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Das geliebte Stachelschwein
NETFEED/NACHRICHTEN:
»Diamanten-Dal« ist tot
(Bild: Spicer-Spence bei der Audienz bei Papst Johannes XXIV.)
Off-Stimme: Dallas Spicer-Spence, von den Klatschnetzen »Diamanten-Dal« genannt, wurde tot in ihrem Schweizer Château aufgefunden. Als Todesursache wird Herzversagen angegeben; sie war 107 Jahre alt. Spicer-Spence gewann und verlor im Laufe ihres bewegten Lebens mehrere Vermögen und mehrere Ehemänner, aber am bekanntesten wurde sie wahrscheinlich durch den Rechtsstreit, den sie während ihrer Zeit in Tansania deswegen führte, einen Schimpansen namens »Daba« zu ihrem Erbschaftsverwalter einsetzen zu dürfen. Sie wollte damit ihrem Eintreten für die Rechte der dort lebenden Menschenaffen, die alljährlich zu Hunderten zu biomedizinischen Forschungszwecken verkauft werden, dramatisch Ausdruck verleihen.
(Bild: Daba am Schreibtisch, eine Zigarre paffend)
Spicer-Spence hatte mit ihrer Klage Erfolg, überlebte jedoch den Schimpansen Daba um mehr als ein Jahrzehnt. Die Verfügung über ihren Nachlaß liegt jetzt in den Händen mehrerer menschlicher Anwälte …
> Renie hatte größte Mühe, sich zu bewegen. Ihr ganzer Körper war von Schmerz und Erschöpfung wie zerschlagen, aber diese Zerschlagenheit war nichts im Vergleich zu der furchtbaren Müdigkeit, die auf ihr lag. Sie hatte nicht mehr die Kraft weiterzugehen und keinen Glauben mehr, aus dem sie noch Kraft hätte schöpfen können. Die Welt war ein einziger harter Widerstand und sie selbst so knochenlos geworden wie der Fluß, dem sie erst wenige Minuten zuvor entkommen war.
!Xabbu war gerade damit fertig geworden, das Feuerholz in der Mitte der Waldlichtung zu einem ordentlichen Kegel aufzuschichten. Emily, die aus der Neuen Smaragdstadt geflohene junge Frau, saß schlotternd in einem rasch schwindenden Fleckchen Sonnenschein und sah ohne Interesse zu, wie die flinken Pavianfinger zwei weitere Holzstücke aus dem zusammengetragenen Haufen klaubten. Der Buschmann-Pavian setzte die Spitze des kleineren Stocks in ein Loch in dem größeren, hielt diesen dann mit den Füßen fest und fing an, das kleinere Stück zwischen den Handflächen zu zwirbeln, als wollte er das Loch größer bohren.
Schuldbewußt machte sich Renie Vorwürfe, daß sie untätig zusah, wie ihr Freund die ganze Arbeit tat, aber das Gefühl war zu schwach, um sie aus ihrer Niedergeschlagenheit zu reißen. »Du kannst dir die Methode ›Selbst ist der Buschmann‹ sparen«, sagte sie. »Wir haben doch Azadors Feuerzeug.« Sie reichte ihm das silberne Rechteck, das sie im Fluß dermaßen fest gehalten hatte, das der Abdruck auf der virtuellen Haut ihrer Hand immer noch zu sehen war.
Ein erhebendes Beispiel für die Otherland-VR-Technik, dachte sie säuerlich. Ziemlich eindrucksvoll, nicht? Hurra, hurra.
!Xabbu betrachtete es einen Moment lang mit einer andächtigen Aufmerksamkeit, die beinahe komisch war – ein Affe, hatte es den Anschein, der eine schlaue menschliche Erfindung zu begreifen suchte. »Ich frage mich, wofür dieses Y steht«, sagte er, während er die Gravur auf dem Feuerzeug in Augenschein nahm.
»Mit dem Buchstaben fängt wahrscheinlich der Name des Kerls an – wir wissen ja nicht mal, ob Azador sein Vorname oder sein Nachname ist, stimmt’s?« Sie schlang ihre Arme um die Knie, als der erste Hauch einer Abendbrise, die recht steif zu werden versprach, über das Flußufer strich, daß das Dschungellaub raschelte.
!Xabbu drehte das Feuerzeug um und blickte dann zu ihr auf. »Er sagte mir, er heiße Nicolai. Azador sei sein Nachname.«
»Was? Wann hast du denn darüber mit ihm geredet?«
»Als du schliefst. Er erzählte nicht sehr viel. Ich fragte ihn, wo sein Name herkomme, und er sagte, es sei ein spanischer Name, aber sein Volk seien die Roma, und für das fahrende Volk sei Spanien einfach ein Land wie viele andere. Sein Vorname sei Nicolai, ein guter Romaname, wie er sagte.«
»Verdammt.« Trotz ihrer Abneigung gegen den Mann konnte Renie einen gewissen Unmut darüber nicht unterdrücken, daß der mysteriöse Azador !Xabbu in einem fünfminütigen Gespräch mehr über sich erzählt hatte als ihr im Laufe mehrerer Tage. »Na schön, dann werden wir wohl nie erfahren, was das Y zu bedeuten hat, nehme ich an. Vielleicht hat es seinem Vater gehört. Vielleicht hat er’s gestohlen. Ich tippe auf das zweite.«
Es gelang !Xabbu trotz seines nicht ganz menschlichen Daumens, den Knopf zu drücken; die winzige Nova flammte knapp über dem Ende des Feuerzeugs auf und bewegte sich auch nicht, als die Brise stärker wurde. Als das Anmachholz Feuer gefangen hatte, gab !Xabbu Renie das Feuerzeug zurück, und die steckte es in die Tasche ihres zerfledderten Jumpsuits.
»Du wirkst sehr traurig«, sagte er zu ihr.
»Soll ich mich vielleicht freuen?« Es schien ihr reine Zeitverschwendung zu sein, das Offensichtliche zu erklären. »Azadors wirklicher Name ist unser geringstes Problem. Wir sitzen mitten in dieser beschissenen Simulation ohne ein Schiff fest, sind umgeben von was weiß ich für mörderischen Monstrositäten, und damit es uns nicht langweilig wird, scheint auch noch das ganze Netzwerk hopszugehen.«
»Ja, es war sehr merkwürdig, sehr erschreckend, wie die ganze Welt… anders wurde«, sagte !Xabbu. »Aber es ist nicht das erste Mal, daß wir so etwas erleben. Emily, was uns eben auf dem Fluß und vorher im Palast der Vogelscheuche passierte, ist das hier schon öfter vorgekommen?«
Das Mädchen sah ihn unglücklich an, und aus ihren großen Augen sprach der Wunsch, einfach bedingungslos zu kapitulieren. »Weiß nicht.«
»Aus ihr wirst du nichts rausbekommen«, sagte Renie. »Glaub mir, es war nicht das erste Mal. Und es wird wieder passieren. Irgendwas stimmt mit dem ganzen System nicht.«
»Vielleicht haben sie Feinde«, meinte !Xabbu. »Diese Gralsleute haben sich an vielen Menschen vergangen – vielleicht gibt es noch andere, die sich zur Wehr setzen.«
»Schön wär’s.« Renie warf eine heruntergefallene Samenschote ins Feuer, wo sie schwarz wurde und sich kringelte. »Ich sag dir, was los ist. Sie haben sich ein riesiges Netzwerk gebaut und Milliarden und Abermilliarden dafür ausgegeben. Weißt du noch, wie Singh erzählte, sie hätten Tausende von Programmierern beschäftigt? Das ist so, wie wenn man einen großen Wolkenkratzer baut oder sowas: Wahrscheinlich macht ihnen das Sick Building Syndrome zu schaffen.«
»Was für ein Syndrom?« !Xabbu hatte sich mit dem Rücken zum Feuer gesetzt und bewegte beim Aufwärmen langsam seinen Schwanz hin und her, als dirigierte er eine Flammensymphonie.
