Buch

Dies ist die Geschichte von Danny Fisher, dem jüdischen Apothekersohn aus Brooklyn, der schon als kleiner Junge erfahren muß, wie hart und unerbittlich sich die Mitmenschen einem Außenseiter gegenüber verhalten. Allein, ohne Hilfe, muß er den Kampf gegen väterliche Strenge und Prinzipien einerseits und gegen Mitleidlosigkeit, Habgier und Unmenschlichkeit seiner Umgebung andererseits aufnehmen. Aber Danny ist nicht wehrlos. Mit seinen starken Fäusten versteht er sich Respekt zu sichern. Schwerer zu schaffen als seine Gegner auf dem Kampfplatz machen dem jungen Danny der materielle Niedergang seiner Familie in den Jahren der großen Wirtschaftskrise und die ersten Erfahrungen in der Liebe. Der Wunsch, seiner Familie zu helfen, und das Gefühl der eigenen Überlegenheit treiben ihn immer schneller abwärts auf der schiefen Bahn, in die Abhängigkeit von skrupellosen Geschäftemachern, brutalen Dollarjägern und Unterwelthyänen. Wer in dieser Umgebung am Leben bleiben will, muß das Spiel nach den hier herrschenden Regeln spielen, und am Leben bleiben will Danny. So gerät er aus Not in Schuld. Wäre da nicht Nellie Petito, das junge italienische Schankmädchen, das bei aller Sanftheit eigenwillig und unbeirrbar Danny immer wieder Halt gibt und ihm ohne große Worte ein Leben in Rechtschaffenheit vorlebt, er wäre sicher nicht mehr zu retten gewesen.

Hart, realistisch und dennoch voll dichterischer Phantasie, herb und doch zugleich voll Zartheit erzählt Robbins diese Geschichte Danny Fishers, dessen Weg durch den Dschungel der Großstadt und den gefährlicheren Dschungel des eigenen Herzens am Ausgangspunkt und vor jenem Haus endet, das für Danny zeitlebens Symbol der Geborgenheit war.

Welcher ist unter euch Menschen so ihn sein Sohn bittet ums Brot, der ihm einen Stein biete?

Matthaus Vll/9

Meiner Frau LIL, ohne die ich dieses Buch nicht hatte schreiben können

Der Inhalt dieses Buches ist frei erfunden.

Weder die Schilderung der politischen Verhältnisse und der Korruptionsfalle noch irgendwelche andere Geschehnisse oder Gestalten in diesem Buch haben bestehende Verhältnisse oder lebende Personen zum Vorbild.

Inhalt

Einen Stein für Danny Fisher

Es gibt viele Arten, um auf den Friedhof Berg Zion zu gelangen. Du kannst mit dem Auto durch die unzähligen schönen Parkanlagen von Long Island ihren, mit der U-Bahn, dem Autobus oder dem Trolleybus. Es gibt viele Wege, um auf den Friedhof Berg Zion zu gelangen, aber in dieser Woche gibt's keinen Weg, der nicht dichtgedrängt und überfüllt von Menschen wäre. »Woher kommt das?« fragst du, denn mitten im brausenden Leben stehend, ist's immer beängstigend, auf einen Friedhof zu gehen außer zu ganz bestimmten Zeiten. Und diese Woche vor den hochheiligen Tagen gehört dazu. Es ist die Woche, in der Jehova, der Herr, seine Engel um sich versammelt und das Buch des Lebens vor ihnen aufschlägt. Auch dein Name ist auf einer dieser Seiten aufgeschrieben, und dein Schicksal für das kommende Jahr aufgezeichnet.

Sechs Tage lang bleibt das Buch aufgeschlagen, und du hast Gelegenheit zu beweisen, daß du seiner Gnade würdig bist. Während dieser sechs Tage widmest du dich der Barmherzigkeit und frommen Werken. Eines davon ist der alljährliche Besuch bei den Toten. Um sicher zu sein, daß dein Besuch bei den Abgeschiedenen auch aufgezeichnet und richtig beachtet wird, wirst du einen kleinen Stein vom Boden aufheben und auf das Grabmal legen, damit ihn der Engel, der die Taten der Menschen vermerkt, sieht, wenn er allnächtlich durch den Friedhof wandelt.

Ihr versammelt euch zur verabredeten Zeit unter dem weißen steinernen Torbogen. Die Worte Friedhof Berg Zion sind in den Stein zu euren Häuptern eingemeißelt. Ihr seid euer sechs, seht euch verlegen an, und die Worte kommen nur ungeschickt über eure Lippen. Ihr seid alle gekommen. Wortlos, doch wie auf geheime Verabredung setzt ihr euch alle gleichzeitig in Bewegung und beginnt unter dem Torbogen hindurchzugehen.

Zu eurer Rechten ist das Pförtnerhaus; zur Linken die Friedhofsverwaltung. In ihrem Büro sind die Adressen vieler Menschen mit ihrer Platznummer und dem Namen des Beerdigungsinstituts registriert, die gleichzeitig mit dir auf dieser Erde gelebt, und von vielen andern, die vor deiner Zeit dagewesen waren. Du verweilst jedoch nicht bei diesem Gedanken, denn alle, außer mir, gehören für dich dem Gestern an.

Du gehst eine lange Allee entlang und suchst einen bestimmten Weg. Schließlich erkennst du ihn: weiße Ziffern auf einem schwarzen Schild. Du biegst in diesen Weg ein, und deine Augen überfliegen bei jeder Abteilung die Namen der Beerdigungsinstitute. Der Name, den du gesucht hast, wird jetzt mit glänzenden schwarzen Buchstaben auf grauem Stein für dich sichtbar. Du betrittst die Abteilung.

Ein kleines altes Männchen mit weißem tabakfleckigem Bart und Schnurrbart eilt euch hastig entgegen, um euch zu begrüßen. Er lächelt schüchtern, während seine Finger mit dem kleinen Abzeichen in seinem Knopfloch spielen. Er ist Angestellter des Beerdigungsinstituts und wird die Gebete für euch hebräisch hersagen, wie es seit vielen Jahren der Brauch ist.

Du flüsterst einen Namen. Er nickt zustimmend mit einer vogelartigen Gebärde, er kennt das Grab, das du suchst. Er dreht sich um, und du folgst ihm; du steigst behutsam über die dicht nebeneinanderliegenden Gräber; hier ist der Platz sehr kostbar. Jetzt bleibt er stehn und streckt seine alte zittrige Hand aus. Du nickst, es ist das Grab, das du suchst, und er tritt zurück.

Ein Flugzeug dröhnt über eure Köpfe hinweg, es ist im Begriff auf dem naheliegenden Flugplatz zu landen, aber du blickst nicht auf. Du liest die Worte auf dem Grabmal. Frieden und Ruhe ziehen in dein Gemüt ein. Die Spannung des Tages fällt von dir ab. Du hebst den Blick und nickst dem Mann leicht zu, der jetzt die Gebete sprechen wird.

Er tritt wieder vor euch. Er fragt nach euren Namen, um sie in seine Gebete einzuschließen. Einer nach dem andern antwortet ihm. Meine Mutter. Mein Vater. Meine Schwester. Mein Schwager. Meine Frau. Mein Sohn.

Die Gebete des Mannes sind ein mechanisches Geleier, ein unverständliches Geschnatter, das monoton von den Gräbern widerhallt. Doch ihr hört ihm gar nicht zu. Zahllose Erinnerungen erfüllen euer Denken, und für jeden von euch bin ich ein anderer Mensch. Schließlich sind die Gebete gesprochen, und der Mann bezahlt, der sich entfernt, um an anderer Stelle seinen Dienst zu versehen. Du suchst am Boden nach einem kleinen Stein. Du hältst ihn behutsam in der Hand, und gleich den andern, trittst du allein vor das Grabmal.

Obwohl mich Kälte und Schnee des Winters und Sonne und Regen des Sommers umgeben haben, seitdem ihr das letztemal gemeinsam hier waret, sind eure Gedanken unverändert so geblieben, wie sie damals waren. Ich bin noch immer lebendig in eurer Erinnerung mit einer einzigen Ausnahme.

Für meine Mutter bin ich das ängstliche Kind geblieben, das sich dicht an ihre Brust drückt und in ihren Armen Schutz sucht. Für meinen Vater bin ich der schwierige Sohn. Seine Liebe war schwer zu erringen, aber ebenso stark wie die meine für ihn. Für meine Schwester bin ich der strahlende jüngere Bruder, dessen Verwegenheit gleichzeitig Liebe und Besorgnis wachrief. Für meinen Schwager bin ich der Freund, mit dem er die Hoffnung auf den ersehnten Ruhm geteilt hat.

Für meine Frau bin ich der Geliebte, dem sie sich in leidenschaftlicher Liebe hingab. Ein Kind besiegelte die Vereinigung. Für meinen Sohn - was ich für meinen Sohn bin, weiß ich nicht, denn er hat mich nicht gekannt.

Jetzt liegen fünf Steine auf meinem Grab, und noch immer stehst du, mein Sohn, nachdenklich davor. Für alle andern bin ich ein Stück Wirklichkeit, nicht aber für dich. Warum zwingt man dich dann, hier zu stehen und um jemanden zu trauern, den du niemals kanntest?

In deinem Herzen ist eine winzige harte Stelle - der Unwillen eines Kindes. Denn ich habe dich enttäuscht. Du konntest niemals wie andre Kinder prahlen: »Mein Daddy ist der Stärkste oder der Klügste, der Beste oder der Liebevollste.« Du hast mit dem stetig wachsenden Gefühl der Enttäuschung in bitterem Schweigen zuhören müssen, während andere diese Worte sprachen.

Grolle mir deswegen nicht, mein Sohn, und verurteile mich nicht. Halte dein Urteil zurück, wenn du kannst, und höre die Geschichte deines Vaters. Ich war ein Mensch, also sündhaft und schwach. Obwohl ich zu Lebzeiten viele Fehler beging und viele Menschen enttäuschte, möchte ich dich nicht wissentlich enttäuschen. Höre mich an, mein Sohn, ich bitte dich, höre mich an und lerne von deinem Vater.

Lasse dich jetzt von mir zum Anfang zurückführen, zum wirklichen Anfang. Denn wir, die wir aus einem Fleisch, einem Blut und einem Herzen sind, werden uns jetzt in dieser Erinnerung vereinen.

Umzugstag 1. Juni 1925

Ich gehe zurück bis zum Beginn meiner Erinnerungen, und das ist mein achter Geburtstag. Ich sitze in dem Führerhaus eines Möbelwagens und halte an allen Ecken begierig nach den Straßenschildern Ausschau. Als sich der riesige Möbelwagen einer Ecke näherte, verlangsamte er seine Fahrt. »Ist's in diesem Block?« fragte der Fahrer den Neger, der neben mir saß.

Der riesige Neger wandte sich an mich. »Sein das der Häuserblock, Junge?« fragte er, und seine großen weißen Zähne blitzten. Ich war so aufgeregt, daß ich kaum zu sprechen vermochte. »Das ist er«, piepste ich und reckte mich, um auf die Straße sehen zu können. Hier ist es. Ich erkannte die Häuser wieder, sie sahen eins wie das andere aus, und vor jedem stand ein schlanker junger Baum. Alles sah genauso aus wie an dem Tag, an dem ich mit Papa und Mama hierhergekommen war, an dem Tag, an dem sie das Haus für mich, zu meinem Geburtstag kauften.

Alle hatten damals gelächelt, selbst der Makler, der dem Papa das Haus verkaufte. Aber Papa hatte nicht gescherzt. Er hatte es im Ernst gemeint. Denn er sagte dem Makler, das Haus müsse am 1. Juni fertig sein, weil ich an diesem Tag Geburtstag habe und das Haus mein Geburtstagsgeschenk sein solle. Und es stand am 1 . Juni tatsächlich zum Einzug bereit, genauso wie es Papa gewünscht hatte. Und heute war der 1 . Juni, wir feierten meinen achten Geburtstag, und wir zogen ein. Der Wagen fuhr langsam um den Häuserblock, und ich hörte das leichte Knirschen der Reifen auf dem Kiesweg, als der Möbelwagen die gepflasterte Straße verließ. Meine neue Straße war noch nicht gepflastert und erst mit weißgrauem Kies bedeckt. Die Reifen rissen den Kies mit und schleuderten die Steinchen prasselnd gegen die Kotflügel. Ich wetzte in dem Führerhaus ungeduldig umher. »Das ist es!« rief ich und zeigte hinaus. »Da ist mein Haus! Das letzte im Block, dort, das einzige freistehende Haus.« Der Möbelwagen rollte langsam und hielt. Auf dem Fahrweg sah ich bereits unseren Wagen stehen. Mama und meine um zwei Jahre ältere Schwester Miriam waren uns vorausgefahren, um einen Laib Brot und ein Salzfaß ins Haus zu bringen und alles vorzubereiten. Mama hatte gewollt, daß ich mit ihr komme, ich wollte aber mit dem Möbelwagen fahren, und der Fahrer hatte gesagt, ich dürfe mitkommen.

Ich versuchte die Türe zu öffnen, ehe der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war, aber der Neger hielt seine Hand auf der Klinke. »Warten noch Moment, Junge«, sagte er lächelnd. »Bleibst noch lang genug hier.«

Als der Wagen stand, gab er die Türklinke frei. Doch während ich vom Führerhaus herunterkletterte, rutschte ich in meiner Eile auf dem Trittbrett aus und fiel der Länge nach auf die Straße. Ich hörte hinter mir einen gemurmelten Fluch und fühlte, wie mich kräftige Hände aufhoben und wieder auf die Beine stellten. Der Neger flüsterte mir mit seiner tiefen Stimme ins Ohr: »Hast dich wehgetan, Junge?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich glaube, ich hätte nicht sprechen können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich war zu eifrig damit beschäftigt, mein Haus anzusehen.

