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Ein Mann aus dem Totenreich
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Ich warte immer noch …
(Bild: Inserentin M.J. [weibliche Version])
M.J.: »Ooh, langsam werde ich richtig böse. Ich warte die ganze Zeit, aber einige von euch, die ich für starke Männer gehalten habe, benehmen sich wie kleine Jungen. Warum wollt ihr nicht in meinen Knoten kommen? Habt ihr etwa Angst? Denn wenn, dann hättet ihr sowieso nichts davon. Ich warte auf richtige Männer, und wenn ich sie finde, dann werde ich sie mit allen Sinnen und Empfindungen auf einen Trip mitnehmen, den sie NIEMALS vergessen werden …«
> Der Mann, der Vogelfänger hieß, hatte seine steinerne Speerspitze so fest in Paul Jonas’ Bauch gepreßt, daß sie die Haut durchstach. Paul holte flach Atem und spürte den Schmerz von der Stichstelle ausstrahlen wie einen kleinen Stern. Er lag wehrlos auf dem Rücken, während der andere Mann über ihm stand.
»Was willst du?« fragte er so ruhig und gefaßt, wie es ihm möglich war.
Vogelfänger hatte den wilden Blick eines Bankräubers beim ersten Überfall. »Wenn ich dich töte, kehrst du ins Land der Toten zurück und läßt uns in Ruhe.«
»Ich komme nicht aus dem Land der Toten.«
Vogelfänger zog verwirrt die Brauen hoch. »Das hast du aber gesagt.«
»Nein, habe ich nicht. Du hast das gesagt, als ihr mich aus dem Fluß gezogen habt. Ich habe dir bloß nicht widersprochen.«
Vogelfänger starrte ihn grimmig an, aber tat nichts, weil Pauls Worte ihn verdutzten, aber er sie nicht rundweg verwerfen konnte. Falschheit war anscheinend unter den Menschen nicht gebräuchlich, eine Tatsache, die Paul zu einem anderen Zeitpunkt höchst faszinierend gefunden hätte.
»Nein«, sagte Vogelfänger schließlich langsam und bedächtig wie ein Richter, der ein Urteil verkündet. Er hatte die Grenze seiner Urteilskraft erreicht und gab auf. »Nein, du kommst aus dem Land der Toten. Ich werde dich töten, und du wirst wieder dorthin zurückkehren.«
Paul packte mit beiden Händen Vogelfängers Speer und drehte ihn ruckartig, doch der Neandertaler hatte ihn fest zwischen Brust und Arm geklemmt und ließ nicht los. Paul mußte mit aller Kraft dagegenhalten, als Vogelfänger sich vorbeugte, um den Speer tiefer zu treiben. Paul meinte, sein Bauchgewebe unter der steinernen Spitze reißen zu fühlen. Seine Arme zitterten vor Anstrengung.
»Halt!«
Ohne sein Gewicht vom Speer zu nehmen, blickte Vogelfänger sich nach der Stimme um. Läuft-weit schritt eilig auf sie zu, die Hände ausgestreckt, als wäre Vogelfängers Zorn ein lebendiges Wesen, das plötzlich angreifen könnte. »Halt«, sagte er noch einmal. »Was machst du da?«
»Er ist aus dem Land der Toten gekommen«, erklärte Vogelfänger. »Er will sich meinen Jungen holen.«
»Deinen Jungen?« Paul schüttelte den Kopf. »Ich weiß überhaupt nichts von einem Jungen.«
Andere vom Menschenstamm waren wach geworden und kamen an, eine Horde lumpiger Schatten, die im schwachen Schein der Glut kaum menschlich wirkten.
»Er ist ein Geist«, sagte Vogelfänger trotzig. »Er ist aus dem Fluß gekommen, um meinen Jungen mitzunehmen.«
Paul hatte das sichere Gefühl, Läuft-weit werde jetzt einen weisen Häuptlingsspruch von sich geben, doch statt dessen knurrte dieser nur und trat in die Dunkelheit zurück.
Das läuft alles verkehrt, dachte Paul verzweifelt. Wenn das hier eine Geschichte wäre, hätte ich ihm das Leben gerettet oder so, und er müßte mir helfen. Er schob wieder an dem Speer, aber er konnte sich nicht abstützen. Eine ganze Weile drückten er und Vogelfänger stumm gegeneinander an, ohne daß einer nachgab, aber Paul wußte, daß er die scharfe Spitze nicht mehr viel länger von sich abhalten konnte.
»Laß mich den Jungen sehen«, bat er. Seine Stimme klang dünn, weil er nicht tief Luft holen konnte. »Ich will ihm helfen, wenn ich kann.«
»Nein.« Der Grimm in der Stimme des anderen war mit Furcht vermischt, aber er wich keinen Millimeter.
»Warum will Vogelfänger in unserem Hause Blut vergießen?«
Die zittrige Stimme von Dunkler Mond traf sie wie ein kalter Wasserguß. Als Läuft-weit aufgetaucht war, hatte Vogelfänger überhaupt nicht reagiert, doch jetzt zog er die Speerspitze von Pauls Bauch weg und trat einen Schritt zurück. Auf Läuft-weits Arm gestützt schlurfte die alte Frau auf sie zu. Sie war augenscheinlich eben erst aufgewacht; wie Rauchfähnchen standen ihr die dünnen Haarbüschel wirr vom Kopf ab.