»Gebäude, die krank machen. Wenn jemand ein kompliziertes System schafft und es abschottet, werden kleine Sachen nach und nach zu großen Sachen, einfach weil das System geschlossen ist. Mit der Zeit wird ein winziger Fehler in der Lüftungsanlage eines Hochhauses zu einem sehr ernsten Problem. Leute werden krank, Systeme fallen aus, alles mögliche.« Sie hatte nicht die Energie, näher an das Feuer heranzukriechen, aber der schlichte Anblick der tanzenden Flammen und das Gefühl der Hitzewellen munterte sie ein ganz, ganz winzig kleines bißchen auf. »Sie haben irgendwas vergessen, oder einer dieser Programmierer hat das Ding gleich am Anfang sabotiert oder sonstwas. Es wird komplett auseinanderfallen.«
»Aber das ist doch gut, oder?«
»Nicht, wenn wir mittendrin stecken, !Xabbu. Wenn wir nicht rauskriegen, wie man offline kommt. Weiß der Himmel, was bei einem Systemkollaps mit uns passieren würde.« Sie seufzte. »Und was passiert mit den ganzen Kindern – mit Stephen? Was ist, wenn sie nur noch von dem Netzwerk am Leben gehalten werden? Sie sind darin eingeschlossen, genau wie wir.« Kaum hatte sie das ausgesprochen, erfaßte sie ein eisiger Schauder, der nichts mit dem Wind über dem Fluß zu tun hatte. »O mein Gott«, stöhnte sie. »Gütiger Himmel, ich bin ein Volltrottel! Warum bin ich nicht eher darauf gekommen …?«
»Was denn, Renie?« !Xabbu schaute auf. »Du klingst ganz verstört.«
»Ich hab die ganze Zeit über gedacht, na ja, im allerschlimmsten Fall wird einfach jemand die Tanks aufmachen und uns von der Strippe holen. Vielleicht wird es weh tun, wie dieser Fredericks es geschildert hat, aber vielleicht auch nicht. Aber eben ist mir erst klargeworden, daß … daß wir alle wie Stephen sein müssen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wir liegen im Koma, !Xabbu! Du und ich! Selbst wenn sie uns aus den Tanks rausholen würden, wären wir nicht wach, wir wären bloß … da. So gut wie tot. Wie mein Bruder.« Tränen traten ihr in die Augen – unerwartet, denn sie hatte angenommen, sie hätte alle restlos ausgeweint.
»Weißt du das sicher?«
»Ich weiß gar nichts sicher!« Sie wischte sich die Augen und war wütend auf sich selbst. »Aber es klingt einleuchtend, findest du nicht? Etwas, das dich reinzieht und dich nicht wieder in deinen physischen Körper zurückkehren läßt – beschreibt das nicht haargenau, was mit Stephen passiert ist und mit Quan Lis Enkeltochter und allen andern?«
!Xabbu schwieg. »Wenn das stimmt«, sagte er schließlich langsam und nachdenklich, »heißt das dann, daß Stephen auch hier ist, irgendwo im Otherlandnetzwerk? Und einen Körper hat genau wie wir?«
Renie war wie vom Donner gerührt. »Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Mein Gott, darauf bin ich überhaupt noch nicht gekommen.«
Ihre Träume waren unruhig und fiebrig. Der letzte war eine lange, konfuse Geschichte, die damit anfing, daß sie Stephen durch ein Haus voll endloser, sich verzweigender Tunnel nachjagte und seine Schritte die ganze Zeit dicht vor sich hörte, während er ein um die Ecken huschender Schatten blieb, immer qualvoll knapp unerreichbar.
Das Haus selbst, wurde ihr langsam klar, war lebendig – nur die Verschwommenheit der Traumbilder hatte sie daran gehindert, die schweißige Elastizität der Wände zu erkennen, die darmartige Rundheit der Gänge. Sie konnte seine ungeheuerlich langwellige Atmung spüren, das minutenlang auseinanderliegende Ein und Aus, und wußte, daß sie Stephen erwischen mußte, bevor er tiefer in das Ding hineingeriet und ein für allemal verloren war, verschlungen und verdaut, unwiderruflich verwandelt.
Die gewundenen Gänge endeten vor einem unermeßlichen Dunkel, einer steil abfallenden Schlucht, die nach unten zu immer schmaler wurde, wie ein auf den Kopf gestellter gewaltiger schwarzer Berg aus Luft. In der Tiefe tönten Stimmen, trostlose Schreie wie von klagenden Vögeln. Stephen fiel – das wußte sie irgendwie, und sie wußte auch, daß sie sich augenblicklich entscheiden mußte, entweder hinter ihm herzuspringen oder ihn aufzugeben. Hinter sich hörte sie !Xabbu rufen, sie solle warten, er komme mit ihr, aber !Xabbu begriff die Situation nicht, und für Erklärungen war keine Zeit. Sie trat vor, so daß sie mit den Zehenspitzen direkt am Rand des Abgrunds stand, und war schon leicht in die Knie gegangen, um sich in die flüsternde Dunkelheit hinauszustürzen, als jemand sie am Arm packte.
»Laß los!« schrie sie. »Er fällt, er fällt! Laß mich los!«
»Renie, halt.« Das Ziehen wurde heftiger. »Du fällst in den Fluß. Halt.«
Die Dunkelheit dehnte sich vor ihr ins Weite, die Kluft wurde unvermittelt länger und schmaler, bis sie ein schwarzer Strom war, ein dahinrauschender Styx. Wenn sie nur darin eintauchen könnte, würde der Fluß sie hinter ihrem Bruder hertragen …
»Renie! Wach auf!«
Sie schlug die Augen auf. Der ihrem Wachbewußtsein erscheinende Fluß – denn nichts in dieser Erfahrungswelt ließ sich als »wirklich« bezeichnen – gurgelte nur ein kurzes Stück unter ihr, in der Dunkelheit fast unsichtbar bis auf das Glitzern der Strömung und das gewellte Spiegelbild des Mondes. Sie kauerte auf Händen und Knien am Rand des abbröckelnden Flußufers, und !Xabbu hielt einen ihrer Arme umklammert, die kleinen Füße gegen eine Wurzel gestemmt.
»Ich …« Sie blinzelte. »Ich hab geträumt.«
»Das dachte ich mir.« Er half ihr aufzustehen, bevor er sie losließ. Sie stolperte zum Feuer zurück. Emily lag fötusartig zusammengerollt dicht an der Glut und atmete sanft, und ihr Elfengesicht war durch den Arm, den sie als Kopfkissen benutzte, ganz verquetscht.
»Bin ich nicht dran, die Wache zu übernehmen, !Xabbu?« fragte Renie und rieb sich die Augen. »Wie lange hab ich geschlafen?«
»Das ist doch gleichgültig. Du bist sehr müde. Ich bin nicht so müde.«
Die Versuchung war stark, loszulassen, wieder in die Träume zurückzugleiten, auch wenn sie noch so verstörend waren. Alles war besser als dieser gräßliche Wachzustand. »Aber das ist ungerecht.«
»Ich komme sehr gut längere Zeit ohne Schlaf aus. Das muß man als Jäger, und die Familie meines Vaters lehrte es mich. Jedenfalls bist du wichtig, Renie, sehr wichtig, und ohne dich können wir nichts tun. Du mußt dich ein wenig erholen.«
»Ich, wichtig? Guter Witz, haha.« Sie ließ sich hinplumpsen. Ihr Kopf war wie aus Beton und ihr Hals zu schwach, um ihn länger als wenige Sekunden oben zu halten. Kein Ziel mehr, keine sinnvolle Aufgabe mehr, nicht einmal mehr eine Ablenkung von ihrem Elend. Allmählich verstand sie ihren Vater und seinen gewohnheitsmäßigen Drang zu vergessen. »Ich bin ungefähr so viel nütze wie … wie … was weiß ich. Aber egal, was es ist, viel nütze ist es jedenfalls nicht.«
»Du irrst dich.« !Xabbu hatte das Feuer geschürt, aber jetzt drehte er sich um, und seine Haltung dabei war selbst für einen Pavian eigenartig. »Es ist dir tatsächlich nicht klar, stimmt’s?«
»Was ist mir nicht klar?«
»Wie überaus wichtig du bist.«
Renie hatte nicht die geringste Lust, sich von irgendwem mit Larifari aufmuntern zu lassen, auch nicht von !Xabbu. »Hör zu, du meinst es bestimmt gut, aber ich weiß, was ich kann und was ich nicht kann. Und im Augenblick bin ich weit davon entfernt, irgendwas ausrichten zu können. Wie wir alle, denke ich.« Sie versuchte die Energie aufzubringen, es ihm richtig zu erklären – ihm begreiflich zu machen, wie hoffnungslos alles war –, aber sie hatte so gut wie keine Reserven mehr. »Verstehst du denn nicht? Wogegen wir angetreten sind, das ist viel größer, als wir je dachten, !Xabbu. Und wir haben genau nichts erreicht – gar nichts! Kein Gedanke, daß wir der Gralsbruderschaft irgendwelche Schläge versetzt hätten, nein, die haben noch nicht mal gemerkt, daß wir hier sind! Und wenn sie’s wüßten, wär’s ihnen egal. Wir sind ein Witz – ein Haufen Flöhe, die Pläne machen, wie sie den Elefanten zu Fall bringen.« Ihre Stimme klang gefährlich brüchig. Sie biß sich ärgerlich auf die Unterlippe und war entschlossen, nicht wieder loszuheulen. »Wir waren so … so dumm. Wie sind wir bloß auf den Gedanken gekommen, wir könnten einen derart großen, derart mächtigen Feind in die Knie zwingen?«
!Xabbu blieb lange schweigend auf den Fersen hocken, den Schürstock fest mit der kleinen Hand umklammert. Er starrte in die Flammen, als studierte er eine besonders schwierige Stelle in einem Lehrbuch. »Aber du bist das geliebte Stachelschwein«, sagte er schließlich.