Es bestand bis zur halben Höhe aus braunroten Ziegelsteinen, und von da an bis zum Dach aus braunen Schindeln. Das Dach war mit schwarzen Schindeln gedeckt, und vor dem Haus befand sich eine kleine ungedeckte Veranda, von der ein paar Stufen auf die Straße führten. Es war das schönste Haus, das ich je gesehen hatte. Voll Stolz atmete ich tief ein und sah die Straße entlang, um festzustellen, ob mich auch jemand bemerkte. Es war jedoch niemand zu sehen. Wir waren die ersten Mieter, die in dem ganzen Häuserblock einzogen.

Der Neger hatte sich neben mich gestellt, »'s ist eine schöne Haus«, sagte er. »Du sein mächtig glückliche Junge, so schöne Haus zu bekommen.«

Ich lächelte ihm dankbar zu, denn als ich ihm auf der Fahrt erzählt hatte, daß mein Papa es mir als Geburtstagsgeschenk gegeben hat, spottete er über mich wie alle andern. Ich lief die Stufen hinauf und klopfte an die Türe. »Mama! Mama!« rief ich. »Ich bin's. Ich bin da!«

Die Türe öffnete sich, und Mama stand vor mir; sie hatte ein Tuch um den Kopf gebunden. Ich drängte mich an ihr vorbei und blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Alles roch so neu in meinem Haus. Der Anstrich der Wände, das Holz der Treppe, alles war neu. Ich hörte, wie Mama den Fahrer fragte, was denn so lange gedauert habe. Ich verstand seine Antwort nicht, weil ich bereits die Treppe hinaufsah. Aber als Mama ins Zimmer zurückkam, sagte sie, daß die Leute nur deshalb bei der Arbeit so herumtrödeln, weil sie Stundenlohn bekommen.

Ich packte sie am Arm. »Mama, welches ist mein Zimmer?« fragte ich. Zum erstenmal sollte ich ein eigenes Zimmer bekommen. Vorher hatten wir in einer Mietwohnung gewohnt, und ich hatte gemeinsam mit meiner Schwester ein Zimmer gehabt. Eines Morgens, kurz bevor mein Papa sich entschloß mir das Haus zu kaufen, war Mama in unser Zimmer gekommen, als ich mich gerade im Bett aufgesetzt hatte, um meiner Schwester beim Anziehen zuzusehen. Mama sah mich prüfend an. Später, beim Frühstück, teilte sie uns mit, daß wir ein Haus kaufen werden, und daß ich von nun an ein eigenes Zimmer bekommen werde.

Jetzt schüttelte sie meine Hand ab. »Es ist das erste auf der Stiegenseite, Danny«, antwortete sie aufgeregt. »Und steh mir jetzt nur nicht im Weg herum. Ich hab eine Menge zu tun.« Ich stürzte die Treppe hinauf, wobei die Absätze meiner Schuhe einen ungeheuren Lärm erzeugten. Oben zögerte ich einen Augenblick und sah mich um. Papa und Mama hatten das große

Frontzimmer, dann kam Miriams Zimmer, und hier - hier war meines. Ich öffnete die Türe und trat leise ein.

Es war ein kleiner Raum, etwa zehn Fuß breit und vierzehn Fuß lang. Es hatte zwei Fenster, aus denen ich direkt in die beiden Fenster des jenseits des Fahrwegs liegenden Hauses sehen konnte. Ich drehte mich um und schloß hinter mir die Türe. Dann durchquerte ich das Zimmer, preßte mein Gesicht an die Fensterscheibe, um hinauszuschauen, da ich aber nicht sehr weit sehen konnte, öffnete ich das Fenster.

Jetzt sah ich den Fahrweg, der sich zwischen den beiden Häusern hinzog. Direkt unter mir bemerkte ich das Dach des neuen Paige, den Papa eben erst gekauft hatte. Weiter zurück, hinter dem Haus, befand sich die Garage. Dahinter gab's nur noch Felder. Hier endete das neue Wohnviertel von Flatbush. Die Bauplätze waren früher nichts als Schutthalden gewesen, aber die Stadtverwaltung hatte sie eingeebnet, und um die Ecke herum entstanden noch weitere Häuserreihen, die alle genauso aussahen wie die unsre. Wenn ich mich weit genug aus dem Fenster hinausbeugte, konnte ich sie sogar sehen.

Ich trat in die Mitte des Zimmers zurück. Langsam drehte ich mich im Kreise und betrachtete jede Wand einzeln. »Mein Zimmer... es ist mein Zimmer«, sagte ich immer wieder. Ich spürte, wie mir ein Klumpen in die Kehle stieg, es war ein merkwürdiges Gefühl. So wie damals, als ich vor Großpapas Sarg stand, mich fest an die Hand von Papa klammerte und in das stille weiße Antlitz sah, mit dem kleinen schwarzen Sabbatkäppchen auf dem Kopf, das sich so furchteinflößend von dem schmucklosen weißen Laken abhob. Papa hatte sehr leise gesprochen. »Sieh ihn dir gut an, Danny«, hatte er gesagt, es war aber eher so, als spräche er mit sich selbst. »Das ist das Ende, das alle Menschen erwartet, und es ist das letztemal, daß wir sein Gesicht sehen können.« Dabei beugte er sich nieder und küßte das stille Gesicht im Sarg. Ich küßte es gleichfalls. Großpapas Lippen waren eiskalt und bewegten sich nicht, als ich sie mit den meinen berührte. Etwas von ihrer Eiseskälte rann mir durch alle Glieder.

Ein Mann mit einer Schere in der Hand stand neben dem Sarg. Papa öffnete seinen Rock und der Mann schnitt ein Stück von seiner Krawatte ab. Dann sah der Mann fragend auf mich. Papa nickte mit dem Kopf und sagte auf Jiddisch: »Er ist von seinem Blut.« Hierauf schnitt der Mann auch ein Stück von meiner Krawatte ab, und ich spürte, wie mir der Klumpen in die Kehle stieg. Es war eine ganz neue Krawatte, ich trug sie zum erstenmal. Und jetzt konnte ich sie nie mehr tragen. Ich sah zu Papa empor. Er blickte wieder in den Sarg und seine Lippen bewegten sich. Ich bemühte mich zu verstehen, was er sagte, es gelang mir aber nicht. Er ließ meine Hand los und ich lief zu Mama hinüber und der Klumpen saß mir noch immer in der Kehle.

Und dasselbe Gefühl verspürte ich jetzt wieder. Plötzlich warf ich mich zu Boden und preßte meine Wange an das Holz. Der Boden war kalt, und der Geruch des frischaufgetragenen Lacks stieg mir in die Nase. Meine Augen begannen zu brennen. Ich schloß sie und lag einige Minuten ganz still. Dann drehte ich mich wiederum und preßte meine Lippen auf den kalten Boden. »Ich hab dich lieb, mein Haus«, flüsterte ich. »Du bist das schönste Haus auf der ganzen weiten Welt, und du gehörst mir, und ich hab dich lieb!«

»Danny, was treibst du denn da auf dem Fußboden?« Ich sprang rasch auf und sah zur Türe. Es war Miriam Sie hatte, genau wie Mama, ein Tuch um den Kopf gebunden. »Nix«, antwortete ich verlegen.

Sie sah mich an. Ich merkte, daß sie nicht draufkommen konnte, was ich da getan hatte. »Mama sagt, du sollst 'runterkommen und schaun, daß du weiterkommst«, sagte sie im Kommandoton. »Die Leute sind so weit, daß sie die Möbel herauf bringen können.«

Ich folgte ihr die Treppe hinunter. Die Unberührtheit des Hauses begann zu schwinden. Auf der Treppe waren schon Stellen, an denen unsere Füße die Farbe abgewetzt hatten. Im Wohnzimmer waren die Möbel bereits aufgestellt, und der Teppich, den man auf einen hohen Bambusstock aufgerollt hatte, stand in einer Ecke bereit, um sofort aufgelegt zu werden, sowie die Männer ihre Arbeit beendet hatten. Mama stand in der Mitte des Zimmers. Sie hatte Schmutzflecken im Gesicht. »Kann ich dir nicht helfen, Mama?« fragte ich. Hinter mir hörte ich Mimis höhnisches Schnauben. Sie konnte Jungen nicht ausstehen und war überzeugt, daß sie zu nichts nütze waren. Das machte mich wütend. »Kann ich dir nicht helfen, Mama?« wiederholte ich.

Sie lächelte mir liebevoll zu. Wenn sie das tat, wurde ihr Gesicht immer ganz weich. Ich war glücklich, wenn ich sie so sah. Sie legte mir die Hand auf den Kopf und zupfte mich scherzhaft an den Haaren. »Nein, Blondie«, antwortete sie. »Lauf doch hinaus und spiel ein bißchen. Ich werde dich rufen, wenn ich dich brauche.« Ich erwiderte ihr Lächeln. Ich wußte, daß sie glücklich und zufrieden war, wenn sie Blondie zu mir sagte. Ich wußte aber auch, daß Mimi immer wütend darüber war. Denn ich war der einzige in der ganzen Familie, der blonde Haare hatte, alle andern waren dunkel. Papa neckte Mama manchmal deshalb, und sie wurde regelmäßig ärgerlich. Ich weiß aber nicht, warum.

Ich schnitt Mimi eine Grimasse und lief hinaus. Die Männer hatten bereits alles von dem Wagen abgeladen, und eine Menge Möbel standen auf der Straße. Ich sah ihnen eine Weile zu. Es war ein glühendheißer Tag. Der Neger hatte sein Hemd ausgezogen, und ich konnte sehen, wie sich die Muskeln unter seiner schwarzen Haut bewegten. Schweiß strömte ihm übers Gesicht; er mußte die meiste Arbeit verrichten, während der andre Mann immer nur redete und ihm befahl, was er tun sollte.

Nach einiger Zeit wurde mir's langweilig, ihnen zuzusehen, und ich sah den Häuserblock entlang zur Ecke und überlegte, wie unsere neue Umgebung wohl aussehen mochte. Die freien Felder jenseits des nächsten Blocks hinter unserm Haus, die ich vom Fenster aus gesehen hatte, erregten meine Neugierde. In der Umgebung unsrer alten Wohnung hatte es nie ein leeres Grundstück gegeben, sondern nur riesige häßliche Mietshäuser.

Durch die offenstehende Türe meines Hauses sah ich, daß Mama beschäftigt war, und als ich hineinrief, ob ich den Block entlanggehen dürfe, antwortete sie nicht. Ich stieg die Stufen der Veranda hinunter und strebte der Ecke zu; ich war glücklich und sehr stolz, ein so schönes Haus zu besitzen, und ich freute mich, daß heute ein so herrlicher Tag war. Ich hoffte, daß alle meine Geburtstage so schön ausfallen würden.

Unmittelbar nachdem ich um die Ecke gebogen war, hörte ich das ängstliche Winseln eines Hundes. Ich sah in die Richtung, aus der das Winseln gekommen war, konnte aber nichts entdecken. Ich ging dem Ton nach.

Die ganze Gegend war eben erst erschlossen worden - sie wurde Hyde Park genannt und befand sich im Ostteil von Flatbush, in Brooklyn. Ich schritt die Straße entlang, an halbfertigen Häusern vorbei, deren leeres weißes Gebälk in der strahlenden Spätnachmittagssonne glänzte. Ich überquerte die nächste Straße, und die Gebäude blieben hinter mir zurück. Hier gab's nichts mehr, nur freies Feld. Das ängstliche Winseln des Hundes war jetzt deutlicher zu hören, ich vermochte aber noch immer nicht zu sagen, woher es kam. Es war merkwürdig, wie weit Geräusche hier im Freien dringen konnten. Dort, wo wir früher wohnten, in der Nähe von Papas Drugstore, konnte man nie so etwas hören, selbst wenn's nur um die Ecke war. Die Parzelle für den nächsten Häuserblock war bisher noch nicht eingeebnet worden, sie war nichts als eine riesige tiefe Grube, die sich von einem Ende bis zum ändern erstreckte. Sie würden, wie ich annahm, auch hier bald zu bauen beginnen, sobald diese Grube ausgefüllt war.

Jetzt konnte ich auch feststellen, woher das Winseln des Hundes kam: von der übernächsten Parzelle. Ich sah dort zwei Jungen am Rand der Grube stehen und gespannt hinunterschauen. Der Hund mußte in die Grube gefallen sein. Ich beschleunigte meine Schritte, und nach wenigen Sekunden stand ich neben den beiden Jungen. Ein kleines braunes Hündchen winselte und jaulte, während es versuchte, an den steilen Wänden der Grube hinaufzuklettern. Es gelang ihm nur ein kleines Stück, dann rutschte es wieder ab und fiel auf den Grund der Grube zurück. Wenn es sich beim Abwärtsgleiten immer wieder überschlug, jaulte es am lautesten. Und darüber lachten die beiden Jungen... ich weiß nicht, warum. Ich konnte es nicht komisch finden.

»Ist das euer Hund?« fragte ich.

Beide drehten sich um und sahen mich an. Sie antworteten nicht, ich wiederholte meine Frage.

Der größere der beiden Jungen fragte: »Wer wünscht was zu wissen?«

Der Ton seiner Stimme schüchterte mich ein. Er klang keineswegs freundlich.

»Ich hab bloß gefragt«, sagte ich.

Er trat mit wiegenden Schritten dicht an mich heran. Er war größer als ich. »Und ich hab gesagt: >Wer wünscht was zu wissen?«« Sein Ton war jetzt noch unfreundlicher.

Ich trat einen Schritt zurück. Ich wünschte mir sehnlich, mein neues Haus nicht verlassen zu haben. Mama hatte mir bloß gesagt, ich solle aus dem Wege gehen, bis die Möbelpacker alles ins Haus gebracht haben. »Ist es dein Hund?« fragte ich; ich versuchte dabei zu lächeln und hoffte, daß meine Stimme nicht zitterte. Der große Junge brachte sein Gesicht noch näher an meines. Ich sah ihm mutig ins Auge. »Nein«, antwortete er. »Oh«, sagte ich, drehte mich um und sah wieder dem kleinen Hund zu. Er versuchte noch immer an der Wand der Grube hochzuklettern.