»Bitte«, sagte Paul zu ihr, »ich bin kein Geist. Ich will den Menschen nichts Böses tun. Wenn ihr wollt, daß ich weggehe, gehe ich weg.« Doch noch während er das aussprach, dachte er an die eisige Dunkelheit draußen, bevölkert von Ungeheuern aus halb vergessenen Büchern, von denen er nur eine vage Vorstellung hatte. Säbelzahntiger? Hielten sich solche Scheusale nicht oft in der Nähe der Höhlenbewohner auf? Aber was war die Alternative – ein Kampf auf Leben und Tod mit einem Steinzeitwilden?
Ich bin nicht Tarzan! Hilflose Wut kochte in ihm auf. Was soll das alles? Ich arbeite in einem Museum, Himmelherrgott nochmal!
»Du sagst, du wirst dem Kind helfen.« Dunkler Monds Gesicht lag fast ganz im Schatten, als sie sich mit weiten Augen über ihn beugte.
»Nein.« Paul unterdrückte die Verzweiflung und Erbitterung. »Nein, ich sagte, ich helfe ihm, wenn ich kann.« Immer noch ganz außer Atem hielt er inne. Sich mit diesen Leuten zu verständigen, war zum Verrücktwerden, trotz der gemeinsamen Sprache.
Dunkler Mond streckte die Hand nach Vogelfänger aus, der zurückscheute, als fürchtete er, sich zu verbrennen. Sie schlurfte etwas näher und langte abermals nach ihm. Diesmal ließ er sie, und sie umschloß mit ihren vogelähnlichen Krallen seinen Arm.
»Er wird zu dem Kind gehen«, sagte sie.
»Nein.« Vogelfänger flüsterte fast, als redete er unter großen Schmerzen. »Er wird mir meinen Jungen wegnehmen.«
»Wenn die Toten dein Kind rufen, rufen sie es«, sagte Dunkler Mond. »Wenn nicht, dann nicht. Du kannst den Tod nicht mit einem Speer abwehren. Nicht diese Art von Tod.«
Vogelfänger warf einen schnellen Blick auf Paul, wie um sie zu erinnern, daß er genau das soeben getan hatte, aber ihre Hand faßte seinen Arm fester, und er ließ den Kopf hängen wie ein trotziger Halbwüchsiger.
Dunkler Mond wandte sich an Paul. »Komm mit zu dem Kind, Flußgeist.«
Keiner vom Stamm machte Anstalten, ihm aufzuhelfen, und so rappelte Paul sich alleine auf. Die Stelle, wo Vogelfänger ihn gestochen hatte, pochte schmerzhaft, und wenn er die Hand darauf legte, bekam er feuchte Finger. Die alte Frau und Läuft-weit drehten sich um und schritten langsam quer durch die Höhle. Paul schloß sich ihnen mit einem gewissen inneren Widerstreben an, das noch zunahm, als Vogelfänger ihm folgte und ihm mit der Speerspitze leicht, aber vielsagend in den Rücken tippte.
Ich muß hier weg, dachte er. Das sind nicht meine Leute, und egal wo ich bin, das ist nicht meine Welt. Ich verstehe die Regeln nicht.
Sie führten ihn zu einem der letzten Zelte in der Reihe, das so weit vom Hauptfeuer entfernt stand, daß ein eigenes kleines Feuer in einem Steinkreis davor brannte. Paul konnte sich Vogelfänger vorstellen, wie er brütend vor den Flammen hockte und seinen ganzen Mut zusammennahm. Wenn ein krankes Kind die Ursache seines Grolls war, konnte man dem Mann nur schwer böse sein.
Ein kurzer Stich in den Rücken, als er am Zelteingang zögerte, stellte seine vorherige Abneigung rasch wieder her.
Vogelfängers Zelt war kleiner als einige der anderen; Paul mußte sich bücken, um durch die Klappe zu kommen. Drei Kinder warteten im Zelt, aber nur zwei blickten bei seinem Eintreten auf, ein in Felle gewickelter glupschäugiger Säugling und das kleine Mädchen, das er schon vorher gesehen hatte. Mit offenen Mündern waren beide vollkommen erstarrt, wie erschrockene Eichhörnchen. Zwischen ihnen lag in Felle gemummelt, so daß nur sein Kopf herausschaute, ein kleiner Junge, offenbar gepflegt von dem älteren Mädchen. Seine dunklen Haare klebten ihm auf der Stirn, und seine Augen waren nach hinten unter die zitternden Lider gerutscht, so daß der durch die Zeltklappe fallende Feuerschein zwei leicht pulsierende weiße Schlitze erhellte.
Paul kniete sich neben den Jungen und legte ihm behutsam die Hand auf die Stirn. Er ignorierte Vogelfängers wütendes Murren und ließ die Hand liegen, als das Kind schwach den Kopf wegzudrehen versuchte; das Fleisch kam ihm so heiß wie einer der Steine vor, auf denen die Menschen ihr Essen brieten. Als der Junge, der neun oder zehn Jahre alt zu sein schien, eine kraftlose Hand hob und damit gegen Pauls Handgelenk drückte, ließ er von ihm ab und setzte sich auf.