Die Bemerkung kam so unerwartet, daß Renie einfach lachen mußte. »Ich bin was?«
»Das Stachelschwein. Das ist die Schwiegertochter von Großvater Mantis und in vieler Hinsicht von allen ersten Menschen diejenige, die er am liebsten hat. Irgendwann einmal sagte ich, ich würde dir gern die letzte Geschichte vom Mantis erzählen.«
»!Xabbu, ich glaube nicht, daß ich zur Zeit die Kraft…«
»Renie, ich habe dich bis jetzt um nichts gebeten. Jetzt bitte ich dich. Bitte hör dir diese Geschichte an.«
Erstaunt über die Dringlichkeit in seiner Stimme blickte sie von der Glut auf. Ein bettelnder Pavian hatte etwas unbedingt Lächerliches mit seinen flehend erhobenen kleinen Händen, aber sie konnte nicht lachen. Er hatte recht. Er hatte sie nie um etwas gebeten.
»Also gut. Erzähl.«
!Xabbu wiegte den Kopf, dann hielt er die Schnauze eine Weile auf den Boden gerichtet und dachte nach. »Dies ist die letzte Geschichte vom Mantis«, begann er endlich. »Nicht, weil es sonst keine Geschichten mehr zu erzählen gäbe – es gibt viele, viele, die ich dir noch nicht erzählt habe –, sondern weil sie von den letzten Dingen handelt, die ihm in dieser Welt widerfuhren.«
»Ist sie traurig, !Xabbu? Ich weiß nicht, ob ich im Moment eine traurige Geschichte verkraften kann.«
»Alle ganz wichtigen Geschichten sind traurig«, erwiderte er. »Was in der Geschichte oder was danach passiert, ist immer traurig.« Er streckte eine Pfote aus und berührte sie am Arm. »Hör bitte zu, Renie.«
Sie nickte müde.
»Dies ist eine Geschichte von Großvater Mantis gegen Ende seines Lebens, wo bereits Schwarze und vielleicht sogar Weiße in das Land meiner Ahnen gekommen waren. Wir wissen das, weil sie mit Schafen anfängt, die mit den schwarzen Hirtenvölkern kamen. Diese Männer schleppten ihre Schafe in großen Herden ein, damit sie das dünne Gras abweideten, das alle von Großvater Mantis und seinen Jägern geliebten Tiere ernährte – die Elenantilope, den Springbock, das Hartebeest.
Der Mantis sah diese Schafe und erkannte, daß sie Tiere einer neuen Art waren. Er machte Jagd auf sie und fand es sowohl erfreulich als auch besorgniserregend, daß sie so leicht zu erlegen waren – mit Geschöpfen, die derart passiv auf den Tod warteten, stimmte etwas nicht. Doch als er zwei mit seinen Pfeilen geschossen hatte, fielen die schwarzen Männer, denen sie gehörten, über ihn her. Die Männer waren so zahlreich wie die Ameisen, und sie schlugen auf ihn ein. Zuletzt zog er seinen Umhang aus Hartebeestfell um sich, so daß sein Zauber sie blendete, und so gelang ihm die Flucht. Er schaffte es zwar, die zwei getöteten Schafe mitzunehmen, aber die Hirten hatten ihn gründlich verprügelt. Als er endlich humpelnd in seinem Lager ankam, seinem Kraal, war er so matt und zerschunden und blutig, daß er das Gefühl hatte, sterben zu müssen.
Der Mantis berichtete seinen Angehörigen: ›Es geht mir schlecht. Sie haben mich getötet, diese Männer, die nicht zu den ersten Menschen gehören.‹ Und er verfluchte die Neuankömmlinge und sprach: ›Mein Wort erfülle sich an ihnen. Sie werden ihr Feuer verlieren, und sie werden ihre Schafe verlieren, und sie werden wie die Zecken nur von Ungekochtem leben.‹ Aber immer noch ging es ihm schlecht, denn er fühlte, daß die Welt eine Stätte der Finsternis geworden war. Er sah es als ausgemacht an, daß für die ersten Menschen darin kein Platz mehr war.«
Renie begriff, daß hier die erste der Parallelen lag, die !Xabbu ziehen wollte, nämlich zwischen ihrer hilflosen Verzweiflung und dem Elend von Großvater Mantis. Sie wurde darüber fast ärgerlich, denn es kam ihr wie billiges Psychologisieren vor, aber die große Ernsthaftigkeit von !Xabbus Stimme verhinderte es. Er predigte ihr aus dem Alten Testament seines Volkes. Es hatte etwas zu bedeuten.
»Er rief seine ganze Familie zu sich«, fuhr !Xabbu fort, »seine Frau die Klippschlieferin, seinen Sohn den Regenbogen, seine geliebte Schwiegertochter, das Stachelschwein und ihre beiden Söhne, die Enkel des Mantis, die Ichneumon und Jüngerer Regenbogen hießen. Die Stachelschweinfrau mit ihrem großen Herzen und ihrem mitfühlenden Auge war die erste, die sah, daß ihr Schwiegervater völlig durcheinander war. Auch gefielen ihr die Schafe nicht, die ihr fremd waren. ›Schau‹, sagte sie zu ihrem Mann, dem Regenbogen. ›Schau dir die Tiere an, die dein Vater mitgebracht hat.‹
Doch der Mantis gebot ihnen allen, still zu sein, und er sprach: ›Ich bin schwach vor Schmerzen, und meine Kehle ist zugeschwollen, so daß ich weder richtige Worte sprechen noch diese Schafe essen kann. Stachelschwein, du mußt zu deinem Vater gehen, den sie den Allverschlinger nennen, und ihm sagen, er möge kommen und mir helfen, diese Schafe aufzuessen.‹
Die Stachelschweinfrau ängstigte sich und sagte: ›Nein, Großvater, denn wenn der Allverschlinger kommt, wird für niemanden mehr etwas bleiben. Er wird nichts unter dem Himmel übriglassen.‹
Der Mantis blieb hartnäckig. ›Geh zu dem alten Mann dort hinten, dem Allverschlinger, und sage ihm, er möge kommen und mir helfen, diese Schafe aufzuessen. Ich merke, daß mein Herz verstört ist, deshalb möchte ich, daß der alte Mann dort hinten kommt. Wenn er kommt, werde ich wieder richtig sprechen können, denn meine Kehle ist jetzt zugeschwollen, und ich kann nicht so sprechen, wie es sich gehört. Wir wollen die Schafe auftischen und deinen Vater willkommen heißen.‹
Die Stachelschweinfrau sprach: ›Es kann nicht dein Wille sein, daß dieser alte Mann hierherkommt. Ich werde dir Springbockfleisch vorsetzen, damit kannst du deinen Bauch füllen.‹
Der Mantis schüttelte den Kopf. ›Dieses Fleisch ist weiß vor Alter. Ich werde diese Schafe essen – dieses neue Fleisch –, aber du mußt deinem Vater sagen, er soll kommen und mir helfen.‹
Die Stachelschweinfrau war traurig und von großer Furcht erfüllt, denn der Mantis war noch nie zuvor so krank und so unglücklich gewesen, und es war unausweichlich, daß etwas Schreckliches geschehen würde. ›Ich werde ihn holen gehen, und morgen wird er hier sein. Dann wirst du ihn selber sehen, diesen furchtbaren alten Mann, mit deinen eigenen Augen.‹
Der Mantis war damit zufrieden und schlief ein, aber noch im Schlaf schrie er mehrmals vor Schmerz auf. Die Stachelschweinfrau wies ihre Söhne Jüngerer Regenbogen und Ichneumon an, das Springbockfleisch wegzutun und zu verstecken und den Speer des Regenbogens, ihres Vaters, zu nehmen und ebenfalls zu verstecken. Dann machte sie sich auf den Weg.
Unterwegs blickte sie alles, woran sie vorbeikam, mit dem Auge des Herzens an und sprach bei sich: ›Morgen wird dies hier fort sein. Morgen wird das da fort sein.‹ Als sie dort ankam, wo ihr Vater wohnte, konnte sie ihm nicht gegenübertreten, sondern rief von fern: ›Der Mantis, dein Vetter, wünscht, daß du kommst und ihm hilfst, die Schafe aufzuessen, denn sein Herz ist bekümmert.‹ Daraufhin eilte sie zu ihrer Familie im Kraal von Großvater Mantis zurück.