Jetzt hörte ich wieder die Stimme des Jungen. »Woher bist du?« fragte er. »Hab dich noch nie gesehen.«

Ich drehte mich wieder zu ihm um. »East, 48. Straße. Wir sind erst heute eingezogen. Dort drüben in den neuen Häusern. Wir sind die ersten Leute im ganzen Block.«

Seine Miene war böse und finster. »Wie heißt du?« fragte er. »Danny Fisher«, erwiderte ich. »Und wie heißt du?«

»Paul«, sagte er. »Und das ist mein Bruder Eddie.« Wir schwiegen eine ganze Weile und sahen den Bemühungen des Hündchens zu. Es kam etwa halbwegs herauf, ehe es wieder zurückrutschte.

Paul lachte. »Das ist wirklich komisch«, sagte er. »Dieses vertrottelte Vieh hat nicht genug Grips, um hier 'rauszukommen. «

»Ich find es gar nicht so komisch«, sagte ich. »Vielleicht kommt der arme Hund gar nicht mehr 'raus.«

»Na und?« schnauzte mich Paul an. »Geschieht ihm nur recht. Wozu rennt er da 'runter?«

Ich erwiderte nichts. Wir standen am Grubenrand und sahen zu dem Hund hinunter. Ich fühlte an meiner andern Seite eine Bewegung und drehte mich um. Es war Eddie. Er war kleiner als ich. Ich lächelte ihm zu, und er lächelte gleichfalls. Jetzt ging auch Paul um mich herum und stellte sich neben seinen Bruder. In seinem Benehmen war etwas, das unser Lächeln erstarren ließ. Eddie sah aus, als schäme er sich. Ich überlegte, weswegen. »In welche Schule gehst du?« fragte Paul.

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Wahrscheinlich in die Schule in der Avenue D, in der Nähe vom Utika.«

»In welche Klasse gehst du?«

»Vier A.«

»Wie alt bist du?«

»Acht«, antwortete ich stolz. »Heut ist mein Geburtstag. Deshalb sind wir umgezogen. Papa hat mir das Haus als Geburtstagsgeschenk gekauft.«

Paul rümpfte verächtlich die Nase. Ich merkte, daß ich auf ihn keinen Eindruck gemacht hatte.

»Bist wohl 'n Streber, was? Kommst schon in meine Klasse, und ich bin schon neun.«

»Na ja, ich hab die 3 B übersprungen«, erklärte ich beinahe entschuldigend.

Seine Augen wurden eiskalt und durchtrieben. »Kommst du ins Sacré Coeur?«

Ich war verdutzt. »Was ist das?« fragte ich.

»Die Kirche vom Sacré Coeur«, antwortete er. »In der Nähe von Troy.«

»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf.

»Zum Heiligen Kreuz?« fragte er. »Die große Kirche, zu der auch der Kirchhof gehört?«

»Welcher Kirchhof?« fragte ich. Mir wurde ganz seltsam zumute. Ich wollte seine Fragen nicht beantworten. Ich überlegte, was daran so wichtig war, daß er mich immer weiter ausfragte. Er wies auf die Clarendon Road hinüber. Etwa einen Häuserblock dahinter konnte ich die schwarzen Gitterstäbe des Kirchhofzauns sehen. Ich wandte mich ihm wieder zu. »Nein«, sagte ich. »In welche Kirche gehst du dann?« fragte er beharrlich weiter. »In keine Kirche«, sagte ich.

Er schwieg einen Moment, während er das zu überlegen schien. »Glaubst du denn nicht an Gott?« fragte er schließlich. »Gewiß glaub ich an Gott«, erwiderte ich. »Aber ich geh in keine Kirche.«

Er sah mich ungläubig an. »Wenn du in keine Kirche gehst, glaubst du auch nicht an Gott«, sagte er nachdrücklich. »Doch«, beharrte ich. Ich spürte, wie mir Tränen der Wut in die Augen traten. Er hatte kein Recht, mir das zu sagen. Ich richtete mich so hoch auf, als es mir möglich war. »Ich bin ein Jude«, sagte ich mit schriller Stimme, »und geh in die Synagoge.« Die Brüder sahen sich an, und plötzlich war in ihren Augen ein durchtriebener Ausdruck. Ihre Gesichter verwandelten sich in stumpfe bösartige Masken. Paul machte drohend einen Schritt auf mich zu. Instinktiv wich ich zurück. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich fragte mich, was ich gesagt hatte, um sie so wütend zu machen. Paul streckte sein Gesicht drohend vor. »Weshalb hast du Christus getötet?« fuhr er mich an.

Die Grausamkeit seiner Stimme flößte mir jetzt titsächlich Angst ein. »Ich hab niemanden getötet«, sagte ich zitternd. »Ich kenn ihn doch gar nicht.«

»Doch, du hast ihn getötet!« Eddies Stimme war zwar höher als die seines Bruders, aber ebenso grausam. »Mein Vater hat's uns gesagt! Er hat gesagt, die Juden haben ihn getötet und ans Kreuz geschlagen. Er hat uns gesagt, in die ganzen neuen Häuser der Umgebung werden nur Saujuden einziehen.«

Ich versuchte sie zu besänftigen. »Vielleicht haben ihn ein paar Juden getötet, die ich nicht kenne«, sagte ich versöhnlich, »aber meine Mutter hat immer gesagt, daß er der König der Juden war.«

»Und trotzdem haben sie ihn getötet«, sagte Paul beharrlich. Ich dachte eine Sekunde nach. Der Hund begann wieder zu jaulen, aber ich wagte nicht, mich umzudrehen und hinzuschauen. Ich versuchte das Thema zu wechseln. »Wir sollten uns bemüh'n, dem Hund da 'rauszuhelfen.«

Sie antworteten nicht. Ich bemerkte, daß sie noch immer böse waren. Ich versuchte mir etwas auszudenken, um sie zu versöhnen. »Vielleicht haben sie ihn getötet, weil er ein schlechter König war«, meinte ich.

Daraufhin wurden ihre Gesichter kreidebleich. Ich bekam es mit der Angst und drehte mich um; ich wollte davonlaufen, war aber nicht schnell genug. Paul packte mich und hielt meine Arme an beiden Seiten fest. Ich versuchte mich loszureißen, es gelang mir aber nicht. Da begann ich zu weinen.

Plötzlich brach Paul in ein verächtliches Gelächter aus. Er ließ meine Arme los und trat zurück. »So, du willst also den Hund da rausholen?« fragte er.

Ich versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken. Mit einer Hand trocknete ich meine Augen. »Ja - ja«, sagte ich.

Noch immer lächelnd, holte er tief Atem. »Okay, du Judenjunge, dann hol ihn dir!« Damit stürzte er sich plötzlich mit weit vorgestreckten Armen auf mich.

In panischem Schrecken versuchte ich ihm auszuweichen, aber seine Hände stießen gegen meine Brust, und die Luft ging mir aus. Und dann stürzte ich, mich unaufhörlich überschlagend, über den Rand in die Grube. Ich tastete nach etwas, um mich festzuhalten, damit ich nicht bis auf den Grund fiele, fand aber nichts. Ich stürzte bis auf den Boden der Grube. Dort lag ich eine Minute regungslos und bemühte mich, wieder zu Atem zu kommen. Plötzlich hörte ich ein freudiges Kläffen und fühlte eine warme Zunge, die mir übers Gesicht fuhr. Ich setzte mich auf. Das kleine braune Hündchen, kaum einige Wochen alt, leckte mir stürmisch das Gesicht und wedelte mit seinem Schwänzchen und stieß kleine Freudenlaute aus.

Ich stand auf und sah hinauf. Jetzt schämte ich mich, daß ich geweint hatte, und weil das Hündchen so glücklich war, fürchtete ich mich auch nicht mehr.

Paul und Eddie sahen zu mir herunter. Ich schüttelte meine Faust. »Ihr dreckigen Bastarde!« schrie ich. Es war das ärgste Schimpfwort, das ich kannte.

Ich sah, daß sie sich bückten, um etwas vom Boden aufzuheben. Eine Sekunde später prasselte ein Stein- und Schotterhagel auf uns herunter. Der Hund kläffte schmerzlich, als ihn ein Stein traf. Ich schützte meinen Kopf mit den Armen, bis der Steinhagel aufhörte. Er hatte mich nicht getroffen. Dann sah ich wieder hinauf. »Dafür werdet ihr büßen«, schrie ich.

Sie lachten nur höhnisch. »Jüdischer Schweinehund«, schrie Paul. Ich hob einen Stein auf und schleuderte ihn hinauf, er erreichte ihn aber nicht, und ein neuerlicher Steinhagel ergoß sich über mich. Diesmal hatte ich mein Gesicht nicht rasch genug geschützt, und ein Stein ritzte mir die Wange. Ich warf wieder einen Stein hinauf, aber auch er erreichte sie nicht. Sie bückten sich nochmals, um neue Steine zu sammeln.

Da drehte ich mich um und lief in die Mitte der Grube, dort konnten mich ihre Steine nicht mehr erreichen. Der Hund lief neben mir her. In der Mitte ließ ich mich auf einen mächtigen Felsblock nieder. Der Hund setzte sich neben mich, und ich kraulte ihn hinter den Ohren. Dann wischte ich mir das Gesicht mit dem Ärmel ab und sah wieder zu den Brüdern hinauf.

Sie schrien und drohten mit den Fäusten, aber ich verstand nicht mehr, was sie sagten. Der Hund saß zu meinen Füßen, wedelte und sah mich erwartungsvoll an. Ich bückte mich und legte meine Wange an seinen Kopf. »Schon gut, mein Hündchen«, flüsterte ich, »wenn sie weggegangen sind, klettern wir gemeinsam wieder 'raus.«

Dann richtete ich mich wieder auf und drehte ihnen eine lange Nase. Sie wurden wieder wild und begannen nochmals, Steine nach mir zu werfen, aber ich lachte sie bloß aus. Von ihrem Platz aus konnten sie mich nicht mehr erreichen.

Als sie endlich abzogen, begann die Sonne bereits im Westen zu versinken. Ich saß auf meinem Felsblock und wartete noch eine Weile. Ich wartete nahezu eine halbe Stunde, bis ich überzeugt war, daß sie tatsächlich gegangen waren. Und nun war es fast dunkel. Ich ging bis an die Grubenwand und sah hinauf. Sie war zwar ziemlich steil, dennoch glaubte ich, ohne viel Mühe hinaufklettern zu können. Es gab eine Menge Felsbrocken und Gebüsche, an denen ich mich festhalten konnte. Ich klammerte mich zunächst an einen großen Felsblock und begann langsam, auf Händen und Knien hinaufzuklettern, um nicht wieder abzurutschen. Ich war beinahe fünf Fuß hinaufgeklettert, als ich von unten her ein Winseln hörte. Ich sah zurück.

Der kleine Hund saß in der Grube und sah mich mit glänzenden Augen erwartungsvoll an. Als er bemerkte, daß ich mich nach ihm umdrehte, begann er in hohen spitzen Tönen zu bellen »Los«, rief ich ihm zu, »komm mir nach. Worauf wartest du noch?« Da sprang er an der Grubenwand empor und begann auf mich zuzukriechen. Auch er kroch auf seinem kleinen Bäuchlein. Nur noch fußbreit von mir entfernt, begann er wieder zurückzurutschen. Im letzten Moment erwischte ich ihn an einer Hautfalte und zog ihn zu mir herauf. Er wedelte glücklich. »Komm jetzt«, sagte ich, »wir müssen hier 'raus.«

Ich begann wieder vorsichtig weiterzuklettern und kam ganz gut vorwärts. Als ich mich aber umsah, wie es dem Hund erging, war er nicht mehr an meiner Seite. Mit hängendem Schwänzchen kauerte er auf derselben Stelle wie vorher, die Augen traurig auf mich gerichtet. Ich rief ihn. Er begann zwar zu wedeln, rührte sich aber nicht vom Fleck. »Was ist denn los?« fragte ich. »Hast du Angst?« Er wedelte bloß. Da er sich nicht von der Stelle rührte, begann ich weiter hinaufzuklettern.

Ich war noch einige Fußbreit weitergekommen, da begann er durchdringend zu heulen. Ich hielt inne und sah hinunter. Sofort hörte das Heulen auf, und er begann zu wedeln. »Also gut«, sagte ich, »ich komm wieder 'rumer, und werd dir helfen.« Ich glitt vorsichtig zu der Stelle zurück, an der er saß, und packte ihn wieder. Während ich ihn mit einer Hand festhielt, begann ich wieder langsam aufwärts zu klettern. Es dauerte beinahe fünfzehn Minuten, um die Hälfte der Strecke zurückzulegen, da ich ihn nach jedem Schritt nachziehen mußte. Ich blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Hände und Gesicht waren schmutzverkrustet und Hemd und Hose total verschmiert und zerrissen. Der Hund und ich klammerten uns an die Grubenwand; wir trauten uns nicht, eine Bewegung zu machen, aus Angst, wieder zurückzurutschen. Nach einigen Minuten begannen wir wieder zu klettern. Wir hatten den Rand beinahe erreicht, als ein Stein unter meinem Fuß nachgab und ich ausglitt. Vor Angst wie von Sinnen, ließ ich den Hund los und krallte mich in die feuchte Erde, um nur nicht wieder abzurutschen. Ich war bloß einige Fuß abgeglitten, als ich bemerkte, daß meine Finger in der Erde Halt fanden. Jetzt begann der Hund wieder zu winseln. Als ich mich nach ihm umdrehte, war er verschwunden.