Er betrachtete das kleine, blasse Gesicht. Auch in dieser Hinsicht war dieser ganze verrückte Traum auf niederschmetternde Weise anders als eine gute altmodische Abenteuergeschichte. In Science-fiction-Filmen kennt sich einer der Besucher aus der Zukunft immer mit moderner Medizin aus und kann aus Palmwedeln einen behelfsmäßigen Defibrillator zusammenschustern oder rasch irgendwo eine Dosis Penizillin herzaubern, um den schwerkranken Häuptling zu retten. Paul wußte weniger darüber, wie man ein Kind ärztlich behandelt, als seine Mutter und seine Großmutter, die wenigstens noch die schwindende Überlieferung der Frauenheilkunst mitbekommen hatten. Penizillin? Wuchs das nicht irgendwie auf schimmeligem Brot? Und wer konnte wissen, ob das Kind überhaupt eine Infektion hatte und nicht etwas, das viel schwerer zu kurieren war, ein Herzgeräusch vielleicht oder eine Nierenschwäche?
Paul schüttelte ratlos den Kopf. Der reine Blödsinn, das Kind überhaupt sehen zu wollen, auch wenn er bezweifelte, daß er im Vater des Jungen falsche Hoffnungen geweckt hatte. Er fühlte Vogelfängers Atem in seinem Nacken, spürte die Anspannung des Mannes in der Luft wie ein drohendes Gewitter, das jeden Augenblick losbrechen konnte.
»Ich glaube nicht …«, hob Paul an, als das kranke Kind plötzlich zu sprechen anfing.
Es war zuerst wenig mehr als ein Flüstern, ein kaum hörbares Schaben des Atems über die trockenen Lippen. Paul beugte sich hinab. Der Junge zuckte und warf den Kopf zurück, als wollte er eine unsichtbare Macht abschütteln, die seinen Hals umklammert hielt, und seine krächzende Stimme wurde lauter.
»… So dunkel… so kalt… und alle weg, alle zusammengetrieben, weg durch die Fenster und Türen und über den Schwarzen Ozean …«
Einige der Umstehenden schnappten nach Luft und raunten. Ein Schauder kroch Paul das Rückgrat hinauf, der nichts mit der Speerspitze in seinem Rücken zu tun hatte. Der Schwarze Ozean … er hatte diesen Ausdruck schon einmal gehört …
»… Wo sind sie?« Die rußigen Finger des Jungen kratzten über den Zeltboden, griffen ins Leere. »Ich habe nur noch das Dunkel. Die Stimme, der Eine … hat sie alle durch die Fenster weggeholt…«
Die Stimme sank wieder zu einem Flüstern ab. Paul beugte sich näher heran, aber konnte in den ersterbenden, raschelnden Tönen, die schließlich unhörbar wurden, keine Worte mehr ausmachen. Die heftigen Zuckungen legten sich. Er musterte die bleichen Züge des Jungen. Der hängende Mund war wieder nur noch ein Kanal für den pfeifenden Atem. Paul hatte gerade die Hand gehoben, um noch einmal die Stirn des Jungen zu berühren, als dieser plötzlich die Augen aufschlug.
Schwarz. Schwarz wie Löcher, schwarz wie die Nacht, schwarz wie das Innere eines Schrankes, wenn die Tür zuklappt. Der Blick irrte einen Moment ziellos umher, und jemand hinter ihm schrie angstvoll auf. Dann richteten sich die beiden Pupillen auf ihn und fixierten ihn.
»Paul? Wo bist du?« Es war ihre Stimme, die qualvolle Musik so vieler Träume. Als er sie hier an diesem Schattenort hörte, war ihm, als bliebe ihm vor Schreck das Herz stehen. Einen Augenblick lang konnte er nicht atmen. »Du hast gesagt, du würdest zu mir kommen – du hast es versprochen.« Bebend faßte der Junge seine Hand, und sein Griff war stärker, als Paul ihn so kleinen Fingern je zugetraut hätte. »Bevor du den Berg erreichen kannst, mußt du das Haus des Irrfahrers finden. Du mußt dich zum Haus des Irrfahrers begeben und die Weberin befreien.«
Als er endlich wieder Luft bekam, saugte er sie ein wie ein aus Ozeantiefen auftauchender Mann und versuchte dabei, aufzustehen und sich dem Griff des Kindes zu entwinden. Wie ein Fisch an der Angel hing der Junge an Paul und ließ sich von ihm halb in die Höhe ziehen, doch dann erlahmte seine Hand, und er fiel stumm und schlaff zurück, die Augen wieder geschlossen. Er hatte etwas in Pauls Hand zurückgelassen.
Paul konnte nur eine Sekunde lang erschrocken die Feder anstarren, die in seiner sich öffnenden Hand lag, als er einen so wuchtigen Schlag seitlich an den Kopf bekam, daß er auf die Knie sackte. Hinter ihm entstand ein lauter Tumult, doch ihm kam er so fern wie ein altes Gerücht vor; dann stürzte sich ein schwerer Körper auf ihn, und Finger schlossen sich um seine Kehle.
Er konnte nicht erkennen, mit wem er kämpfte, und es war ihm auch gleichgültig. Er schlug und strampelte, um das brutale, unfaire Gewicht abzuschütteln, das auf ihm lag. Ringsherum sah er nur helle und dunkle Streifen und hörte nur ein unverständliches Lärmen, doch die dröhnende Schwärze in seinem Kopf legte sich rasch über alles andere. Er kämpfte mit einer Kraft, die er gar nicht bei sich vermutet hatte, und eine der würgenden Hände glitt von seinem Hals ab. Als sie ihren Griff nicht wieder ansetzen konnte, krallte und stieß sie statt dessen nach seinem Gesicht. Er versuchte sie wegzureißen, dann warf er sich um Luft ringend nach vorn, als ob er in tiefem Wasser wäre – doch seine Atemlosigkeit blieb ihm und ließ sich nicht abschütteln. Etwas Scharfes schrammte an seiner Seite entlang und hinterließ eine kalte Spur, und der schmerzhafte Schnitt dämpfte sein Toben ein wenig.