Der Mantis fragte sie: ›Wo ist dein Vater?‹
Die Stachelschweinfrau antwortete: ›Er ist noch unterwegs. Schau dir den Strauch an, der dort über uns steht, du wirst von oben einen Schatten darauf fallen sehen.‹
Der Mantis schaute hin, aber sah nichts.
Die Stachelschweinfrau sagte: ›Gib acht, wann der Strauch abbricht. Wenn du dann siehst, daß alle Sträucher dort oben verschwunden sind, halte nach dem Schatten Ausschau. Denn seine Zunge wird alle Sträucher hinwegraffen, noch bevor er hinter dem Hügel aufgetaucht ist. Dann wird sein Körper erscheinen, und alle Sträucher ringsherum werden verschlungen sein, und wir werden nicht mehr geschützt sein.‹
Der Mantis erwiderte: ›Ich sehe immer noch nichts.‹ Jetzt bekam auch er es mit der Angst zu tun, aber er hatte den Allverschlinger eingeladen, und der Allverschlinger kam.
Die Stachelschweinfrau sagte: ›Du wirst eine Feuerzunge in der Dunkelheit sehen, denn alles, was ihm im Weg steht, zerstört er, und sein Maul schlingt alles hinunter.‹ Und damit ging sie davon und nahm das Springbockfleisch mit, das versteckt worden war, und gab es ihren beiden jungen Söhnen, denn sie sollten für die bevorstehenden Ereignisse stark sein.
Und während Großvater Mantis wartend dasaß, legte sich ein großer, großer Schatten auf ihn. Er rief nach dem Stachelschwein: ›O Tochter, warum wird es so dunkel, wo doch gar keine Wolken am Himmel sind?‹ Denn in dem Moment merkte er, was er getan hatte, und er fürchtete sich sehr.
Der Allverschlinger sprach mit seiner schrecklichen hohlen Stimme: ›Ich bin eingeladen worden. Jetzt mußt du mich speisen.‹ Und er ließ sich im Lager des Mantis nieder und begann alles aufzufressen, denn in dem großen Maul, im Herzen des Schattens, brannte eine Feuerzunge. Erst verzehrte er die Schafe und zermalmte ihre Knochen und verschlang ihre Vliese. Als er damit fertig war, fraß er das ganze andere Fleisch und die Tsama-Melonen und die Wurzeln und alle Samen und Blüten und Blätter. Dann verschlang er die Hütten und die Grabstöcke, die Bäume und sogar die Steine der Erde. Als er den Regenbogen hinunterschluckte, den Sohn des Mantis, nahm die Stachelschweinfrau ihre beiden Kinder und lief fort. Während sie flohen, würgte der Allverschlinger die Frau des Mantis hinunter, die Klippschlieferin, und dann verschwand sogar Großvater Mantis selbst in dem Bauch, der sich jetzt von einem Horizont zum anderen erstreckte.
Die Stachelschweinfrau nahm den Speer, den ihre Söhne versteckt hatten, und erhitzte ihn im Feuer, bis er glühte, denn sie wollte erproben, ob ihre Söhne tüchtig genug waren, um die vor ihnen liegende Aufgabe zu bestehen. Sie preßte dem Jüngeren Regenbogen und dem Ichneumon die heiße Speerspitze auf Stirn, Augen, Nase und Ohren, um sicher zu sein, daß sie tapfer genug waren, um die Aufgabe zu erkennen und zu verstehen. Die Augen des Ichneumons füllten sich mit Tränen, und sie sprach: ›Du bist der Sanfte, du wirst zur Linken meines Vaters sitzen.‹ Aber die Augen des Jüngeren Regenbogens wurden nur immer trockener, je mehr sie ihn brannte, und sie sprach: ›Du bist der Grimmige, du wirst zur Rechten meines Vaters sitzen.‹ Dann brachte sie die beiden zum Feuer zurück, und sie setzten sich jeder auf eine Seite des Allverschlingers, der immer noch Hunger hatte, obwohl er fast alles unter dem Himmel vertilgt hatte.
Er setzte gerade an, auch sie aufzufressen, da packten statt dessen die Brüder seine Arme, zogen sie nach hinten und zerrten ihn zu Boden. Trotz seiner großen Stärke rangen sie ihn nieder und hielten ihn fest, obwohl die Flammenzunge in seinem schwarzen Maul sie verbrannte, dann nahm der Jüngere Regenbogen den Speer seines Vaters und schlitzte auf Geheiß seiner Mutter Stachelschwein dem Allverschlinger den Bauch auf. Er und das Ichneumon rissen den Bauch weit auf, und alles, was der Allverschlinger gefressen hatte, kam in einem großen Schwall heraus – Fleisch und Wurzeln und Bäume und Sträucher und Menschen. Sogar Großvater Mantis kam zum Schluß heraus, verändert und schweigsam.
Die Stachelschweinfrau sagte: ›Ich merke, daß alles sich verändert hat. Jetzt ist die Zeit gekommen, daß wir weggehen und eine neue Heimat finden müssen. Wir werden meinen Vater, den Allverschlinger, hier im Kraal liegen lassen. Wir werden weit weggehen. Wir werden eine neue Heimat finden.‹ Und sie führte ihren Schwiegervater und ihre ganze Familie aus der Welt hinweg und in eine neue Heimat, wo sie heute noch leben.«
Die Vorstellung, wie der kleine Mantis sich ängstlich duckte, während der Himmel sich verdunkelte und der Allverschlinger über ihn kam, hatte Renie völlig in ihren Bann geschlagen, und so wurde sie zunächst gar nicht richtig gewahr, daß die Geschichte aus war. In seiner Torheit hatte der Buschmanngott das äußerste Grauen heraufbeschworen – und sie, unterschied sie sich irgendwie von ihm?
»Ich … ich weiß nicht recht, ob ich die Geschichte verstehe«, sagte sie schließlich. Die Geschichte war nicht so traurig gewesen, wie sie befürchtet hatte, aber das Ende schien in keinem Verhältnis zu dem Schrecklichen zu stehen, das den Figuren widerfahren war. »Was sollte sie bedeuten? Tut mir leid, !Xabbu, ich stelle mich nicht absichtlich dumm. Es ist eine sehr eindrucksvolle Geschichte.«
Der Paviansim blickte müde und niedergeschlagen drein. »Erkennst du dich darin nicht wieder, Renie? Siehst du nicht, daß du wie die Stachelschweinfrau diejenige bist, auf die wir uns verlassen? Daß du wie die geliebte Schwiegertochter des Mantis diejenige bist, die mutig zur Tat schritt, als alles aussichtslos zu sein schien? Du bist es, von der wir uns erhoffen, daß sie uns hier wieder hinausführt.«
»Nein!« Sie ließ ihrem Unmut freien Lauf. »Das ist unfair – ich will nicht, daß irgendwer sich was von mir erhofft! Mein ganzes Leben lang hab ich andere auf den Arm genommen und herumgetragen. Was ist, wenn ich mich irre? Wenn ich zu schwach bin?«
!Xabbu schüttelte den Kopf. »Wir brauchen dich nicht dazu, daß du uns herumträgst, Renie. Wir brauchen dich, daß du uns führst. Wir brauchen dich, daß du mit den Augen deines Herzens schaust und uns dort hinbringst, wohin sie dich leiten.«
»Ich kann das nicht, !Xabbu! Ich hab keine Kraft mehr. Ich kann keine Ungeheuer mehr bekämpfen.« Die Geschichte vom Allverschlinger vermischte sich in ihrem Kopf mit ihren eigenen Träumen und den Schattenwesen dieser unwirklichen Welten. »Ich bin nicht die Stachelschweinfrau. Ich bin nicht lieb und einsichtig. Mein Herz hat keine Augen, verdammt nochmal.«
»Aber spitze Stacheln hast du, genau wie sie.« Um den Mund des Pavians zuckte ein leicht schmerzliches Lächeln. »Ich glaube, du siehst mehr, als du weißt, Renie Sulaweyo.«
Emily war aufgewacht und beobachtete sie, still am Boden liegend, mit Augen, von denen man im ersten Morgengrauen nur das Weiße schimmern sah. Renie machte sich Vorwürfe, daß sie sie geweckt hatte – sie waren alle müde und hatten weiß Gott Ruhe nötig –, aber selbst diese kurze Zerknirschung schlug gleich in den nächsten Wutausbruch um. »Genug mit diesem mystischen Quatsch, !Xabbu. Mir ist das zu hoch, schon immer gewesen. Ich will nicht sagen, daß du dich irrst, aber du sprichst eine Sprache, die ich nicht verstehe. Statt auf mich zu warten, erzähl mir lieber, was du zu tun gedenkst in diesem ganzen Schlamassel mit der Gralsbruderschaft und mit diesem Netzwerk, aus dem wir nicht wieder rauskommen. Wie sieht dein Plan aus?«
!Xabbu schwieg einen Augenblick, wie geschockt von ihrer Heftigkeit. Es war ihr peinlich, wie schwer ihr Atem ging, wie sehr sie die Beherrschung verloren hatte. Doch statt sich zurückzuziehen oder zu widersprechen, nickte !Xabbu nur ernst.