Ich sah in die Grube zurück. Er richtete sich gerade wieder auf. Er sah zu mir herauf, bellte einmal scharf und durchdringend, als ich mich aber von ihm abwandte und wieder hinaufzuklettern begann, fing er zu winseln an. Ich bemühte mich, die jammervollen kleinen Angstschreie zu überhören, die aus der Tiefe seiner Kehle zu kommen schienen. Er lief hin und her, blieb aber beinahe jede Sekunde stehen, um zu mir heraufzubellen, und schien zu hinken. Ich rief ihn. Er blieb stehen und sah mit zur Seite gelegtem Kopf zu mir herauf.

»Komm, mein Junge«, rief ich, »komm her zu mir.« Er sprang an der Grubenwand empor, versuchte zu mir heraufzukriechen, fiel aber wieder zurück. Ich rief wieder, er versuchte es aufs neue, fiel aber nochmals zurück. Schließlich setzte er sich hin, hielt mir eine Pfote entgegen und bellte kläglich. Da setzte ich mich hin und rutschte auf den Grund der Grube zurück. Er lief mir in die Arme und wedelte beglückt. Seine Pfote hinterließ blutige Abdrücke auf meinem Hemd. Ich hob ihn auf, um die Pfote zu untersuchen. Die zarten Fußballen des jungen Hündchens waren aufgeschunden und von den scharfen Steinen zerschnitten.

»Schon gut, mein Hündchen«, sagte ich leise, »wir werden schon gemeinsam hier 'rauskommen. Ich verlaß dich nicht.« Er schien meine Worte zu verstehen, denn sein Schwänzchen vollführte begeisterte Kreise, während seine feuchte Zunge mir übers Gesicht fuhr. Ich setzte ihn wieder hin und betrachtete die andere Seite der Grube, um eine Stelle zu suchen, an der man leichter hinaufklettern könnte. Er lief neben mir her, die Augen erwartungsvoll auf mich gerichtet. Ich hoffte, daß Mama mir erlauben würde, ihn zu behalten.

Inzwischen war es beinahe ganz dunkel geworden. Wir begannen wieder aufwärtszuklettern, aber es war völlig zwecklos. Ich gelangte kaum bis zur Hälfte, da begann ich wieder abzurutschen und fiel schließlich wieder auf den Grund. Ich war jetzt schon sehr müde und hungrig. Wir brachten's nicht zuwege. Ehe der Mond nicht hervorkam, hatte es keinen Sinn, es nochmals zu versuchen. Ich setzte mich wieder auf den Felsblock in der Mitte der Grube und überlegte, was ich jetzt noch tun könnte. Mama wird bestimmt sehr böse sein, weil ich zum Abendessen nicht rechtzeitig zu Hause war. Und jetzt war es zu allem noch bitter kalt geworden. Ich begann zu frösteln und versuchte den Kragen meines Hemdes zuzuknöpfen, aber der Knopf war abgerissen.

Ein grauschwarzer Schatten lief in der Dunkelheit an mir vorbei. Der Hund knurrte böse und schnappte danach. Plötzlich begann ich mich zu fürchten; in der Grube waren Ratten! Ich nahm den Hund in die Arme und begann bitterlich zu weinen. Wir würden hier bestimmt nie mehr herauskommen! Eine zweite Ratte lief im Dunkeln an uns vorbei. Mit einem Entsetzensschrei lief ich zur Grubenwand und versuchte wieder hinaufzuklettern. Wieder und immer wieder versuchte ich hinaufzukommen, fiel aber jedesmal zurück. Schließlich lag ich regungslos am Boden, zu erschöpft, um mich zu bewegen. Ich war durchnäßt, und mir war hundeelend zumute. Nach einiger Zeit kam ich wieder zu Atem und begann aus Leibeskräften zu brüllen: »Mama! Mama!« Meine Stimme hallte als dumpfes Echo von der Grubenwand wider. Ich schrie so lange, bis ich total heiser war und nur noch krächzende Laute aus meiner

Kehle kamen. Aber ich bekam keine Antwort. Der Mond war jetzt aufgegangen, und in seinem bleichen Licht warf jeder Felsblock einen tiefen Schatten. Die Nacht war von fremdartigen Geräuschen und seltsam schattenhaften Bewegungen erfüllt. Als ich wieder aufstand, prallte eine Ratte mit einem Luftsprung gegen meine Brust. Ich schrie entsetzt auf und fiel zurück. Doch der Hund sprang auf die Ratte los und erwischte sie noch in der Luft. Mit wütendem Knurren und Schütteln seines Kopfes brach er der Ratte das Genick und schleuderte sie in weitem Bogen von sich.

Ich stand auf und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Grubenwand. Mir war zu kalt, und ich war zu verängstigt, um etwas anderes zu tun, als verzweifelt vor mich hinzustarren. Der Hund saß vor mir, und die Nackenhaare sträubten sich ihm, während er wütend bellte. Das Echo war so laut, als zerrissen hundert Hunde mit ihrem Gebell die Nachtstille.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dastanden. Meine Augen fielen mir immer wieder zu, ich bemühte mich zwar, sie offenzuhalten, es gelang mir aber nicht. Schließlich sank ich müde zu Boden. Jetzt wußte ich nicht mehr so genau, ob Mama wirklich böse mit mir sein würde. Ich war ja nicht schuld. Wäre ich kein Jude gewesen, hätten mich Paul und Eddie bestimmt nicht in die Grube gestoßen. Sollte ich je hier herauskommen, würde ich Mama inständig bitten, ob wir nicht etwas andres werden könnten. Dann wären sie vielleicht nicht mehr so böse auf mich. Aber im tiefsten Innersten wußte ich, daß auch das nichts nützen würde. Denn selbst wenn Mama dazu bereit wäre, Papa würde nie etwas ändern. Soweit kannte ich ihn schon. Hatte er sich einmal für etwas entschlossen, dann wurde er nie mehr andern Sinnes. Das war sicher auch der Grund, weshalb er all die Jahre ein Jude geblieben war. Nein, es hätte keinen Sinn. Mama wird also doch sehr böse auf mich sein. Zu schade, dachte ich, als ich zu dösen begann, zu schade, daß das an einem Tag geschehen mußte, der so schön begonnen hatte.

Jetzt wurde das Bellen des Hundes wieder lauter, und dann war es mir, als hörte ich zwischen dem grellen Echo seines Gebells jemanden meinen Namen rufen. Ich versuchte die Augen zu öffnen, es gelang mir aber nicht, ich war zu müde.

Die Stimme wurde lauter und eindringlicher: »Danny! Danny Fisher!«

Jetzt öffnete ich die Augen, und das geisterhaft weiße Licht des Mondes warf unheimliche Schatten in die Grube. Wieder rief eine Männerstimme meinen Namen. Ich kämpfte mich auf die Beine und versuchte zu antworten, aber ich brachte keinen lauten Ton aus der Kehle. Es war nichts als ein schwaches, heiseres Flüstern. Der Hund begann wieder wütend zu bellen. Jetzt hörte ich die Stimme bereits am Grubenrand und das Bellen des Hundes wurde noch schriller und aufgeregter.

Das Licht einer Stablampe fiel jetzt in die Grube und bewegte sich hin und her, um mich zu suchen. Ich wußte, daß sie meine Stimme nicht hören konnten, daher lief ich dem Lichtstrahl nach, um mich ihnen zu zeigen. Der Hund folgte mir, laut bellend, auf den Fersen. Endlich erfaßte mich der Lichtstrahl, und ich blieb stehen. Ich legte die Hände schützend über die Augen, das grelle Licht tat mir weh. Eine Männerstimme rief: »Da ist er!«

Eine andre Stimme drang aus der Dunkelheit von oben zu mir: »Danny! Danny!« Es war Papas Stimme. »Bist du verletzt?« Dann hörte ich, wie ein Mann teils kletternd, teils rutschend über die Grubenwand zu mir herunterkam. Ich lief weinend auf ihn zu, und dann fühlte ich, wie mich seine Arme umschlossen. Zitternd bedeckte er mein Gesicht mit Küssen. »Danny, ist dir nichts geschehen?« fragte er.

Ich drückte mein Gesicht an seine Brust. Mein Gesicht war zerkratzt und zerschunden, dennoch tat mir die Berührung mit der rauhen Wolle seines Anzugs unendlich wohl. »Mir ist nichts geschehen, Papa«, sagte ich zwischen Schluchzern, »aber Mama wird mit mir sehr böse sein. Ich hab mir in die Hosen gemacht.« Etwas, das wie unterdrücktes Lachen klang, war die Antwort. »Mama wird nicht böse sein«, beruhigte er mich. Dann wandte er das Gesicht zum Grubenrand und rief: »Er ist okay. Werft mir einen Strick 'runter, damit wir ihn hier 'rausbekommen.«

»Vergiß den Hund nicht«, sagte ich. »Wir müssen ihn unbedingt mitnehmen.«

Papa bückte sich und kraulte den Kopf des Hündchens. »Selbstverständlich nehmen wir ihn mit«, sagte er. »Denn wenn er nicht gebellt hätte, hätten wir nicht gewußt, wo du bist.« Plötzlich drehte er sich um und sah mich an. »Bist du seinetwegen hier unten?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete ich, »Paul und Eddie haben mich heruntergestoßen, weil ich ein Jude bin.« Papa sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an. Ein Strick fiel vor unsre Füße, und er bückte sich, um ihn aufzuheben. Ich konnte die Worte kaum verstehen, die er dabei leise vor sich hinmurmelte: »Die Umgebung ist zwar neu, doch die Menschen bleiben sich gleich.«

Ich wußte nicht, was er meinte. Er befestigte den Strick um seine Mitte, nahm mich unter einen Arm, den Hund unter den andern.

Der Strick wurde straff gezogen, und wir begannen die Grubenwand emporzusteigen.

»Papa, du bist mir nicht böse, nicht wahr?«

»Nein, Danny, ich bin nicht böse.«

Ich schwieg einen Moment, während wir langsam höherstiegen. »Dann ist's okay, wenn ich den Hund behalte, Papa?« fragte ich. »Er ist ein so lieber kleiner Kerl.« Der Hund mußte gewußt haben, daß ich über ihn sprach; sein Schwänzchen klopfte gegen die Hüfte meines Vaters. »Wir wollen ihn Rexie Fisher rufen«, fügte ich hinzu. Papa sah auf das kleine Hündchen hinunter, dann blickte er mich an. Er begann zu lachen. »Du meinst wohl, du wirst sie Rexie Fisher

nennen. Es ist kein er, es ist eine sie.«

Im Zimmer war's finster, aber mir war gemütlich und warm, als ich nach dem Bad in meinem Bette lag. Ich hörte fremde Geräusche, die aus der neuen nächtlichen Umgebung durch meine Fenster drangen. Fremdartige Geräusche, mit denen man von nun an leben mußte. Ich war in meinem eigenen Haus, in meinem eigenen Zimmer. Plötzlich schloß ich die Augen. Ich drehte mich auf die Seite, und meine Hand berührte die Wand. Sie war rauh von der frisch aufgetragenen Farbe.

»Haus, ich hab dich lieb«, murmelte ich, schon beinahe eingeschlafen.

Der Hund unter meinem Bett bewegte sich, und ich tastete mit der Hand längs des Bettrandes. Da fühlte ich seine kalte Schnauze in meiner Handfläche. Ich kraulte ihm den Kopf. Das Fell war noch feucht und kühl. Mama hatte darauf bestanden, Papa müsse Rexie baden, bevor sie mir die Erlaubnis gab, sie in mein Zimmer hinaufzunehmen. Sie leckte mit eifrigem Zünglein meine Finger. »Dich hab ich auch lieb, Rexie«, flüsterte ich.

Ein Gefühl unendlicher Wärme und restlosen Wohlbehagens durchströmte mich. Nach und nach spürte ich, wie der letzte Rest der Steifheit aus meinem Körper wich und das Nichts, das wir Schlaf nennen, überwältigte mich.

Ich war zu Hause. Und der erste Tag meines Lebens, dessen ich mich erinnere, verklang ins Gestern, und die restlichen Tage meines Lebens wurden zum Morgen.

Das erste Buch Mein Alltagsleben

1

Die Sonne lag warm auf meinen geschlossenen Lidern. In meinem Schlaf gestört, legte ich einen Arm über die Augen und bewegte mich unruhig auf dem Kissen. Einige Minuten war mir's wieder sehr behaglich, doch dann begann das Licht unter meinem Arm durchzusickern und mich wieder zu belästigen. Da ließ ich's sein, mich davor verstecken zu wollen, setzte mich im Bett auf und rieb mir die Augen. Ich war erwacht.

Ich streckte mich und gähnte. Ich schob ein Haarbüschel aus den Augen und sah schläfrig zum Fenster hinaus. Es war ein strahlend klarer Morgen. Ich hätte noch gerne weitergeschlafen, aber mein Fenster lag nach Osten und die erste Morgensonne traf mich immer mitten ins Gesicht.

Ich sah mich träge im Zimmer um. Meine Kleider lagen unordentlich auf einem Sessel. Der halbbespannte Tennisschläger, den ich nie fertigkriegte, lehnte an einer Tischkante. Die alte Weckeruhr, die neben Kamm und Bürste auf dem Tisch stand, zeigte ein Viertel nach sieben. Mein rotweiß gestreifter Wimpel des Erasmus-Hall-Gymnasiums hing schlaff über dem Spiegel. Jetzt schaute ich über den Bettrand, um meine Hausschuhe zu suchen. Sie waren nicht da. Ich grinste, denn ich wußte, wo sie waren. Rexie verschleppte sie gewöhnlich unters Bett, um sich daraus ein Kopfkissen zu machen. Ich griff hinunter und streichelte sie. Sie hob den Kopf und wedelte faul mit dem Schwänzchen. Ich streichelte sie nochmals, dann nahm ich ihr die Hausschuhe weg, stand rasch auf und schlüpfte hinein. Rexie schloß die Augen und schlief wieder ein.