Er rollte sich weg, bis er irgendwo anstieß, und versuchte dann aufzustehen. Der nach seinem Gesicht schnappende Gegner wich wieder zurück, und abermals stach ihn etwas Kaltes und Scharfes in die Seite. Paul machte einen Satz, und der Klammergriff von hinten konnte ihn nicht halten. Das Licht veränderte sich, als er vornüber fiel, und die Geräusche ringsherum hatten auf einmal einen Hall.
Etwas Helles war direkt neben seinem Kopf. Er war von Wut erfüllt, einem erbitterten Zorn, der, wie er merkte, lange in ihm eingesperrt gewesen war und jetzt ausbrach. Als er begriff, daß die Helligkeit von einem kleinen Lagerfeuer kam, daß er aus dem Zelt hinausgestürzt war, stieß er die an seinem Rücken hängende mörderische Gestalt mit einer schnellen Drehung in den Steinring. Mit einem Schrei, der dem des Hirsches in der Jägergrube glich, ließ der Gegner ihn los, robbte davon und schlug dabei auf die Stellen ein, wo er Feuer gefangen hatte. Aber das bloße Überleben war Paul mittlerweile egal: Er sprang über die Feuerstelle und riß seinen Feind zu Boden, ohne sich darum zu kümmern, daß die Flammen auch seine Haut versengten. Einen kurzen Moment lang sah er Vogelfängers entsetztes Gesicht unter sich. Er hatte etwas Rundes und Schweres und Heißes in der Hand – einen Stein aus der Feuergrube, erkannte ein Teil von ihm, ein kalter, erbarmungsloser Teil. Er hob ihn hoch, um damit Vogelfänger und alles andere zurück in die Finsternis zu schmettern, doch statt dessen bekam er selbst einen jähen und überraschenden Schlag auf den Hinterkopf, ein Schock wie von einem nicht geerdeten Stromkabel durchfuhr ihn und beförderte ihn ins Nichts.
> Die Stimmen schienen zu streiten. Es waren leise Stimmen, weit entfernt, und sie kamen ihm nicht sonderlich wichtig vor.
Waren es seine Mutter und sein Vater? Sie stritten nicht viel – gewöhnlich behandelte der ältere Jonas Pauls Mutter mit einer an Verachtung grenzenden Nachgiebigkeit, als ob sie ein schlecht gearbeiteter Gegenstand wäre, der selbst normale Beanspruchung nicht vertrug. Doch ab und zu verflog das wohlwollend unbeteiligte Gebaren seines Vaters, meistens wenn jemand von außerhalb sich gegen eine seiner Ideen ausgesprochen hatte, und dann kam es zu einem kurzen erregten Wortwechsel, dem stundenlanges Schweigen folgte – ein Schweigen, das Paul als Junge immer das Gefühl gegeben hatte, alle im Haus warteten gespannt darauf, daß er ein Geräusch machte und damit irgend etwas verdarb.
In den sehr seltenen Fällen, in denen seine Mutter sich aufraffte und Widerspruch anmeldete, wenn auch weiterhin in ihrer unsicheren, entschuldigenden Art, dauerte zwar der lautstarke Wortwechsel nicht länger, aber das Schweigen konnte einen Tag oder mehr anhalten. An diesen langen, schrecklichen Tagen wollte Paul nicht einmal in das Schweigen hinausgehen, sondern blieb auf seinem Zimmer, wo er Karten von fernen Ländern auf seinem Bildschirm aufrief und Fluchtpläne schmiedete. In den endlosen Stunden eines geräuschlosen Nachmittags stellte er sich manchmal vor, das Haus sei eine Schneekugel und außerhalb seines Zimmers füllten sich die Flure langsam mit still vor sich hin rieselnden weißen Flocken.
Die Stimmen stritten weiter, immer noch fern, immer noch unwichtig, aber ohne darauf zu achten, hatte er bemerkt, daß es zwei Männer waren. Wenn der eine sein Vater war, dann war der andere vielleicht Onkel Lester, der Bruder seiner Mutter, ein Mann, der irgendwie Banken dabei behilflich war, Auslandskontakte zu knüpfen. Er und sein Vater vertraten notorisch unterschiedliche politische Standpunkte – Onkel Lester war der Meinung, wer Labour wähle, habe keinen blassen Dunst davon, wie es wirklich auf der Welt zuging – und stritten manchmal in halb freundschaftlicher Art stundenlang miteinander, während Pauls Mutter nickte und gelegentlich lächelte oder eine scherzhaft mißbilligende Miene aufsetzte, um den Anschein zu erwecken, sie interessiere sich für ihre übertriebenen Behauptungen, und während Paul selbst in der Ecke im Schneidersitz auf dem Boden hockte und sich einen der kostbaren Bildbände seiner Mutter ansah, altmodische Bücher aus Papier, die sie wiederum von ihrem Vater geerbt hatte.