»Ich will dich nicht wütend machen, Renie, indem ich Dinge sage, an die du nicht glaubst, aber schon wieder hast du mit den Augen deines Herzens gesehen. Du hast eine Wahrheit gesprochen.« Eine Schwere, erdrückend wie ihre eigene, schien sich auf ihn zu legen. »Es ist wahr, daß ich nicht mehr weiß, was mir aufgetragen ist. Ich erzähle dir Geschichten, aber ich habe meine eigene Geschichte vergessen.«
Sie hatte auf einmal Angst, er könnte sie verlassen und sich auf eigene Faust in den Flußurwald aufmachen. »Ich wollte nicht…«
Er hob eine Pfote. »Du hast recht. Ich habe meine Bestimmung vergessen. In meinem Traum wurde mir gesagt, daß alle ersten Menschen zusammenkommen müssen. Deshalb bin ich auch in dieser Gestalt.« Er deutete auf seine behaarten Glieder. »Ich werde also tanzen.«
Das war das letzte, womit sie gerechnet hätte. »Du … du wirst was?«
»Tanzen.« Er drehte sich einmal im Kreis und nahm den Boden in Augenschein. »Es wird keinen Lärm machen. Du kannst dich wieder schlafenlegen, wenn du willst.«
Renie blieb starren Blicks sitzen und wußte nicht, was sie sagen sollte. Auch Emily sah scheu zu, aber in ihren Augen glomm ein Licht, das vorher nicht dagewesen war, als ob die Mantisgeschichte sie in irgendeiner Weise berührt hätte. !Xabbu schritt einen Kreis ab, wobei er mit einer hinterherschleifenden Hand einen Strich auf den Boden zog, dann blieb er stehen und schaute zum Himmel auf. Ein morgenroter Schimmer erschien soeben am Horizont. Er wandte sich langsam um, bis er direkt darauf blickte, und Renie mußte an eine andere Geschichte von ihm denken. !Xabbu hatte ihr erzählt, daß sein Volk glaube, das erste Licht der Morgenröte sei der in sein Lager und zu seiner Braut, der Luchsin, heimeilende Jäger Morgenstern.
Und eilig hatte es der Morgenstern deswegen, entsann sie sich jetzt, weil er den Haß und die Eifersucht der Hyäne fürchtete, einer verstoßenen Kreatur der Finsternis, beinahe so furchterregend wie der Allverschlinger.
Während er die ersten schurrenden Schritte des Tanzes machte, den er einst den Tanz des größeren Hungers genannt hatte, schien !Xabbus Konzentration auf etwas jenseits des Lagers, vielleicht sogar jenseits Anderlands gerichtet zu sein. Renies Verzweiflung hatte sich in ein zähes Gefühl wie von einem schweren, klebrigen Geflecht verwandelt, das sie zermürbte und niederhielt. Das also war aus ihrer wissenschaftlichen Nachforschung geworden, dachte sie – unausgegorene Antworten auf unmögliche Fragen, tanzende Affen, magische Welten an einem endlosen Fluß. Und sie wollten irgendwie diese unermeßliche Sandwüste nach dem einen Korn durchsieben, das ihren Bruder zurückbringen würde?
!Xabbus Tanz, eine pulsende, rhythmische Bewegung, führte ihn nach und nach im ganzen Kreis herum, den er gezeichnet hatte. Ein paar Vogelrufe belebten den Tagesanbruch, und die Urwaldbäume rauschten und zitterten in der Brise, doch das einzige, was sich im Lager bewegte, war der Pavian mit seinem Schritt, Schurren, Schurren, Schritt, wozu er sich hinunterbeugte und sich dann mit hoch und weit ausgestreckten Armen aufrichtete, die Augen immer nach außen gewandt. Er vollendete den Kreis und tanzte weiter, mal ein bißchen schneller, dann wieder langsamer.
Die Zeit kroch dahin. Aus einem Dutzend Umkreisungen wurden hundert. Emilys Augen waren längst schon zitternd zugefallen, und Renie war vor Müdigkeit halb hypnotisiert, aber !Xabbu tanzte immer noch, bewegte sich zu einer Musik, die er allein hören konnte, führte Schritte aus, die schon unausdenklich alt gewesen waren, als Renies primitive Vorfahren erstmals in das südliche Afrika vorgedrungen waren. Es war die Steinzeit, die sie da betrachtete, das lebendige Gedächtnis der Menschheit, hier im modernsten Kontext, den man sich vorstellen konnte. !Xabbu brachte sich in Einklang, erkannte sie, und zwar nicht mit dem materiellen Universum, mit Sonne, Mond und Sternen, sondern mit dem größeren sinngebenden Kosmos. Er lernte seine eigene Geschichte neu.
Und je länger der Tanz andauerte und es im Dschungel hell und heller wurde, desto mehr fühlte Renie, wie die kalte Hoffnungslosigkeit in ihr ein klein wenig taute. Es war die Geschichte, worauf es ankam, das hatte er ihr sagen wollen. Das Stachelschwein, der Mantis – sie waren nicht bloß kuriose Märchengestalten, sondern bestimmte Sichtweisen. Sie bildeten eine Geschichte, die dem Leben Ordnung verlieh, die das Universum so zur Sprache brachte, daß Menschen es verstehen konnten. Und was war alles menschliche Lernen und Glauben anderes als schlicht das? Sie konnte sich vom Chaos auffressen lassen, begriff sie, so wie der Allverschlinger alles gefressen hatte, sogar Großvater Mantis, den Geist des ursprünglichen Wissens, oder sie konnte das Chaos in eine ihr verständliche Gestalt bringen, wie die Stachelschweinfrau es getan hatte, und dort Ordnung finden, wo es nur Hoffnungslosigkeit zu geben schien. Sie mußte ihre eigene Geschichte finden, und sie konnte ihr genau die Gestalt geben, die ihr am besten dünkte.
Und während sie über diese Dinge nachdachte und der kleine Mann in dem Paviankörper weitertanzte, spürte Renie, wie sie weiter auftaute und warm wurde. Sie beobachtete !Xabbu bei seinen andächtigen Wiederholungen, die schön waren wie eine geschriebene Sprache, komplex und beglückend wie die Bewegung einer Symphonie, und erkannte plötzlich, daß sie ihn liebte.
Es war ein Schock, aber eigentlich keine Überraschung. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn liebte wie eine Frau einen Mann – es war schwer, sich über die Antipathie ihrer verschiedenen Kulturen und die eigenartigen Masken, die sie jetzt trugen, zu erheben –, aber sie wußte ohne jeden Zweifel, daß sie noch nie jemanden mehr geliebt hatte und noch nie jemanden genau auf diese Weise geliebt hatte. Seine Affengestalt, die seinen klugen, tapferen Geist umkleidete, aber nicht wahrhaft verbarg, verwandelte sich aus etwas Irritierendem in ein strahlend klares Sinnbild, so stark wie eine Drogenerfahrung, so schwer zu erklären wie ein Traum.
Ich bin diejenige, die erkennen muß, daß wir alle verbunden sind, dachte sie. Im Traum ist !Xabbu gesagt worden, alle ersten Menschen müßten zusammenkommen, wie damals in der Geschichte über seine Ahnin und die Paviane. »Ich wünschte, es wären Paviane auf diesem Felsen«, hieß es nicht so? Aber die Geschichte handelt eigentlich gar nicht von ihm – sie handelt von mir. Ich bin es, die von der Hyäne verfolgt wird, und !Xabbu hat mir seinen Schutz angeboten, genau wie die »Leute, die auf den Fersen sitzen« ihn seiner Ahnin anboten.
»Es sind wirklich Paviane auf diesem Felsen«, flüsterte sie still vor sich hin.
Und kaum hatte sie diese Wahrheit entdeckt, fühlte sie sie in sich brennen. Genau so war es! Sie hatte sich von einem Geschenk abgekehrt, weil sie es nicht für wichtig gehalten hatte, und dabei war ein Geschenk – und ganz besonders das Geschenk der Liebe – tatsächlich das einzig Wichtige, was es gab.
