Kapitel

 

Ein Arbeitstag

 

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Pilker fordert neue Legislative

(Bild: Pilker vor dem Capitol)

Off-Stimme: Reverend Daniel Pilker, Führer der fundamentalistischen Christenvereinigung Kingdom Now, hat Verfassungsklage gegen die Vereinigten Staaten eingereicht, weil seiner Meinung nach ein weiteres gesetzgebendes Haus gebildet werden sollte.

Pilker: »Wir haben ein Repräsentantenhaus, einen Wirtschaftssenat. Wir haben alle möglichen besonderen Interessengruppen, die sich dort Gehör verschaffen. Aber wo bleibt die Vertretung der gottesfürchtigen Amerikaner? Solange es nicht auch einen Kirchensenat gibt, der Gesetze speziell im Hinblick auf Gott erlassen und auslegen kann, werden große Teile des amerikanischen Volkes weiterhin im eigenen Lande als Entrechtete leben …«

 

 

> Die Vorstädte glitten vorbei und wurden von den Hügeln und ihren Siedlungen abgelöst, Pendlerdomizilen Seite an Seite neben nicht fertiggestellten Neubauten, die im weißen Morgen wie tote Museumsstücke in der Landschaft standen. Die weichen Schatten wurden immer kleiner, je höher die Sonne gegen Mittag stieg, ganz als ob das helle Licht am Himmel alle Dunkelheit in Nichts auflösen könnte.

»Und mit einem Anruf wäre das nicht zu erledigen gewesen?«

»Ich muß diesen Ort sehen, Stan. Punkt. Das ist einfach so.«

»Erklär mir das nochmal – Polly Merapanui kam von hoch oben im Norden. Sie war ein Straßenmädchen in Kogarah und wurde unter einem Sidneyer Highway getötet. Warum genau fahren wir dann in die Blue Mountains, also ganz woanders hin?«

»Weil sie mal dort wohnte.« Calliope überholte einen Lastwagen, der zertrümmerte Betonbrocken transportierte und ungefähr so schnell fuhr, wie man es erwarten würde. »Fast ein Jahr lang, nachdem sie aus Darwin weggezogen war. Du weißt das genau – es steht in den Akten.«

»Ich versuch bloß, meinen Kopf dahin zu tun.« Er schürzte die Lippen und beobachtete, wie das nächste staubtrockene Städtchen am Fenster vorbeistrich. »Wir hätten nicht einfach anrufen können? Ich bin nicht grade versessen drauf, auch noch an meinen seltenen freien Tagen Polizeikram zu machen, Skouros.«

»Als ob du sowas wie ein Privatleben hättest. Abgesehen davon hat ihre Stiefmutter keinen Anschluß. Nichts mit Netzzugang.«

»Crème de la crème.«

»Du bist ein Snob, Stan Chan.«

»Ich versuch bloß, mich auf der langen Fahrt ein wenig zu unterhalten.«

Calliope machte das Fenster auf. Die Hitze hatte ein wenig nachgelassen; eine leichte Brise fächelte durch das gelbe Gras auf den Hängen. »Ich muß einfach irgendwo anfangen, Stan. Ich brauche … was weiß ich, ein Gefühl, irgendwas.«

»Diese Leute haben sie in den zwei Jahren vor ihrem Tod nicht mal zu Gesicht bekommen. Und wenn ihre Mama kein Fon im Cot gehabt hat, dann hat Babymaus auch nicht heimgecallt, stimmt’s?«

»So unecht wie dich hab ich noch nie jemand Slang reden hören. Nein, sie ist nicht aufgetaucht, hat sich nicht gemeldet, abgesehen von ein oder zwei gebührenfreien Anrufen beim Arbeitgeber ihrer Stiefmutter. Aber man kannte sie dort, und in Kogarah haben wir niemanden aufgetrieben, der das von sich behaupten konnte.«

»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, daß das ein Haufen Aufwand für einen miesen Fall sein könnte?«

Calliope stieß mit einem zornigen Schnauben den Atem aus. »Herrje, das denke ich ständig, Stan. Laß mich das jetzt probieren, und wenn nichts dabei rauskommt, können wir darüber reden, ob wir die Sache hinschmeißen. Okay?«

»Okay. Sind wir bald da?«

»Halt den Mund.«

 

Aus den Hügeln waren Berge geworden, schroffe Zinnen aus verwittertem Fels, umstachelt von Eukalyptus und immergrünen Bäumen. Calliopes kW-schwaches Auto war inzwischen selbst hinter den Betonlaster zurückgefallen und machte beim Steigen Geräusche wie eine automatische Laufpuppe, die in einer Ecke festhing.

»… Hör zu, Stan, ich sage nichts weiter, als daß einer, der sowas macht wie dieser Kerl – Steine in die Augenhöhlen, die ganzen Stich- und Schnittwunden –, eine Rechnung zu begleichen haben muß, oder er ist ein Sadist, wie er im Buche steht, und die Sorte hört nicht gleich auf, wenn’s das erste Mal geklappt hat. Das heißt, entweder gibt es jemanden in ihrer Vergangenheit, den wir aufspüren müssen, oder irgendwo da draußen läuft ein unerkannter Serienmörder rum. In Kogarah weiß kein Mensch was von ’ner alten Rechnung, nicht mal was von ’nem Freund oder so. Im IntPolNetz schauen hat auch nichts gebracht.« Sie trank ihre Plastikflasche leer und warf sie über die Schulter auf den kleinen Rücksitz.

»Wonach suchen wir also? Nach irgendeinem, der ihr von dort in die Großstadt folgte, ihr zwei Jahre lang nachschlich und sie dann abmurkste? Sehr phantasievoll, Skouros.«

»Das weiß ich selber. Verdammt, war das die Abfahrt nach Cootalee?«

»Auf der Straße gefixt, auf der Straße gesext, auf der Straße geext.«

»Meine Fresse, Stan, hörst du vielleicht mal auf, wie ein Bulle zu reden? Ich kann diesen Scheiß nicht ausstehen.«

»Wie hättest du denn gern, daß ich rede?« Er verstummte kurz, als sie ein zweifellos verbotenes Wendemanöver über zwei leere Autobahnspuren und einen grünen Mittelstreifen vollführte. »›Calliope Skouros, du hast mein Herz im Sturm erobert. Ich bin verrückt nach dir. Bitte, laß mich dich wegbringen von diesem ganzen schmutzigen Rauben und Morden …‹?«

»Oh, wir wären bestimmt ein tolles Gespann – eine griechische Lesbe und eine sinoaustralische Schwuchtel.«

Er entblößte seine sehr guten Zähne zu seinem sonnigsten Lächeln. »Ich setze dich hiermit davon in Kenntnis, daß ich mit Sicherheit, man könnte vielleicht sogar sagen mit Leidenschaft, keine Schwuchtel bin.«

»Das macht die Chancen auch nicht besser, Chan.« Sie warf ihm einen raschen, besorgten Blick zu. »Das war ein Witz eben, nicht wahr? Du bist nicht wirklich hoffnungslos in deine leider nicht zu vergebende Kollegin verschossen, oder?«

»Ein Witz.«

»Oh, gut.«

Sie fuhren eine Weile schweigend dahin und warteten auf die bereits ausgeschilderte Ausfahrt nach Cootalee. Sie machte sich am Autosystem zu schaffen, aber nach einer Weile stellte sie die Musik wieder ab. »Hör mal, kennst du den schon?« fragte sie. »Adam und Eva und Zwickmich gingen zum Fluß, um zu baden. Adam und Eva ertranken – wer von den dreien konnte sich retten?«

»Sind wir bald da?«

»Komm schon, Stanley, wer?«

»Wer was?«

»Wer von den dreien konnte sich retten?«

»Wer steht nochmal zur Auswahl?«

»Du spielst bloß wieder das Arschloch, was? Adam und Eva und Zwickmich.«

»Ich würde vermuten … Adam.«

»Quatsch! Zwickmich! – Autsch! Herrgott, du bist ein Scheißkerl, Chan.«

»Du hast soeben die Ausfahrt Cootalee verpaßt.«

»Ich denke, ich sollte dir mitteilen«, sagte sie fünfzehn Sekunden später, während sie abermals über den Mittelstreifen kurvte, »daß ich unsere Verlobung hiermit als gelöst betrachte.«

 

»Sie ist weg?«

Die um die Tür des Trailers lugende Frau hatte den beleidigten Blick einer zu Unrecht Beschuldigten. »Wie oft soll ich das noch sagen? Sie ist vor einem Monat abgehauen.«

»Wohin?« Calliope blickte zu Stan Chan hinüber, der die unter den Trailer gestellten Klötze begutachtete, als wären sie eine bautechnische Leistung, die sich mit dem Pantheon messen könnte. Die Frau ihrerseits beobachtete Stan Chan mit großem Mißtrauen, als könnte er eben diese Klötze aus ölbeschmiertem Holz jeden Moment wegreißen und damit davonlaufen.