Besonders ein Bild hatte Paul immer gefallen, und wo er jetzt seinen Vater und Onkel Lester streiten hörte, sah er es wieder vor sich. Es war von Brueghel dem Älteren, oder wenigstens kam es ihm so vor – aus irgendeinem Grund hatte er im Moment Mühe, auf Namen zu kommen –, und stellte eine Gruppe von Jägern dar, die einen verschneiten Hang hinunterstapften und auf dem Heimweg zu dem regen Treiben unten im Dorf waren. Das Gemälde hatte ihn in einer Art berührt, die er nicht recht beschreiben konnte, und in seiner Studienzeit hatte er es als Hintergrundbild auf seinem Wandbildschirm benutzt; wenn sein Zimmergenosse nach Hause zu seiner Familie gefahren war, ließ Paul das Bild die ganze Nacht über an, so daß der weiße Schnee und die bunten Schals das letzte waren, was er vor dem Einschlafen sah. Er wußte nicht, weshalb es ihm so lieb geworden war, nur daß die gesellige Atmosphäre, das gemeinschaftliche. Leben der Dörfler auf dem Bild ihn bewegt hatte. Wahrscheinlich weil er ein Einzelkind war, hatte er immer angenommen.
Bei dem Gedanken an das Bild konnte er jetzt, wo der Streit in langsamen Wellen lauter und wieder leiser wurde, die schneidende Kälte des Breughelschen Schnees beinahe fühlen. Weiß, überall rieselte es weiß hernieder, machte die ganze Welt gleich, deckte alles zu, was einen sonst quälen oder beschämen würde …
Paul tat der Kopf weh. Lag das am Nachdenken über die Kälte oder an dem anhaltenden Geplapper dieser streitenden Leute? Überhaupt, wer waren diese Leute? Er hatte vermutet, daß einer davon sein Vater sein könnte, aber der andere konnte auf keinen Fall Onkel Lester sein, denn der war vor fast zehn Jahren im Urlaub auf Java an einem Herzanfall gestorben.
Eigentlich, merkte Paul, tat ihm mehr als nur der Kopf weh. Sein ganzer Körper wurde herumgebufft, und jeder Stoß war schmerzhaft. Und zum Schmerz kam noch das Gefühl zu frieren hinzu.
Noch während er das dachte, fiel er einen Sekundenbruchteil durch die Luft und schlug auf einem Boden auf, der unangenehm hart war. Hart und kalt. Selbst bei seiner Benommenheit, seinem Brummschädel war er sich dessen sicher. Der Boden war sehr, sehr kalt.
»… mit seinem Blut«, sagte eine der Stimmen gerade. »Das bringt einen Fluch. Willst du dir den Fluch von einem Mann aus dem Totenreich zuziehen?«
»Aber das ist Vogelfängers Speer«, wandte der andere ein. »Warum geben wir ihm den?«
»Nicht geben, lassen. Weil das Blut des Flußgeists daran klebt und wir nicht wollen, daß sein Blut ihn anzieht und zu uns zurückführt. So hat es Mutter Dunkler Mond gesagt. Du hast ihre Worte gehört.«
Die Kälte wurde schlimmer. Paul fing an zu zittern, aber die Bewegung fühlte sich an, als ob seine Knochen an den wunden Enden aneinanderreihen würden, und er gab ein klägliches Wimmern von sich.
»Er wacht auf. Wir kehren jetzt um.«
»Läuft-weit, wir lassen ihn zu dicht in unserer Nähe liegen«, sagte die zweite Stimme. »Es wäre besser, ihn zu töten.«
»Nein, Mutter Dunkler Mond sagte, sein Blut würde uns mit Fluch beladen. Hast du nicht gesehen, wie schon ein klein wenig davon Vogelfänger krank machte? Wie es das Übel in Vogelfängers Kind wachrief? Er wird nicht zurückkommen.«
Paul, dessen hämmernder Kopf wie eine einzige große Beule schmerzte, konnte sich immer noch nicht vorstellen, jemals wieder die Augen zu öffnen, und so fühlte er mehr als er sah, daß jemand sich bückte und ein Gesicht sich ihm näherte.
»Er wird nicht zurückkommen«, sagte Läuft-weit dicht an seinem Ohr, beinahe als spräche er zu Paul, »weil Mutter Dunkler Mond gesagt hat, wenn er zurückkommt, wird der Fluch ihn treffen, nicht uns. Die Menschen können ihn dann töten, ohne sein Blut fürchten zu müssen.«
Das Gefühl der Nähe wich, dann plumpste etwas neben Paul hin. Er hörte ein rhythmisches Geräusch, in dem er alsbald die knirschenden Schritte der davongehenden Männer erkannte.
Allmählich kam ihm eine Ahnung davon, was geschehen war, aber was rascher kam, war das Gefühl der eisigen Kälte. Ein Vibrato von Schauern durchlief ihn, und er krümmte sich wie ein blinder Wurm, kuschelte sich wärmesuchend zusammen. Es nützte nichts – die Kälte zog sich immer noch seine ganze Seite hinunter, saugte ihm das Leben aus. Er wälzte sich auf den Bauch und schob sich dann mühsam nach hinten, bis er auf den Knien kauerte. Er setzte die Hände flach auf und versuchte sich hochzustemmen. Eine Übelkeits- und Schwindelwelle erfaßte ihn, so daß ihm schwarz vor den Augen wurde und er einen kurzen Moment lang sogar die Kälte vergaß – doch der Moment war sehr kurz.