Sie wollte den kleinen Mann packen, ihn aus seiner Trance reißen und ihm alles klarmachen, was sie gerade erkannt hatte, aber seine Konzentration war so groß wie eh und je, und sie begriff, daß diese Offenbarungen für sie bestimmt waren – !Xabbu suchte seine eigenen. So trat sie statt dessen hinter ihm in den Kreis, zögernden Schrittes zunächst, dann mit wachsendem Zutrauen, bis sie schließlich Seite an Seite tanzten, immer von dem Strich zwischen ihnen getrennt, doch zugleich von dem Kreis selbst verbunden. Er ließ nicht erkennen, ob er merkte, daß sie sich zu ihm gesellt hatte, aber in ihrem Herzen war Renie sich dessen sicher.
Emily wachte abermals auf, und als sie diesmal ihre beiden Begleiter im Kreis herumstapfen sah, wurden ihre Augen noch größer.
Und während sie tanzten, wurde es Tag und ergriff der Morgen vom Dschungel Besitz.
Aus der Stille eine Geschichte. Aus dem Chaos Ordnung. Aus dem Nichts Liebe…
Renie war lange Zeit in einer Art Trance gewesen, und erst als sie vor Erschöpfung zu stolpern begann, nahm sie die Welt um sich herum wieder wahr. Es war ein beunruhigender Übergang: Sie war irgendwo anders gewesen und wußte in einer unerklärlichen Weise, was !Xabbu mit den »Augen des Herzens« gemeint hatte. Er selbst tanzte immer noch, aber langsamer jetzt, sehr bedächtig, als näherte er sich einer Erkenntnis.
Etwas anderes regte sich am Rand ihres Gesichtsfeldes. Als Renie sich umwandte, sah sie Emily sich ducken wie ein verängstigtes Tier und mit der Hand fuchteln, als wollte sie etwas vertreiben. Zuerst dachte Renie, sie und !Xabbu so lange und so unbeirrt tanzen zu sehen, hätte das Mädchen kopfscheu gemacht. Da sah sie ungefähr fünf Meter entfernt ein Gesicht aus dem Unterholz spähen.
Renie stolperte abermals, doch zwang sie sich vorsichtshalber weiterzutanzen, obwohl sie nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache war. Sie beäugte den Spion, so gut sie konnte, ohne allzu offensichtlich zu gaffen. Es war eines der zusammengeflickten Greuelwesen, die sie vorher beim Trinken am Fluß aufgestört hatten. Das Gesicht sah menschlich aus, aber nur ungefähr. Die Nase machte den Anschein, etwas anderes zu sein, das nur zufällig in der Mitte des Gesichts gelandet war – ehemals vielleicht ein Zeh oder ein Daumen; die Ohren des Geschöpfes wuchsen aus dem Hals, wodurch der kahle Schädel wie ein Rammbock erschien. Aber trotz dieser gräßlichen Abnormitäten machte das Wesen keinen gefährlichen Eindruck. Die kuhartigen Augen beobachteten !Xabbus Tanz mit einer Sehnsucht, die beinahe mitleiderregend war.
Aber das hat nichts zu besagen. Renies erleuchtende Trance war zerbrochen, ihr innerer Alarm schrillte. Diese Kreaturen sind umgemodelt worden: Ausdruck, Körpersprache, all diesen Dingen kann man nicht mehr trauen.
Sie verlangsamte ihre Tanzbewegungen auf möglichst unauffällige Weise und trat dann aus dem Kreis, als ob sie endlich müde geworden wäre. Das war auch nicht ganz gelogen – sie keuchte und war naßgeschwitzt. Sie wischte sich die Stirn und blickte dabei wieder verstohlen hinüber. Ein zweites Gesicht war neben dem ersten aufgetaucht, und bei diesem saßen die Augen zu tief in den Backen. Ein drittes mißgebildetes Antlitz folgte, dann ein viertes, und alle drängten sich jetzt im Gebüsch zusammen, um den Pavian tanzen zu sehen.
Emily war auf Hände und Knie gefallen und preßte ihr Gesicht auf die Erde. Ihr dünner Rücken bebte vor kaum noch zu unterdrückendem Grauen. Renie war besorgt, aber diese Beobachter machten einen so scheuen und hilflosen Eindruck, daß sie das Gefühl hatte, die Kreaturen, ob umgemodelt oder nicht, stellten keine unmittelbare Bedrohung dar. Dennoch rief sie zu ihrem Freund hinüber.
»!Xabbu. Mach jetzt nichts Abruptes, aber wir haben Besuch.«
Er tanzte weiter, Stampfen, Schurren, Schurren, Stampfen. Wenn er nur so tat, als hörte er sie nicht, verstellte er sich ganz hervorragend.
»!Xabbu. Ich wünschte, du würdest jetzt aufhören.« Hinter ihr gab Emily einen leisen erstickten Angstlaut von sich. Ihr Freund schien immer noch nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn herum vorging.
Weitere verstümmelte Gestalten wurden sichtbar. Mindestens ein Dutzend von ihnen hatten in dem Dickicht am Rand des Lagers einen Halbkreis gebildet, scheu wie Antilopen, und Renie hörte hinter sich ebenfalls ein leises Rascheln. Sie und ihre Gefährten wurden langsam umzingelt.
»!Xabbu!« sagte sie, lauter jetzt. Und er hörte auf.
Der Pavian torkelte, dann fiel er hin. Bis Renie bei ihm war, hatte er sich schon wieder halb aufgesetzt, aber die Art, wie sein Kopf auf dem Hals wackelte, machte ihr Angst, und obwohl sie ihn hielt und seinen Namen sagte, nahmen seine Augen sie nicht wahr. Ein unverständlicher Redestrom mit Klick- und Schnalzlauten kam aus seinem Mund und verblüffte sie, bis ihr klar wurde, daß das Übersetzungsgear des Netzwerks offenbar keine Buschmannsprachen kannte.
»!Xabbu, ich bin’s, Renie. Ich kann dich nicht verstehen.« Sie kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Ein tanzender und meditierender !Xabbu war eine Sache, aber ein völlig kommunikationsunfähiger !Xabbu war eine würgende und erschreckende Vorstellung.
Die Pavianaugen kamen wieder unter den Lidern hervor, und das unverständliche Reden, flüssig und doch mit hart knackenden Lauten durchsetzt, klang zu einem Flüstern ab. Auf einmal sagte er schwach: »Renie?« Ihr Name, dieses eine Wort, war eine der schönsten Sachen, die sie je gehört hatte. »Oh, Renie, ich habe Dinge gesehen, Dinge erfahren – ich kann die Sonne wieder klingen hören.«
»Wir haben jetzt keine Zeit, darüber zu reden«, sagte sie leise. »Diese Wesen, die wir schon vorher gesehen haben – sie sind hier. Sie umringen das Lager und beobachten uns.«
!Xabbu riß die Augen weit auf, aber er schien nicht gehört zu haben, was sie gesagt hatte. »Ich war dumm.« Seine offensichtliche gute Laune war befremdlich. Renie fragte sich, ob er vielleicht ein wenig verrückt geworden war. »Ah, es ist bereits anders.« Seine Augen wurden schmal. »Aber was fühle ich da eigentlich? Was ist anders?«
»Ich sag doch, diese Wesen sind da! Sie haben uns ganz umzingelt.«
Er entwand sich ihren Armen, warf aber nur einen flüchtigen Blick auf den Ring halbmenschlicher Gestalten, ehe er sich wieder Renie zuwandte. »Schatten«, sagte er. »Aber irgend etwas ist mir entgangen.« Zu ihrer Verwunderung hielt er seine lange Schnauze dicht an ihr Gesicht und beschnüffelte sie.
»!Xabbu! Was machst du?« Sie schob ihn weg, denn sie befürchtete, jetzt, wo der Tanz des Buschmanns vorbei war, könnten die Lauscher gewalttätig werden. !Xabbu widersetzte sich nicht, sondern ging einfach um sie herum und beschnüffelte sie von der anderen Seite. Seine Affenhände strichen zart über ihre Arme und Schultern.
Die Zuschauer kamen jetzt aus dem Dickicht hervor und traten auf die Lichtung, näher an das Lager heran. Ihre Bewegungen hatten nichts Bedrohliches, aber sie waren dennoch ein furchterregender Anblick, eine Kollektion der verschiedensten Mißbildungen – zu tief sitzende Köpfe, aus dem Brustkasten wachsende Arme, zusätzliche Beine, Hände am Rücken aufgereiht wie die Knochenplatten von Dinosauriern, und sämtliche Modifikationen allem Anschein nach plump und achtlos ausgeführt. Am allerschlimmsten jedoch waren die Augen der zusammengeflickten Gestalten – stumpf vor Schmerz und Furcht drückten sie dennoch ein Bewußtsein des eigenen Leidens aus.