»Woher soll ich das wissen? Ich hab die Schlampe nicht gekannt, nur ihr verdammter Hund hat mich die ganze Nacht wachgehalten. Die soll bloß nicht wiederkommen.«

»Wie gesagt«, meinte Stan einige Minuten später, als sie langsam aus dem Trailerpark hinausrollten. »Crème de la crème.«

»Ich hoffe, ihr Arbeitgeber hat ’ne Idee«, sagte Calliope verdrossen. »Oder du wirst mit deinem Geunke über die Fahrt hierher leider allzu recht behalten. Einmal in deinem Leben.«

Die Adresse aus den Akten, verzeichnet als Arbeitsplatz von Polly Merapanuis Stiefmutter, stellte sich als ein bescheidenes Häuschen am anderen Ende von Cootalee heraus. Ein mächtiger Eukalyptusbaum breitete seine Äste über den größten Teil des Vorgartens aus. In seinem gesprenkelten Schatten bespritzten sich zwei dunkelhäutige Kinder kreischend mit einem Schlauch, und ein kleiner brauner Hund sprang begeistert um sie herum und bellte aufgeregt.

Die Tür wurde von einer Aboriginefrau geöffnet, die eine Brille trug und eine Schürze umgebunden hatte. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, während sie Calliopes Dienstausweis in Augenschein nahm, und sagte dann: »Kommt rein. Ich hole meinen Mann.«

Der Mann, der sich noch das Hemd zuknöpfte, als er aus dem Hinterzimmer erschien, trug seine schwarzen Kräuselhaare unpassend jugendlich hochfrisiert. Mit seinem langen, schmalen Bart sah er aus wie ein Porträt aus der flämischen Schule. »Guten Tag. Ich bin Pastor Dennis Bulurame. Was kann ich für euch tun?«

»Diese Adresse wird bei uns als Arbeitsplatz von Lily Ponegarra geführt, vormals Lily Merapanui. Wir wollten uns mit ihr unterhalten.«

»Ach so. Sie ist leider nicht mehr hier, aber sie hat in der Tat für mich gearbeitet. Na, eigentlich für die Kirche. Kommt mit in mein Arbeitszimmer. Vielleicht nehmt ihr euch den Stuhl da mit.«

Das Arbeitszimmer von Pastor Bulurame war ein ziemlich kleiner Raum, der wenig mehr enthielt als seinen Schreibtisch, einen billigen Wandbildschirm und eine Reihe von Plakaten, auf denen kirchliche Veranstaltungen – Basare, Konzerte, Feste – angekündigt wurden. »Lily hat für die Kirche geputzt und manchmal auch für uns.«

»Hat? Jetzt nicht mehr?« fragte Calliope.

»Na ja, sie ist fort. Weggezogen. Hat einen Mann kennengelernt und ist mit ihm auf und davon.« Er schüttelte den Kopf und setzte ein wehmütiges Lächeln auf. »Es gab hier sowieso nicht viel, was sie hielt. Reich geworden ist sie nicht mit dem, was sie bei der Kirche verdient hat.«

»Weißt du, wo sie hingezogen ist? Kennst du den Namen des Mannes?«

»Billy, Bobby, irgend so was. Das ist alles, was ich weiß – wahrscheinlich nicht sehr hilfreich, was? Und sie hat auch nicht gesagt, wo sie hinzieht, bloß daß sie beide weg wollten. Immerhin hat sie sich entschuldigt, daß sie die zwei Wochen Kündigungsfrist nicht eingehalten hat. Steckt sie in Schwierigkeiten?«

Stan Chan musterte die Plakate. Er mußte zur Seite treten, um die Frau des Pastors, die ein Tablett mit Limonade und drei Gläsern brachte, durch die Tür zu lassen. »Nein. Wir wollten ihr bloß ein paar Fragen wegen ihrer Tochter stellen.«

»Wegen ihrer …?« Es dauerte einen Moment. »Polly? Nach so langer Zeit?« Bulurame schüttelte den Kopf. »Schrecklich. Aber ich hatte es fast schon vergessen. Seltsam, daß etwas so Furchtbares einem entfallen kann. Lily war damals am Boden zerstört. Das Mädchen war alles, was sie hatte.«

»Er ist nie gefaßt worden, nicht wahr?« schaltete sich Frau Bulurame ein. »Dieser erzteuflische Teufel, der sie umgebracht hat.«

»Habt ihr jemanden verhaftet?« Der Pastor beugte sich vor. »Seid ihr deshalb hier? Um für die Anklage zu ermitteln?«

»Nein, leider nicht.« Calliope nahm einen Schluck Limonade, die mehr Zucker hätte vertragen können. Sie entkräuselte den Mund und fragte: »Hat einer von euch Polly gekannt?«

»Eigentlich nicht. Mal auf der Straße oder im Laden gesehen, aber zu der Zeit hatte Lily die Stelle bei uns noch nicht. Auf den Gedanken, die Kirche könnte ein regelmäßiges Reinemachen vertragen, bin ich ja zum Teil auch deswegen gekommen, weil der Mord ein so harter Schicksalsschlag für sie war, verstehst du? Damit sie was zu tun hatte. Finanziell ging es ihr auch nicht gerade rosig. Es gibt Leute, die haben mit den Zahlungen nach dem zweiten Landbesiedlungsgesetz was angefangen, Detective, aber andere wie Lily, die… na ja, denen rann das Geld einfach durch die Finger.« Dem war deutlich zu entnehmen, daß der Herr Pastor und seine Frau zu denen gehörten, die das einzig Richtige getan und ihre Entschädigung in ein hübsches Häuschen und eine Heimstation investiert hatten, mit der sie sämtliche Netzkanäle bekommen konnten.

Calliope seufzte innerlich. Von diesem leutseligen, selbstzufriedenen Mann würden sie bestimmt kaum etwas Brauchbares zu hören bekommen. Sie zwang sich, die restlichen Fragen zu stellen, die sie noch auf ihrer Liste hatte, während Stan Chan Limonade schlürfte und so tat, als gäbe es für ihn nichts Faszinierenderes auf der Welt als Ankündigungen von Kuchenbasaren. Die Ergebnisse waren so entmutigend, wie sie gedacht hatte: Die Bulurames wußten nichts von möglichen Freunden der Tochter und konnten nicht einmal sagen, ob die Stiefmutter noch Freunde in der Stadt hatte, die etwas über die Familiengeschichte wissen konnten.

»Lily ist nicht viel ausgegangen«, erklärte der Pastor. »Deshalb war dieser Mann – nun ja, ich glaube nicht, daß es eine tiefe seelische Verbindung war, wenn du verstehst, was ich meine. Sie ist beinahe ein wenig einfältig, unsere Lily, Gott steh ihr bei – ich fürchte, daß sie leicht auszunutzen ist.«

Calliope bedankte sich, daß er sich die Zeit genommen hatte. Er stand nicht auf. Als seine Frau sie hinausließ und Stan säuerlich guckte, weil er wieder an den schlauchschwenkenden Kindern vorbeimußte, drehte Calliope sich noch einmal um.

