei mir bist.«

Ich hob den Kopf, um sie in dem schwachen Dämmerlicht zu sehen. Auch mich erfüllte ein seltsamer Schmerz, eine Sehnsucht, die ich nie zuvor gekannt, eine Gemütserregung, die stärker war als jedes physische Verlangen, das mein Körper je erfahren hatte. Ich versuchte zu sprechen, ihr zu sagen, daß ich sie liebe, es gelang mir aber nicht. Meine Stimme versagte.

Sie tastete über mein Gesicht. »Danny, deine Wangen, aber, Danny, du weinst ja!«

Die Tränen lösten den Knoten in meiner Kehle. »Ja«, antwortete ich beinahe herausfordernd, »ich weine.«

Ich hörte, wie sie tief Atem schöpfte, dann legte sie die Arme wieder eng um meinen Hals und zog mein Gesicht neben sich auf das Kissen. Sie küßte mich zart auf die Augenlider. Dann sagte sie sehr leise, und in ihrer Stimme schwang eine Wärme und ein Mitgefühl, das kein menschliches Wesen zuvor für mich gehabt hatte. »Weine nicht, mein Liebling, weine nicht«, flüsterte sie, »ich kann es nicht ertragen, wenn du unglücklich bist.«

12

Die Sonne strömte durchs Fenster und erreichte mein Gesicht. Ich drehte mich im Bett auf die andre Seite, um ihren Strahlen zu entgehen, dabei berührte ich mit der ausgestreckten Hand etwas Weiches. Ich öffnete verwirrt die Augen. Nellie lag auf der Seite, den Kopf in die Hand gestützt, und sah mich an. Sie lächelte. Ich starrte sie einen Augenblick ungläubig an, dann verzogen sich auch meine Lippen zu einem glücklichen Lächeln. Die Nacht stand wieder vor mir, und eine unbeschreibliche Wärme durchströmte meinen Körper. »Es ist Morgen«, sagte ich.

Sie nickte, und ihr Haar flutete über ihre Hände und umrahmte ihr ovales Gesicht mit blauschwarzen schimmernden Locken. Ihre Augen flogen zuerst zum Fenster, dann zu mir zurück. »Ja«, sagte sie feierlich, »es ist Morgen.«

»Du bist am Morgen sogar noch schöner«, sagte ich. Sie

errötete. »Und du bist schön, wenn du schläfst«, erwiderte sie leise, »ich hab dich beobachtet, du siehst aus wie ein ganz kleiner Junge.«

Ich setzte mich mit gespieltem Zorn im Bett auf, die Decke fiel zurück und entblößte mich bis zur Taille. »Willst du damit vielleicht behaupten, daß ich, wenn ich wach bin, nicht schön bin?!« fragte ich mit grollender Stimme.

Sie lachte und fuhr mir mit den Fingern leicht über die Rippen. »Du bist aber schrecklich mager«, sagte sie, »dir stehen ja alle Knochen heraus. Ich werde dich erst einmal auffüttern müssen.« Ich packte sie an den Schultern und näherte mich ihrem Gesicht. »Du kannst sofort damit anfangen«, sagte ich, und küßte sie. »Mmmmmh, ich bin so hungrig, ich könnte dich auffressen!« Sie legte ihre Hände um mein Gesicht. »Danny«, fragte sie leise und sah mir forschend in die Augen, »hast du mich wirklich lieb?« Ich drehte den Kopf rasch zur Seite und biß sie scherzend in die Hand. »Natürlich hab ich dich lieb«, sagte ich lachend. Aber ihre Augen waren tiefernst. »Danny«, sagte sie beschwörend, »sag es ehrlich, so, wie du es in der Nacht gesagt hast.« Ich hörte zu lachen auf. »Ich liebe dich, Nellie«, sagte ich ernst. Sie schloß die Augen. »Sag's noch einmal, Danny«, flüsterte sie, »ich bin so glücklich, wenn du es sagst.«

Ich küßte sie auf den Hals, und meine Lippen wanderten langsam ihre Schultern entlang, wobei ich die Decke, die ihren Körper verhüllte, beiseite schob. Ich umschloß ihre Brüste zart mit beiden Händen und ließ meinen Kopf an ihr Herz sinken. »Ich liebe dich, Nellie«, flüsterte ich.

Sie seufzte tief auf, ihre Augen waren noch immer geschlossen. Ich fühlte, wie ihr Körper unter meiner Berührung erschauerte und sich bemühte, mir noch näher zu kommen. Ihre Stimme war ganz tief und von sehnsüchtiger Glückseligkeit erfüllt. »Danny, ich verlange nach dir. Gott helfe mir, mein Liebster, ich kann von dir nicht genug bekommen.«

Wir gingen an der offenstehenden Türe einer Kirche vorbei, als sie plötzlich stehenblieb und zu mir aufsah. »Danny, bitte, komm mit mir hinein.«

Ihre Blicke beschworen mich stumm und flehentlich. »Okay«, sagte ich.

Sie nahm mich an der Hand, und ich folgte ihr in die Kirche. In dem feierlichen Halbdunkel wandte sie sich mir zu und sagte mit bebender Stimme: »Danny, bist du mir böse?« Ich drückte beruhigend ihre Hand. »Weshalb?« fragte ich. Ein dankbares Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Wenn wir nicht hierhergekommen wären, hätte ich das Gefühl gehabt, ein Unrecht zu tun.«

Ich sah, wie sie das Kirchenschiff entlangschritt und vor dem Altar niederkniete. Sie faltete die Hände und neigte den Kopf mit geschlossenen Augen. Einige Zeit verweilte sie in dieser Haltung, dann erhob sie sich und kam zu mir zurück. Auf ihrem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln.

Ich hielt ihr meine Hand entgegen und sie ergriff sie. So stiegen wir die Stufen hinab und befanden uns wieder auf der Straße. Kurze Zeit gingen wir stumm nebeneinander, dann wandte sie ihren Kopf und sah zu mir auf.

»Jetzt ist mir bedeutend leichter«, gestand sie schüchtern. »Das freut mich«, sagte ich.

»Ich. ich mußte hineingehen, Danny«, erklärte sie, »wenn ich's nicht getan hätte, wäre ich das Gefühl nicht losgeworden, nicht richtig zu handeln.«

Ich pfiff einem Taxi, das gleich darauf vor uns hielt. »Schön«, sagte ich bedächtig, »ich möchte auch keine Braut, die das Gefühl hat, nicht richtig zu handeln.«

Ich öffnete die Türe, half ihr beim Einsteigen und folgte ihr. Der Fahrer sah sich fragend um. »Zum Rathaus«, sagte ich.

In dem kleinen Warteraum, auf dessen Opalglastüre das Wort >Trauungskapelle< mit schwarzen Buchstaben stand, befanden sich mehrere Paare. Sie alle waren ebenso nervös wie wir beide. Ich blickte wieder auf die Uhr. Höchste Zeit, daß die Kapelle geöffnet wurde. Ich sah Nellie lächelnd an. Irgendwie war es hier nicht mehr so arg wie dort draußen, wo wir unsre Heiratslizenz beantragen mußten. Ich glaube, es war deshalb, weil wir dort so viele Fragen hatten beantworten müssen. Aber nachdem wir ein wenig geschwindelt hatten, erhielten wir die Lizenz mit geringeren Schwierigkeiten, als wir gefürchtet hatten.

Die Türe öffnete sich jetzt, und alle Anwesenden im Zimmer schraken nervös auf. Eine dünnlippige grauhaarige Frau betrat das Zimmer und sah sich mit wichtiger Miene um. Zuerst prüfte sie die Liste in ihrer Hand, dann blickte sie sich nochmals im Zimmer um. »Mr. Fisher und Miß Petito, wollen Sie bitte hereinkommen«, sagte sie schließlich.

Ich erhob mich, wandte mich zu Nellie und reichte ihr die Hand. Ich fühlte, wie die Augen aller übrigen Paare auf uns gerichtet waren. Nellies Hand zitterte in der meinen. Ich drückte sie zärtlich, um sie zu beruhigen.

Die Frau nickte mit dem Kopf, und wir folgten ihr in die Kapelle. Sie schloß hinter uns die Türe und führte uns zu einem Podium. »Haben Sie die Lizenz bei sich, junger Mann?« fragte sie trocken und geschäftsmäßig.

»Ja, Ma'am«, antwortete ich hastig und überreichte sie ihr. Sie blickte sie kurz an. Jetzt trat ein Mann durch eine andre Türe ins Zimmer und bestieg das Podium. Die Frau überreichte ihm stumm das Papier.

Er sah zu uns herunter. »Ihr braucht nicht nervös zu sein«, sagte er, seinen eigenen Scherz belächelnd, »in einer Minute ist alles überstanden.«

Wir versuchten gleichfalls zu lächeln, ich glaube jedoch nicht, daß es uns gelang.

»Haben Sie Zeugen mitgebracht?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf und fühlte, wie ich errötete. Er lächelte wieder. »Nun, macht nichts.« Er wandte sich an die Frau. »Miß Schwanz, bitten Sie Mr. Simpson einen Augenblick herein.«

»Gewiß, Mr. Kyle«, sagte die grauhaarige Frau und verschwand. Mr. Kyle blickte wieder in die Lizenz. »Sie sind Daniel Fisher?« fragte er mich. »Ja, Sir«, erwiderte ich. »Alter?« fragte er.

»Dreiundzwanzig«, antwortete ich hastig und hoffte inbrünstig, daß er meine Worte nicht bezweifeln würde. »So wie's dort steht.« Er warf mir einen kurzen argwöhnischen Blick zu. »Ich kann lesen«, sagte er ärgerlich. Dann sah er Nellie an. »Eleanora Petito?« Sie nickte stumm, und er blickte weiter in die Lizenz. Jetzt öffnete sich die Türe wieder, und er sah auf. Die grauhaarige Frau war mit einem kleinen Männchen von vogelartigem Aussehen zurückgekehrt.

»Jetzt sind wir also alle bereit und können beginnen«, sagte Mr. Kyle und schob uns ein Dokument zu. »Wollen Sie hier an dieser Stelle unterschreiben .«

Zuerst unterschrieb Nellie mit winzigen nervösen Buchstaben, dann kam ich an die Reihe, nach mir die Zeugen und schließlich Mr. Kyle selbst. Er trocknete seine Unterschrift mit einem Löschblatt, dann sah er uns bedeutungsvoll an.

»Wollen Sie sich, bitte, die Hände reichen«, forderte er uns auf. Nellie legte ihre Hand in die meine. Jetzt zitterte sie nicht mehr. Ich fühlte, wie sich auf meiner Stirne Schweißtropfen sammelten. Ich war froh, daß die Zeremonie rasch vonstatten ging. Es schien mir, als wäre sie vorbei, ehe sie überhaupt Begonnen hatte. Die einzigen Worte, die ich behalten habe, waren die letzten. Ich glaube nicht, daß die ganze Angelegenheit mehr als zwei Minuten gedauert hat.

»Willst du, Eleanora Petito, diesen Mann, Daniel Fisher, zu deinem rechtmäßig angetrauten Gatten nehmen?«

Ihre Augen waren auf mich gerichtet. »Ja«, antwortete sie leise, doch in feierlichem Ton.