Kurz entschlossen wollte Renie !Xabbu packen, doch der entzog sich ihr und fuhr fort, sie zu beschnüffeln und zu befühlen und ihre Fragen zu ignorieren. Fast hätte sie vor Entsetzen und Verwirrung den Kopf verloren, da ging auf einmal ein lautes Seufzen durch die ungeheuerliche Menschenherde. Renie erstarrte in dem sicheren Gefühl, daß die Wesen im nächsten Moment angreifen würden, und gestattete es damit !Xabbu, seine Hand in ihre Tasche zu stecken.
»Ich hätte es wissen müssen«, sagte er, als er Azadors funkelndes Feuerzeug an die Morgensonne hielt. »Es sprach, doch ich hörte nicht darauf.«
Die Schar der Beobachter bewegte sich abermals, doch statt anzugreifen, zogen sie sich so rasch ins Unterholz zurück, daß es beinahe aussah, als ob sich ihre entstellten Körper verflüssigten. Renie wurde nicht daraus schlau, aus diesem scheinbar grundlosen Rückzug sowenig wie aus dem noch unbegreiflicheren Verhalten ihres Freundes.
»!Xabbu, was … was machst du?« stieß sie hervor.
»Dies ist ein Ding, das nicht hierhergehört.« Er drehte das Feuerzeug hin und her, als hoffte er, ein geheimes Zeichen zu entdecken. »Ich hätte es schon vorher wissen müssen, aber ich habe mich durcheinanderbringen lassen. Die ersten Menschen riefen mich, aber ich hörte nicht.«
»Ich versteh nicht, was du da redest!« Die mißgebildeten Kreaturen waren fort, aber ihre innere Anspannung war nicht geringer geworden. Ein Zweig knackte irgendwo in der Nähe, laut wie ein Knallkörper. Etwas stampfte durch den Urwald auf sie zu, ohne sich um Heimlichkeit zu bemühen. Renie streckte die Hand nach ihrem geistesabwesenden Freund aus, da trottete schon eine Gruppe dunkler, aufrechter Gestalten zwischen den Bäumen hervor und blieb am Rand der Lichtung stehen.
Es waren vielleicht sechs oder sieben mächtige, zottige, bärenartige Wesen, aber durchaus nicht schlicht und einfach Bären. Aschgraue Moosflecken wuchsen auf ihren Pelzen, und seitlich im Hals verwurzelte Lianen ringelten sich lebendig wie Würmer durch das Fell nach unten, wo sie im Schritt und im Knie wieder in den Leib eindrangen. Doch das Schlimmste war, daß dort, wo die Köpfe hätten sein sollen, die hirnlos grinsenden und mit zahnartigen Stacheln gesäumten Mäuler fleischfressender Pflanzen in großen, glänzenden violetten und grünen Hülsen klafften, die direkt aus ihren kurzen Hälsen sprossen.
Während diese Monster schwer schnaufend und mit ruckartig pumpender Brust abwarteten, kam noch jemand aus dem Wald gestapft und baute sich vor den Pflanzenbären auf, eine Gestalt, die zwar nicht ganz so groß, aber dennoch weitaus fülliger war als ihre Kolosse von Dienern. Die winzigen Augen funkelten vor Vergnügen, und der schlaffe Mund verzog sich zu einem Grinsen, das in verschiedenen Längen abgebrochene gelbe Hauer zum Vorschein brachte.
»So, so«, grollte der Löwe. »Da hat der Blechmann wohl schlecht funktioniert, wenn ihr ihm entwischen konntet. Aber sein Pech ist mein Glück, denn jetzt mache ich das Spiel. Ah! Das muß die Dorothy sein, und ihr … Behältnis.« Er tat einen watschelnden Schritt auf Emily zu, die wie ein verletzter Krebs wegkrabbelte; der Löwe lachte. »Herzlichen Glückwunsch zu deiner Mutterschaft, kleines Emilywesen.« Er schraubte seinen knubbeligen Kopf zu Renie und !Xabbu herum. »Ein Bildhauer hat einmal gesagt, die Statue sei bereits im Marmor enthalten, und der Künstler tue nichts weiter, als alles Überflüssige zu entfernen.« Er lachte wieder. Spucke glänzte auf der vorgeschobenen Unterlippe. »Genauso sehe ich das mit der Dorothy.«
»Was soll das alles?« ereiferte sich Renie, doch sie wußte sehr wohl, wie klein und verzagt ihre Stimme klang, wie gering ihre Kraft selbst im Vergleich zu einem der gräßlichen Pflanzenbären war. Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus. »Das ist alles ein Spiel, stimmt’s? Nichts weiter als ein grausames Spiel!«
»Aber es ist unser Spiel – mein Spiel jetzt.« Der Löwe lächelte süffisant. »Ihr seid die Eindringlinge. Und wie heißt es so schön? Unbefugte Eindringlinge werden gefressen!«
Renie zermarterte ihr Gehirn, um auf irgend etwas zu kommen, was ihnen gegen den Löwen oder den anderen Zwilling helfen könnte, aber ihr fiel nichts ein. Sie seien furchterregend, hatte Azador ihr erzählt. Sie waren auch unvorstellbar grausam.
»Ich fühle etwas«, sagte !Xabbu beinahe heiter. Renie starrte ihn fassungslos an. Er seinerseits hatte den Blick immer noch auf das Feuerzeug in seinen Händen gerichtet, als ob der Löwe, seine hirnlosen Sklaven und alles andere gar nicht existierten. »Etwas …«
»!Xabbu, die werden uns umbringen!« Bei Renies Worten wimmerte die zu ihren Füßen liegende Emily los. Durch Renies Angst zuckte ein kurzer Zornesblitz – konnte dieses Ding gar nichts anderes tun als heulen und jammern?
»Die?« !Xabbu sah auf, in Gedanken immer noch ganz woanders. »Die haben nichts zu besagen. Es sind Schatten.« Sein Blick fiel auf den Löwen, und seine Lippen kräuselten sich angewidert. »Vielleicht sind nicht alle Schatten. Aber bedeutungslos sind sie trotzdem.«
Der Löwe erblickte das Feuerzeug, und seine Raubtieraugen wurden schmäler. »Wo hast du das her?«
»!Xabbu, was wird hier gespielt?« fragte Renie fast flüsternd.
»Und noch andere Sachen habe ich falsch beurteilt.« !Xabbu faßte mit seiner freien Hand Emily am Handgelenk und zog sie auf die Füße. Sie sträubte sich, aber er stemmte sich mit gespreizten Zehen dagegen, bis er sie in die Hocke gezerrt hatte. »Ich erkläre es dir später«, sagte er, und dann: »Lauft!«
Er riß abermals an Emilys Arm, und sie stolperte in die Richtung des Flußufers. Eine Sekunde war Renie wie gelähmt, dann sprintete sie hinter ihnen her. Der Löwe brüllte keine Befehle, aber gleich darauf fühlte sie den donnernden Tritt der ihnen nachsetzenden Bärenwesen.
!Xabbu zerrte die taumelnde Emily zum Ufer und weiter in den Fluß hinein, bis ihm das Wasser an seine schmalen Affenschultern reichte. Renie nahm an, er werde versuchen hinüberzuschwimmen, aber statt dessen drehte er das Mädchen herum und schob es flußabwärts vor sich her, bevor er sich nach Renie umschaute.
»Lauft einfach in der Richtung weiter«, sagte er eindringlich. Als Renie an ihm vorbeispritzte, schwamm er zum Ufer zurück.
»Was hast du vor?«
»Sieh zu, daß Emily weiter flußabwärts geht«, rief er zurück. »Vertrau mir!«
Sie blieb abrupt stehen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. »Ich laß nicht zu, daß du dich opferst, um uns zu retten!« schrie sie. »Das ist altmodischer Schwachsinn!«
»Renie! Bitte vertrau mir!« rief er ihr aus dem Ufergebüsch zu. Die krachenden Schritte der Diener des Löwen waren schon ganz nahe.
Sie zögerte kurz. Emily war hingefallen; von der Strömung geschoben und mitgerissen hatte sie Mühe, sich wieder aufzurappeln. Renie fluchte und watete zu ihr.
Durch den Flußschlamm und das hohe Wasser kamen sie nur qualvoll langsam voran, aber Renie sah, daß zumindest !Xabbus erste Idee gut war – sie waren immer noch schneller als der Löwe und seine riesigen Kreaturen, die sich mühsam den Weg durch das Dschungeldickicht bahnen mußten. Sie wußte auch, daß es letzten Endes sinnlos war. Schon jetzt rang sie nach Atem, und Emily würde nur noch wenige Minuten durchhalten, während sie keinen Zweifel hatte, daß ihre Verfolger praktisch nicht müde werden konnten. Wenn !Xabbu hoffte, sie könnten bis zur nächsten Übergangsstelle waten, die womöglich zwanzig oder dreißig Kilometer entfernt war, dann war das zwar sehr tapfer, aber leider völlig aussichtslos.