»Du sagtest vorhin, ›dieser erzteuflische Teufel‹, Frau Bulurame. Was hast du damit gemeint?«

Die Frau des Pastors riß ihre braunen Augen weit auf, als ob Calliope etwas völlig Widersinniges gefragt hätte – etwa ob sie gern nackt mit dem Fallschirm springe. »Oh! Na, es … es ist genau wie in dem Märchen, nicht wahr?«

»Märchen?«

»Ich habe es als kleines Mädchen erzählt bekommen, von meiner Großmutter. Über den Woolagaroo. Den erzteuflischen Teufel mit den Krokodilszähnen. Jemand machte ihn, schnitzte ihn aus Holz, aber als Augen hatte er Steine. Genau das, was der armen kleinen Polly passiert ist.«

 

Anderthalb Stunden später, nachdem sich auch alle anderen Fährten als so unfruchtbar erwiesen hatten wie der Straßenstaub, der sich auf Calliopes Dienstwagen gesammelt hatte, fuhren sie wieder aus Cootalee ab.

»Woolagaroo«, sagte sie. »Kennst du dich mit Aboriginemythen aus, Stan?«

»Klar doch. Das war überhaupt ein ganz wichtiger Teil meiner Ausbildung an der Polizeischule, Skouros. Wir haben täglich Stunden damit zugebracht, Geschichten vom Bunyip und ›Wie das Känguruh springen lernte‹ zu lesen. Wenn danach noch Zeit blieb, haben wir manchmal ein paar Schießübungen dazwischengequetscht. War es bei dir nicht genauso?«

»Ach, sei still. Ich fasse das als Nein auf.« Sie stellte die Musik an, ein modernes Stück von jemandem, dessen Namen sie sich nie merken konnte, heruntergeladen von einer nachmitternächtlichen Sendung. Verhalten und bittersüß tönte die Musik durch das Auto wie ein Konzert neben einem japanischen Zierteich. Stan Chan schloß die Augen und klappte seinen Sitz nach hinten.

Woolagaroo. Calliope spürte dem Klang des Wortes nach. Erzteuflischer Teufel. Steine als Augen, genau wie in dem alten Märchen, hat sie gesagt.

Natürlich war das nichts. Aber ein Nichts, das ein klein wenig besser war als alles bisher.

 

 

> »Gerade als Anwalt, Herr Ramsey, hast du sicher Verständnis dafür, daß wir die Privatanschlüsse unserer Darsteller oder sonstige privaten Informationen nicht weitergeben können. Völlig ausgeschlossen. Unmöglich.« Auch während sie ihm diese Abfuhr erteilte, veränderte sich das Lächeln der PR-Frau nicht. Überhaupt, mit dem schimmernden, animierten Onkel-Jingle-Poster über der ganzen Wand hinter ihr und dem dazugeschalteten kleinen Fenster, in dem die Live-Übertragung der Sendung lief, war ihr eingefrorenes, professionelles Grinsen so ziemlich das einzige, was sich auf Catur Ramseys Wandbildschirm nicht bewegte.

»Ich will ihren Privatcode gar nicht haben, Frau Dreibach. Aber ich muß sie in einer überaus wichtigen Angelegenheit sprechen, und sie hat auf keine meiner Mitteilungen über die sonstigen Kanäle reagiert.«

»Das ist ihr gutes Recht, nicht wahr, Herr Ramsey?« Das Lächeln verlor ein wenig von seiner Maskenhaftigkeit – vielleicht wehte sie der leise Hauch einer Sorge an. »Wenn es dabei um rechtliche Dinge geht, solltest du dich da nicht lieber direkt an unsere Rechtsabteilung wenden?«

Im Live-Fenster wurde Onkel Jingle gerade von einem Wal verschluckt, jedenfalls wäre es zweifellos ein Wal gewesen, wenn diese Tiere aus Plastahlplatten gefertigt würden. Ramsey hatte im Laufe der letzten Woche genug Onkel Jingle geguckt, um zu wissen, daß diese Kreatur der Walzen-Wal genannt wurde. Onkel Jingles melodramatisches Entsetzen war kein rein vergnüglicher Anblick. Was dachten sich Kinder eigentlich, wenn sie sowas sahen? »Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt«, sagte er und riß sich von dem miniformatigen Spektakel los. »Olga Pirofsky hat nichts Unrechtes getan. Meine Mandanten haben nicht das geringste an Onkel Jingles Dschungel oder der Obolos Entertainment Corporation auszusetzen. Wir möchten einfach mit Frau Pirofsky über eine Sache reden, die für meine Mandanten sehr wichtig ist, und ich bitte dich um deine Hilfe, weil sie meine Anfragen nicht beantwortet.«

Frau Dreibach betätschelte ihre helmartige Hochglanzfrisur. Sie wirkte erleichtert, aber noch nicht völlig überzeugt. »Das freut mich zu hören, Herr Ramsey. Obolos ist auf dem Kinderunterhaltungssektor weltweit führend, mußt du wissen, und wir möchten nicht, daß gegenstandslose Gerüchte über irgendwelche Rechtsprobleme überall in den Netzen kursieren. Aber ich wüßte nicht, wie ich dir helfen könnte. Ich kann schließlich keine unserer Beschäftigten zwingen, deinen Anruf entgegenzunehmen.«

»Überleg bitte mal, ob dir nicht doch irgendwas einfällt. Könnte ihr jemand eine Nachricht von mir persönlich überbringen? Frau Pirofsky versichern, daß sie meinen Mandanten in einer sehr wichtigen Angelegenheit helfen könnte, ohne daß sie das mehr kostet als die paar Minuten für meinen Anruf?«

»Na ja …« Die PR-Frau hatte ihre kurze Anwandlung von Skepsis überstanden und schien jetzt über Kompromißmöglichkeiten nachzudenken. »Wir würden dich ungern mit dem Gefühl gehenlassen, daß wir hier vom ›Lustigsten Kanal im Netz‹ nicht unser Bestes getan hätten. Ich könnte dir den Dienstanschluß der Programmdirektorin geben, denke ich. Vielleicht kann sie … ups, diese Woche ist es ja ein Er!« Sie zog ein »Wie-dumm-von-mir!«-Gesicht, das zehn Punkte von ihrem IQ abzog und ihrem Aussehen beinahe genauso viele Jahre dazuschlug. »Vielleicht könnte er deine Mitteilung an Olga weiterleiten. An Frau Pirofsky.«

»Vielen Dank. Das wäre großartig, Frau Dreibach. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr du mir geholfen hast.«

Sie verstummte wieder, während sie in ihrer Liste nachschaute. An der Wand hinter ihr schlug Onkel Jingle ein endloses Rad, immer wieder herum und herum und herum.

 

Der Anruf kam kurz vor zehn, als er gerade dachte, er wäre vielleicht tatsächlich so weit, nach Hause gehen zu können. Er seufzte und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. »Annehmen.«

Die Verbindung war ohne Bild. Die Stimme klang sehr, sehr zögernd und hatte einen ganz schwachen Akzent, der ihm bei der Onkel-Jingle-Sendung niemals aufgefallen war. »Hallo? Ist dort jemand namens … Ramsey?«

»Decatur Ramsey, Frau Pirofsky. Am Apparat. Vielen herzlichen Dank, daß du mich zurückrufst. Ich weiß es wirklich zu schätzen, daß du als vielbeschäftigte Frau dir die Zeit…«

»Was willst du?«

Peng. Die Höflichkeitsfloskeln konnte er sich also sparen. Der Programmchef hatte schon zu verstehen gegeben, daß sie ein wenig wunderlich sei. »Ich bin Anwalt – ich hoffe, das wurde dir mitgeteilt. Ich möchte dir gern ein paar Fragen im Namen meiner Mandanten stellen.«

»Was sind das für Mandanten?«

»Ich bin leider nicht befugt, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt preiszugeben.«

»Ich habe niemandem was getan.«

»Das behauptet auch niemand, Frau Pirofsky.« Lieber Himmel, dachte er, diese Frau ist nicht bloß wunderlich – sie hört sich verängstigt an. »Bitte, hör dir einfach die Fragen an. Wenn du sie nicht beantworten willst, mußt du mir das bloß sagen. Versteh mich nicht falsch – du tätest meinen Mandanten einen Riesengefallen, wenn du ihnen helfen würdest. Sie stehen vor einem außerordentlich schwierigen Problem und sind völlig verzweifelt.«

»Wie kann ich ihnen helfen? Ich weiß ja nicht mal, wer die Leute sind.«

Er holte tief Luft und betete zum Gott der Zeugenvernehmung um Geduld. »Ich stelle dir einfach die erste Frage. Hast du schon einmal vom sogenannten Tandagoresyndrom gehört?«

Ein langes Schweigen trat ein. »Weiter«, sagte sie schließlich.