Er wandte sich an mich. »Und willst du, Daniel Fisher, dieses Mädchen als dein rechtmäßig angetrautes Eheweib nehmen?« Ich sah sie an. Ihre Augen waren strahlend und unendlich liebevoll auf mich gerichtet und an ihren Wimpern hingen Tränen des Glücks. »J... ja«, stotterte ich mit heiserer Stimme. »Dann erkläre ich euch kraft der Befugnis, die mir von der Stadt New York verliehen wurde, hiermit als Mann und Frau.« Seine Stimme klang rauh und trocken. »Jetzt können Sie Ihre Braut küssen, junger Mann, und bevor Sie das Zimmer verlassen, dem Zeugen zwei Dollar bezahlen.«

Wir küßten uns verlegen, drehten uns hastig um und eilten auf die Türe zu. Mr. Kyles Stimme, noch trockener, als sie schon während der Zeremonie gewesen war, rief uns zurück. Wir drehten uns erschrocken um.

Lächelnd hielt er ein Blatt Papier in der Hand. »Glauben Sie nicht, daß Sie Ihren Trauschein mitnehmen sollten?« fragte er. Ich spürte, wie ich heftig errötete, während ich den Trauschein aus seiner ausgestreckten Hand entgegennahm. »Danke, Sir«, sagte ich hastig, eilte zu Nellie zurück, und wir verließen das Zimmer.

Alle Paare, die im Wartezimmer zurückgeblieben waren, sahen uns neugierig an. Einige lächelten. Wir verließen das Gebäude so schnell wir nur konnten.

Wir standen auf den Stufen des Rathauses und sahen einander an. Es war noch dieselbe Welt, und doch war sie völlig verändert. Wir waren verheiratet.

Nellie schob ihre Hand unter meinen Arm. »Zuerst gehen wir jetzt zu meinen Leuten, um es ihnen zu erzählen«, sagte sie stolz. »Okay«, sagte ich.

»Und dann gehen wir zu deiner Familie«, fügte sie hinzu. Ich sah sie überrascht an. »Wozu?« fragte ich, »es geht sie nichts an. Außerdem ist's ihnen verdammt egal.«

Unerschütterliche Entschlossenheit stand in ihren Augen. »Aber mir nicht! Ich will, daß sie es erfahren.«

»Sie kümmern sich doch nicht um uns. Ich brauche ihnen nichts zu erzählen!« protestierte ich.

Sie drückte lächelnd meinen Arm. »Danny Fisher, jetzt hör mal, wir wollen unsre Ehe doch nicht mit einem Streit beginnen, was?« Ich sah sie lächelnd an. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen sprühten vor Glück. »N... nein«, antwortete ich. »Dann werden wir's ihnen also erzählen«, sagte sie abschließend und begann die Stufen hinabzusteigen.

»Okay, dann werden wir's ihnen also auch sagen«, stimmte ich zu und schritt neben ihr hinunter. »Wenn du willst, gehe ich sogar noch zum Rundfunk, um es der ganzen übrigen Welt mitteilen zu lassen.«

Sie lachte beglückt und sah zu mir auf. »Du. hältst du das vielleicht für eine schlechte Idee?«

13

Der Türhüter streckte seinen Arm aus, um uns aufzuhalten, und sah uns fragend an.

»In Mr. Gottkins Appartement, bitte«, sagte ich zu ihm.

Er nickte höflich mit dem Kopf. »Mr. Gordons Appartement ist C21 und befindet sich im einundzwanzigsten Stockwerk.«

Wir schritten an ihm vorbei, traten in den Lift, und die Türen schlossen sich. Der Liftboy stand gleichmütig da, das Gesicht der Türe zugekehrt. Ich sah Nellie an. »Was soll denn das mit dem Namen >Gordon< bedeuten?« fragte ich flüsternd. »Er hat seinen Namen im vorigen Jahr rechtsgültig ändern lassen«, flüsterte sie zurück.

Ich nickte. Logisch. Vermutlich dachte er, daß Gottkin für Brooklyn zwar gut genug war, aber in dem luxuriösen Appartement am Central Park South klang Gordon viel besser.

Ich sah auf meine Uhr. Es war wenige Minuten nach neun. Nachdem wir Nellies Familie verlassen hatten, waren wir essen gegangen und nachher zum Haus meiner Eltern. Sie wohnten jetzt in einer sehr schönen Gegend in den Washington Heights, die jedoch mit dieser hier natürlich nicht zu vergleichen war. Dort hatte der Portier uns gesagt, daß sie am Freitag abend gewöhnlich bei ihrer Tochter speisten. Also fuhren wir wieder hierher.

Ich überlegte, wie sie wohl aussehen würden. Ruhelosigkeit überfiel mich. Nellies Familie war erträglich gewesen. Nellies Vater hatte die Türe geöffnet. Sein dunkles Gesicht hatte bei ihrem Anblick ärgerlich ausgesehen, und eine Flut italienischer Worte war von seinen Lippen geströmt. Mitten drin unterbrach sie ihn mit einigen Worten, gleichfalls in italienischer Sprache. Da verstummte sein Redeschwall, und er sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick, hatte aber keine Vorstellung davon, wie er Nellies Worte aufgenommen, denn sein Gesicht war von dem vorhergehenden Wutausbruch noch immer gerötet. Dann trat er stumm zur Seite und ließ uns in die Wohnung.

Nellies Mutter fiel mit lautem Geschrei über uns her. Sie schloß Nellie in die Arme und brach in Tränen aus. Ich blieb verlegen an der Türe stehen und sah sie an. Nellie begann gleichfalls zu weinen. Ihr Vater und ich standen hilflos daneben.

Auf einmal hörte ich aus dem Nebenzimmer einen Aufschrei: »Danny!«, und Zep kam mit ausgestreckten Händen auf mich zugestürzt; er grinste über das ganze Gesicht. Ich schüttelte erfreut seine Hände, und er puffte mich in den Rücken. Dann kam noch Nellies jüngere Schwester ins Zimmer und begann ebenfalls zu weinen. Nach einiger Zeit beruhigten sich aber alle und Nellies Vater brachte ein wenig widerstrebend eine Flasche Wein zum Vorschein, und alle tranken auf unsere Gesundheit.

Ehe die Flasche noch ganz geleert war, standen wir alle bereits auf ziemlich gutem Fuß. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß sie über das, was wir getan hatten, hocherfreut waren, aber sie erkannten es an und schienen entschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mama Petito half Nellie sogar dabei, ein paar Sachen einzupacken, so daß wir ungeniert in unser Hotel zurückkehren konnten, ja, sie wollten uns sogar zum Abendessen dabehalten. Wir entschuldigten uns damit, daß wir sagten, wir müssen noch zu meinen Eltern, da wir sie bisher noch nicht besucht hatten. Der Lift blieb stehen, und die Türen öffneten sich. Der Liftboy steckte den Kopf aus der Tür und sagte: »Quer durch die Halle, vierte Türe.«

Auf dem kleinen Namensschild unter der Glocke stand >SAM GORDON<. Ich drückte auf den Knopf, worauf im Innern des Appartements ein Glockenspiel ertönte. »Wirklich phantastisch«, murmelte ich und sah Nellie an.

Sie schien in dem gedämpften Licht des Korridors sehr blaß. Sie nickte stumm, während wir warteten. Ich ergriff ihre Hand. Die Handflächen waren feucht.

Die Türe öffnete sich, und eine kleine Negerin in Stubenmädchenkleidung sah heraus.

»Mrs. Gottk. ist Mrs. Gordon zu Hause?« fragte ich. Die Negerin sah mich unbewegt an. »Wen darf ich melden, Sir?« fragte sie leise mit wohlklingender Stimme. »Ihren Bruder«, sagte ich.

Das Mädchen machte große Augen und trat zur Seite. »Wollen Sie einen Augenblick hier warten?« sagte sie.

Wir befanden uns in einer Halle. Während das Mädchen im Innern der Wohnung verschwand, sahen wir uns ein wenig um.

Die Diele war so groß wie Nellies ganze Wohnung. Aus einem angrenzenden Zimmer vernahmen wir leises Stimmengemurmel. Plötzlich trat Stille ein und wir hörten die Stimme des Mädchens. »Mrs. Gordon, ein junger Mann und eine junge Dame sind da, um Sie zu besuchen.« - »Haben sie gesagt, wer sie sind?« Es klang erstaunt, ich erkannte Mimis Stimme.

Das Mädchen antwortete: »Ja, Ma'm. Er sagt, er is Ihr Bruder, un. «

Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden. »Danny!« hörte ich Mimi aufschreien, »es ist Danny!« Dann stand sie in der Halle und sah uns an.

Wir blieben einen Moment vollkommen unbeweglich stehen. Auf den ersten Blick schien es mir, als habe sie sich überhaupt nicht verändert, als sie aber näherkam, sah ich, daß sie doch verändert war.

Ihre Augen waren dunkler, und darunter waren feine blaue Ringe zu erkennen, als ob sie nicht gut schliefe, vielleicht aber nur, weil sie wieder ein Kind erwartete und schon sehr schwerfällig war. In ihren Mundwinkeln befanden sich kleine Fältchen, die ich vorher nie bemerkt hatte.

Sie zog mein Gesicht zu sich herab und küßte mich. »Danny«, flüsterte sie, »ich bin ja so glücklich, dich wiederzusehen.« Tränen standen in ihren Augen.

Ich lächelte. Komisch, ich hatte gar nicht gewußt, wie sehr sie mir gefehlt hat. Als ich noch zu Hause war, hatten wir ständig Krach miteinander, aber das war jetzt vergessen. Sie ergriff aufgeregt meine Hand und zog mich in das angrenzende Zimmer. »Mama und Papa sind hier«, sagte sie.

Über die Schulter warf ich Nellie einen verzweifelten Blick zu. Sie lächelte flüchtig und nickte; dann folgte sie uns. Mimi führte mich in das Wohnzimmer.

Wir standen auf den Stufen, die in das Zimmer hinunterführten. Mama und Papa saßen, mit dem Rücken zu uns, auf einer Couch, hatten sich aber halb umgedreht und sahen uns entgegen. Mama hielt eine Hand an die Brust gedrückt und hatte die Augen beinahe ganz geschlossen. Papa saß dumpf, mit dem Ausdruck sichtlich beherrschter Überraschung neben ihr, der durch eine lange Zigarre, die regungslos von seinen Lippen hing, noch unterstrichen wurde. Sam stand vor ihnen, hielt ein riesiges Cocktailglas in der Hand und lehnte sich an einen mächtigen Kamin mit imitiertem Holzfeuer. Seine Augen glänzten neugierig.

Mimi führte mich um die Couch herum, bis ich vor meiner Mama stand. Dann ließ sie meine Hand los. Mama sah mir in die Augen, als wollte sie alles aus ihnen herauslesen, was geschehen war, seit wir einander zum letztenmal gesehen hatten. »Hallo, Mama«, sagte ich sehr ruhig.

Sie berührte meinen Rock und glitt mit der Hand meinen Ärmel entlang, bis sie meine Hand fand. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie zog mich zu sich hinab und preßte ihre Lippen auf meine Hände. »Mein Blondie«, flüsterte sie mit bebender Stimme, »mein Baby.«

Ich stand reglos und sah auf ihren gebeugten Kopf hinab. Ihr Haar war ganz weiß geworden. Das war der Augenblick, den ich am meisten gefürchtet hatte. Ich hatte mich nicht davor geängstigt, wie sie mich aufnehmen würden, sondern ich hatte Angst, was ich für sie empfinden würde. Merkwürdig, wie ruhig, wie gleichgültig ich war. Es war beinahe so, als sähe ich mir einen Film an. Irgendwie gehörte ich nicht mehr dazu. Es war ein ganz andrer Junge, der auch Danny Fisher hieß, der vor zwei Jahren weggegangen und in Wirklichkeit niemals zurückgekehrt war.