Als ich an das offene Fenster trat, hörte ich aus dem Zimmer der Eltern schwache Geräusche. Das brachte mir alles wieder in Erinnerung. Heute war der große Tag: meine Bar Mitzvah. Aufregung und Nervosität überkamen mich. Ich hoffte nichts von dem komplizierten hebräischen Ritual zu vergessen, das ich speziell für diese Gelegenheit hatte lernen müssen.

Ich stand am offenen Fenster und atmete tief ein. Langsam zählte ich: »Einszweidrei - vier; aus zwei drei vier.« Nach kurzer Zeit war meine Nervosität wie weggeblasen. Ich fühlte mich wieder frisch und munter und würde bestimmt nichts vergessen. Noch immer vor dem Fenster, zog ich meine Pyjamajacke über den Kopf und warf sie hinter mich aufs Bett. Bar Mitzvah oder nicht, ich muß meine Ertüchtigungsübungen machen, sonst würde ich im Herbst für das Fußballteam nicht schwer genug sein. Ich streckte mich auf dem Boden aus und machte einige Muskelübungen, dann stand ich wieder auf und machte Kniebeugen. Ich sah an mir herab. Die dünnen Muskeln und Sehnen zeichneten sich scharf auf meinem Körper ab. Ich konnte meine Rippen zählen. Hierauf untersuchte ich sorgfältig meine Brust, um festzustellen, ob mir während der Nacht nicht doch einige Haare gewachsen waren, aber es war noch immer bloß derselbe zarte goldene Flaum. Manchmal wünschte ich mir, statt blond so schwarz zu sein wie Paul. Dann wären sie vielleicht deutlicher zu sehen.

Ich beendete meine Kniebeugen und holte mir aus einer Ecke des Zimmers ein Paar indische Hanteln. Wieder zum Fenster zurückgekehrt, begann ich sie zu schwingen. Gleich darauf hörte ich durch das offene Fenster das Anknipsen eines Lichtschalters, und eine Lichtflut strömte durch die Fenster des gegenüberliegenden Zimmers. Beinahe gleichzeitig ließ ich mich auf die Knie nieder und spähte vorsichtig über das Fensterbrett.

Ich sah in das Zimmer von Marjorie Ann Conlon, Mimis bester Freundin. Manchmal waren ihre Jalousien nicht herabgelassen, und dann hatte ich eine ausgezeichnete Aussicht. Ich freute mich, daß ihr Haus nach Westen lag, so daß sie gezwungen war, jeden Morgen Licht anzudrehen.

Vorsichtig spähte ich über das Fensterbrett und hielt den Atem an. Die Jalousien waren oben. Schon zum drittenmal in dieser Woche hatte sie vergessen, sie herabzulassen. Das letztemal als ich sie belauschte, glaubte ich, daß sie mich bemerkt hatte; heute mußte ich daher besonders vorsichtig sein. Sie ist ein komisches Mädel, sie macht sich ständig über mich lustig, aber wenn ich mit ihr spreche, starrt sie mich immer so sonderbar an. In den letzten Wochen hatten wir uns ständig, beinahe grundlos gestritten, so daß ich sie nicht zu meiner Bar-Mitzvah-Party einladen wollte. Aber Mimi hatte darauf bestanden.

Ich sah, wie sich die Schranktüre in ihrem Zimmer leicht bewegte, und gleich darauf trat sie dahinter hervor. Sie hatte nichts an als ein Höschen. Sie blieb einen Moment mitten im Zimmer stehen und suchte etwas. Schließlich fand sie es und bückte sich, dem Fenster zugewandt, um es aufzuheben. Ich fühlte, wie mir der Schweiß auf die Stirne trat. Ich hatte tatsächlich eine vorzügliche Aussicht. Paul behauptete, sie habe die beste Figur in der ganzen Gegend. Ich konnte das aber nicht finden. Mimis Gestalt war bedeutend besser. Außerdem war Mimi um den Busen herum nicht so völlig unproportioniert wie Marjorie Ann.

Paul hatte vorgeschlagen, die Mädel in den Keller zu locken, um es genau festzustellen. Ich wurde deswegen furchtbar wütend, kriegte ihn beim Kragen und erklärte ihm, ich würde ihn zu Hackfleisch schlagen, wenn er das je probiert. Paul hatte bloß gelacht und meine Hand weggestoßen. Der einzige Grund, meinte er, weshalb ich mich nicht traue, ist meine Angst, daß Mimi uns verpetzen könnte. Marjorie stand jetzt dicht am Fenster und schien zu mir herüberzuschauen. Ich duckte meinen Kopf noch tiefer. Sie lächelte, während sie ihren Büstenhalter zuhakte, und ich begann mich äußerst unbehaglich zu fühlen, denn es war ein ungemein durchtriebenes Lächeln. Ich fragte mich, ob sie nicht doch weiß, daß ich sie beobachte. In der Art, in der sie sich im Zimmer bewegte, lag merkwürdig viel Berechnung.

Sie hatte den Büstenhalter schon beinahe geschlossen, als sie die Stirn runzelte. Sie zuckte mit den Achseln, und er glitt wieder über ihre Arme herunter. Sie legte ihre Handflächen einen Moment schalenförmig unter ihre Brüste, trat noch näher ans Fenster und betrachtete sie aufmerksam bei Tageslicht.

Mein Herz begann stürmisch zu klopfen. Paul hatte recht. Sie waren tatsächlich beachtlich. Sie sah mit stolzem Lächeln wieder auf, dann trat sie ins Zimmer zurück. Dort schlüpfte sie behutsam wieder in den Büstenhalter und hakte ihn hinten zusammen. Von der Halle her vernahm ich jetzt ein Geräusch. Dann hörte ich Mimis Stimme. Ich drehte mich hastig um und war mit einem Satz im Bett. Ich wollte um keinen Preis von Mimi dabei überrascht werden, wie ich Marjorie heimlich belauschte. Ich warf noch rasch einen Blick durchs Fenster und sah erleichtert, wie das Licht in Marjorie Anns Zimmer erlosch.

Ich seufzte. Das war der schlagende Beweis. Ich hatte recht gehabt: sie weiß, daß ich sie belausche. Als ich hörte, daß sich die Schritte meiner Tür näherten, schloß ich die Augen und stellte mich schlafend.

Von der Türschwelle kam Mimis Stimme. »Danny, bist du schon wach?«

»Jetzt schon«, antwortete ich, setzte mich im Bett auf und rieb mir die Augen. »Was willst du denn?« Ihre Augen überflogen meine nackte Brust und meine Schultern.

Ein argwöhnischer Blick traf mich. »Wo hast du deine Pyjamajacke?« fragte sie. Dann bemerkte sie, daß sie am Fußende des Bettes lag. »Du warst schon aufgestanden?« Ich starrte sie an. »Ja.«

»Was hast du draußen getrieben?« fragte sie argwöhnisch. Ihre Blicke wanderten zu Marjorie Anns gegenüberliegendem Fenster. Ich riß die Augen weit auf und sah sie mit wahrer Unschuldsmiene an. »Meine Turnübungen«, sagte ich. »Nachher bin ich nochmals ins Bett gekrochen und dann eingeschlafen.« Ich bemerkte, daß sie diese Antwort keineswegs befriedigte, aber sie sagte nichts mehr. Sie beugte sich über das Fußende des Bettes, um meine Pyjamajacke aufzuheben, die halb am Boden lag. Ihre Brüste zeichneten sich scharf unter ihrem dünnen gestreiften Pyjama ab. Ich konnte die Augen nicht abwenden.

Mimi bemerkte sofort, wohin ich starrte, und errötete unwillig. Ärgerlich warf sie die Pyjamajacke auf mein Bett und ging zur Türe. »Mama hat gesagt, ich soll dich aufwecken und dich erinnern, daß du nicht zu duschen vergißt«, rief sie mir über die Schulter zu. »Sie will nicht, daß du bei deiner Bar Mitzvah schmutzig bist.« Ich sprang aus dem Bett, sowie sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, und ließ meine Pyjamahose fallen. Mir war heiß, und ich war erregt wie immer, wenn ich Marjorie Ann belauscht hatte. Ich sah an mir hinab. Ich befand mich in guter Kondition. Ich war einen Meter fünfundsechzig und wog nahezu hundertvierzehn Pfund. Noch sechs Pfund, und ich bin für das Fußballteam okay. Ich wußte Bescheid, wie ich meiner Erregung Herr werden konnte, das bereitete mir keine Sorgen. »Kalte Duschen«, hatte der Sportlehrer in der Schule gesagt. »Kalte Duschen, Jungens!« Und genau das werde ich jetzt tun: ich gehe ins Badezimmer und unter die kalte Dusche. Ich schlüpfte in meinen Bademantel und sah in die Halle hinaus. Sie war leer. Da die Badezimmertüre offenstand, ging ich gleich hinüber. Mimis Türe stand gleichfalls offen, sie war eben damit beschäftigt, ihr Bett zu machen. Ich drehte ihr im Vorbeigehen eine lange Nase - dabei öffnete sich mein Bademantel. Ich zog ihn hastig um meine Hüften. Verdammt! Jetzt wird sie wissen, wie ich reagiere, wenn sie zu mir ins Zimmer kommt. Vielleicht ist's doch besser, mit ihr Frieden zu schließen, sonst verpetzt sie mich. Sie war völlig unberechenbar. Ich ging bis zu ihrer Zimmertüre zurück, den Bademantel eng um meinen Körper geschlungen. »Mimi.«

Sie sah mich an. »Was willst du?« Ihre Stimme war eiskalt. Ich sah auf meine Hausschuhe hinunter. »Willst du vielleicht zuerst auf die Toilette?«

»Warum?« fragte sie mißtrauisch.

Von unten hörte ich die Stimmen von Mama und Papa, die miteinander sprachen. Ich sprach so leise wie möglich. »Ich... hm... werde jetzt duschen, und vielleicht hast du's eilig.«

»Ich hab's nicht eilig«, antwortete sie, noch immer eiskalt und förmlich.

Jetzt wußte ich, daß sie wirklich böse war. »Mimi«, sagte ich wieder.

»Was?« Sie starrte mich an.

Da senkte ich meinen Blick. »Nichts«, antwortete ich. Im Begriff, mich umzudrehen, sah ich plötzlich zu ihr auf. Sie hatte auf meine Hände gestarrt, an die Stelle, an der ich den Bademantel zusammenhielt. Diesmal senkte sie den Blick. »Ihr Jungen seid widerlich«, murmelte sie. »Du wirst deinem Freund Paul jeden Tag ähnlicher. Der schaut auch immer.«

»Ich habe nicht geschaut«, verteidigte ich mich. »Doch, du hast geschaut«, warf sie mir vor. »Ich wette, du schaust auch heimlich zu Marjorie Ann hinüber.«

Ich wurde rot. »Nein!« sagte ich und winkte nachdrücklich mit beiden Händen ab. Der Bademantel öffnete sich wieder. Ich sah, wie Mimis Blick sich sofort senkte, und schloß ihn eiligst. »Ich konstatiere, daß du auch nichts dagegen hast, zu schauen,

Miß Zimperlich!«

Sie beachtete mich nicht. »Ich werde Mama erzählen, was du treibst«, sagte sie.

Ich eilte rasch durch das Zimmer zu ihr hinüber und packte sie bei den Händen. »Das wirst du nicht tun!«

»Du tust mir weh!« Ihre Augen senkten sich wieder. Sie starrte auf mich.

»Das wirst du nicht!« wiederholte ich wütend und hielt sie noch fester bei den Handgelenken. Jetzt sah sie mir wieder ins Gesicht, die braunen Augen weit aufgerissen und verängstigt; dennoch bemerkte ich in ihrer Tiefe eine seltsame Neugierde. Sie holte tief Atem. »Okay«, sagte sie. »Ich werde Mama nichts erzählen, aber Marge werd ich sagen, daß sie recht hat. Sie hat behauptet, daß du sie heimlich belauschst. Ich werd ihr sagen, sie soll die Jalousien immer runterlassen.«

Ich ließ ihre Hände los. Ein vages Triumphgefühl stieg in mir auf. Ich habe recht gehabt. Marge hatte die ganze Zeit gewußt, daß ich sie belausche. »Wenn Marge ihre Jalousien offenläßt«, sagte ich in verächtlichem Ton, »dann weiß sie genau, was sie tut.« Damit ließ ich Mimi neben dem Bett stehen und ging ins Badezimmer. Papas Rasierpinsel lag zum Trocknen in der Waschmuschel. Ich stellte ihn in das Apothekerschränkchen und schloß die Türe. Dann warf ich meinen Bademantel auf den Toilettensitz und stellte mich unter die Dusche.

Das Wasser war eiskalt, aber ich biß die Zähne zusammen. Nach einiger Zeit begannen meine Zähne zu klappern, aber ich blieb weiter unter der Dusche stehen. Sie tat mir gut. Ich wußte, was ich tat. Als ich endlich aus der Dusche heraustrat und in den Spiegel sah, waren meine Lippen blau vor Kälte.

Ich schloß den letzten Knopf meines Hemdes und sah in den Spiegel. Dann griff ich nach Kamm und Bürste und fuhr nochmals durch mein Haar. Mama wird zufrieden sein. Meine Haut war sauber und klar, selbst mein Haar schien eine hellere Farbe angenommen zu haben.

Ich bückte mich und sah unters Bett. »Wach auf, Rexie«, sagte ich. »'s ist höchste Zeit 'rauszugehen.« Sie sprang auf und wedelte mit dem Schwanz. Ich bückte mich, um sie zu streicheln und sie leckte mir dankbar die Hand. »Wie geht's dir heute, mein Mädel?« fragte ich und drückte sie an mich. Ihr Schwänzchen rotierte in begeisterten Kreisen, und sie rieb sich an meinen Hosenbeinen. Ich verließ mein Zimmer und lief die Treppe hinunter. Aus der Küche hörte ich Mamas Stimme. Sie schien sich über irgend etwas schrecklich aufzuregen. Sie sagte: »Du kennst doch deine liebe Schwägerin Bessie. Sie wird bestimmt nach etwas suchen, um uns betratschen zu können. Sie glaubt, sie ist die einzige, die eine Bar Mitzvah ausrichten kann. Ihr Joel.«

Papa unterbrach sie. »Aber Mary«, sagte er besänftigend, »beruhige dich doch. Alles wird gut vorbeigehen. Schließlich warst doch du es, die beschlossen hat, den Empfang hier im Haus abzuhalten.« Ich seufzte erleichtert. Wenigstens sprachen sie nicht über mich. Mimi hatte also nicht gepetzt. Diese Debatte dauerte bereits sechs Monate - seit dem Tag, an dem das Thema meiner Bar Mitzvah zur Sprache gekommen war.