Als die innere Dunkelheit zurückging, schlug Paul die Augen auf. Zuerst war alles unverändert. Der Nachthimmel dehnte sich über ihm aus, ein unfaßbares, samtiges Schwarz, doch als seine Sehkraft wiederkehrte, erkannte er, daß dieses Schwarz von gnadenlosen, glitzernden Sternen durchstochen war. Der obere Rand eines breiten gelben Mondes lugte hinter den Bäumen auf einer Seite der Hügelkuppe hervor.
Unter dem Himmel lag ein Hang, eine einzige weiße Fläche, so daß die Welt auf die einfachsten Gegensätze reduziert zu sein schien. Und Paul selbst war das einzige andere Ding in der Welt, gefangen zwischen Schwarz und Weiß.
Wieso ich? fragte er sich bekümmert. Was habe ich getan, Gott?
Ein Windstoß wehte ihn an. Er dauerte nur einen Augenblick, aber der war, als kämen Messer geflogen. Paul schlotterte heftig und stellte sich mühsam auf die Füße. Er schwankte, aber schaffte es, das Gleichgewicht zu halten. Sein Kopf pochte, seine Knochen fühlten sich gebrochen an. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund und spuckte einen dunklen Klumpen Blut aus, der in dem weißen Hang ein kleines Loch machte. Er schluchzte beim Atemholen. Ein fernes Heulen – wie von einem Wolf, aber viel tiefer – erscholl, lauter und leiser werdend, und hallte über die weiße Mondlandschaft, ein erschreckender, urtümlicher Ton, wie zur Untermalung seiner eigenen hoffnungslosen Einsamkeit.
Sie haben mich zum Sterben ausgesetzt. Er schluchzte wieder, wütend und hilflos, aber schluckte es hinunter. Er wollte nicht weinen, weil er fürchtete, dann zusammenzubrechen. Er wußte nicht, ob er ein zweites Mal in der Lage wäre aufzustehen.
Etwas Langes und Dunkles lag zu seinen Füßen im Schnee und rief ihm Läuft-weits Worte ins Gedächtnis zurück. Vogelfängers Speer. Er starrte darauf, aber konnte darin erst einmal nichts anderes erblicken als eine Stütze. Er schlang den Fellumhang fester um sich – was war das für ein Todesurteil, daß sie ihm etwas zum Anziehen gelassen hatten? – und bückte sich vorsichtig. Fast wäre er vornübergekippt, doch er fing sich und machte sich an die komplizierte Aufgabe, den Speer aufzuheben. Seine Beine drohten einzuknicken, und sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich zerspringen. Schließlich schloß er die Hand um den Schaft und drückte sich wieder hoch.
Der Wind frischte auf. Er biß und kratzte.
Wo soll ich hin? Einen Moment lang erwog er, den Fußspuren zurück zur Höhle zu folgen. Wenn er sie nicht überreden konnte, ihn wieder hineinzulassen, vielleicht konnte er dann wenigstens ihr Feuer stehlen, wie in der Geschichte, die Dunkler Mond erzählt hatte. Doch selbst mit dem Kopf voller Blut und Scherben wußte er, daß das Wahnsinn war.
Wohin sollte er gehen? Schutz war die Antwort. Er mußte einen Platz finden, wo der Wind ihn nicht erreichen konnte. Dort würde er warten, bis es wieder wärmer wurde.
Bis es wärmer wird. Der schwarze Humor der Vorstellung reizte ihn zum Lachen, aber er brachte nur ein keuchendes Husten heraus. Und wie lange soll das dauern? Wie lange dauert denn eine Eiszeit, bitte sehr?
Er machte sich auf den Weg, den Hügel hinunterzustapfen. Jeder Schritt durch den tiefen Schnee war ein kleiner, ermüdender Kampf in einem Krieg, den zu gewinnen er nicht im Ernst hoffen konnte.
Der Mond war über die Baumwipfel gestiegen und hing jetzt voll und dick vor ihm, beherrschte den Himmel. Er wagte nicht, sich vorzustellen, was er in einer mondlosen Nacht gemacht hätte. Auch so erkannte er immer noch viele der heimtückischen tiefen Stellen im silbrigen Schnee nicht rechtzeitig, um ihnen auszuweichen, und jedesmal, wenn er in ein Loch gesackt war, brauchte er länger, um sich wieder herauszuarbeiten. Als Schuhe hatte er dicke Hautstücke mit der Fellseite nach innen an, aber seine Füße waren dennoch so kalt, daß er sie schon seit einiger Zeit nicht mehr spürte. Jetzt hatte er den Eindruck, daß seine Beine ein gutes Stück über den Knöcheln aufhörten. Man brauchte kein Universitätsstudium, um zu wissen, daß das ein schlechtes Zeichen war.
Schnee, dachte er, während er hüfttief in dem Zeug steckte. Zuviel Schnee. Solche und ähnliche unerträglich banalen Gedanken hatten ihn in der letzten Stunde begleitet. Es kostete Kraft, sie zu verscheuchen, konzentriert zu bleiben, und er hatte dafür nicht mehr genug Kraft übrig.
Schnee – Schneemann, Schneemond, Schneetreiben. Er hob einen Fuß hoch – er war sich nicht ganz sicher, welchen – und setzte ihn wieder ab, daß er durch die Kruste sank. Der Wind biß ihm ins Gesicht, in die nicht von dem Umhang geschützten Backen. Schneetreiben.