»Wie, weiter?«

»Ich möchte alle deine Fragen hören, dann entscheide ich, ob ich darauf antworte.«

Catur Ramsey war schon halb überzeugt, daß er an jemand mit einem leichten Dachschaden geraten war – eine von der Sorte, die glaubte, daß die Regierung irgendwo eine Horde grüner Männchen versteckt hielt oder daß die Geheimdienste ihr Sachen ins Gehirn beamten –, aber da der Fall seiner Mandanten selber eigenartig genug war, bestand zumindest eine hauchdünne Chance, daß er auf der richtigen Spur war.

»Ich kann dir die übrigen Fragen im Grunde nicht stellen, solange ich nicht die Antwort auf die erste habe«, erläuterte er. »Sie wären wahrscheinlich ungefähr so: ›Kennst du jemanden, der es hat? Wenn nicht, warum interessierst du dich dann für diese und verwandte gesundheitliche Schädigungen?‹ Verstehst du, Frau Pirofsky? So ähnlich. Aber vorher muß ich die erste Antwort haben.«

Diesmal dauerte das Schweigen noch länger. Er überlegte schon, ob sie vielleicht lautlos aus der Leitung gegangen war, als sie mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war, unvermittelt fragte: »Woher … woher weißt du, daß ich mich mal für die Tandagorekrankheit interessiert habe?«

Mein Gott, dachte er. Ich habe diese arme Frau fast zu Tode erschreckt.

»Die Sache ist kein Geheimnis, Frau Pirofsky. Nichts Zwielichtiges. Ich stelle für meine Mandanten Nachforschungen über dieses Syndrom an. Ich kontaktiere jede Menge Personen, die bei den Mednetzen um Informationen gebeten haben oder Artikel darüber geschrieben haben oder derzeit nicht diagnostizierte Krankheiten in der Familie haben, die dem Tandagoreprofil ähneln. Du bist beileibe nicht die einzige Person, mit der ich mich in Verbindung gesetzt habe.« Aber du bist gewiß eine der interessantesten, dachte er bei sich, da du im Netz und zudem direkt mit Kindern arbeitest. Außerdem bist du so aberwitzig schwer zu erreichen wie sonst kaum jemand.

»Ich habe diese schrecklichen Kopfschmerzen«, sagte sie und fügte dann rasch hinzu: »O Gott, jetzt wirst du denken, ich bin eine Verrückte. Oder daß ich einen Gehirntumor oder so was habe. Aber das stimmt nicht. Die Ärzte sagen, daß sie nichts feststellen können.« Sie schwieg einen Moment. »Du wirst mich sogar für noch verrückter halten, aber ich kann nicht am Telefon mit dir darüber reden.« Sie lachte nervös. »Ist dir schon mal aufgefallen, daß kaum einer mehr ›Telefon‹ sagt? Wahrscheinlich bedeutet das, daß ich langsam wirklich alt werde.«

Ramsey hatte Mühe, den sprunghaften Einfällen zu folgen. »Du willst nicht am … am Telefon reden. Ist das richtig?«

»Vielleicht könntest du mich besuchen?«

»Ich bin mir nicht sicher, Frau Pirofsky. Wo wohnst du? Irgendwo in der Nähe von Toronto, stimmt’s?« Er hatte eine fünf Jahre alte Netznotiz über sie gefunden, ein Kurzporträt aus einem kleinen Netzmagazin.

»Ich wohne …« Sie stockte abermals, und mehrere Sekunden Schweigen folgten. »O nein. Wenn du entdeckt hast, daß ich nach dieser Tandagoresache geforscht habe, dann heißt das … dann heißt das, daß jeder das herausfinden kann.« Ihre Stimme am anderen Ende wurde leiser, als ob sie vom Mikro zurückgetreten oder in ein Loch gefallen wäre. »O Gott«, murmelte sie. »Ich muß aufhören. Ich kann nicht reden.«

»Frau Pirofsky, bitte …«, begann er, aber die Verbindung brach ab.

Er starrte eine Weile den dunklen Bildschirm an, bevor er sein Hintergrundbild wieder anstellte. Er fragte sich, was er drangeben konnte, um Zeit für einen Abstecher nach Kanada herauszuschinden, und wie ihm hinterher wohl zumute wäre, wenn die Frau sich als so labil herausstellte, wie sie klang.

 

Jaleel Fredericks war einer von den Menschen, die einem den Eindruck gaben, daß man sie gerade aus etwas wirklich Wichtigem herausgerissen habe – daß sie selbst auf die Mitteilung, ihr Haus sei am Abbrennen, ein wenig überrascht und unwillig reagieren würden, weil sie schließlich weiß Gott andere Sorgen hatten.

»Entschuldige, Ramsey, aber ich bin müde«, sagte er. »Unterm Strich heißt das, daß du noch nichts Greifbares hast. Habe ich recht?«

»Im Prinzip.« Es war taktisch unklug, Fredericks mit Ausflüchten zu kommen, aber man durfte sich auch nicht einfach von ihm plattwalzen lassen. Er war ein guter Kerl, hatte Catur Ramsey vor langem entschieden, doch er war es gewohnt, sich die Leute so hinzubiegen, wie sie ihm paßten. »Aber man muß das Dickicht roden, bevor man anfangen kann, das Blockhaus zu bauen.«

»Bestimmt.« Er runzelte die Stirn über eine eingestreute Bemerkung seiner Frau. »Aus dem Grund ruft er nicht an.« Fredericks wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Anwalt zu. »Sie sagt, sie versucht die Autorisierung für die Unterlagen zu kriegen, die du haben wolltest, aber es kann noch ein paar Tage dauern. Und ob du die Sachen von Sam bekommen hast, die sie dir geschickt hat.«

»Kein Problem. Und ja, ich hab die Dateien bekommen, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, sie durchzuschauen. Ich melde mich Anfang der Woche wieder bei dir und sag Bescheid, was bei den ganzen Recherchen rausgekommen ist.«

Während er darauf wartete, daß sich bei den Gardiners jemand meldete, sah Ramsey zu, wie drei Stockwerke unter seinem Bürofenster der Fahrzeugstrom auf der Hochautobahn vorbeirauschte, wo sich die Scheinwerferlichter auf dem regennassen Asphalt spiegelten. Er wußte, er hätte die Fredericks’ bitten sollen, ihn zu einer Fahrt nach Toronto zu bevollmächtigen, aber die Vorstellung, Jaleel Fredericks diese Onkel-Jingle-Frau begreiflich zu machen, war alles andere als verlockend. Er war sich selbst nicht sicher, wie er auf die Idee kam, der Aufwand könnte sich lohnen.

Er mußte den Anruffilter nur halb durchleiden, ehe Conrad Gardiner abnahm. Er war in Ramseys Alter, vielleicht sogar ein bißchen jünger, aber er sah reif für die Pensionierung aus, so leblos wirkte sein Gesicht.