Papa wollte für den Empfang einen kleinen Saal mieten, aber Mama wollte nichts davon hören. »Wir können uns das Geld dafür sparen«, hatte sie gesagt. »Du weißt, wie schlecht die Geschäfte gehen, und es fällt dir ohnedies schwer genug, die Raten für die Hypothek aufzubringen. Und die Corn Exchange

Bank wird auf ihre dreitausend Dollar auch nicht warten wollen.« Papa hatte nachgegeben. Er mußte nachgeben, er hatte keine andre Wahl. Die Geschäfte gingen noch immer nicht besser. Nach seinen gelegentlichen Bemerkungen zu urteilen, waren sie sogar schlechter geworden. In den letzten Monaten war er sehr nervös und reizbar gewesen. Ich stieß die Türe auf und trat in die Küche, Rexie folgte mir dicht auf dem Fuß. »Guten Morgen«, sagte ich zu beiden, und dann fragte ich Mama: »Was brauchst du aus dem Laden?« Sie sah mich kaum an. »Das übliche, Danny«, erwiderte sie. »Darf ich mir ein paar gefüllte Pfannkuchen kaufen, Ma?« Sie lächelte. »Natürlich, Danny.« Sie nahm aus einem Glas auf dem Brett oberhalb des Spültisches einen Dollar und reichte ihn mir. »Schließlich ist's ja deine Bar Mitzvah.«

Ich nahm den Dollar und wollte gehen, aber Mama rief mir nach: »Vergiß nicht, das Wechselgeld nachzuzählen, Danny.«

»Nein, Ma«, rief ich über die Schulter zurück, öffnete die Haustüre und ließ Rexie hinaus. Der Hund lief mir voran, schräg über den Fahrweg und zum Rinnstein.

Als ich auf die Straße hinaustrat, hörte ich auf der Veranda der Conlons Stimmen. Verstohlen hinüberblickend, sah ich Mimi und Marjorie Ann, die die Köpfe zusammensteckten. Ich ging an ihnen vorbei, als hätte ich sie nicht gesehen, mußte aber wegen Rexie vor der Veranda stehenbleiben. Marge sah mich an und begann zu kichern. Ich fühlte, wie ich glühend rot wurde. »Heut nachmittag komm ich zu deiner Party«, rief sie. Ich ärgerte mich über mich, weil ich rot geworden war. »Du brauchst mir keine Gnade zu erweisen«, sagte ich unfreundlich. »Meinetwegen brauchst du überhaupt nicht zu kommen.« Sie lachte spöttisch. »Aber, Danny, wie sprichst du auf einmal!« sagte sie sarkastisch. »Du weißt ganz genau, daß du keinen Spaß hättest, wenn ich nicht käme. Außerdem bist du doch ein Mann, wenn du von deiner Bar Mitzvah zurückkommst. Es wird spannend sein, zu beobachten, wie du dich dann benimmst.«

Rexie lief jetzt fröhlich die Straße hinunter. Ich folgte ihr, ohne zu antworten.

Das Licht der Synagoge war düster und grau, da es bloß durch winzige Fenster fiel, die hoch oben in die Wände eingelassen waren. Ich sah mich nervös um. Auf einem kleinen Podium vor der Thora stehend, blickte ich in den Raum. Drei alte Männer, die sich gleich mir auf dem Podium befanden, trugen kleine schwarze Jarmulkas. Meines war aus weißer Seide.

Die Gesichter der vor dem Podium Versammelten sahen erwartungsvoll zu mir herauf. Ich kannte die meisten, es waren meine Verwandten. Im Hintergrund der Synagoge stand ein kleiner Tisch mit allerlei Kuchen, Whisky- und Weinflaschen bedeckt, die im Dämmerlicht glänzten.

Mein Lehrer, Rabbi Herzog, nahm die Thora herunter und öffnete sie. Er winkte mir, an den Rand des Geländers zu treten, dann wandte er sich an die Gläubigen und begann auf Jiddisch: »In diesen unruhigen Zeiten«, sagte er mit dünner zitternder Stimme, »tut es einem Mann wohl, einen Knaben zu finden, der sich nicht schämt, ein Jude zu sein. Es tut einem auch wohl, einen solchen Knaben zu unterrichten. Es ist für mich eine Ehre, so einen Jungen für die Bar Mitzvah vorzubereiten, um ihn in die Gemeinschaft der jüdischen Männer aufzunehmen.« Er wandte sich mir feierlich zu. »Ich habe hier so einen Jungen.« Damit drehte er sich wieder den Gläubigen zu und setzte seine Rede fort.

Ich versuchte mir das Lachen zu verkneifen. Der alte Heuchler! Er hatte mich die ganze Zeit, in der er mich unterrichtete, immer nur angeschrien. Ich tauge zu nichts und werde nie zu etwas taugen; und die Bar Mitzvah werde ich auch nicht bestehen, weil ich zu dumm bin.

Einen Moment sah ich das Gesicht meiner Schwester, die zu ihm aufsah. Ihre Miene war konzentriert und andächtig. Dann lächelte sie mir mit einem Anflug von Stolz flüchtig zu, und ich erwiderte ihr Lächeln. Rabbi Herzog verstummte und wandte sich wieder mir zu. Ich trat langsam in die Mitte des Podiums und legte meine Hände auf die Thora. Dann räusperte ich mich nervös. Ich sah, wie Mama und Papa mir erwartungsvoll zunickten. Einen Moment lang war mein Gehirn wie ausgeleert, und Panik erfaßte mich. Ich hatte das komplizierte Ritual vergessen, das ich durch so viele Monate auswendig gelernt hatte.

Da hörte ich Rabbi Herzogs heiseres Flüstern: »Borochu ess.« Mit überströmender Dankbarkeit stürzte ich mich auf das Stichwort. »Borochu ess Adonai.« Jetzt war alles gut, und die übrigen Worte strömten mir wie von selbst zu. Stolz lächelnd blickte sich Mama im Kreise um. Jetzt begann ich die Feierlichkeit des Gebetes m empfinden. Ich wünschte mir, ich hätte der Bedeutung der hebräischen Worte, die ich so geläufig hersagte, mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Vage erinnerte ich mich, daß ich Gottes Beistand erflehte, um ein ehrenwerter Mann zu werden, der ein anständiges jüdisches Leben führt. Ein feierliches Gefühl von Verantwortungsbewußtsein erfüllte mich. Denn gestern war ich noch ein Knabe und heute bin ich bereits ein Mann. Mit diesem Ritual nahm ich auch die ganze Verantwortlichkeit auf mich. Ich beschwor vor meinen Verwandten und Freunden, meine Verpflichtungen als guter Jude stets und immerdar zu erfüllen. Ich hatte vorher nie viel darüber nachgedacht. Insgeheim wußte ich, daß ich mir nie gewünscht hätte, ein Jude zu sein. Ich erinnerte mich, wann ich zum erstenmal darüber nachgedacht hatte: es war damals, als mich Paul und sein kleiner Bruder in die Grube von Clarendon und Troy stießen, an dem Tag, an welchem ich Rexie gefunden hatte. Die Grube war längst ausgefüllt und darüber waren Häuser gebaut worden, aber ich konnte nie an dieser Stelle vorbeigehen, ohne mich zu erinnern. Mir fiel auch ein, daß ich Mama am nächsten Tag gefragt habe, ob wir nicht etwas anderes als Juden werden könnten. Was sie mir damals auch geantwortet hat, war jetzt nicht mehr wichtig. Denn jetzt wurde ich zum Juden geweiht. Die letzten Phrasen des Gebetes glitten über meine Lippen, und als ich zu den Andächtigen hinunterblickte, überkam mich ein Triumphgefühl. Mama weinte, und Papa schneuzte sich in ein großes weißes Taschentuch. Ich lächelte ihnen zu.

Rabbi Herzog legte jetzt den Gebetsmantel über meine Schultern, einen weißen Seidentalles mit dem blauen Davidstern, den Mama mir gekauft hatte. Er sprach noch einige Worte, dann war alles vorbei.

Ich lief die Stufen hinunter. Mama umarmte und küßte mich und wiederholte immer wieder meinen Namen. Ich wurde verlegen und wünschte mir sehnlich, daß sie mich endlich losließe. Jetzt war ich schließlich ein Mann, und sie benahm sich so, als wäre ich noch immer ein Kind. Papa schlug mir auf die Schulter. »Bist ein braver Junge, Danny.«

Er lächelte. Dann wandte er sich an Rabbi Herzog, der hinter mir die Stufen heruntergekommen war. »Er hat sich doch brav gehalten, Rabbi, nicht wahr?« fragte er.

Rabbi Herzog nickte nur kurz und drängte sich, ohne zu antworten, an Papa vorbei zum Kalten Büffet. Die andern Männer, die auf dem Podium gestanden waren, folgten ihm eilfertigst. Papa nahm mich am Arm und führte mich gleichfalls zu dem Tisch. Er war in bester Stimmung, das merkte ich ihm an. Jetzt füllte er feierlich etwas Whisky in einen Papierbecher und reichte ihn mir. »Harry!« protestierte Mama.

Er lachte sie nur vergnügt aus. »Laß nur, Mary«, sagte er heiter, »der Junge ist jetzt ein Mann!«

Ich nickte heftig mit dem Kopf. Papa hatte recht. Ich nahm den Becher aus seiner Hand. »Prost!« sagte Papa. »Prost!« erwiderte ich.

Papa legte den Kopf zurück und stürzte den Whisky hinunter.

Ich machte es ihm nach. Er brannte wie Feuer auf dem Weg in meinen Magen. Ich begann zu husten und zu würgen. »Da schau nur, was du angerichtet hast, Harry«, sagte Mama vorwurfsvoll.

Ich sah Papa durch tränende Augen an. Er lachte. Ein zweiter Hustenkrampf schüttelte mich, und Mama zog meinen Kopf eng an ihre Brust.

3

Das Haus war mit Menschen überfüllt. Ich mußte Rexie in mein Schlafzimmer bringen und die Türe schließen. Menschenansammlungen machten sie immer nervös. Ich drängte mich auf dem Weg in den Keller durch die Menge, die im Wohnzimmer versammelt war. Mama hatte dort unten für uns Kinder ein Spielzimmer eingerichtet. Mein Onkel David rief mich zu sich. Er stand in einer Ecke des Zimmers und sprach mit Papa. Ich trat auf ihn zu, und er streckte mir seine Hand entgegen. »Viel Glück, Danny!«

»Danke, Onkel David«, sagte ich, mechanisch lächelnd. Er ergriff meine Hand und wandte sich an Papa. »Mir ist's, als wäre ich erst gestern bei seiner Beschneidung gewesen, Harry«, sagte er.

Papa nickte zustimmend.

Ich errötete ungeduldig, denn ich wußte genau, was er sagen würde, ich hatte dasselbe heute schon zwanzigmal gehört. Er enttäuschte mich denn auch nicht.

»Wie die Zeit verfliegt, was?« Onkel David nickte gleichfalls mit dem Kopf. »Und jetzt bist du ein so großer Junge.« Er griff in seine Tasche und zog eine Münze hervor. »Hier, Danny, das gehört dir.« Ich drehte die Goldmünze zwischen den Fingern -es war ein Zehn-Dollar-Goldstück. »Danke, Onkel David«, sagte ich. Er grinste. »Ein großer Junge«, sagte er. Und wieder wandte er sich an Papa. »Er wird dir bald im Geschäft helfen können, so wie mir mein Joel hilft.«

Papa schüttelte abwehrend den Kopf. »Für meinen Danny kommt das Geschäft nicht in Frage«, antwortete er entschlossen. »Mein Danny wird Akademiker. Er wird entweder Rechtsanwalt oder vielleicht Arzt, und wenn alles gut geht, werde ich ihm eines Tages eine schöne Praxis einrichten.«

Ich sah Papa überrascht an. Ich hörte zum erstenmal etwas von diesen Plänen. Ich hatte nie viel darüber nachgedacht, was ich werden wollte, ich hatte mich eigentlich nie darum gekümmert. Ein verschlagener Ausdruck trat in Onkel Davids Augen. »Natürlich, Harry, natürlich«, sagte er beschwichtigend. »Aber du weißt doch, wie schwer die Zeiten sind. Bitter, bitter! Und du mußt schwer genug kämpfen. Wenn Danny genauso wie mein Joel den Sommer über in deinem Geschäft arbeiten würde, was wär schon dabei? Gar nichts. Und du ersparst dir fünf Dollar in der Woche für einen Lehrling. Fünf Dollar sind fünf Dollar!« Er sah mich an. »Und Danny ist ein braver Junge. Ich bin überzeugt, er möchte dir ebensogern helfen wie mir mein Joel. Stimmt's Danny?« Ich nickte. Niemand sollte sagen, daß mein Cousin Joel braver ist als ich. »Sicher, Onkel David«, sagte ich rasch. Papa sah mich an. In seinen Augen war ein bekümmerter Ausdruck. Seine Lippen zitterten leicht. »Es ist noch Zeit genug, darüber zu sprechen, Danny«, sagte er langsam. »Die Ferien beginnen erst in einem Monat. Aber jetzt lauf hinunter. Die andern Kinder werden dich schon vermissen.«

Ich eilte auf die Treppe zu und ließ die Goldmünze in meiner Tasche verschwinden. Hinter mir hörte ich die Stimme Onkel Davids, der nochmals versicherte, daß es eine gute Idee sei und daß es mir nicht schaden werde.