Das war es, was geschehen war. Die Jahre und die Einsamkeit hatten zwischen uns einen Keil getrieben, und kein Gefühl, von welcher Seite immer, konnte diesen Riß in mir jemals wieder heilen. Mit innerem Widerstreben fühlte ich, wie mich tiefe Trauer überfiel. Was war uns da verlorengegangen! Die wichtigsten Dinge und unsre innige Vertrautheit, die wir nie wieder finden konnten! Ich beugte mich nieder und küßte sie auf den Scheitel. »Verzeih mir, Mama«, sagte ich. Aber niemand wußte in Wirklichkeit, wofür ich um Verzeihung bat.

Ich richtete mich auf und sah zu Papa hinüber. Er war bis in die entfernteste Ecke des Zimmers gegangen. Dort war er stehengeblieben, den Blick auf mich gerichtet. Seine Augen sahen verängstigt und furchtbar einsam aus. Da ließ ich Mamas Hand los und lief zu ihm hinüber. Außer meinen Schritten und Mamas Schluchzen war nichts zu hören. Ich streckte Papa die Hand entgegen. »Hallo, Papa!«

Er sah mich zögernd an, doch nach einem Moment ergriff er meine Hand. »Hallo, Danny.« Seine Stimme zitterte, blieb aber beherrscht.

»Wie ist's dir immer gegangen, Papa?« fragte ich. »Ganz gut, Danny«, erwiderte er kurz.

Und dann fehlten uns die Worte. Im Zimmer begann sich eine gewisse Spannung fühlbar zu machen. Ich nickte jetzt Sam zu. Er nickte zurück, sprach aber kein Wort. Die andern starrten mich schweigend an. Meine Enttäuschung wuchs mit jeder Sekunde. In Wirklichkeit machte es nichts aus, ob ich zurückgekommen war oder nicht. Es war ungefähr so, wie ich mir's vorgestellt hatte. Dennoch sagte ich jetzt voll Bitterkeit: »Ich war zwei Jahre weg« - meine Augen wanderten langsam von einem Gesicht zum ändern -, »und keiner von euch fragt mich, was ich in diesen zwei Jahren gemacht, was ich empfunden habe?«

Mama weinte noch immer leise vor sich hin, aber niemand antwortete mir. Ich drehte mich langsam zu meinem Vater um und sah ihn kalt an. »Wirst auch du mich nicht fragen? Oder interessiert es euch tatsächlich nicht?«

Papa antwortete nicht. Da trat Mimi auf mich zu, nahm meinen Arm und sagte zärtlich: »Natürlich interessiert es uns.

Es ist nur, weil wir so überrascht sind, daß wir nicht wissen, was wir sagen sollen.« Ich blickte Papa noch immer an und fühlte, wie mich eine eisige Ruhe überkam. Ich hatte recht behalten: etwas war in jener Nacht zerbrochen, als die Türe vor mir erbarmungslos verschlossen blieb. Es war dahin, und was die Jahre für uns auch noch bereithielten, nichts vermochte es je wieder zurückzubringen. Ich hatte mir gewünscht, sie wiederzusehen - und auch wieder nicht. Jetzt war auch das nicht mehr wichtig - denn ich stand hier, mitten unter ihnen, und war ein Fremder.

»Komm«, sagte Mimi, »setz dich und erzähl uns, was du alles getan hast. Wir alle haben dich schrecklich vermißt.« Ich sah über sie hinweg durch das Zimmer. Nellie stand noch immer auf der Türschwelle, von allen vergessen, und sah uns mit weitgeöffneten, schmerzerfüllten Augen an. Irgendwie fühlte ich, daß es nicht ihre eigene Qual war, die sie erlitt, sondern meine. Ich sah sie lächelnd an, wandte mich aber sogleich wieder zu Mimi. »Ich kann nicht bleiben«, sagte ich behutsam, denn ich wollte sie nicht kränken. Sie zumindest hatte sich Mühe gegeben. »Ich muß wieder gehen. Ich habe noch vieles zu erledigen.«

»Aber, Danny, du kannst doch jetzt nicht schon gehen«, protestierte sie. Tränen traten ihr wieder in die Augen. »Du bist doch eben erst zurückgekehrt.«

Mein Blick wanderte wieder durchs Zimmer zu Nellie. »Ich bin nicht zurückgekehrt«, sagte ich ruhig, »ich meine, nicht wirklich zurückgekehrt. Ich habe es bloß versucht.«

»Aber Danny.« Mimi weinte an meiner Schulter. Ich wußte, was sie bewegte, aber es hatte jetzt alles keinen Sinn mehr. Sie weinte um etwas, das unwiederbringlich verloren war. Ich legte meinen Arm um ihre zuckenden Schultern und schritt mit ihr durchs Zimmer. »Bitte, Mimi, hör auf«, flüsterte ich, »du machst alles nur noch schlimmer.« Ich führte sie zu der Couch, dann stellte ich mich neben Nellie. Ich nahm sie bei der Hand und wandte mich wieder meiner Familie zu. »Der einzige Grund, weshalb ich heute abend gekommen bin, ist meine Frau hier«, sagte ich leise, »sie hat geglaubt, wir müßten euch mitteilen, daß wir heute früh geheiratet haben.«

Ich sah ihre Gesichter, ihr Mienenspiel - den schmerzlichen Ausdruck meiner Mutter, den bewußt grimmigen meines Vaters. Mein Denken, mein Fühlen erstarrten vor Schmerz. »Sie war die einzige, die mich wirklich zurückhaben wollte«, sagte ich rasch. Ich wartete einen Augenblick, ob sie etwas sagen würden. Aber sie schwiegen. Nellies Familie hatte unsre Heirat ebensowenig gutgeheißen wie meine, sie hatten sich aber wie menschliche Wesen betragen. Meine Familie hatte nichts zu sagen, keinen Glückwunsch für uns - nichts.

Meine innere Qual schwand plötzlich und hinterließ nichts als eine dumpfe Kälte. Ich küßte Mama auf die Wange. Sie weinte. Dann küßte ich Mimi und blieb vor meinem Vater stehen. Sein Gesicht war bitter und maskenhaft. Ich ging an ihm vorbei, ohne ein Wort, ohne eine Bewegung.

Ich wälzte mich ruhelos in meinem Bett. Ich wußte, daß ich im Schlaf geweint hatte, aber jetzt war ich wach, und meine Augen waren trocken. Ich versuchte ganz still zu liegen, um Nellie nicht zu stören.

Wir hatten uns schweigend in unserm kleinen Hotelzimmer ausgekleidet. Schließlich fragte ich mit einem etwas schiefen Lächeln: »Du hast doch die ganze Zeit gewußt, weshalb ich sie nicht besuchen wollte, nicht wahr?« Sie nickte stumm.

»Und doch hast du mich gezwungen, hinzugehen«, sagte ich bitter. Sie legte ihre Hände auf meine Schulter und sah mir in die Augen. »Du hast gehen müssen, Danny«, sagte sie sehr ernst, »sonst hätte es vielleicht unser ganzes Leben lang zwischen uns gestanden. Du hast es selb st erleben müssen.«

Ich wandte mich mit hängenden Schultern von ihr ab. »Nun,

jetzt habe ich es ja erlebt!«

Sie kam mir nach und klammerte sich an meinen Arm. »Jetzt ist's vorbei, und du kannst es vergessen.«

»Vergessen!?« Ich begann zu lachen. Es gab Dinge, von denen sie nichts wußte. »Wie kann ich vergessen? All die Dinge, die wir gemeinsam erlebt haben. unsre Hoffnungen, unsre Sorgen, das Gute und das Böse. Dir fällt's leicht, zu sagen: vergiß! Aber wie kann ich das? Das Gute und das Böse, wie kann ich's je vergessen? Kann man seine eigenen Eltern vergessen? Bedeutet Recht oder Unrecht mehr als das Fleisch und Blut, das uns miteinander verbindet?«

»Nein, Danny, du verstehst mich nicht.« Ihre Stimme klang flehentlich. »Das ist's ja nicht, was du vergessen sollst. Dessen sollst du dich immer erinnern. Es ist der Schmerz, den du vergessen sollst, der dich in einen Fremden verwandeln würde. Der Schmerz, der dich hart, bitter und böse werden ließe, so wie du's jetzt bist!« Ich verstand sie nicht. »Wie kann ich das vergessen?« fragte ich hilflos. »Es gehört doch dazu.«

»Nein, Danny, du irrst«, rief sie, drückte sich dicht an mich und küßte mich auf den Mund, »es ist etwas ganz anderes. Ich werde alles tun, damit du dich nur noch an das Gute erinnerst.« Ich starrte sie an. »Wie könnte das irgend jemandem gelingen?«

»Mir wird es gelingen, ich weiß, daß ich es will und daß ich es kann«, flüsterte sie und sah mit tiefernsten Augen zu mir auf. »Meine Liebe für dich ist so groß, daß du die Liebe andrer Menschen nie entbehren wirst.«

Da verstand ich sie. Ich ergriff ihre beiden Hände und preßte sie dankbar an meine Lippen. Sie hatte mir ein Versprechen gegeben, und ich wußte, daß sie es halten würde. Ich wußte, daß ich in den kommenden Tagen, ob gut oder böse, bei ihr Trost und Kraft finden und, was immer auch geschehen mag, nie wieder allein sein würde.

Umzugstag 15. September 1936

Die hölzernen Stufen knackten behaglich unter unsern Füßen, als wir die Treppe hinaufstiegen. Es war ein freundliches Geräusch, es war, als hätten die alten Stufen schon so manches neuvermählte Paar gleich uns willkommen geheißen. Die Koffer, die ich trug, waren leicht, denn wir brachten nicht viel Kleider mit. Später, wenn ich einen Job hatte und Geld verdiente, konnten wir uns ein paar Sachen kaufen. Jetzt mußten wir das ganze Geld, das wir zusammenkratzen konnten, für die Einrichtung unsrer neuen Wohnung verwenden. Nellie blieb vor einer Türe des vierten Stockwerkes stehen und blickte lächelnd über die Schulter. Sie hielt einen Schlüssel in der Hand.

Auch ich lächelte. »Öffne ruhig, Baby, es ist wirklich unsre Tür!« Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn um. Die Türe öffnete sich langsam, doch Nellie blieb mit einem erwartungsvollen Blick auf der Schwelle stehen. Ich ließ die Koffer fallen, bückte mich und hob Nellie auf. Ich fühlte ihre Arme um meinen Hals, während ich die Schwelle überschritt und sah in ihr strahlendes Gesicht. Sie küßte mich- ihre Lippen waren weich und süß und zitterten ein wenig. Sie wog leicht in meinen Armen.

»Gott segne unsern glücklichen Einzug, Danny Fisher«, flüsterte sie.