»Was können wir für dich tun, Herr Ramsey?«

»Ich wollte eigentlich nur eines wissen. Habt ihr noch das Problem mit dem Agenten eures Sohnes und den fehlenden Dateien?«

»Ja. Wir hatten zwei verschiedene Firmen da, die alles mögliche probiert haben, aber ohne Erfolg.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Verantwortlich dafür, daß diese ganzen Sachen aus unserm System rausgemailt wurden, ist… ein Programm. Ich faß es einfach nicht. Ein Gear, das selbständige Entscheidungen trifft.« Sein Lachen klang nicht fröhlich. »Hoch lebe das einundzwanzigste Jahrhundert, kann ich da nur sagen.«

»Wie war sein Name?«

»Du meinst, von Orlandos Agent? Ich weiß nicht. ›Dingsbums Dingsbums PsKI‹ – Pseudo-Künstliche-Intelligenz, nicht wahr? Alt, aber teuer, als wir ihn kauften. Wenn du willst, kann ich nachschauen.«

»Eigentlich interessierte mich, ob Orlando einen Namen für ihn hatte. Einen Spitznamen, weißt du. Viele Leute mögen so was, vor allem Kids.«

»Gott, du machst Witze.« Gardiner war konsterniert. »Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern. Vivien!«

Seine Frau kam ins Zimmer, auf Ramseys Bildschirm gerade eben noch zu sehen. Sie zog den Mantel aus; vermutlich war sie im Krankenhaus gewesen. Ihr Mann gab die Frage an sie weiter, und sie sagte etwas, das Ramsey nicht verstehen konnte.

»Beezle Bug«, berichtete Gardiner. »Stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Orlando hat ihn bekommen, als er noch ein kleiner Junge war.« Sein Mund zuckte, und er wandte sich einen Moment ab. Als er sich wieder gefaßt hatte, fragte er: »Weshalb willst du das überhaupt wissen?«

»Mir geht nur was durch den Kopf«, antwortete Ramsey. »So eine Idee. Ich erzähle dir ein andermal davon.«

Er beendete das Gespräch, dann setzte er sich zurück, um nachzudenken, und beobachtete, wie die Autos unten auf dem Freeway spiegelnde Schneckenspuren hinterließen.

Als er nach Hause kam, war es Mitternacht. Das dritte Mal diese Woche, und dabei war erst Donnerstag.

 

 

> Das Wissen, daß es ein Traum war, machte es beinahe noch schlimmer.

Etwas anderes als solche Visionen erschienen ihm nie in der blutlosen Finsternis, die in seinem Leben noch am ehesten eine Ähnlichkeit mit Schlaf hatte – immer dieselben müden Bilder, dieselben recycelten Erniedrigungen und Schrecken. Auch zersplittert und in abstrusen Kombinationen neu zusammengewürfelt, waren es doch immer wieder dieselben Erinnerungen, die ihn seit vielen Jahren plagten, manche schon seit über einem Jahrhundert.

Selbst Felix Jongleurs Gespenster wurden langsam alt.

Die drei Jungen aus der Oberstufe standen vor ihm und schnitten ihm den Weg zur Treppe ab, zur Flucht. Oldfield hatte den Kragen seines weißen Hemdes hochgeschlagen und hielt eine Zigarette in der hohlen Hand versteckt. Patto und Halsall, die gewartet hatten, daß sie an die Reihe kamen, folgten Oldfields Blick. Die drei starrten ihn an wie Macbeths Hexen.

»Was glotzt du so, Jingle-Jangle?« herrschte Oldfield ihn an.

»Kleine Heulsuse«, setzte Halsall hinzu. »Dreckiger Franzosenflenner.«

»Juggles will auch mal«, sagte Patto und grinste. »Er will mal an deiner Kippe paffen, Oley.«

Es war alles so vorhersehbar – Dichtung und Wahrheit zu einer unglaubwürdigen Mischung zusammengerührt. Der Teil von Jongleurs uraltem Gehirn, der eine kritische Distanz zu der Traumbühne wahrte, erkannte, daß die Treppe und der Absatz nicht zum Internat der Cranleigh School gehörten, sondern zu dem Haus seiner Kindheit in Limoux, und daß der Traum-Patto seine wahren Gesichtszüge beinahe vollständig verloren hatte und statt dessen wie ein Mann aussah, den Jongleur um die letzte Jahrhundertwende herum gekannt und dessen Unternehmen er ruiniert hatte, fast neunzig Jahre nach diesen gebrochen erinnerten Schultagen.

Aber allen Wiederholungen zum Trotz wurde die Demütigung, die er durch diesen Traum und andere wie ihn erfuhr, nicht geringer.

Die englischen Jungen stürzten sich jetzt auf ihn wie Schakale auf eine gefallene Antilope. Halsall drehte ihm den Arm auf den Rücken, während Oldfield ihn zwischen den Beinen packte und zudrückte, bis er vor Schmerz schrie und mit der Luft den Rauch der gestohlenen Zigarette einsog. Er spürte ihn wieder auf der Zunge, diesen gräßlichen Geschmack; jeder Atemzug war ein rotes Feuer, das ihm die Kehle hinunterbrannte. Er würgte, bis er sich fast übergeben mußte.

»Parläi-vuh, Juggles.« Patto verdrehte ihm das Ohr. »Parläi-vuh, du beschissener Franzmannspion.«

Aber statt ihn zu treten, wie sie es meistens machten, faßten sie seine Ellbogen und rissen ihn herum, so daß er auf das Ende des zweiten Treppenabsatzes blickte. Auf das Fenster.

Das gehört nicht hierher! dachte er, und plötzlich versetzte ihn der ausgeleierte alte Traum in eine überraschende Panik. Nicht das! Nicht das Fenster!

Aber sie schleiften ihn in Windeseile darauf zu, die Arme fest im Griff. Das Fenster wurde vor ihm immer größer, rund und ohne Gitter oder Sprossen, und dahinter, wie sein Traum-Ich sehr wohl wußte, eine tiefe Schwärze, ein giftiger, finsterer Abgrund, von dem ihn nur die hauchdünne Glasscheibe trennte.

Er wußte, daß er nie, nie, nie herausfinden wollte, was auf der anderen Seite war.

Das können sie nicht mit mir machen, dachte er entsetzt. Sie denken, ich bin ein Junge, aber das stimmt nicht, ich bin alt – ich bin alt! Sie können nicht…

Er schrie das auch im Traum, erklärte ihnen, er sei zu schwach und gebrechlich, aber Oldfield und die anderen lachten nur noch lauter und schoben ihn weiter auf das Fenster zu. Kreischend stieß er gegen die harte Oberfläche, doch statt der Scheibe war er es, uralt, trocken, brüchig, der in tausend Scherben zersplitterte.

Die Träume, die Wahrheit, seine Erinnerungen, alles wurde zerschmettert, durcheinandergeworfen und hinausgeschleudert…

und stob nach außen ins Sonnenlicht wie sprühendes Wasser, jedes wirbelnde Scherblein ein eigener Planet und die schillernde Wolke ein Universum, das sein Gleichgewicht verloren hatte und jetzt in extrem schneller entropischer Expansion auseinanderflog.

Die Schreie hallten und hallten, wie sie es immer taten, aber diesmal waren es seine.

 

Er erwachte in einer Finsternis, in der es nicht einmal den virtuellen Lampenschein von Abydos und seine beruhigende Wirkung gab. Einen kurzen Moment lang befand er sich tatsächlich in seinem Körper und sonst nirgendwo, aber es war zu grauenhaft, und er floh sofort zurück in sein System. Ein blindes, hilfloses Ding, eine in Mullbinden und Polyesterfilm gehüllte Nacktschnecke, die in einem dunklen Tank schwamm – es schauderte ihn bei dem Gedanken, so existieren zu müssen, wie er wirklich war. Er umgab sich mit seinen Apparaten wie mit einem Panzer.

Als er in das System eingetaucht war, ließ der älteste Mann der Welt nicht sein maßgefertigtes Ägypten in seiner ganzen Herrlichkeit erstehen, sondern statt dessen eine viel schlichtere virtuelle Welt, die nichts als gedämpftes und ortloses blaues Licht enthielt. Jongleur badete darin, von Infraschallwellen gestreichelt, und versuchte die große Angst zu stillen, die ihn gepackt hatte.

Die Jungen konnten das Grauen des Altseins nicht verstehen. Auf diese Weise schützte die Natur sie vor einem unnütz belastenden Wissen, genau wie die Atmosphäre rings um die Erde ein blaues Firmament erschuf, das die Menschheit davor bewahrte, der nackten Mitleidlosigkeit der Sterne wehrlos ausgesetzt zu sein. Alter bedeutete Unfähigkeit, Einschränkung, Abgeschobenwerden – und das war erst der Anfang. Weil jeder Augenblick zugleich ein Schritt war, der einen dem Nichts näher brachte, dem allzeit bereitstehenden Tod.