Treiben, alles trieb so dahin. Er hatte nie etwas anderes gemacht als sich treiben lassen – durchs Leben, durch Schule und Universität, durch seine Arbeit in der Tate Gallery, wo er Grüppchen kunstbeflissener Damen bei Führungen immer wieder mit denselben müden Späßchen erheitert hatte. Früher hatte er gedacht, er würde einmal etwas werden, eine bedeutende Persönlichkeit. Als Kind hatte er darüber gegrübelt, ohne daß es ihm richtig bewußt gewesen war, hatte kein klares Bild davon entwickeln können, was diese einstige Persönlichkeit machen, wer diese Persönlichkeit tatsächlich sein würde. Und als ob ein Gott der Nieten und Versager seine Richtungslosigkeit bemerkt und eine seinem Vergehen angemessene Strafe verhängt hätte, war er jetzt offensichtlich dazu verdammt, obendrein auch noch durch Raum und Zeit zu treiben, ziellos herumzuirren wie ein Mann, der nach der Öffnungszeit in einem unabsehbar großen Museum eingeschlossen war.
Ja, genau das war es, was er gemacht hatte – sich treiben lassen. Selbst hier in dieser kalten Urzeitwelt, wo ihm sein Gedächtnis – wenigstens zum größten Teil – wiedergekehrt war, hatte er andere für sich entscheiden lassen. Die Jäger hatten ihn aus dem Fluß gezogen, als er sich nicht selbst befreien konnte, und hatten entschieden, er sei… was hatte Läuft-weit gesagt? … ein Mann aus dem Totenreich. Und er hatte sich gefügt und sich bloß ohnmächtig selbst bemitleidet, genau als ob jemand auf den letzten freien Platz in der U-Bahn eine Aktentasche gestellt und ihn damit gezwungen hätte zu stehen.
Flußgeist hatten sie ihn genannt. Damit lagen sie richtiger, als sie ahnen konnten. Denn überall, wo er auf dieser Irrsinnsfahrt bisher gewesen war, hatte er sich mitziehen lassen wie ein heimatloses Gespenst. Und überall, wo er gewesen war, war er früher oder später in einem Fluß geschwommen, als ob es stets derselbe Fluß wäre, die perfekte Metapher für sein unselbständiges Leben, immer wieder derselbe Fluß…
Eine jähe Erinnerung schnitt durch Pauls schweifende Gedanken. »Sie werden auf dem Fluß nach dir suchen.« Irgendwer hatte das zu ihm gesagt. War es ein Traum gewesen, einer seiner überaus merkwürdigen Träume? Nein, es war die Stimme aus dem goldenen Kristall gewesen – in seinem Traum war es eine singende Harfe gewesen, aber hier in der Eiszeit hatte der Kristall zu ihm gesprochen. »Sie werden auf dem Fluß nach dir suchen«, hatte der Kristall ihm gesagt. Es stimmte also – der Fluß bedeutete wirklich etwas. Vielleicht kam er deswegen nicht davon los.
Paul stutzte. Durch den Schmerz und die Verwirrung drang etwas in sein Bewußtsein, keine Erinnerung, sondern ein Gedanke. Er erfüllte ihn mit einer bitteren Klarheit, die in dem Augenblick alles andere verdrängte. Er hatte sich treiben und treiben lassen, aber das war jetzt vorbei. Wenn er nicht für alle Zeiten dahinwehen und -trudeln wollte wie ein Blatt im Wind, mußte er zu einem gewissen Grad die Zügel in die Hand nehmen.
Der Fluß ist der Übergang von einem Ort zum andern. Er wußte das mit vollkommener Sicherheit, obwohl ihm der Gedanke eben erst gekommen war. Das Land hinter den Spiegeln, die Marswelt, hier – jedesmal bin ich aus dem Fluß gekommen. Das heißt, wenn ich danach suche…
Wenn er danach suchte, hatte er eine Richtung. Wenn er ihn fand, würde sich alles verändern, und er würde einem gewissen Verständnis näher kommen.
Er versuchte krampfhaft, sich an den Weg zu erinnern, den der Jagdtrupp des Menschenstammes genommen hatte, oder sich am Stand des Mondes zu orientieren, doch er hatte solche Fertigkeiten in seinem anderen Leben nie erworben, so daß ihm hier schon der Versuch hochstaplerisch vorkam. Aber eines wußte er, nämlich daß Wasser sich immer die tiefsten Stellen suchte. Er mußte weiter bergab gehen. Wenn er nach unten ging, mußte er irgendwo herauskommen. Er wollte sich nicht mehr treiben lassen. Er wollte sich nie wieder treiben lassen.
Der Mond hatte den größten Teil seines Weges über die schwarzen Weiten hoch droben zurückgelegt, aber noch deutete nichts darauf hin, daß es bald tagen würde. Jeder Schritt war mittlerweile eine Qual, jedes Vorwärtstaumeln mit Versprechungen an seinen Körper erkauft, von denen er bezweifelte, daß er sie je würde halten können. Der einzige Trost war, daß er den steilsten Teil des Hangs hinter sich hatte; als er jetzt zwischen den strauchartigen, schneebedeckten Bäumen hindurchtappte, war das Gelände vor ihm beinahe eben.