Ich stand noch immer regungslos, hielt sie in den Armen und sah mich um. Es war keine große Wohnung. Drei Zimmer mit Bad. Alles war weiß gestrichen. Die Wohnung war sauber, hatte Dampfheizung und Warmwasserversorgung, und Platz genug. Jedenfalls genug, um für die Einrichtung neunhundert Dollar zu verpulvern. Eine Couch, ein paar Sessel für das Wohnzimmer, ein breites Doppelbett und einen Toilettentisch für das Schlafzimmer; eine Kücheneinrichtung und das nötige Geschirr.

Es war zwar eine Menge Geld, aber das war's uns wert, obwohl uns fast nichts mehr übrigblieb. Wenigstens brauchten wir uns keine Sorgen zu machen, daß man ständig hinter uns her sein würde, um die Raten einzufordern.

Endlich ließ ich Nellie wieder zu Boden gleiten. »Bring die Koffer gleich ins Schlafzimmer«, sagte sie. »Sehr wohl, Ma'am«, erwiderte ich, ergriff die Koffer und folgte ihr. Achtlos ließ ich das Gepäck auf das Bett fallen.

»Danny! Nimm die schmutzigen Koffer sofort vom Bett herunter!« rief sie scharf, »hier ist kein Hotel, hier sind wir zu Hause!« Ich mußte laut herauslachen, während ich sie ansah. Aber sie hatte recht. Ich stellte die Koffer auf den Fußboden und setzte mich aufs Bett. »Komm her«, sagte ich und schaukelte auf der Matratze hin und her. Sie sah mich argwöhnisch an. »Wozu? «

»Ich möcht dir was zeigen«, sagte ich und schaukelte weiter. Sie zögerte und blieb stehen. Ich streckte die Hand aus und zog sie rasch an mich. Sie fiel auf mich, und durch diesen Stoß rollte ich flach aufs Bett.

»Danny, was ist denn in dich gefahren?« rief sie lachend. Ich küßte sie. Noch immer lachend wandte sie ihr Gesicht ab. »Danny!« protestierte sie.

Ich schlug mit der Hand auf die Matratze. »Horch mal«, sagte ich, »kein Gequietsche! Genauso wie's der Verkäufer gesagt hat.«

»Danny Fisher, du bist verrückt!« Ihre Zähne schimmerten unwahrscheinlich weiß, wenn sie lachte.

Ich zog sie wieder zu mir herunter. »Verrückt nach dir«, sagte ich. »Oh, Danny«, flüsterte sie, »Danny, ich liebe dich.« Meine Lippen lagen schon auf ihrem Hals. Ihre Haut war zart und weich wie die Seide eines der Modelle in den Schaufenstern der Fifth Avenue. »Und ich liebe dich, Baby.«

Sie sah mir in die Augen, und es war ein Ausdruck in ihrem

Gesicht, der mein Inneres schmelzen ließ. Das brachte sie immer fertig. sie brauchte mich bloß anzusehen. »Danny, du wirst es nie bereuen«, sagte sie eindringlich. »Was bereuen?«

»Daß du mich geheiratet hast«, sagte sie sehr ernst, »ich will dir eine gute Frau sein.«

Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände. »Es ist genau umgekehrt, Baby. Ich hoffe, du wirst es nie bereuen, daß du mich geheiratet hast.«

Ich fühlte ihre Tränen auf meinen Händen. »Oh, Danny«, sagte sie zärtlich, »mir wird's nie, nie leid tun.«

Als wir gerade damit fertig waren, die Vorhänge aufzuhängen, klingelte es. »Ich gehe schon aufmachen«, sagte ich und ging zur Türe. Nellies Mutter und ein Priester standen draußen. Mrs. Petite hatte eine kleine Einkaufstasche in der Hand. Sie rief lächelnd: »Hallo, Danny.«

»Hallo, Mama Petito«, sagte ich, »komm herein.« Sie blieb einen Moment zögernd und verlegen stehen. »Ich habe Pater Brennan mitgebracht.«

Ich wandte mich dem Geistlichen zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Bitte treten Sie ein, Pater«, sagte ich rasch. Ein Ausdruck der Erleichterung trat auf das Gesicht meiner Schwiegermutter, als der Priester meine Hand ergriff. Sein Händedruck war fest und freundlich. »Hallo, Danny«, sagte er mit berufsmäßiger Herzlichkeit. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Nellie rief aus dem Schlafzimmer: »Wer ist's denn, Danny?«

»Deine Mutter und Pater Brennan sind hier«, rief ich zurück. Sie erschien mit leicht gerötetem Gesicht. Dann lief sie auf ihre Mutter zu und küßte sie. Hierauf wandte sie sich dem Priester zu und reichte ihm die Hand. »Ich freue mich, daß Sie kommen konnten, Pater«, sagte sie.

Er schob ihre Hand freundschaftlich beiseite. »Komm, komm, mein Kind«, sagte er lächelnd, »du wirst doch für deinen alten Freund und Bewunderer eine nettere Begrüßung haben!« Damit legte er ihr beide Hände auf die Schultern und gab ihr einen schallenden Kuß auf die Wange.

Mrs. Petito sah mich besorgt an, dann stellte sie ihre Einkaufstasche auf den Boden. »Ich habe Verschiedenes für den Haushalt mitgebracht«, sagte sie.

Nellie öffnete sogleich aufgeregt die Tasche, sah hinein und überschüttete ihre Mutter mit einem temperamentvollen italienischen Wortschwall, den diese ebenso beantwortete. Dann wandte sich Nellie zu mir und erklärte: »Mama hat uns verschiedene Lebensmittel mitgebracht, damit wir nie im Leben hungrig sind.« Ich wandte mich an Mrs. Petito. Die Leute mögen zwar verschieden sein, aber ihre fundamentalen Sorgen sind dieselben. Ich erinnere mich, daß meine Mutter, als wir in das Haus in Brooklyn einzogen, aus demselben Grund Brot und Salz mitgebracht hatte. »Danke, Mama«, sagte ich aufrichtig dankbar.

Sie strich mir mit der Hand über die Wange. »Keine Ursache, Söhnchen«, sagte sie, »ich wollte, wir könnten mehr für euch tun.« Nellie sah sie an.

»Wie wär's mit einer Tasse Kaffee?« fragte sie. »Danny wird rasch hinunterlaufen und etwas Gebäck holen, und wir feiern ein kleines Einstandsfest.« Mama Petito schüttelte den Kopf. »Ich muß nach Hause und kochen. Und Pater Brennan ist nur gekommen, um Nellie Glück zu wünschen.«

Nellie sah den Priester lächelnd an. »Danke, Pater Brennan. Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. Ich hatte schon Angst, Sie könnten.«

Der Priester unterbrach sie. »O nein, Nellie, nichts dergleichen. Natürlich war ich enttäuscht, daß ich dich nicht trauen konnte, aber so ist's am zweitbesten.«

Ein etwas unsicherer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Ich dachte, wir können seinetwegen nicht in der Kirche getraut werden.«

Der Geistliche sah mich freundlich lächelnd an. »Hätten Sie etwas dagegen einzuwenden, in der Kirche getraut zu werden, mein Sohn?« fragte er.

Nellie antwortete rasch, ehe ich zu sprechen vermochte. »Diese Frage ist nicht fair, Pater Brennan«, sagte sie, »niemand von uns hat jemals darüber mit ihm gesprochen.«

Er sah sie an, doch das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden. »Du bist dir natürlich darüber klar, mein Kind, daß deine Ehe von der Kirche wohl zur Kenntnis genommen, aber nicht sanktioniert wird.«

Nellie wurde totenblaß. »Das weiß ich, Pater«, antwortete sie leise. »Hast du je über die Kinder aus dieser Ehe nachgedacht?« fuhr er fort. »Welcher Sakramente sie teilhaftig werden könnten, die ihnen aber versagt bleiben müssen?«

Diesmal antwortete ich. »Wenn ich Sie richtig verstehe, Pater, wird sich die Kirche nicht gegen die Kinder wenden, weil ihre Eltern andern Glaubens sind.«

Er sah mich an. »Soll das heißen, Sie würden gestatten, daß Ihre Kinder im Glauben der katholischen Kirche erzogen werden?«

»Es soll heißen, Pater Brennan«, sagte ich schlicht, »daß es meinen Kindern freistehen wird, den Glauben anzunehmen, den sie sich wählen. Ihr Glaube oder die Ablehnung eines Glaubensbekenntnisses wird Sache ihrer eigenen freien Wahl sein. Bis zu dem Zeitpunkt, da sie alt genug sein werden, für sich selbst zu entscheiden, bin ich gerne bereit, ihnen zu gestatten, die Kirche ihrer Mutter zu besuchen.«

Nellie trat zu mir und ergriff spontan meine Hand. »Ich glaube, es ist ein wenig verfrüht, über diese Dinge zu sprechen. Schließlich sind wir doch erst ganz kurz verheiratet.«

Der Priester sah uns an. »Als Katholikin, Nellie, mußt du dir deiner Verantwortung bewußt sein. Daher ist's immer besser, diese Dinge vorher zu entscheiden, damit sich daraus kein Unglück ergibt.« Nellie war sehr blaß geworden. Sie bewegte beim Sprechen kaum die Lippen. »Ich weiß Ihre Besorgnis um mich ebenso wie Ihren Besuch zu schätzen, Pater Brennan. Seien Sie, bitte, überzeugt, daß wir das tun werden, was für uns beide das Richtige ist, und seien Sie uns immer willkommen, wenn Sie sich in der Nachbarschaft befinden.« Ich hätte sie dafür küssen können. Auf die reizendste Art hatte sie ihm zu verstehen gegeben, er solle seine Weisheit anderswo verzapfen.

Er hatte es sehr gut verstanden, aber in seiner Miene war keine Veränderung zu bemerken. »Ein Priester«, sagte er seufzend, »steht im Leben manchmal vor den schwierigsten Entscheidungen. Im Grund ist er doch auch nur ein menschliches Wesen und kann, wie alle übrigen Menschen, nur um den göttlichen Beistand bei allen seinen Taten beten. Ich hoffe und bete, mein Kind, daß mein Besuch bei dir eine gute und richtige Wirkung zeitigt.«

»Wir sind Ihnen für Ihre Gebete dankbar, Pater«, erwiderte meine Frau höflich, ließ aber ihre Hand noch immer in der meinen ruhen. Ich folgte Pater Brennan langsam zur Türe, wo er mir die Hand reichte. »Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, mein Sohn«, sagte er, aber aus seinem Ton war kein Enthusiasmus mehr zu hören.

Die Türe schloß sich hinter ihm, und Nellie sprach verärgert in schnellem Italienisch auf ihre Mutter ein. Diese hob abwehrend die Hände und antwortete stotternd, schließlich traten ihr auch noch Tränen in die Augen. Während der Streit immer hitziger wurde, stand ich stumm daneben. So rasch, wie der Streit begonnen hatte, war er auch wieder vorbei, und Nellies Mutter schlang ihre Arme um ihre Tochter und küßte sie.

Nellie wandte sich entschuldigend zu mir um. »Meiner Mutter tut es leid, daß sie ihn hierhergebracht hat. Sie hat's gut gemeint

und hofft, daß du nicht beleidigt bist.«

Ich sah ihre Mutter einen Augenblick an, dann lächelte ich ihr beruhigend zu.