Felix Jongleur hatte seine ganze Kindheit über von einer gesichtslosen, schattenhaften Figur geträumt, dem Tod, »der uns alle erwartet«, wie sein Vater ihm erklärt hatte, aber erst als seine Eltern ihn auf diese entsetzliche Schule in England geschickt hatten, hatte er endlich erfahren, wie er aussah. Als er eines Nachts eine zerfledderte Zeitung durchblätterte, die einer der Oberstufler im Schlafsaalschrank hatte liegenlassen, sah er eine Abbildung – »die Vision eines Künstlers«, stand darunter, »vom geheimnisvollen Mister Jingo« – und wußte sofort, daß dies das Gesicht der Erscheinung war, die ihn in seinen Träumen noch viel gnadenloser jagte, als selbst die grausamsten älteren Jungen ihn je durch die Säle von Cranleigh gehetzt hatten. Der Mann auf dem Bild war groß, in einen dunklen Mantel gehüllt und trug einen altmodischen hohen Zylinderhut. Aber es waren seine Augen, seine hypnotisierend starrenden Augen und sein kaltes Grinsen, woran der junge Felix ihn mit rasendem Herzen erkannte. Der Artikel, die Erläuterung, wen die unheimliche Zeichnung des Künstlers darstellte, war von Ratten weggefressen worden und somit für alle Zeit ein Geheimnis geblieben; nur das Bild hatte überlebt, aber das hatte ausgereicht. Diese Augen beobachteten Felix Jongleur seit jenem Tage. Die ganzen dahinrollenden Jahrzehnte seither war er dem Blick dieser amüsierten, seelenlosen, fürchterlichen Augen ausgesetzt gewesen.

Sie warteten. Er – es – wartete. Wie ein seiner Beute gewisser Hai unter einem Schwimmer, den langsam die Kraft verließ, brauchte Mister Jingo gar nicht mehr zu tun.

Jongleur kämpfte jetzt gegen die Morbidität an, die manchmal sein isoliertes Bewußtsein befiel wie ein opportunistischer Parasit. Es wäre alles leichter, wenn man nur an eine äußere Macht glauben könnte – an ein liebendes und gütiges Wesen, ein Gegengewicht zu diesem scheußlichen, gelassen abwartenden Blick. Wie die Schwestern seiner Mutter es getan hatten. Im unerschütterlichen Vertrauen auf den Himmel – in dem anscheinend alles genauso beschaffen war wie in Limoux, nur daß gutkatholische alte Jungfern dort nicht mehr unter arthritischen Gelenken und lärmenden Kindern zu leiden hatten –, hatten sie selbst noch auf dem Sterbebett innere Gewißheit ausgestrahlt. Beide waren voll ruhiger, ja freudiger Zuversicht aus dem Leben geschieden.

Er aber wußte es besser. Er hatte die Lektion erstmals aus dem traurigen, müden Gesicht seines Vaters und dann wieder und weitaus brutaler im Dschungel der englischen Privatschule gelernt. Jenseits des Firmaments gab es keinen Himmel, nur Schwärze und endlosen Raum. Jenseits der eigenen Person gab es nichts und niemanden, worauf man vertrauen, worauf man hoffen konnte. Finsternis erwartete einen. Sie ergriff dich, wann sie wollte, und niemand rührte einen Finger zu deiner Rettung. Du konntest schreien, bis dir fast das Herz zersprang, und irgend jemand hielt dir lediglich ein Kissen vors Gesicht, um deine Schreie zu ersticken. Der Schmerz hielt an. Es gab keine Hilfe.

Und der Tod? Der Tod mit seinem Zylinder und seinem Hypnotiseursblick war der schlimmste Peiniger von allen. Wenn er dich nicht unvermutet von hinten packte, wenn du es irgendwie schafftest, ihm zu entgehen und stark zu werden, blieb er einfach wartend im Schatten stehen, bis die Zeit selbst dich kleingekriegt hatte. Dann, wenn du alt und schwach und wehrlos warst, schnappte er dich, dreist wie ein Wolf.

Und das konnten die Jungen in ihrer phantastischen Dummheit niemals verstehen. Für sie war der Tod nur ein Comicwolf, über den sie sich lustig machten. Sie sahen nicht, konnten nicht wissen, wie es ihnen an jenem Tag ergehen würde, an dem das Ungeheuer wirklich wurde – an dem weder Stroh noch Holz noch Ziegelmauern sie retten konnten.

Jongleur erschauerte, eine Empfindung, die sein heruntergeregeltes Nervensystem zwar meldete, aber nicht wirklich fühlte. Sein einziger Trost war, daß er seit seinem Eintritt ins Greisenalter hatte zusehen dürfen, wie drei Generationen junger Nachfahren zuletzt diese furchtbare Erkenntnis machten und dann vor ihm dahingingen, aus ihren zertrümmerten Häusern schreiend in die Nacht hinausgezerrt wurden, während er weiter von diesem grinsenden Maul verschont blieb. Gentherapie, Vitaminkuren, konzentrierte Triggerpointbestrahlung, alle ärztlichen Künste, die den Menschen zur Verfügung standen (die nicht Jongleurs nahezu unbegrenzte Mittel und Jongleurs bahnbrechende Ideen besaßen), konnten den Tod nur ein wenig hinausschieben. Einige, die Glücklicheren und Wohlhabenderen, waren kürzlich in das zweite Jahrzehnt ihres zweiten Jahrhunderts eingetreten, aber im Vergleich zu ihm waren sie immer noch Kinder. Während alle anderen erlagen, während seine eigenen Enkel und Urenkel und Ururenkel einer nach dem anderen geboren wurden, alt wurden und starben, schlug er weiterhin dem lauernden Mister Jingo ein Schnippchen.

Und wenn Gott, oder wer auch immer, es wollte, würde er das ewig tun!

 

Felix Jongleur stand schon länger als zwei lange Menschenleben nächtliche Schrecken aus. Ohne auf den Chronometer zu gucken, ohne eine der Informationen, die er mit kaum mehr als einem Gedanken abrufen konnte, wußte er, daß außerhalb seiner Festung die letzte Stunde vor Tagesanbruch schwer über dem Golf von Mexiko lag. Die wenigen Fischerboote, die er auf dem Lake Borgne, seinem privaten Burggraben, duldete, zogen jetzt wohl gerade die Netze ein. Polizisten in Überwachungslaboren in Baton Rouge nickten vor ihren Monitoren ein und hofften zwischendurch, daß die Wachablösung daran dachte, ihnen etwas zu essen mitzubringen. Fünfzig Kilometer westlich von Jongleurs Turm, in New Orleans, lagen ein halbes Dutzend oder mehr Touristen im Vieux Carré in der Gosse, nicht mehr im Besitz ihrer Kreditkarten, ihrer Schlüsselkarten und ihrer Selbstachtung… wenn sie Glück hatten. Einigen weniger Glücklichen konnte es passieren, daß sie mit Drogen vollgepumpt aufwachten und an einem Arm keine Hand mehr hatten, aber immerhin einen kauterisierten Stumpf, weil die Diebe keine Mordanklage am Hals haben wollten (die meisten Leihwagenfirmen hatten Handabdruckleser aufgegeben, aber ein paar hielten noch daran fest).

Und einige der in der Gosse deponierten Touristen hatten gar kein Glück und wachten nie wieder auf.

Die Nacht war beinahe um.

Felix Jongleur ärgerte sich über sich selbst. Schlimm genug, daß er immer wieder vom Schlaf überspült wurde, ohne es zu merken – er erinnerte sich nicht, daß er eingenickt war –, aber nur wegen einiger altbekannter und seit langem schon langweiliger Träume mit Herzflattern aufzuwachen wie ein verängstigtes Kind …

Er mußte etwas arbeiten, beschloß er. Das war die einzige gute Lösung, die beste Art, dem Mann mit dem hohen Zylinder ins Gesicht zu spucken.