Der Löwe hatte ihre Taktik durchschaut. Eines seiner Bärenmonster brach aus dem Unterholz hervor auf die Uferböschung, die unter seinem Gewicht abbröckelte und ihm einen Sturz in den Fluß bescherte, aber am ganzen moosigen Leib triefend tauchte es sofort wieder auf, schnappte mit dem Stachelmaul seines augenlosen Pflanzenkopfes in ihre Richtung und verfolgte sie mit erschreckender Schnelligkeit durch das seichte Wasser. Renie erhöhte das Tempo, wobei sie Emily halb tragen mußte, die sich kaum noch aufrecht halten konnte, aber sie hörte die platschenden Geräusche hinter sich näher kommen, begleitet von den donnernden Schritten der Verfolger, die sich am Ufer durch den Dschungel pflügten.
Ihre Beine waren schon gefährlich butterig geworden, als sie einen dünnen graubraunen Arm erspähte, der unmittelbar vor ihr von einem Baumast winkte.
»Hier lang!« rief !Xabbu. Sie stolperten auf den Ast zu, und er packte Emily und half ihr ans Ufer hoch. Das Ungetüm hinter ihnen zeigte weder durch Brüllen, Zischen oder sonst etwas eine Reaktion, aber es ließ sich nach vorn fallen, so daß es auf allen vieren waten konnte, und wurde dadurch noch schneller. Der gräßliche Pflanzenkopf durchfurchte das Wasser wie der Bug eines Tankers.
Renie und Emily quälten sich hinter !Xabbu her die Böschung hinauf und durch die dichten Zweige.
»Ich dachte mir, ich würde im Wald schneller vorankommen als ihr«, erklärte er, während sie sich einen Weg in den Dschungel hinein bahnten.
»Aber wo wollen wir hin? Denen entkommen wir nie.«
»Hierhin«, sagte er, wobei er anhielt und der weinenden Emily half, sich von einer Schlingpflanze loszumachen. Auch er keuchte, doch seine Stimme war merkwürdig ruhig. »Nur noch wenige Schritte. Ah, da wären wir.«
Sie humpelten auf eine kleine Lichtung, die mit abgefallenen dürren Zweigen und einer herbstlichen Laubschicht bedeckt war. Lichtpfeile schossen durch das Astwerk und die herabhängenden Kletterpflanzen wie durch das Fenster eines Doms. Die Geräusche der Verfolger waren furchtbar nahe.
»Aber hier ist nichts.« Renie sah ihren Freund verzweifelt an und fragte sich, ob die Strapazen ihn zuletzt um den Verstand gebracht hatten. »Gar nichts!«
»Da hast du recht«, sagte er und hob seine kleine Hand. Hinter ihnen kam schon der erste der Pflanzenbären angeschwankt und schlug sich mit roher Gewalt zwischen den Bäumen den Weg frei. »Hier ist genau das Nichts, das wir suchen … du mußt nur richtig hinschauen.«
Eine goldene, wie geschmolzen aussehende Lichtsäule flackerte vor ihnen auf, eine kompakte Helix mit endlosen Windungen. Einen Augenblick später wurde sie flach und nahm die Form eines Rechtecks an. Renie konnte innerhalb der vier geraden Seiten nichts erkennen als verfließende Farben, die an einen Regenbogen in einer radioaktiven Seifenblase denken ließen. !Xabbu nahm erst Emily und dann Renie fest an der Hand und führte sie darauf zu.
»Wie hast du …?« begann sie. Allmählich überraschte sie gar nichts mehr.
»Ich erzähle es dir später. Jetzt müssen wir uns beeilen.«
Zwei weitere Pflanzenbären waren hinter dem ersten erschienen, und unmittelbar hinter diesen tauchte undeutlicher, aber nicht weniger drohend die Gestalt ihres Herrn auf. Der Löwe schrie den Flüchtlingen etwas zu, aber sein verzerrtes, tierisches Brüllen machte seine Worte unverständlich. »Wir kriegen Emily nicht aus ihrer Simulation raus«, keuchte Renie gehetzt. Ihnen blieben nur noch Sekunden. »Aber wenn wir sie hierlassen, schnappen sie sie. Töten sie, reißen ihr Baby an sich.«
!Xabbu schüttelte den Kopf und hörte nicht auf, sie beide weiterzuziehen. Renie suchte Emilys Blick, wollte ihr sagen, wie leid es ihr tue, aber das mit hängendem Kopf willenlos dahinstolpernde Mädchen war grau vor Erschöpfung. Hoffentlich, dachte Renie, ist es rasch und schmerzlos, was ein System mit einem Replikanten macht, der die Simwelt verlassen will. Vielleicht versetzte es Emily ja in einen anderen Teil von Kansas.
Doch schon umgab sie das Leuchten des Gateways, ein flammender plasmatischer Sonnenfleck, der keine Wärme abgab, und das wütende Brüllen des Löwen wurde abgeschnitten.
Ihr Sturz endete auf einer festen Unterlage, die in einem normalen Universum der Erdboden gewesen wäre. Statt dessen war sie eine holprige, aus diversen Teilelementen zusammengestückte Fläche, schräg wie ein Berghang. Der Grund, wenn man von einem solchen sprechen konnte, war ein eigentümliches Flickwerk, in dem die verschiedensten Farben träge von einem Teilstück zum anderen liefen und von gezackten Adern in einem matten, stumpfen Weißton durchschnitten waren, Knochen ähnlich, die durch eine aufgerissene Haut bleckten. Aber am befremdlichsten war, daß viele Stellen dieser surrealen Umgebung – und erschreckenderweise auch die ganze weite Fläche, die der Himmel hätte sein müssen – gar keine Farbe hatten. Aber keine Farbe, erkannte sie, bevor ihr der Anblick zuviel wurde und sie die Augen schließen mußte, war nicht schwarz oder weiß und auch nicht das Grau der Signalstille. Es war schlicht und einfach … keine Farbe.
»Meine Güte«, stöhnte Renie nach einer längeren Pause halb ehrfürchtig und halb entsetzt. »Wo sind wir, !Xabbu? Und wie hast du das angestellt?« Sie machte die Augen einen Spalt weit auf und sah sich nach ihrem Freund um. Was sie am Rand ihres Gesichtsfeldes an Landschaft erblicken konnte, waren schroffe Umrisse mit Andeutungen von klotzigen, unförmigen Dingen, die Berge oder Bäume darstellen mochten, aber schon vom bloßen Hinschauen tat ihr der Kopf weh.
!Xabbu lag auf der Seite, seine schmale Brust bewegte sich kaum. Seine Pupillen waren nach hinten unter die Lider gerutscht.
Renie kroch zu ihm hin. Der Boden unter ihm besaß visuelle Tiefe, als ob der Pavian auf einer Glasscheibe über einem bewölkten Himmel lag. Einen Moment lang hatte sie die schwindelerregende Gewißheit, daß sie und er durch das Glas hindurch ins Nichts stürzen würden, doch der unsichtbare Grund war so hart und fest wie gestampfte Erde.
»!Xabbu?« Er gab keine Antwort. Sie schüttelte ihn, sanft zunächst, aber dann immer heftiger. »!Xabbu, sag doch was!«
Hinter ihr ertönte ein Geräusch. Verteidigungsbereit fuhr Renie herum.
Emily 22813 rappelte sich mit großen Augen in eine sitzende Haltung auf.
»Aber … aber wie kann das sein, daß du hier bist?« staunte Renie das Mädchen an. An einem Tag voller Überraschungen war das eine zuviel. »Es sei denn … wir sind noch in Kansas … aber das glaube ich nicht.« Sie wurde nicht daraus schlau. »Herrje, es ist auch egal. Hilf mir mit !Xabbu! Ich glaube, er ist verletzt oder krank.«
»Wer bist du?« Die Frage klang ernst gemeint. Emilys Stimme war dieselbe, aber der Tonfall hatte sich irgendwie verändert. Die Augen in ihrem hübschen, kindlichen Gesicht verengten sich. »Und wieso macht dein kleiner Affe das?«
Renie wirbelte herum und sah, daß !Xabbus Glieder sich unter heftigen Zuckungen versteiften. Er hatte Schüttelkrämpfe.
»O Gott«, schrie sie. »So hilf doch jemand!«
Nirgendwo in der unfertigen Landschaft regte sich etwas. Sie waren allein.