»Du brauchst nichts zu bedauern, Mama Perito«, sagte ich langsam, »ich weiß, daß du es nur gut gemeint hast.« Da umarmte sie auch mich und küßte mich auf die Wange. »Du bist ein guter Junge, Danny«, sagte sie in ihrem holprigen Englisch, »ich wünsche nichts andres, als daß du zu meiner Nellie gut bist.«

»Das will ich, Mama«, versprach ich und sah dabei ihre Tochter an, »darauf kannst du dich verlassen.«

Nachdem Mama Petito gegangen war, beendeten wir unsere Arbeiten in der Wohnung. Es war noch ziemlich früh am Nachmittag. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und drehte das Radio an. Es war gerade die richtige Musik, um einen neuen Tag zu beginnen: Frankie Carles Sonnenauf gangs-Serenade.

Nellie kam ins Wohnzimmer und stellte sich neben mich. »Was möchtest du zum Dinner?« fragte sie ernsthaft. »Willst du damit sagen, daß du auch kochen kannst?« fragte ich übermütig.

Sie sah mich tadelnd an. »Sei nicht töricht, Danny«, sagte sie rasch, »was möchtest du also haben?«

»Wozu willst du überhaupt kochen?« fragte ich, »wir werden heute auswärts essen und unsern Einstand feiern.«

»Nein«, sie schüttelte den Kopf. »Das ist zu teuer. Es wird Zeit, daß wir unser Geld zusammenhalten, bis du eine Anstellung gefunden hast. Dann kannst du auswärts essen, wenn's dir Spaß macht.« Ich sah sie mit einem ganz neuen Respekt an. Ich hatte schon den ganzen Tag immer wieder festgestellt, daß sie weit erwachsener war, als ich ihr zugetraut hätte. Ich stand auf und drehte das Radio ab. »Mach, was du willst, und überrasche mich damit«, sagte ich, »ich laufe noch rasch ins Geschäftsviertel, um nachzuschauen, ob's für mich irgendeinen Job gibt.«

Das strahlende Sonnenlicht blendete mich einen Moment, als ich hinaustrat und eine Sekunde vor dem Haus stehenblieb. Dann ging ich rasch auf die U-Bahn zu. Ein Schatten fiel über meinen Weg und hielt direkt vor mir. Ohne aufzublicken, wollte ich ihm ausweichen. Da fiel eine Hand auf meinen Arm, und eine wohlbekannte Stimme drang an mein Ohr.

»Da du wieder zurück bist und dich bereits eingerichtet hast, meint der Boß, daß du ihm einen Besuch schuldig bist.« Ich brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, wer das war. Ich hatte ihn vom Tage meiner Rückkehr an erwartet.

Spit stand vor mir, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, aber nicht in den Augen. Er sah sehr gepflegt aus in seinem dunklen, offensichtlich teuren Maßanzug und dem frischgewaschenen Hemd. Er war so gut gekleidet, daß ich einen Moment beinahe nicht glauben konnte, daß er es tatsächlich war.

»Ich hab es eilig«, sagte ich und versuchte wieder um ihn herumzukommen.

Seine Hand schloß sich fester um meinen Arm, die andre bewegte sich leicht in seiner Jackentasche. Ich konnte die stumpfen Umrisse eines Revolvers sehen, den er dort verborgen hielt. »So große Eile hast du doch wohl nicht, Danny, nicht wahr?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, stimmte ich zu. Er zeigte zum Straßenrand. Dort stand ein Wagen mit laufendem Motor. »Steig ein«, sagte er scharf.

Ich öffnete die Türe und setzte mich auf den Rücksitz. Neben mir saß der Kassierer. »Hallo, Danny«, sagte er gelassen und stieß mir seine Faust in den Magen.

Ich fühlte einen entsetzlichen Schmerz, krümmte mich zusammen und stürzte vornüber auf den Boden des Wagens. Ich hörte, wie die Türe hinter mir rasch geschlossen wurde und der Wagen sich gleich darauf in Bewegung setzte.

Spits Stimme kam wie aus weiter Ferne. »Laß die rohen Scherze! Der Boß wird dir's gehörig übelnehmen.«

Der andere antwortete mürrisch. »Das war ich dem Dreckschwein schuldig.«

Spit packte mich am Kragen und zog mich auf den Sitz neben sich. »Sag dem Boß kein Wort darüber, sonst ergeht's dir beim nächsten Mal noch schlimmer.«

Ich nickte und schluckte den Mageninhalt, der mir bis in die Kehle gestiegen war. Einige Minuten vergingen, ehe mir wieder wohl genug war, um zu begreifen, was er gesagt hatte. »Das nächste Mal.«, das hieß ja, daß ich aus irgendeinem mir unbekannten Grund diesmal noch davonkommen würde. Ich überlegte, was geschehen sein konnte, denn Fields gehörte nicht zu den Menschen, die verzeihen.

Das Auto hielt vor dem Geschäft. Spit stieg vor mir aus dem Wagen, der Kassierer hinter mir. So gingen wir gemeinsam durch den schmalen Flur und die Treppe zu Fields' Wohnung hinauf. Spit klopfte.

»Wer ist da?« brüllte Fields durch die Türe.

»Ich bin's, Boß«, antwortete Spit hastig, »ich hab Danny Fisher mitgebracht.«

»Herein mit ihm«, schrie Fields.

Spit öffnete die Ture, stieß mich hinein und folgte mir in das Zimmer. Mein Magen schmerzte immer noch, aber ich begann mich doch etwas wohler zu fühlen. Wenigstens konnte ich wieder aufrecht stehen.

Maxie Fields erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Seine Augen glitzerten, als er mich ansah. »Du hast also doch nicht wegbleiben können?« sagte er betont und kam um den Schreibtisch herum auf mich zu. Ich hatte diesmal keine Angst vor ihm. Spit hatte mir, ohne es zu wissen, einen wichtigen Fingerzeig gegeben. Ich antwortete nicht. ich sah nur, daß

Maxie auf mich zukam, und als ich bemerkte, daß er mit der flachen Hand auf mein Gesicht zielte, bückte ich mich instinktiv.

Ein scharfer Schmerz in der Nierengegend ließ mich wieder in die Höhe fahren. Spit, der hinter mir stand, hatte mir das stumpfe Ende seines Messers in die Seite gestoßen. Diesmal traf mich Maxies Schlag mitten auf die Wange. Ich taumelte, sagte aber nichts. Worte würden die Dinge nur noch schlimmer machen. Fields grinste mich bösartig an.

»Du bist nicht der einzige, der nicht wegbleiben konnte.« Er drehte sich um und brüllte ins andre Zimmer: »Ronnie, bring mir einen Drink. Ein alter Freund von dir ist gekommen, um uns einen Besuch zu machen.«

Ich wandte mich zu andern Türe. Meine Ohren sausten noch. Sarah stand dort, einen Drink in der Hand und sah mich mit weitgeöffneten Augen starr an. Eine Sekunde blickten wir uns so in die Augen, dann senkte sie den Blick und ging langsam quer durch das Zimmer zu Fields. Stumm reichte sie ihm den Drink. Er lächelte heimtückisch. »Willst du deinen alten Freund nicht begrüßen?«

Sie wandte sich mit einem stumpfen, leeren Blick zu mir. »Hallo, Danny.«

»Hallo, Sarah«, antwortete ich.

Fields sah mich an, den Drink noch immer in der Rechten, »'s ist genau wie in alten Zeiten, was, mein Junge?« Er setzte das Glas an den Mund und trank es beinahe ganz aus. »Nichts hat sich geändert, was?«

Ich sah Sarah aufmerksam an. Ihr Gesicht war starr, unbewegt und völlig ausdruckslos. »Nein«, antwortete ich gelassen, »es hat sich nichts geändert.«

»Ronnie kann eben ohne ihren Süßen nicht leben! Sie ist ganz aus freien Stücken zu mir zurückgekommen, nicht wahr?« fragte Fields.

Ich glaubte einen Moment in ihren Augen ein Feuer aufblitzen zu sehen, es war aber so rasch wieder verschwunden, daß ich meiner Sache nicht sicher war. »Ja, Max«, sagte sie ausdruckslos wie ein Automat.

Fields zog sie dicht an sich. »Ronnie kann ohne ihren Maxie nicht leben, was?«

Diesmal sah ich, daß ihre Lippen zitterten. »Nein, Max.« Er schob sie ärgerlich von sich. »Geh ins andre Zimmer hinüber«, brüllte er.

Ohne mich anzusehen, schritt sie auf die Türe zu. Dort blieb sie einen Moment stehen, ging dann aber weiter, ohne zurückzublicken. Fields wandte sich wieder mir zu. »Niemand kann von Maxie Fields los«, prahlte er.

Ich sah ihn an. Das brauchte er mir nicht erst zu sagen, er hatte mich davon überzeugt. Ich fragte mich, was er getan haben konnte, um Sarah zurückzubringen. Oder, überlegte ich, ist Ben vielleicht etwas zugestoßen?

Fields trat wieder hinter seinen Schreibtisch und ließ sich schwerfällig nieder, während er mich mit seinen in Fettwülste gebetteten Augen anstarrte. »Denk daran, Danny, niemand kommt von Maxie Fields los.«

»Ich werde daran denken«, sagte ich.

Er starrte mich schwer atmend an. Nach einem Moment hob er das Glas an die Lippen und trank es aus. »Okay«, sagte er und stellte das Glas vor sich auf den Schreibtisch. »Du kannst jetzt gehen.« Ich blieb ungläubig stehen und wagte es nicht, mich zu bewegen, während ich blitzschnell überlegte, was er jetzt gegen mich im Schild führe. Denn das war zu glatt abgegangen, so einfach würde er mich nicht davonkommen lassen.

»Hast du nicht gehört!« brüllte er plötzlich in aufflammender Wut. »Verdufte und komm mir nicht wieder unter die Augen! Das nächste Mal hättest du nicht soviel Glück! Es wäre möglich, daß ich nicht so guter Laune bin!«

Ich stand noch immer regungslos, weil ich Angst hatte, mich umzudrehen.

Auf dem Schreibtisch begann das Telefon zu klingeln. Er hob den Hörer ab. »Ja«, schrie er hinein. Man hörte das Knattern einer Stimme, und plötzlich nahm sein Gesicht einen durchtriebenen Ausdruck an. »Hallo, Sam«, sagte er herzlich. Die Stimme im Hörer begann neuerlich loszuknattern. Fields bedeckte die Muschel mit der Hand. »Schmeiß ihn 'raus, Spit, wenn er nicht von selbst geht«, sagte er beinahe freundlich.

Es bedurfte aber keiner weiteren Aufforderung. Ich war im Nu draußen. Erst als ich mich wieder in den wohlbekannten schmutzigen Straßen befand, begann ich mir darüber klarzuwerden, was sich in Wirklichkeit ereignet hatte. Ich wußte noch immer nicht, weshalb er mich hatte laufen lassen, außer. es gab nur einen einzigen Grund. Sarah hatte mit ihm ein Übereinkommen getroffen. Deshalb hatte sie mich weder angesehen, noch mit mir gesprochen. So mußte es sein. Es war das einzige, was ich mir denken konnte. Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war erst halb drei; ich hatte noch immer Zeit die Agenturen abzugrasen. Es hatte keinen Sinn, früher zu Nellie zurückzukehren, sie würde sich bloß wundern, weshalb ich nicht hingefahren war. Von dieser Sache wollte ich ihr nichts erzählen, sie würde sich ja doch nur Sorgen machen. Ich besuchte etwa vier Agenturen, doch es gab keine freien Stellen. Alle rieten mir, morgen wiederzukommen. Etwas nach vier hörte ich mit der Suche auf und machte mich wieder auf den Weg nach Hause, nachdem ich beschlossen hatte, morgen frühzeitig aufzustehen, um einen Job zu ergattern. Es gab zur Zeit nicht viele freie Stellen.