Sein erster Impuls war, nach Abydos-Olim zurückzukehren und auf seinem bequemen Gottesthron, umgeben von seinen dienstbaren Priestern, die jüngsten Informationen durchzuschauen. Aber der Albtraum, vor allem das ungewöhnliche Nebeneinander verschiedener Elemente, hatte ihn verstört. Sein Wohnsitz erschien ihm auf einmal nicht mehr sicher, und obwohl das große Haus, das sein physischer Körper nie verließ, besser gesichert war als die meisten Militärstützpunkte, verspürte er dennoch den Drang, eine Kontrolle durchzuführen, und sei es nur, um sich zu vergewissern, daß alles war, wie es sein sollte.

Mit sieben unterirdischen Stockwerken verankert (einem über dreißig Meter tief hinabreichenden Fibramiczylinder, der buchstäblich in den Deltaschlamm hineingeschraubt worden war) erhob sich Jongleurs Turm außerhalb des Wassers noch einmal zehn Stockwerke hoch in die nebelige Luft über dem Lake Borgne, doch der Turm war nur ein Teil des riesigen Komplexes, der die künstliche Insel bedeckte. Die ungefähr fünfzig Quadratkilometer große Felskonstruktion beherbergte nur etwas mehr als zweitausend Personen – rein zahlenmäßig ein sehr kleiner Ort, aber einflußreicher als die meisten Staaten der Welt zusammen. Jongleur war hier kaum weniger ein Gott als in seinem virtuellen Ägypten: Mit einem subvokalisierten Wort rief er die Batterie von Videobildern auf, die ihm jeden Winkel seines Anwesens genau vor Augen führten. Überall im und am Turm und an den umliegenden Gebäuden wurden Wandbildschirme mit einemmal zu einseitigen Spionfenstern, und den Bildern überlagerte Worte und Zahlen flogen an ihm vorbei wie Funken.

Er fing außen an und arbeitete sich nach innen vor. Die nach Osten gerichteten Grenzkameras übertrugen ihm den ersten Schimmer der aufgehenden Sonne, ein rötliches Glimmen über dem Golf, noch schwächer als die orangeroten Lichter der Ölbohrinseln. Die Posten in zweien der Grenzwachtürme spielten Karten, und ein paar waren nicht voll uniformiert, aber in allen sechs Türmen waren die Wachmannschaften einsatzbereit, und Jongleur war zufrieden; er würde die Kommandanten ermahnen, strenger auf Disziplin zu achten. Die übrigen Verteidiger seines Besitzes – die menschlichen Verteidiger jedenfalls – schliefen in ihren doppelstöckigen Betten, Reihe um Reihe um Reihe. Ihre Quartiere und Exerzierplätze allein nahmen fast die Hälfte der künstlichen Insel ein, auf der der Turm stand.

Er setzte seine Inspektion im Turm selbst fort, huschte durch unzählige Zimmer und Gänge von einer Bildschirmansicht zur nächsten wie ein in Spiegeln wohnender magischer Geist. Die Büroräume waren größtenteils leer, nur ein Rumpfteam war am Platz, nahm Anfragen von Übersee entgegen und saugte Informationen aus den Netzen, mit denen die Frühschicht sich dann eingehender befassen konnte. Ein paar mit ihrer Schicht fertige Aufseher, ortsansässige Männer und Frauen, die keine Ahnung hatten, wie gründlich sie vor ihrer Anstellung überprüft worden waren, warteten auf der Strandpromenade auf das Fährboot, das sie zu ihren Quartieren auf der anderen Seite der Insel bringen sollte.

Seine leitenden Angestellten waren noch nicht erschienen, und in ihren Büros war es still und bis auf das Leuchten der elektronischen Anzeigen dunkel. Über der Chefetage fing der Wohnbereich im Turm an, reserviert hauptsächlich für hochrangige Besucher; nur wenige von diesen heißbegehrten und umkämpften Apartments waren als Dauerunterkünfte hergerichtet worden, und nur die Allerglücklichsten von Jongleurs ganzem weltweiten Imperium kamen in ihren Genuß.

Jongleurs Fernauge entdeckte den Präsidenten einer seiner größeren ukrainischen Tochtergesellschaften, der im Bademantel auf einem der Turmbalkone saß und auf den See hinunterblickte. Jongleur fragte sich, ob der Mann wegen des Jetlags schon so früh auf war, und erinnerte sich dann, daß er den Kerl zu einer Konferenz etwas später am Tag bestellt hatte. Sie würde natürlich über Bildschirm erfolgen; der ukrainische Manager, einer der reichsten und mächtigsten Männer in seinem ganzen Land, würde sich zweifellos fragen, warum er den ganzen Weg hatte auf sich nehmen müssen, wenn er seinen Arbeitgeber doch nicht persönlich zu Gesicht bekam.

Der Mann sollte seinem Schicksal danken, daß er seinen Herrn nicht von Angesicht zu Angesicht sehen mußte, dachte Jongleur. Der Ukrainer würde ein Bild von seinem Arbeitgeber als einem exzentrischen, sicherheitsbesessenen alten Mann mit nach Hause nehmen, statt die unangenehme Wahrheit zu entdecken – daß der Gründer und Leiter des Konzerns ein ungeheuerliches Ding war, zusammengehalten von medizinischen Druckbandagen, permanent eingetaucht in lebenserhaltende Flüssigkeiten. Der zum Gesprächstermin erschienene Manager würde nie darüber nachdenken müssen, daß die Augen und Ohren seines Arbeitgebers von Elektroden durchbohrt waren, die direkt an die Seh- und Hörnerven anschlossen, daß seine Haut und selbst seine Muskeln stündlich wabbeliger und weicher wurden und jeden Moment drohten, sich von den Knochen zu lösen, die dünn und schwach wie tote Zweige waren.

Jongleur hielt sich nicht lange bei dem nur allzu bekannten Horror seines Zustands auf. Statt dessen huschte er auf seiner körperlosen Inspektionsrunde durch die Privatwohnungen weiter hinauf in die unteren Etagen seines inneren Heiligtums, wo er einen kurzen Blick auf die Quartiere der diversen Leibwächter und Techniker warf, auf die Hardwareräume, in denen die wichtigsten Apparate standen, und auf den von drei Drucktüren und zwei Wachmannschaften abgeschirmten Raum, in dem die Tanks in ihren gepolsterten Gestellen lagen. Sein eigener Versorgungstank, eine Kapsel aus schwarzem, glänzendem Plastahl, stand wuchtig in der Mitte wie ein königlicher Sarkophag mit Tentakeln, den nach allen Seiten abgehenden Bündeln mehrfach redundanter Kabel. Drei andere Tanks standen außer seinem noch in dem weiten, kreisrunden Raum, etwas abseits die kleineren Kapseln, die Finney und Mudd gehörten, und dicht neben seinem eigenen Behälter jenes andere hochwichtige Rechteck, genauso groß und schwarz schimmernd wie seines.

Diesen anderen Tank wollte er nicht sehr lange anschauen.

Genausowenig wie er seine Inspektion fortzusetzen gedachte. Das oberste Stockwerk blieb wie immer verboten, sogar ihm, vielleicht gerade ihm. Der Herr von Lake Borgne hatte lange vor diesem Tag beschlossen, daß er in die Zimmerflucht ganz oben im Turm nie wieder einen Blick werfen wolle. Aber es war ihm auch klargewesen, daß er der Versuchung nicht hätte widerstehen können, wenn sie ihm zugänglich geblieben wäre, daß sie ihm – wie ein schmerzender Zahn einer forschenden Zunge – keine Ruhe gelassen hätte, bis er etwas unternommen hätte. Er hatte daher sein Überwachungssystem umprogrammiert und diesen Teil mit einem Code gesperrt, den er nicht besaß. Solange er seinen Sicherheitschef nicht eigens aufforderte, die Programmierung zu ändern – und gegen diese Versuchung hatte er schon tausendmal kämpfen müssen –, blieb dieser Bereich für ihn so schwarz wie die Leere zwischen den Sternen.