Auf der Stiege blieb ich stehen und sah in das Spielzimmer hinunter. Mama hatte Wände und Plafond mit Papierschlangen ausgeschmückt, und es sah sehr lustig und festlich aus. Aber die Kinder waren ganz still. Oben sprachen die Erwachsenen laut durcheinander, einer trachtete den andern zu überschreien, alle sprachen auf einmal, als hätten sie nie wieder Gelegenheit, miteinander zu reden, und ihre Stimmen hallten dumpf bis zu mir. Doch hier unten standen alle Jungen auf einer Seite des Raums und die Mädchen auf der andern Ihre Stimmen klangen gedämpft und verlegen. Es war keineswegs wie dort oben.

Als ich mich zu den Jungen gesellte, trat mir mein Cousin Joel entgegen. Er war etwa anderthalb Jahre älter als ich, und sein Gesicht war mit Pickeln übersät. Ich hatte über diese Sache schon Geschichten erzählen gehört und hoffte, sie nicht auch zu bekommen. »Hallo, Joel«, sagte ich verlegen. »Unterhältst du dich, he?« Er nickte höflich, ließ aber die Mädchen auf der andern Zimmerseite nicht aus den Augen. »Natürlich«, antwortete er hastig - zu hastig. Ich folgte seinem Blick. Er sah zu Marjorie Ann hinüber. Als sie bemerkte, daß auch ich sie ansah, flüsterte sie meiner Schwester etwas zu, die sofort zu kichern begann. Ich ging zu ihr hinüber, Joel folgte mir auf dem Fuß.

»Was ist denn so komisch?« fragte ich kriegerisch. Ich hatte das unangenehme Gefühl, daß sie über mich lachten. Mimi schüttelte schweigend den Kopf und kicherte wieder. Marge lächelte höhnisch. »Wir haben auf dich gewartet, damit du die Gesellschaft ein bißchen in Schwung bringst«, sagte sie. Ich zwang mich zu einem Lächeln und sah mich um. Alle Kinder blickten mich ernst und feierlich an. Sie hatte recht, die Party lag in den letzten Zügen. Die Erwachsenen amüsierten sich, aber die Kinder wußten nichts miteinander anzufangen. »He«, rief ich und hielt die Hände in die Höhe, »spielen wir doch was.«

»Was sollen wir denn spielen?« rief Mimi herausfordernd. Ich sah sie stumm an. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich sah mich hilflos im Zimmer um.

»Wie wär's, wenn wir erst einmal >Postamt< spielen?« schlug

Marge vor.

Ich zog ein schiefes Gesicht. Das war genau die Art Spiel, die ich nicht spielen wollte. Kindisches Zeug! »Was willst du sonst spielen?« schnauzte sie mich sarkastisch an, nachdem sie meinen Gesichtsausdruck gesehen hatte, »vielleicht Fußball?«

Ich wollte etwas sagen, aber Joel unterbrach mich, »'s ist okay«, sagte er eifrig. »Ich bin einverstanden.«

Ich sah ihn voll Abscheu an. Ich wußte genau, woher er seine Pickel hatte: Mädchen! Ich hätte gern mit ihm zu streiten begonnen, aber alle andern Kinder nahmen den Vorschlag begeistert auf. Als wir im Halbkreis am Boden saßen, sah ich mürrisch auf meine gekreuzten Beine und wünschte, daß mir ein anderes Spiel eingefallen wäre. Joel hatte Marge in den kleinen Feuerungsraum gerufen, der uns als Postamt diente. Ich war überzeugt, daß sie mich verlangen würde, wenn die Reihe an sie kam.

Ich behielt recht. Die Türe zum Feuerungsraum öffnete sich und Joel stand vor mir. Er machte mit dem Daumen eine ruckartige Bewegung zur geschlossenen Tür hin. Ich spürte, wie ich rot wurde, während ich mich erhob. »Was für'n Prachtmädel!« flüsterte er mir zu, als ich an ihm vorbeiging.

Ich sah zu Mimi hinunter. Sie blickte mich nachdenklich an, und ich fühlte, wie meine Wangen brannten.

Ich zögerte einen Moment vor der Türe, dann öffnete ich sie und trat ein. Ich lehnte mich gegen die Türe, die ich hinter mir geschlossen hatte und versuchte den düsteren Raum mit meinen Blicken zu durchdringen. Das einzige Licht kam durch ein winziges Fenster in der Ecke.

»Da bin ich, Danny.« Marges Stimme kam von der anderen Seite des Ofens.

Ich hielt die Türklinke noch immer umklammert. Jetzt fühlte ich, wie mein Puls in den Schläfen zu hämmern begann. »Was. was willst du?« stotterte ich mit heiserer Stimme.

Plötzlich hatte ich Angst vor ihr. »Wozu hast du mich rufen lassen?« Jetzt begann sie zu flüstern. »Was glaubst du, wozu ich dich gerufen hab?« Ihre Stimme hatte einen höhnischen Klang. »Ich wollte bloß feststellen, ob du tatsächlich ein Mann bist.« Ich konnte sie nicht sehen. Sie stand hinter dem Ofen. »Warum läßt du mich nicht in Ruh?« fragte ich erbittert und rührte mich nicht von der Türe weg.

Ihre Stimme klang jetzt sehr entschieden. »Wenn du mit dieser Sache fertig werden willst, dann wär es besser, du kämst zu mir 'rüber.« Ich hörte ihr beinahe stimmloses Lachen. »Ich werd dir schon nicht weh tun, mein kleiner Danny.«

Ich ging um den Ofen herum. Sie lehnte lächelnd dagegen. Ihre Zähne blitzten in dem trüben Licht. Sie hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ich schwieg.

Ihre Augen lachten mich an. »Du hast mich heute früh durchs Fenster beobachtet«, stieß sie plötzlich hervor. Ich stand stocksteif da. »Nein!«

»Doch!« fuhr sie mich an. »Ich hab dich gesehn, und Mimi hat's auch gesagt.«

Ich starrte sie an. Das wird Mimi mir büßen! »Wenn du so sicher bist«, sagte ich ärgerlich, »warum hast du dann deine Jalousien nicht 'runtergelassen?«

Sie trat einen Schritt auf mich zu. »Vielleicht wollt ich's nicht«, sagte sie spöttisch.

Ich sah ihr ins Gesicht. Das verstand ich nicht. »Aber.« Sie legte mir die Finger auf die Lippen und brachte mich zum Verstummen. Sie hatte jetzt einen ungemein gespannten Gesichtsausdruck. »Vielleicht wollt ich, daß du schaust.« Sie schwieg eine Sekunde, während sie mich scharf beobachtete. »Hat dir denn das, was du gesehen hast, nicht gefallen?« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

Sie begann leise zu lachen, »'s hat dir gefallen«, flüsterte sie. »Ich hab's gesehn, daß dir's gefallen hat. Dein Cousin Joel findet mich ungeheuer aufregend, und dabei hat er nicht die Hälfte von dem gesehn, was du gesehn hast.«

Jetzt stand sie dicht vor mir. Sie legte ihre Arme um meinen Hals und zog mich an sich. Ich bewegte mich nur hölzern. Ich spürte ihren Atem auf meinem Mund, und dann ihre Lippen. Ich schloß die Augen. Das war nicht wie die Küsse, die ich bisher gekannt habe. Nicht wie ein Kuß meiner Mutter, meiner Schwester, oder irgend jemandes, den ich je geküßt habe.

Sie zog ihr Gesicht ein wenig zurück. Dennoch spürte ich ihre keuchenden Atemzüge an meinem Mund. »Gib mir die Hand«, verlangte sie hastig.

Wie verblödet streckte ich meine Hand aus. Mir schwindelte, und das Zimmer wurde unscharf und war weit weit entfernt. Plötzlich durchführt mich wie ein elektrischer Schlag. Sie hatte meine Hand in den Ausschnitt ihres Kleides gelegt, und ich berührte ihre nackte Brust mit den harten Knospen. Entsetzt riß ich die Hand zurück. Sie begann leise zu lachen, und ihre Augen strahlten mich an. »Ich mag dich, Danny«, flüsterte sie. Damit schritt sie auf die Türe zu, sah aber nochmals zu mir zurück. Die spöttische Miene breitete sich wieder über ihr Gesicht. »Wen soll ich jetzt 'reinschicken, Danny?« fragte sie, »vielleicht deine Schwester?«

4

Ich ging durch das Wohnzimmr. Rexie folgte mir auf dem Fuß. »Danny, komm einen Moment zu mir.« Papas Stimme kam von der Couch, wo er neben Mama saß.

Mama sah sehr müde aus. Sie war soeben damit fertig

geworden, alles wieder in Ordnung zu bringen, nachdem alle gegangen waren. Das Haus war jetzt merkwürdig still. »Ja, Papa.« Ich stand vor ihnen.

»Hast du ein schönes Bar Mitzvah-Fest gehabt, Danny?« sagte Papa, halb fragend.

»Sehr schön, Papa«, antwortete ich, »danke.« Er winkte leicht mit der Hand ab. »Danke nicht mir«, sagte er, »danke deiner Mama. Sie hat die ganze Arbeit gehabt.« Ich lächelte sie an.

Sie erwiderte mein Lächeln mit müdem Blick und wies mit der Hand neben sich auf den Polstersitz. Ich setzte mich. Sie hob die Hand und fuhr mir durch die Haare.

»Mein kleiner Blondele«, sagte sie nachdenklich, »jetzt bist du also erwachsen. Und wirst bald heiraten.«

Papa begann zu lachen. »Na, Mary, so bald ja auch wieder nicht. Er ist noch hübsch jung.«

Mama sah ihn an. »Bald genug«, sagte sie. »Denk nur, wie rasch die dreizehn Jahre verflogen sind.«

Papa lachte wieder. Er nahm eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie an, während sich ein gedankenvoller Ausdruck über sein Gesicht breitete. »David hat den Vorschlag gemacht, Danny soll mir im Sommer im Geschäft helfen.«

Mama setzte sich erschrocken kerzengerade auf. »Aber Harry, er ist doch noch ein Baby!«

Jetzt lachte Papa laut heraus. »Grad hast du gesagt, er wird bald heiraten, und nu' is' er wieder zu jung, um zu arbeiten?!« Er wandte sich an mich. »Was hältst du davon, Danny?« Ich sah ihn an. »Ich werde alles tun, was du willst, Papa«, antwortete ich.

Er schüttelte den Kopf. »Das hab ich nicht gemeint. Ich hab gefragt, was du tun willst. Was möchtest du denn einmal werden?« Ich zögerte einen Moment. »Ich weiß wirklich nicht«, gestand ich. »Ich hab noch nie drüber nachgedacht.«

»'s ist aber Zeit, Danny, daß du drüber nachdenkst«, sagte er sehr ernst. »Du bist ein aufgeweckter Junge. Hast schon ein Jahr Gymnasium hinter dir und bist doch erst dreizehn. Aber die ganze Aufgewecktheit nützt dir nichts, wenn du nicht weißt, was für ein Ziel du hast, 's ist wie ein Schiff ohne Steuer.«

»Ich komm im Sommer zu dir ins Geschäft, Papa«, sagte ich rasch. »Wenn's dir eine Hilfe ist, so ist's genau das, was ich mir wünsche. Ich weiß ja, daß das Geschäft jetzt nicht gut geht.«

»Es geht zwar schlecht genug, aber nicht so schlecht, daß ich etwas von dir verlangen möchte, was du nicht gern tust«, sagte er und blickte auf seine Zigarre. »Deine Mama und ich setzen große Hoffnungen in dich. Wir möchten, daß du auf der Universität studierst und Rechtsanwalt oder Arzt wirst. Und vielleicht kämst du nicht so weit, um an der Universität zu studieren, wenn du mir im Geschäft hilfst. So ist's ja auch mir passiert. Ich hab mein Studium nie beendet. Ich will nicht, daß es dir auch so geht.« Ich sah erst ihn an, dann Mama. Sie betrachtete mich mit traurigem Blick. Sie hatte Angst, mir könnte dasselbe passieren wie ihm. Dennoch, das Geschäft ging schlecht, und Papa brauchte meine Hilfe. Ich lächelte. »Wenn ich im Sommer ins Geschäft komme, hat das doch nichts auf sich, Papa«, sagte ich. »Im Herbst geh ich dann wieder in die Schule.«

Er wandte sich zu Mama. Sie sahen einander lange in die Augen. Dann nickte Mama leicht mit dem Kopf, und er kehrte sich wieder mir zu. »Also gut, Danny«, sagte er gewichtig, »dann soll es für kurze Zeit so sein. Wir werden ja sehen.«

Die Jungen schrien durcheinander, während der Ball, ohne den Boden zu berühren, über das Netz hin und zurück flog. In der Sporthalle des Gymnasiums waren gleichzeitig vier Spiele im Gang. Mit einem verstohlenen Seitenblick stellte ich fest, daß Mr. Gottkin jetzt auf uns zukam, und richtete meine Aufmerksamkeit sogleich wieder auf den Ball. Ich wollte vor ihm als guter Spieler bestehen, denn er war auch unser

Fußballtrainer. Der Ball kam auf mich zu, hoch über meinem Kopf, aber ich sprang mit einem Riesensatz in die Luft und schlug ihn zurück. Er streifte das Netz, rollte aber auf die andre Seite und fiel zu Boden. Ich sah mich im Kreise um und war auf meine Leistung ungemein stolz. Es war bereits der achte Punkt, den ich von den vierzehn Gutpunkten meiner Partei gewonnen hatte. Das mußte Mr. Gottkin doch bemerken.