Nellie hatte Hühner-Cacciatore mit Spaghetti gemacht. Dazu tranken wir eine Flasche Chianti, die ihre Mutter mitgebracht hatte. Das Essen war vorzüglich, aber ich mußte mich dazu zwingen, weil mir der Magen noch immer weh tat. Ich verzehrte aber genug, um keinen Verdacht zu erregen. »Soll ich dir beim Spülen helfen?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Geh nur ins Wohnzimmer und stell das Radio an«, sagte sie, »ich bin in einer Minute fertig.« Ich ging hinüber, ließ mich in einen Sessel neben dem Radio fallen und drehte es an. Die Stimme von Kingfish ertönte und ich lauschte Andys Bemühungen, seinem Freund einen Job zu verschaffen. Das schien momentan jedermanns Sorge zu sein: einen Job zu finden. Wäre gut, wenn ich rasch einen finden könnte, um uns ein paar Dollar zu ersparen. Vielleicht könnten wir uns, wenn es ein bißchen aufwärtsginge und ich gut verdiente, sogar ein kleines Häuschen kaufen. Draußen in Brooklyn, in meiner altgewohnten Gegend. Ich hatte gern dort gelebt. Die Straßen waren sauber und die Luft frisch und rein. Es war nicht so wie hier in der East Fourth und der First Avenue. Hier war's allerdings noch weit besser als in den meisten andern Straßen. Das Haus war sauber, hatte vier Stockwerke mit zwölf Familien und sah nicht so heruntergekommen aus wie die andern. Es war kein ganz schlechter Anfang.

Ich hörte, daß Nellie ins Zimmer trat, und sah auf. »Schon fertig?« Sie nickte. »Ich hab dir doch gesagt, daß es nicht lang dauern wird«, sagte sie stolz.

Ich zog sie zu mir herunter. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter und sah zu mir auf. Wir saßen ganz still beieinander. Es war sehr friedlich, und ich war wunschlos glücklich. »Danny, woran denkst du?«

Ich lächelte. »Daran, wie glücklich ich bin«, sagte ich, »denn ich habe alles bekommen, was ich mir gewünscht habe.«

»Alles, Danny?«

»Ja, so ziemlich alles«, antwortete ich und blickte ihr in die Augen. »Was sollte ich mir sonst noch wünschen? Ich hab mein Mädel bekommen und mein eigenes Heim. Jetzt brauche ich nur noch einen Job, und dann ist alles okay.«

Ihre Augen waren sehr ernst. »Danny, ich wollte dich schon danach fragen, wie sind die Aussichten dafür? Hast du was gefunden?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann's noch nicht sagen, Baby«, antwortete ich leichthin, »schließlich bin ich erst am Nachmittag hingegangen und war nur in ein paar Agenturen. Morgen werde ich mehr wissen, wenn ich ganz zeitig hingehe.« Ein Schatten der Besorgnis flog über ihr Gesicht. »In den Zeitungen steht, daß die Arbeitslosigkeit jetzt ungewöhnlich groß ist.«

»Ach was, die Zeitungen!« sagte ich spöttisch, »die schreiben über alles, was eine Schlagzeile ausmacht.«

»Aber schau bloß, wie viele Familien von der Unterstützung leben müssen! Das hat doch was zu bedeuten.«

»Ganz gewiß« - ich sah sie dabei zuversichtlich an -, »das sind eben Leute, die nicht arbeiten wollen. Wenn es dir wirklich ernst ist, kannst du jederzeit einen Job bekommen. Ich will arbeiten, und ich werde eine Stellung bekommen.«

»Ja, Danny«, fuhr sie fort, »aber es sind doch nicht alle Arbeitslosen faul.«

Sie schwieg einen Moment, dann sah sie mich wieder an. »Was geschieht aber, wenn du längere Zeit keine Anstellung findest?«

Ich lachte. »Ach, wir werden uns schon behelfen. Darüber brauchen wir uns wahrhaftig keine Sorgen zu machen. Außerdem arbeitest du ja noch.«

»Was aber, wenn ich nicht mehr arbeiten könnte? Wenn ich aufhören müßte?« Sie errötete und schlug die Augen zu Boden. »Was ist, wenn ich ein Baby bekomme?«

»Das muß ja nicht unbedingt sein«, sagte ich etwas spitz, »es gibt Mittel, um es zu verhüten.«

Plötzlich schwand die Röte aus ihrem Gesicht, sie sah blaß und erregt aus. »Die Katholiken lehnen das ab, es ist gegen die

Religion. Es ist eine Sünde«, erklärte sie, während sie zu Boden sah. »Was machen wir dann?« fragte ich, »du kannst doch nicht ständig schwanger herumlaufen.«

»Es gibt gewisse Zeiten, in denen es ganz sicher ist.« Sie wich meinen Augen aus.

Ich begann selbst etwas verlegen zu werden. Ich hatte noch zu wenig Erfahrung.

»Wenn es aber doch zu einer andern Zeit geschieht?« fragte ich neugierig.

Sie mied meine Augen noch immer. »Es darf eben nicht geschehen. Man darf es nicht geschehen lassen.«

»Das ist die Höhe!« rief ich, »wir werden das tun, was alle andern tun.«

Ich hörte, wie sie leise zu schluchzen begann. »Mein Gott!« rief ich, »weshalb weinst du denn? Ich hab doch nichts Unrechtes gesagt!« Sie legte ihre Arme um meinen Hals und lehnte ihre Wange an mein Gesicht. »Ich kann's nicht tun, Danny!« rief sie, »ich kann's nicht tun! Ich habe schon genug Sünden auf mich geladen.« Ich drückte sie liebevoll an mich. Ihr Körper war steif vor Angst, einer Angst, die ich nicht zu verstehen vermochte. Obwohl sie dem Priester mutig entgegengetreten war, hatte sein Besuch die ganze Situation für mich doch bedeutend schwieriger gestaltet. »Okay, Nellie, okay«, sagte ich beschwichtigend, »wir werden alles so machen, wie du es willst.«

Ihre Tränen verwandelten sich unverzüglich in ein strahlendes Lächeln. »Oh, Danny«, rief sie und überschüttete mein Gesicht mit unzähligen kleinen Küssen, »du bist so gut zu mir! Ich liebe dich!«

»Ich liebe dich auch, Baby«, sagte ich und sah sie lächelnd an, »aber ist's heute auch sicher?«

Das vierte Buch Mein Alltagsleben

1

Sie ging an der Kosmetikabteilung vorbei bis zu meiner Abteilung am Soda-Automaten und kletterte auf einen Barstuhl. Sie rutschte einen Moment herum, um so zu sitzen, daß ihr Busen auch über dem Bartisch richtig zur Geltung kam. Ich sah verstohlen zu Jack, dem Boß, hinüber und bemerkte, wie fasziniert er sie anstarrte. Es wir ihm nicht übelzunehmen, denn sie hatte ein Zwillingspaar aufzuweisen, das sich sehen lassen konnte. Ich fuhr mir, ehe ich mich ihr zuwandte, zuerst mit dem Tuch übers Gesicht. Es war eine jener feuchtwarmen Nächte, die im Oktober über New York hereinbrechen. Ich lehnte mich über den Bartisch und fragte lächelnd: »Ja, Miß?« Dabei blickte ich über sie hinweg auf die Wanduhr. »Einen Coke mit Zitrone, Danny.« Sie lächelte ebenfalls und machte Schlafzimmeraugen.

»Bitte sehr, bitte gleich«, sagte ich mit einem ebenso schwülen Blick. Ohne mich umzudrehen, griff ich hinter mich und nahm ein Glas vom Wandbrett. Ihr Lächeln wurde noch intensiver. Ich hielt das Glas unter den Hahn und betätigte den Hebel. Dann schob ich das Glas unter den Selterswasserhahn und drückte den Griff mit dem Handgelenk herunter. Während sich das Glas füllte, preßte ich den Saft einer Achtelzitrone hinein, rührte mit einem Löffel um und drehte den Selterswasserhahn wieder ab. Sie steckte eine Zigarette in den

Mund, als ich den Coke vor sie hinstellte. Ich reichte ihr ein Streichholz; während ich es hielt, tanzten Lichter in ihren Augen. »Danke, Danny.« Sie sah mich glühend an. »Nichts zu danken«, sagte ich und reichte ihr einen Strohhalm. Sie nahm ihn geziert aus meiner Hand und rührte damit langsam in ihrem Glas. »Die sollten in der U-Bahn Verkaufsstände haben, wo man einen Coke bekommt, wenn man in einer so heißen Nacht wie heute durstig ist«, sagte sie, bevor sie zu trinken begann. Ich grinste. »Das war' mir aber gar nicht recht«, sagte ich und übertrieb meinen südlichen Akzent, weil man von Barmixern allgemein annimmt, daß sie aus dem Süden stammen. »Dann bekam ich nie was von Ihnen zu sehen. <<

Sie lachte geschmeichelt und schob ihren Busen noch etwas weiter vor. Ich quittierte diese Bewegung mit dem erwarteten begehrlichen Blick, ehe ich mich am Bartisch entlang zu Jack begab. Denn das gehörte mit zu den Spielregeln. Die Mädchen, die einem am Bartisch vis-avis sitzen, erwarten es. Bei dem Leben, das sie führen, ist's ihre Art, die ersehnte Anerkennung zu finden. Romanze an einem Soda-Automaten! Für zehn Cent ist's wahrhaftig billig. »Ein Uhr vorbei«, sagte ich, »kann ich Schluß machen, Jack?« Jack sah von der Registrierkasse auf und zur Wanduhr hinüber. Er nickte, dann wanderten seine Augen sofort wieder zu dem Mädel. »Ja, Danny«, sagte er grinsend, »anscheinend sind's deine blonden Haare und die blauen Augen, auf die alle so scharf sind.« Ich winkte bescheiden ab. »Unsinn«, antwortete ich, »'s ist mein unverfälscht amerikanisches Aussehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was es ist, aber von fünf Mädels, die hier reinkommen, gehn vier an mir vorbei und setzen sich in deine Abteilung. Und diese einladenden Blicke, die sie dir zuwerfen! Mensch! Ich könnt die ganze Zeit vor Neid zerspringen!« Ich grinste. »Sei nicht eifersüchtig, Jack. Vielleicht reiz ich die Bienen, aber du kriegst den Zaster!«

»Ehrlich, Danny?« fragte er, »du gibst dich mit ihnen nie ab?«

»Du kennst mich doch, Jack. Ein verheirateter Mann mit einem Kind hat keine Zeit, rumzuziehen. Außerdem hätte ich auch nicht das Geld dazu.« Im Spiegel hinter dem Bartisch sah ich jetzt wieder das Mädel. Sie lächelte mir zu, und ich erwiderte es mechanisch. »Außerdem ist's besser, sich von diesen Miezen fernzuhalten.« Er grinste wieder und sah auf seine Registrierkasse hinunter. »Ich glaub dir kein Wort«, erklärte er in freundschaftlichem Ton, »aber 's ist okay. Du kannst jetzt mit dem Aufräumen beginnen.« Ich kehrte zu meinem Bartisch zurück und schrieb den Kassenbon für das Mädel. Sofort, nachdem sie ausgetrunken hatte, ließ ich ihn vor ihr auf den Tisch fallen. »Danke, Miß.«

Ich steckte die fünf Cent ein, die sie für mich hinlegte, ehe sie von dem Barhocker kletterte, und wandte mich wieder meiner Arbeit zu. Es war ein Uhr fünfzehn, aber ich brauchte keine Uhr, um es zu wissen. Ich war völlig erschöpft. Meine Füße brannten, ich war hundemüde und mein Rücken schmerzte nach den sieben Stunden und fünfzehn Minuten, die ich seit sechs Uhr nachmittags ständig auf den Beinen gewesen war. Aber, zum Teufel, sagte ich mir, während ich die Pumpe betätigte, es ist ein Job, und in diesem Herbst 1939 erhielt man nicht so leicht eine Stellung, obwohl in Europa Krieg war. Ich mußte es wissen, denn ich hatte lange genug suchen müssen.