Überzeugt davon, daß überall sonst alles in Ordnung war, und nicht erpicht darauf, sich länger als nötig damit zu beschäftigen, was in dem vierten Tank schwamm oder wie es in der Spitze des Turms aussehen mochte, rief er seine virtuellen Reiche auf und setzte seine Inspektion dort fort, in den Welten, die er geschaffen hatte.

An der Westfront tobte nach wie vor die Schlacht von Amiens. Der Mann, dessen Gefängnis die Schützengräben gewesen waren, war jetzt fort, aber die Simulakren kämpften und starben dort genauso unbeirrt weiter, wie sie es schon vor dem Auftauchen des Gefangenen getan hatten. Wenn diese jüngste Version der Schlacht vorbei war, würden die Leichen wieder aus dem Schlamm erstehen, wie zum Hohn auf das Jüngste Gericht; dann bildeten sich die zerschmetterten Leiber neu, die Splitter flogen wieder zu mörderischen Granaten zusammen, und die Schlacht konnte von neuem beginnen.

Auf dem Mars hatte das Kriegervolk der Rax aus der Hochwüste die Zitadelle von Tuktubim angegriffen. Der Sumbar hatte einen zeitweiligen Frieden mit Hurley Brummond geschlossen, um dessen kampfstarke Legion von Tellariem zur Verteidigung der Stadt einzusetzen. Es sah nach einem Heidenspaß aus.

In Old Chicago feierte man das Ende der Prohibition mit öffentlichen Massenbesäufnissen, dieser Zyklus war also beinahe durchlaufen. Atlantis war zum x-ten Mal seinem feuchten Grab entstiegen und bereit zum nächsten Neuanfang. Hinter den Spiegeln waren die roten und weißen Figuren auf beiden Seiten des metaphorischen Schachbretts schon in die neue Runde eingetreten.

Jongleur ließ seine Welten Revue passieren, wobei er die Blickwinkel dem Zufall überließ und sie nur korrigierte, wenn die gebotene Ansicht ihm nicht die gewünschten Informationen verschaffte. In einer hatte die spanische Armada irgendwie die Stürme im Ärmelkanal überstanden, und die Spanier segelten in diesem Moment die Themse hinauf, um mit ihren überlegenen Streitkräften London zu brandschatzen; er nahm sich vor, noch einmal zurückzukehren, sich vielleicht sogar zu bekörpern, damit er diesen seltenen Ausgang unmittelbar miterleben konnte, den er beim letzten Mal verpaßt hatte.

Eine weitere Invasion Englands, diesmal nach der Marsgeschichte von H.G. Wells, näherte sich ihrem Ende. Alles schien dort bedrückend langsam abzulaufen. Er fragte sich, ob er die Simwelt wohl neu kalibrieren müsse.

Überhaupt fiel ihm beim Durchstreifen etlicher anderer Simulationen auf, daß seine virtuellen Domänen offenbar mehr Aufmerksamkeit benötigten, als er ihnen in letzter Zeit geschenkt hatte. Xanadu war so gut wie ausgestorben, gerade die Gärten um das Lustschloß sahen besonders ungepflegt aus. Narnia lag weiterhin unter einer Schneedecke wie schon seit Monaten, und weit und breit war kein allegorischer Löwe zu sehen, der den Winter beendet hätte. In der Hobbitwelt, die er aus Gefälligkeit für einen Ururgroßneffen hatte bauen lassen, war der totale Krieg ausgebrochen, was ihn nicht weiter störte, aber die Technik schien das Maß überschritten zu haben, das nach seiner trüben Erinnerung angemessen gewesen wäre. Vor allem Maschinengewehre und Düsenbomber erschienen ihm ein bißchen de trop.

In anderen Simulationen waren die Probleme nicht so kraß, aber sie beunruhigten ihn dennoch. Die Götter in Asgard tranken mehr, als sie kämpften, und auch wenn das aufbrausende nordische Temperament immer wieder einmal plötzlich in Melancholie umschlug, befremdete es ihn, daß sogar die Himmelsbrücke Bifröst staubig und verwahrlost aussah. Im kaiserlichen Rom war der letzte julisch-claudische Cäsar von einem Präfekten der Prätorianergarde namens Tigellinus weggeputscht worden, eine ganz interessante Wendung, nur daß der neue Imperator praktisch kein Gesicht hatte. Die gräßliche Fassade des römischen Herrschers – nur glatte Haut, wo Augen und Nase hätten sein sollen – war auf allen Münzen und Skulpturen abgebildet, was schon verstörend genug war, aber noch bizarrer war, daß niemand in Rom daran etwas zu finden schien.

Jongleur ließ seine anderen Reiche mit erhöhter Geschwindigkeit vorbeiziehen und fand in nahezu jedem Zustände vor, die ihn besorgt machten: Dodge City, Toyland, Arden, Gomorra und noch viele mehr schienen merkwürdig aus dem Lot zu sein, als ob jemand die charakteristische Schwerkraft jeder virtuellen Welt geringfügig verändert hätte.

Eher gut, dachte der alte Mann grimmig, daß ein Albtraum ihn aus dem Dämmerzustand gerissen und er infolge dessen diese Kontrolle vorgenommen hatte. Sie waren nicht einfach Spielsachen, diese Welten – sie waren das Erstgeburtsrecht seiner Göttlichkeit, die Paradiesgefilde, in denen er seine Unsterblichkeit zu verleben gedachte. Es durfte nicht sein, daß sie verwahrlosten.

Da geschah es in einer der letzten von seinen selbstgeschaffenen Welten, die auf einer Serie englischer Bildergeschichten aus seinen Jahren als junger Erwachsener basierte und in die er sich sonst nur selten verirrte, daß er das Gesicht erblickte, das zu sehen er schon so lange hoffte, so lange fürchtete.

Das Gesicht erschien ihm nur einen Moment lang inmitten einer Menge festlich gekleideter Leute, doch das Bild schoß ihm wie ein Pfeil ins Auge. Er fühlte sein greises Herz rasen wie vorhin, als er geträumt hatte; ein wenig gedämpfter nahm er wahr, wie sein wirklicher Körper sich in seinen haltenden Bandagen langsam aufbäumte und die dicke Flüssigkeit aufrührte, in der er schwamm. Vor lauter Starren vergaß er, daß er durch das Bild direkt in die Szene springen, daß er fassen und fangen konnte, aber in diesem kurzen Augenblick des Zögerns verschwand das Gesicht.

Er warf sich in die Simulation, griff sich den ersten Sim, den sein System ihm anbot, aber als hätte sie sein Kommen gespürt, war die Person, die er schon so lange suchte, aus dem großen Saal auf die Straße geeilt und dort in der Menschenmenge untergetaucht. Er stürzte hinterher, aber erkannte sofort, daß zu viele Leute im Weg waren und daß es zu viele Fluchtmöglichkeiten gab. Eine Verfolgung war aussichtslos.

 

Bertie Wooster, Tuppy Glossop und die anderen Mitglieder des Drones Club bekamen einen ziemlichen Schreck, als mitten in ihre alljährliche Abendgesellschaft mit Tanz und Wohltätigkeitstombola ein zweieinhalb Meter großer Eisbär hereinplatzte. Das Phänomen löste lebhafte Diskussionen aus, und die Getränkebestellungen verdoppelten sich schlagartig. Mehrere Angehörige des schönen Geschlechts (und auch ein oder zwei aus dem männlichen Kontingent, um die Wahrheit zu sagen) gingen so weit, in Ohnmacht zu fallen. Doch selbst diejenigen, die das Schauspiel nur mit stumpfem Blick zur Kenntnis genommen und ihren Scotch pur ohne Wackeln weiter mundwärts geführt hatten, während der weiße Störenfried brüllend über die Tanzfläche galoppierte und dabei die halbe Kapelle über den Haufen rannte (wobei ein Klarinettist ernstlich verwundet wurde), waren einigermaßen perplex, als der Eisbär draußen auf der Prince Albert Road vor der Tür auf die Knie fiel und weinte.