Aber er sah nicht einmal in meine Richtung. Er sprach mit einem Jungen am benachbarten Spielfeld. Jetzt kam der Ball wieder ins Spiel. Ich verfehlte zwei scheinbar ganz leichte Bälle, was aber jedesmal wieder eingebracht werden konnte. Als es so aussah, als ginge das Spiel auf die andre Seite des Spielfeldes über, warf ich wieder einen verstohlenen Seitenblick auf den Lehrer. Plötzlich hörte ich, wie Paul, der hinter mir stand, rief: »Danny! Dein Ball!«

Ich wirbelte hastig herum. Der Ball kam übers Netz auf mich zu. Ich faßte ihn scharf ins Auge, dann sprang ich hoch. Da tauchte auf der andern Seite des Netzes, dicht vor mir, eine dunkle Gestalt auf und schlug den Ball zu Boden. Automatisch hob ich die Hände, um mein Gesicht zu schützen, war aber nicht schnell genug. Ich ging zu Boden.

Ärgerlich raffte ich mich wieder auf, weil mich die blutrote Gesichtshälfte, wo mich der Ball getroffen hatte, heftig schmerzte. Der schwarzhaarige Junge auf der andern Seite des Netzes grinste. »Du hast gefoult!« schrie ich ihn an.

Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht. »Was is' denn los, Danny?« fragte er höhnisch. »Willst du in dem Spiel der einzige Held sein?«

Ich fuhr, unter dem Netz durchkriechend, auf ihn los, aber eine Hand hielt mich an der Schulter fest.

»Das Spiel geht weiter, Fisher«, sagte Mr. Gottkin gelassen, »hier dulde ich keine Prügeleien!«

Ich kroch unter dem Netz auf meine Seite zurück. Jetzt war ich noch wütender als zuvor. Gottkin wird sich an nichts weiter erinnern, als daß ich böse geworden war. »Wir sprechen uns noch«, flüsterte ich dem Jungen zu.

Er spitzte bloß die Lippen und machte eine verächtliche Gebärde. Im nächsten Spiel bekam ich aber meine Chance. Der Ball kam von rückwärts über meinen Kopf hinweg geflogen, und der Junge sprang danach. Ich kam ihm aber zuvor und schlug ihn mit beiden Händen und mit aller Kraft zu Boden. Der Ball traf ihn mitten auf den Mund, und er stürzte zu Boden. Da begann ich ihn laut auszupfeifen. Er stand vom Boden auf, kroch unter dem Netz durch und kriegte mich an den Beinen zu fassen. Gleich darauf wälzten wir uns beide auf dem Boden und droschen aufeinander los. Wütend schrie er mir in die Ohren: »Du Schweinehund!«

Gottkin riß uns auseinander. »Ich hab euch gesagt, ich dulde hier keine Prügeleien.«

Ich sah mürrisch zu Boden und antwortete nicht? »Wer hat angefangen?« fragte Gottkin grimmig. Ich sah zu dem andern Jungen hinüber, er blickte mich finster an, aber keiner von uns antwortete.

Der Sportlehrer wartete nicht auf die Antwort. »Spielt weiter«, sagte er angeekelt, »und daß es keine Keilerei mehr gibt!« Damit kehrte er uns den Rücken.

Kaum hatte er sich umgedreht, als wir automatisch wieder aufeinander losgingen. Ich faßte den schwarzhaarigen Jungen um die Mitte, und wir lagen auf dem Boden, ehe uns Mr. Gottkin auseinanderreißen konnte. Dann hielt er uns, jeden auf einer Seite, mit seinen kräftigen Armen fest. Sein Gesicht zeigte einen aufmerksam nachdenklichen Ausdruck. »Ihr besteht also drauf, zu raufen?« konstatierte er mehr, als er fragte. Keiner von uns antwortete.

»Also gut«, fuhr er fort. »Wenn ihr raufen müßt, dann werdet ihr's auf meine Art tun!« Ohne uns loszulassen, rief er seinem

Gehilfen über die Schulter zu: »Bring die Handschuhe.« Der Gehilfe kam mit zwei Paar Boxhandschuhen zurück, und Gottkin reichte jedem von uns ein Paar. »Zieht sie an«, sagte er beinahe heiter. Dann wandte er sich an die übrigen Jungen in der Sporthalle, die sich um uns zu drängen begannen.

»Sperrt die Türe lieber ab, Jungens«, sagte er, »wir wollen von niemandem überrascht werden.«

Sie lachten aufgeregt, während ich an den mir völlig fremden Handschuhen herumfummelte. Ich wußte, weshalb sie lachten. Wenn der Direktor hereinkäme, gab's einen Höllenkrach. Mit den Boxhandschuhen an den Händen fühlte ich mich unsagbar unbeholfen. Ich hatte nie zuvor welche angehabt. Paul knüpfte mir schweigend die Riemen zusammen. Ich sah zu dem anderen Jungen hinüber. Die erste Wut war verraucht, und ich hatte nichts gegen ihn. Ich kannte nicht einmal seinen Namen, denn das war die einzige Stunde, die wir gemeinsam besuchten. Er sah aus, als hätte er sich gleichfalls beruhigt. Ich trat auf ihn zu. »Das ist doch alles Blödsinn«, sagte ich.

Ehe der Junge den Mund öffnen konnte, sagte Mr. Gottkin: »Feig geworden, Fisher?« Seine Augen sahen seltsam erregt aus. Ich fühlte, wie mir die Röte in die Wangen schoß. »Nein, aber.«

Gottkin unterbrach mich. »Dann geh auf deinen Platz zurück und tu das, was ich euch jetzt sagen werde. Ihr kommt hierher in die Mitte des Kreises und beginnt zu boxen. Geht einer von euch zu Boden, dann darf der andre keinen Schlag mehr anbringen, bis ich nicht das Okay-Zeichen gebe. Verstanden?«

Ich nickte. Der andre Junge befeuchtete seine Lippen und nickte gleichfalls.

Ich bemerkte jetzt, daß Gottkin seine gute Stimmung wiedergefunden hatte. »Also gut, Jungens«, sagte er, »wir beginnen.« Ich fühlte, wie mich jemand nach vorne schob. Der schwarzhaarige Junge kam mir entgegen. Ich hob die Hände und versuchte sie so zu halten, wie ich es im Film von verschiedenen Boxern gesehen hatte. Vorsichtig umkreiste ich den Jungen. Er war ebenso vorsichtig wie ich und beobachtete mich aufmerksam. Fast eine Minute lang kamen wir nicht näher aneinander heran als auf zwei Fuß Entfernung.

»Ich hab geglaubt, ihr Jungens wollt boxen«, sagte Gottkin. Ich warf ihm rasch einen Blick zu. Seine Augen brannten vor innerer Erregung.

Doch im selben Augenblick explodierte ein Blitz in meinen Augen. Ich hörte, wie die übrigen Jungen in ein gellendes Geschrei ausbrachen. Ein zweiter Blitz zuckte auf mich nieder. Dann empfand ich einen heftigen stechenden Schmerz in meinem rechten Ohr und unmittelbar darauf mitten auf dem Mund. Ich fühlte noch, wie ich stürzte. In meinem Kopf war ein quälendes, summendes Geräusch. Ich schüttelte den Kopf ärgerlich, um wieder klar zu hören und öffnete die Augen. Ich lag auf Händen und Knien. Dann sah ich auf. Der Junge tänzelte vor mir herum und lachte. Diese Laus hatte mir den Schlag in derselben Sekunde versetzt, in der ich nicht hinschaute! Kochend vor Wut stand ich auf. Ich sah noch, wie ihm Gottkin auf die Schulter tippte, und schon fiel er wieder über mich her. Verzweifelt drängte ich mich dicht an ihn, packte seine Arme und hielt sie fest.

Meine Kehle war rauh geworden, und ich fühlte meinen heißen Atem. Ich schüttelte nochmals den Kopf. Ich konnte mit diesem summenden Geräusch in den Ohren nicht klar denken. Und wieder schüttelte ich den Kopf. Plötzlich verstummte das Geräusch, und auch mein Atem ging wieder leichter.

Dann fühlte ich, daß Gottkin uns trennte. Seine Stimme klang plötzlich ganz heiser. »Auseinander, Jungens, loslassen!« Jetzt stand ich wieder sicher auf den Beinen. Ich hob die Hände und wartete auf den Angriff des andern Jungen.

Er kam mit wirbelnden Armen auf mich losgestürzt. Ich sprang zur Seite, und er schoß über mich hinaus. Beinahe war ich in Versuchung zu lachen. Das war leicht gewesen: man durfte nur nicht den Kopf verlieren.

Er drehte sich um und stürzte wieder auf mich los. Diesmal wartete ich auf ihn. Ich sah, daß er die Fäuste sehr hoch hielt. Da stieß ich ihm meine Rechte in den Magen. Seine Hände sanken herab, und er krümmte sich zusammen. Jetzt begannen auch seine Knie einzuknicken, und ich trat zurück. Ich sah Mr. Gottkin fragend an. Doch er stieß mich roh zu dem Jungen zurück. Ich traf meinen Gegner noch zweimal, und er richtete sich mit verglastem Blick wieder auf.

Ich stand jetzt wieder fest auf den Beinen und spürte, wie mir ein ungeheures Machtgefühl durch die Arme und den ganzen Körper strömte. Ich fuhr mit meiner Rechten beinahe vom Boden in die Höhe und traf ihn mitten aufs Kinn. Ich spürte die Erschütterung dieses Schlages im ganzen Arm. Der Junge wirbelte einmal um seine eigene Achse, dann fiel er vornüber, flach aufs Gesicht. Ich trat wieder zurück und sah zu Mr. Gottkin hinüber. Er starrte mit erregter Miene auf den Jungen hinunter. Seine Zunge glitt nervös über seine Lippen, seine Hände waren geballt, und der Rücken seines Hemdes war schweißdurchtränkt, als hätte er selbst einen Boxkampf ausgefochten.

Plötzlich fiel tiefe Stille über die Sporthalle. Ich wandte mich wieder zu dem Jungen zurück, der still dalag und sich nicht rührte. Langsam kniete Mr. Gottkin neben ihm nieder.

Er drehte den Jungen auf den Rücken und schlug ihm scharf ins Gesicht. Der Sportlehrer war jetzt leichenblaß. Er sah zu seinem Gehilfen hin. »Bring mir das Riechsalz!« rief er heiser. Seine Hände zitterten heftig, während er die Flasche unter der Nase des Jungen hin und her schwenkte.

»Komm, mein Junge«, seine Stimme klang flehend, »komm, nimm dich zusammen.« Auf seinem Gesicht standen jetzt

Schweißperlen.

Ich starrte zu ihnen hinunter. Warum stand der Junge nicht auf? Ich hätte mich nicht in diese Boxerei hineinjagen lassen sollen. »Sollen wir nicht lieber einen Arzt holen?« flüsterte der Gehilfe ängstlich.

Gottkin sprach sehr leise, ich konnte ihn aber doch verstehen, weil ich mich niederbeugte. »Nicht, wenn dir dein Posten lieb ist!«

»Wie aber, wenn der Junge stirbt?«

Die Frage des Gehilfen blieb unbeantwortet, denn jetzt kehrte die Farbe in die Wangen des Jungen zurück. Er versuchte, sich aufzurichten, aber Gottkin hielt ihn am Boden zurück. »Nur ruhig, mein Junge«, sagte Gottkin beinahe zärtlich. »In einer Minute bist du wieder okay.«

Er nahm ihn auf die Arme und sah sich im Kreis um. »Und ihr haltet über die ganze Sache den Mund! Verstanden?« Seine Stimme klang drohend. Schweigend stimmten wir zu. Seine Augen blieben an mir haften. »Und du, Fisher«, sagte er rauh, »du kommst mit mir. Die übrigen setzen das Spiel fort.«

Er schritt, den Jungen noch immer auf den Armen, auf sein Büro zu, und ich folgte ihm. Er legte den Knaben auf einen lederbezogenen Verbandstisch, während ich die Türe hinter uns schloß. »Reich mir den Wasserkrug 'rüber«, rief er über die Schulter. Schweigend reichte ich ihm den Krug, und er schüttete dem Jungen den ganzen Inhalt übers Gesicht. Prustend und spuckend setzte er sich auf.

»Wie geht's dir jetzt, mein Junge?« fragte Gottkin. Der Knabe zwang sich zu einem Lächeln. Er sah mich scheu an. »Als hätt' mich ein Maulesel getreten«, erwiderte er. Gottkins Lachen klang befreit. Dann fiel sein Blick auf mich, und das Lachen verstummte. »Warum hast du mir nicht vorher gesagt, daß du boxen gelernt hast, Fisher?« knurrte er mich an. »Ich hab gute Lust.«

»Ich hab nie im Leben mit Handschuhen geboxt, Mr. Gottkin«, sagte ich rasch. »Wahr und wahrhaftig.«

Er sah mich unschlüssig an, mußte mir aber schließlich doch geglaubt haben, denn er wandte sich wieder an den andern Jungen. »Ist's dir recht, wenn wir die ganze Sache vergessen?« fragte er ihn. Der Junge sah mich an und lächelte. Dann nickte er. »Ich will mich gar nicht daran erinnern«, sagte er ernsthaft. Gottkin blickte mich jetzt eine Sekunde nachdenklich an. »Dann schüttelt euch die Hände, ihr zwei, und trollt euch 'raus!«

Wir schüttelten einander die Hände und liefen zur Tür hinaus. Während ich sie schloß, sah ich noch, daß Mr. Gottkin eine Lade seines Schreibtisches öffnete und etwas herausnahm. Dann hob er es an seine Lippen.

In diesem Moment rannte der Gehilfe auf dem Weg ins Büro in mich hinein. »Gib mir auch was«, sagte er, während sich die Türe schloß. »Ich möchte so was nicht nochmals erleben.« Gottkins Stimme dröhnte durch die geschlossene Türe. »Dieser kleine Fisher ist der geborene Boxer. Hast du gesehen..?«: Ich sah sehr verlegen drein. Mein früherer Gegner wartete auf mich. Linkisch nahm ich ihn am Arm, und wir kehrten gemeinsam zu unserm Ballspiel zurück.