Fast drei Jahre, um genau zu sein. Natürlich hatte ich inzwischen verschiedene Jobs gehabt, aber sie waren nie von Dauer. Irgend etwas ereignete sich immer. Es war nicht ganz so schlimm, solange Nellie noch arbeiten konnte. Dadurch wurde es uns möglich, doch irgendwie auszukommen. Als aber Vickie kam, veränderte sich unsre Situation wesentlich. Wir waren kopfüber in etwas hineingestürzt und hatten gegen die Zeit und die Wirtschaftskrise anzukämpfen.

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem Nellie von der Arbeit nach Hause kam und mir sagte, daß sie ein Baby erwarte. Ich mußte ein sehr komisches Gesicht gemacht haben, denn sie

streckte die Hand aus und berührte meinen Arm.

»Danny, du bist nicht sehr erfreut, was?« fragte sie, und Schmerz stand in ihren dunklen Augen. »Doch, ich freue mich«, sagte ich kurz. Sie trat näher. »Was ist's dann?«

»Ich hab mir bloß überlegt, woher wir das Geld nehmen sollen.«

»Du wirst eine Anstellung finden«, sagte sie, »es kann ja nicht ewig so weitergehen.«

Ich wandte mich ab und zündete mir eine Zigarette an. »Das sag ich mir schon die ganze Zeit«, sagte ich.

Der Schmerz saß weit tiefer als bloß in ihren Augen. »Du freust dich nicht, daß wir ein Kind bekommen«, sagte sie klagend. »Warum soll ich mich denn nicht freuen?« fragte ich und ließ den Rauch durch die Nase entweichen. »Ich werde vor Glück durch die Straßen tanzen! Weil's nämlich so großartig ist! Ich bin noch nie im Leben so glücklich gewesen!«

Sie schlug die Augen zu Boden. »Ich kann nichts dafür, Danny«, versuchte sie sich zu rechtfertigen, »es. es ist eben passiert.«

»Natürlich! Es ist eben passiert«, wiederholte ich sarkastisch. »Und dabei gibt's Dutzende von Möglichkeiten, es zu verhüten. Aber meine Frau glaubt nicht daran! Sie muß sich die verrückte Idee in den Kopf setzen, daß es einen Rhythmus gibt! Sie muß.«

»Danny!«

Ich schwieg und sah sie an. Ihre Augen standen voll Tränen. Ich zog schweigend an meiner Zigarette.

Mit tränenerstickter Stimme fragte sie kläglich: »Danny, wünschst du dir denn kein Kind?«

Der schmerzliche Ton ihrer Stimme ging mir zu Herzen. Ich zog sie an mich. »Verzeih mir, Nellie«, sagte ich rasch, »natürlich wünsche ich mir ein Kind. Es ist bloß, weil ich mir

Sorgen mache. Kinder kosten Geld, und gerade das haben wir nicht.«

Sie lächelte unter Tränen. »Babys brauchen nicht viel«, flüsterte sie, »sie brauchen nur viel Liebe.«

Aber so einfach ist's nicht gewesen. Sie brauchen auch Geld. Ich erinnerte mich, wie wir, als unser letzter ersparter Dollar verbraucht war, zum Sozialamt gegangen waren und um Unterstützung nachsuchten. Wie uns der Beamte angesehen hatte - erst mich, und dann Nellie, die hochschwanger war -, als wolle er fragen, welches Recht wir hätten, Kinder in die Welt zu setzen, wenn wir nicht einmal imstande seien, uns selbst zu erhalten. Wir hatten zahllose Fragebogen ausfüllen müssen, und die Ermittlungsbeamten waren zu allen Tageszeiten in unsre Wohnung gekommen. Es gab endlose Untersuchungen, bis nichts Privates in unserem Leben geblieben war. Ich erinnerte mich, wie uns die Ermittlungsbeamtin den ersten Scheck überbrachte. Es war eine dicke Frau in einem alten Pelzmantel. »Das ist für Nahrungsmittel und andre lebenswichtige Dinge«, hatte sie gesagt.

Ich hatte genickt, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Sollten wir erfahren«, fuhr sie in warnendem Ton fort, »daß Sie einen Teil davon für Whisky, Glücksspiel oder einen andern nicht vorgesehenen Zweck verwenden, dann stellen wir weitere Zahlungen unverzüglich ein.«

Ich fühlte zwar, wie mein Gesicht flammend rot wurde, sah sie aber nicht an. Ich brachte es einfach nicht fertig. Nach dieser Demütigung meinte ich, nie wieder jemandem in die Augen schauen zu können.

Das war damals, ehe Vickie geboren wurde. Ich sah sie zum erstenmal, als mich die Säuglingsschwester des Städtischen Krankenhauses durch die Glastüre schauen ließ. Vickie, meine Tochter, mein Kind. Rosig und blond wie ich. Ich glaubte vor Stolz platzen zu müssen. Da wußte ich auch, daß ich nichts

Unrechtes getan hatte, nichts, dessen ich mich zu schämen brauchte. Es lohnte sich, alle Demütigungen auf sich zu nehmen, wenn man dann vor ihr stehen konnte und sie ansehen durfte.

Nachher hatte man mir erlaubt, zu Nellie zu gehen. Sie lag, gemeinsam mit sieben andern Frauen, in einem Zimmer im vierten Stock des Krankenhauses. Während ich auf ihr Bett zueilte, blickte sie mich mit weitgeöffneten dunklen Augen an. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich beugte mich über ihr Bett, küßte sie auf den Mund und legte meine Hand auf ihren Arm. Als sie zu mir aufsah, bemerkte ich eine kleine blaue Vene, die an ihrem Hals pulsierte. Sie schien sehr müde zu sein. »Es ist ein Mädchen«, sagte sie. Ich nickte.

»Aber sie hat dein Haar«, fügte Nellie rasch hinzu. »Und deine Augen und dein Gesicht«, sagte ich hastig, »ich hab sie gesehen, sie ist eine kleine Schönheit!«

Da lächelte Nellie. »Bist du nicht enttäuscht?« fragte sie mit einer ganz kleinen Stimme.

Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Sie ist genau das, was ich mir gewünscht habe«, sagte ich mit Nachdruck. »Dein zweites Ich.« Die Schwester trat zu uns. »Mr. Fisher, es wird besser sein, wenn Sie jetzt gehen«, sagte sie.

Ich küßte Nellie nochmals und verließ das Krankenzimmer. Ich kehrte nach Hause zurück und verbrachte in der einsamen Wohnung eine ruhelose Nacht. Frühmorgens ging ich fort, um eine Stelle zu suchen.

Wie gewöhnlich war's wieder nichts gewesen. Schließlich beschloß ich, halb wahnsinnig vor Angst, mein Kind nicht ernähren zu können, Sam aufzusuchen und ihn zu fragen, ob er mir nicht helfen könne. Ich erinnerte mich, wie ich fast eine Stunde vor dem Empire State Building, in dem er sein Büro hat, auf der Straße gestanden hatte, ohne den Mut aufzubringen. Schließlich war ich doch mit dem Lift zu seinem Büro hinaufgefahren.

Die Empfangsdame wollte mich nicht einlassen, er wolle mich nicht empfangen. Da ging ich wieder hinunter, zu einem Telefonautomaten und rief ihn von dort aus an. Er antwortete in schroffem Ton. Schon bei seinen ersten Worten lief es mir kalt über den Rücken. Ich warf den Hörer auf die Gabel zurück und hatte einen bitteren Geschmack im Mund, während seine Worte noch immer in mir nachhallten. »Was ist 'n los, Junge? Kommst schon wieder betteln?« Erst von diesem Moment an wußte ich, daß sich alle Türen vor mir geschlossen hatten. Es gab tatsächlich niemanden mehr, an den ich mich wenden konnte.

Nellie war mit dem Baby nach Hause gekommen und fast der ganze Sommer verging, ehe ich etwas fand. Das war erst vor wenigen Wochen gewesen, und ich verdiente nicht einmal genug, um unsern Unterhalt zu bestreiten.

Es war zwar Nachtarbeit, aber ich war so verzweifelt gewesen, daß ich gierig danach griff. Angestellter bei einem Sodaautomaten mit sechs Dollar in der Woche und den Trinkgeldern. Falls es mir gelingen sollte, es vor den Leuten des Sozialamtes geheimzuhalten, konnten wir damit auskommen, denn die paar Extra-Dollar waren uns eine große Hilfe. Mit den zweiundsiebzig Dollar im Monat, die sie als Unterstützung zahlten, reichte man nicht weit. Ich säuberte die letzte Pumpe und sah wieder auf die Uhr. Halb drei. Ich zog meine Schürze aus und legte sie unter den Bartisch, wo ich sie morgen abend wieder finden würde. Wenn ich rasch zur U-Bahn lief, konnte ich um drei Uhr zu Hause sein. Auf die Art könnte ich wenigstens noch einige Stunden schlafen, ehe die Fürsorgerin frühmorgens mit dem Scheck erschien. Gewöhnlich kam sie schon um sieben Uhr zu uns.

Während ich am Tisch saß und der nasalen monotonen Stimme von Miß Snyder lauschte, vermochte ich die Augen kaum offenzuhalten. Miß Snyder war die Fürsorgerin, die für uns zuständig war. Sie gehörte zu jenen Leuten, die sich einbilden, in allen Belangen Fachleute zu sein. Eben jetzt gab sie Nellie Anleitungen, wie sie zu den Spaghetti eine Fleischsoße ohne Fleisch zubereiten könne. »Ich finde das wunderbar, was, Danny?«

Nellies Worte veranlaßten mich, die Augen weit aufzureißen. »Was?« stotterte ich, »ja, gewiß.«

»Sie haben nicht zugehört, Mr. Fisher«, sagte Miß Snyder mit kaltem Tadel.

»O doch, Miß Snyder«, beeilte ich mich zu versichern, »ich habe jedes Wort gehört.«

Sie betrachtete mich scharf durch ihre dünne Stahlbrille. »Sie scheinen sehr müde zu sein, Mr. Fisher«, sagte sie argwöhnisch, »sind Sie gestern abend erst so spät schlafen gegangen?« Jetzt war ich hellwach. »Nein, Miß Snyder«, ich versuchte ihren Argwohn zu zerstreuen, »ich bin sogar sehr früh zu Bett gegangen, aber ich konnte nicht schlafen, weil ich mir Sorgen machte.« Sie wandte sich wieder an Nellie. Ich merkte ihr an, daß ich keinen Eindruck auf sie gemacht hatte. »Und wie geht's dem Baby, Mrs. Fisher?« fragte sie glucksend.

»Wollen Sie sie sehen, Miß Snyder?« Nellie war bereits aufgesprungen. Ich lachte verstohlen. Nellie wußte, wie man sie behandeln mußte. Miß Snyder war eine alte Jungfer und ein Kindernarr.

Von jetzt an könnte ich einschlafen und mit dem Kopf auf dem Tisch schnarchen, sie würde nicht einmal bemerken, daß

ich vorhanden war.

Ich wartete, bis Miß Snyder wieder gegangen war, dann taumelte ich blindlings ins Bett zurück. Ich nahm mir nicht einmal die Mühe, die Hose auszuziehen, und war sofort eingeschlafen. Ich erwachte mit dem Gefühl, allein in der Wohnung zu sein. Ich drehte den Kopf, um auf die Uhr zu schauen, die auf einem Tischchen neben meinem Bett stand. Es war zwölf Uhr. Ein kleiner weißer Zettel lehnte an der Uhr. Er war von Nellie.

Bin hinuntergegangen, um den Scheck einzulösen, die Rechnungen zu bezahlen und verschiedenes einzukaufen. Habe Vickie mitgenommen, damit Du Dich ausschlafen kannst. Auf dem Herd steht Kaffee. Bin um drei wieder zurück.

Ich ließ den Zettel wieder auf den Nachttisch fallen, wälzte mich aus dem Bett, stand auf und streckte mich. Ich ging ins Badezimmer und betrachtete mich im Spiegel, während ich mich mit der Rasierseife einseifte. Ich sah müde und gealtert aus. Die Haut über den Backenknochen schien spröde und trocken zu sein, und in meinen Augenwinkeln befanden sich feine Fältchen. Ich atmete tief ein und begann den Seifenschaum in meine Haut zu massieren. Ich fühlte mich immer bedeutend frischer, wenn mein Gesicht mit dem weißen flockigen Schaum bedeckt war.

Als ich eben mit dem Rasieren fertig geworden war, klapperte der Schlüssel im Schloß. Ich legte den Rasierapparat aus der Hand und eilte zur Türe. Nellie war zurückgekommen, auf einem Arm hatte sie Vickie, auf dem andern eine Papiertüte mit Lebensmitteln. »Ich habe den Metzger und den Kaufmann bezahlt«, berichtete sie, während sie die Tüte auf den Tisch legte. »Wenn wir Miete, Gas und Licht bezahlt haben werden, bleiben uns noch genau sechs Dollar.«

»Gut«, sagte ich. Vickie war merkwürdig still. Gewöhnlich rutschte sie, wenn ich sie auf dem Arm hielt, unruhig hin und her und wollte spielen. »Was ist denn mit Vickie los?«

Nellie sah sie an. »Ich weiß nicht«, antwortete sie mit besorgter Miene, »sie war schon den ganzen Vormittag so. Und im Laden unten hat sie zu weinen begonnen. Deshalb bin ich auch so bald nach Hause gekommen.«

Ich hob Vickie mit ausgestreckten Armen hoch über meinen Kopf. »Was ist denn mit meinem kleinen Babylein?« fragte ich, schaukelte sie leicht hin und her und wartete, daß sie, wie gewöhnlich, glücklich zu krähen anfing.

Statt dessen begann sie zu weinen. Ihr lautes Jammern erfüllte den Raum. Ich wandte mich bestürzt an Nellie.

»Ich werde sie ins Bett legen«, sagte Nellie und nahm sie mir ab. »Vielleicht ist sie, wenn sie geschlafen hat, wieder munterer.« Ich setzte mich an den Tisch und trank meinen Kaffee, während Nellie das Kind schlafen legte. Dann blätterte ich müßig in der Zeitung. Es stand ein Artikel über das Wohlfahrtsamt drin, das bei Leuten nachgeforscht hatte, die ihnen verdächtig schienen, schwarz zu arbeiten. Ich zeigte Nellie den Artikel, als sie in die Küche zurückkam.

Sie sah mich bedenklich an. »Glaubst du, daß Miß Snyder etwas argwöhnt?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie das möglich wäre. Ich bin doch immer zu Hause, wenn sie kommt.«

»Vielleicht haben die Nachbarn etwas bemerkt und es ihr gesagt.«

»Ach, das würden sie nicht tun. Sie haben genug eigene Sorgen.«

»Sie hat sich heute früh allerdings sehr merkwürdig benommen. Als ob sie etwas wüßte.«

»Denk nicht mehr dran«, sagte ich zuversichtlicher, als ich in Wirklichkeit war, »sie weiß bestimmt nichts.«

Vickie begann jetzt wieder zu weinen. Plötzlich begann sie zu husten, es war ein heftiger schleimiger Husten. Nellie und ich sahen einander einen Augenblick an, dann drehte sie sich um und lief ins Schlafzimmer. Ich folgte ihr.

Als ich neben ihr stand, hielt Nellie das Kind bereits in den Armen und klopfte ihm leicht auf den Rücken. Der Husten hörte auf. Nellie sah mich mit entsetzten Augen an. »Sie fühlt sich so heiß an, Danny.«

Ich legte meine Handfläche leicht auf Vickies Stirn. »Vielleicht hat sie etwas Fieber.«

»Sie hat schon in der Nacht gehustet«, sagte Nellie, »möglicherweise hat sie sich an mir angesteckt.«

Daran hatte ich nicht gedacht. Nellie versuchte seit einer Woche eine Erkältung zu unterdrücken. »Rufen wir einen Arzt«, sagte ich. Das Kind begann wieder zu weinen. Wir blickten einander hilflos an. Nellie sah erst das Baby und dann mich an. »Vielleicht hast du recht«, stimmte sie zu. »Die Krankenscheine liegen auf dem Küchenregal. Lauf hinunter und rufe sofort an.«

Der Arzt wandte sich von dem Kind ab und winkte Nellie zu sich. »Lassen Sie sich mal anschauen, während Ihr Mann das Kind wieder in die Wiege legt«, sagte er.

Nellie fragte zögernd: »Ist bei ihr nichts Besonderes?« Während ich Vickie hinlegte, sah ich, daß der Arzt nickte. »Sie hat eine Erkältung, die sich im Kehlkopf zu konzentrieren scheint. Ich werde ihr etwas aufschreiben.« Er hielt ein flaches Holzstäbchen in der Hand, um ihre Zunge herunterzudrücken. »Machen Sie den Mund auf und sagen Sie >Aaa<.«

Nellie öffnete den Mund, und er drückte ihre Zunge mit dem Holzstäbchen herunter. Sie würgte und begann zu husten. Er zog das Holzstäbchen rasch wieder zurück und wartete, bis sich ihr Hustenanfall gelegt hatte. Dann griff er in seine Tasche und nahm ein Thermometer heraus. »Nun?« fragte sie.

Er lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Fisher«, sagte er, »erst wollen wir mal feststellen, ob Sie Fieber haben.« Er schob ihr das Thermometer in den Mund, nahm dann einen kleinen Rezeptblock aus der Tasche und begann zu schreiben. Als ich eben damit fertig war, Vickie zuzudecken, fragte er mich: »Haben Sie Ihren Krankenschein?«

»Er ist in der Küche, Herr Doktor«, sagte ich rasch, »ich werde ihn sofort holen.«

Als ich wieder zurückkehrte, studierte er das Thermometer, das er Nellie aus dem Mund genommen hatte. »Sie haben auch etwas Fieber, Mrs. Fisher«, sagte er, »haben Sie das gewußt?« Nellie schüttelte den Kopf.

»Es wird gut sein, wenn Sie sich sofort ins Bett legen und einige Tage liegenbleiben«, sagte er.

»Aber, Herr Doktor«, protestierte sie, »Sie haben uns noch nicht gesagt, was mit Vickie ist!«

Er sah sie ungeduldig an. »Dasselbe wie mit Ihnen. Sie sind, ebenso wie Ihr Kind, erkältet und haben eine Halsentzündung. Ich gebe Ihnen hier zwei Rezepte, eines für Sie, das andre für das Kind. Wenn Sie die Vorschrift genau beachten, werden Sie beide bald wieder okay sein.«

»Glauben Sie, daß sie sich an mir angesteckt hat?« fragte Nellie bekümmert.

Der Arzt hatte wieder zu schreiben begonnen. »Ich weiß nicht, wer sich an wem angesteckt hat. Lassen Sie die Rezepte sofort machen und halten Sie sich warm. Ich komme morgen wieder vorbei, um nach Ihnen zu sehen.« Er hielt ihr zwei Rezepte hin, dann wandte er sich zu mir um. »Haben Sie den Krankenschein?« Der Arzt kratzte eilig etwas in sein Notizbuch und ich merkte ihm deutlich an, daß wir die Zeit bereits überschritten hatten, die er uns für die zwei Dollar zugestand, welche er vom Sozialamt für die Visite erhielt. Er beendete sein Gekritzel und übergab mir die Karte und einen Zettel. »Geben

Sie das der Fürsorgerin, wenn Sie sie wieder sehen«, sagte er kurz und griff nach seiner Tasche. Er stand bereits bei der Türe. »Befolgen Sie genau, was ich gesagt habe«, rief er noch in warnendem Ton über die Schulter, ehe er hinaustrat. »Bleiben Sie im Bett und nehmen Sie die Medizin so, wie es auf der Flasche steht. Ich komme morgen wieder.« Die Türe schloß sich hinter ihm, und Nellie blickte mich an. Ich starrte ihr eine Sekunde in die Augen, und eine blinde Wut packte mich. Ich zerknitterte den Papierbogen wütend in meiner Hand. »Dieser verfluchte Schweinehund!« schrie ich gereizt. »Möchte sich einfach noch 'nen Dollar dazuverdienen, das ist alles! Weil du von der Unterstützung lebst, ist er zu beschäftigt, um dir eine ordentliche Auskunft zu geben! Ich wette, er traut sich nicht, seine andern Patienten so zu behandeln!«

Nellie begann wieder zu husten. »Na ja«, gelang es ihr zu sagen, »dagegen können wir eben nichts tun. Aber er kommt wenigstens, wenn man ihn ruft. Viele nehmen sich nicht einmal die Mühe zu kommen, wenn sie erfahren, daß der Staat die Rechnung bezahlt.« Ich war noch immer wütend. »Er hat sich nicht so zu benehmen, als wären wir der letzte Dreck!«

Nellie trat ans Bett und legte sich hin. »Allmählich solltest du doch schon wissen wie die Leute sind, Danny«, sagte sie müde. Ich schämte mich wegen meines Wutausbruchs, als ich ihre geduldige Miene sah. Sie hatte recht. Ich eilte zu ihr und ergriff ihre Hand. »Gib mir die Rezepte«, sagte ich, »ich werde in die Apotheke laufen und sie sofort machen lassen. Ich glaube, es ist am besten, wenn ich heute nacht zu Hause bleibe.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Danny«, sagte sie, »hol die Medizin und geh nachher an deine Arbeit. Wir brauchen das Geld.«

»Aber der Arzt hat doch gesagt, du sollst im Bett bleiben«, wendete ich ein.

Sie lächelte schwach. »Ach, das sagen sie immer, aber wer bleibt wegen einer lausigen kleinen Erkältung im Bett? Geh nur schön an deine Arbeit, und wenn du nach Hause kommst, sind wir beide wieder ganz gesund.«