Doch selbst ein so geringfügiges Gefälle war unter diesen Bedingungen ein Problem. Paul blieb auf den Speer gestützt stehen und dankte Vogelfänger innerlich dafür, daß er durch seinen Ritzer die Waffe mit Pauls Blut befleckt und damit tabu gemacht hatte. Dann kamen ihm Zweifel, ob das wirklich so war. Letztlich war die Art, wie Läuft-weit und Dunkler Mond die von ihm ausgehende Gefahr dargestellt hatten, der Grund dafür gewesen, daß Paul zum einen nicht getötet und zum andern mit warmen Fellen und einem Speer ausgesetzt worden war. Auf ihre Weise hatten die beiden möglicherweise versucht, ihm eine Chance zu geben.
Dann sollte er sie lieber nutzen. Er holte tief Luft und humpelte weiter.
Eine merkwürdige Vorstellung, daß er sein Leben höchstwahrscheinlich zwei Neandertalern zu verdanken hatte, Zeitgenossen seiner eigenen Ahnen aus unglaublich weit zurückliegenden Zeiten. Noch merkwürdiger war die Vorstellung, daß diese Menschen – die Menschen – ihr Leben in ihrer ureigenen Normalität verbracht hatten, bis er auf sie gestoßen war. Wer waren sie in Wirklichkeit? Wo war er?
Paul Jonas dachte immer noch darüber nach, als auf einmal der Wind wechselte und ihn vom Hügel herunter der Geruch des Todes anwehte.
Seine Haut straffte sich vor jäher Furcht, und alle Haare auf dem Kopf standen ihm zu Berge. Der Gestank kam nicht bloß von verwesendem Fleisch, Tierschweiß war darin und Urin und Kot und auch Blut. Er bedeutete Ausweglosigkeit. Endstation. Paul blickte sich um, und auf dem Hang hinter ihm blieb eine dunkle Gestalt augenblicklich stocksteif stehen, so daß er eine Sekunde lang meinte, seine Augen hätten ihn in der Dunkelheit getäuscht, die Gestalt wäre bloß ein Felsen. Doch da regte sich weiter oben am Hang eine andere Gestalt; als sie den Kopf wandte und schnuppernd den gedrehten Wind und die neuen Gerüche prüfte, die er herantrug, sah Paul Augen im Mondlicht gelbgrün funkeln.
Der stärker werdende Wind blies ihn wieder mit dem gräßlichen Geruch an, und sein Gehirn sandte die urtümlichsten Alarmsignale, so daß sich alle seine Muskeln anspannten. Von wachsender Panik erfaßt war ihm dennoch klar, daß es keinen Zweck hatte wegzulaufen. Noch eine schwere vierbeinige Gestalt kam schräg den Hügel herunter. Wenn sie ihn noch nicht angegriffen hatten, diese namenlosen Bestien, dann deshalb, weil sie sich ihrerseits nicht ganz sicher waren, was für ein Wesen er war, wie gefährlich er sein mochte. Doch wenn er floh … Selbst Paul, der als Junge weniger wilde Tiere gesehen hatte als die meisten Vorstadtkinder, hatte keinen Zweifel, daß er damit das allgemeingültige Signal für Essen fassen geben würde.
Sich umzudrehen und einen und noch einen behutsamen Schritt vorwärts zu tun, weiterzugehen trotz des Wissens, daß diese großen dunklen Gestalten hinter ihm waren und immer näher kamen, war vielleicht die tapferste Tat seines Lebens. Er verspürte einen absurden Drang zu pfeifen, etwa wie eine Figur in einem Trickfilm, die krampfhaft einen mutigen Eindruck machen will. Er wünschte, er wäre eine Trickfilmfigur, eine unwirkliche Erfindung, die auch den schrecklichsten Unfall überlebte und hinterher mit einem Plop wieder heil war, bereit zum nächsten Abenteuer.
Der Wind wechselte abermals die Richtung und blies ihm jetzt ins Gesicht, und Paul bildete sich ein, vom Hügel her ein tiefes, zufriedenes Knurren zu hören, als die Bestien seine Witterung wieder in die Nase bekamen. Er hatte nur eine Chance, und die war, einen Platz zu finden, wo er ihnen wirksam trotzen konnte – eine Höhle, einen hohen Felsen, einen Baum zum Draufklettern. Kein Wunder, daß die Menschen sich Höhlen im Berg als Wohnung suchten. Er, der im Urlaub immer an sonnige Strände und höchstens einmal für ein paar Tage in die schottischen Highlands oder die Cotswolds gefahren war, hatte nie wirklich einen Sinn für die scheußliche, öde Einsamkeit der Wildnis gehabt. Doch jetzt war er in einer Wildnis, wie er sie sich wilder gar nicht vorstellen konnte.
Der Schnee lag hier flacher, und obwohl er jetzt ein bißchen schneller gehen konnte, war der Untergrund noch heimtückischer geworden, als ob eine Schicht Eis unter dem Schnee läge. Paul fluchte innerlich, aber setzte weiter einen Fuß vor den anderen. Er konnte es sich nicht leisten auszurutschen. Für die Kreaturen hinter ihm würde Hinstürzen zweifellos unter dieselbe Rubrik fallen wie Weglaufen.
Etwas bewegte sich auf der rechten Seite seines Gesichtsfeldes. So vorsichtig, wie er konnte, drehte er den Kopf danach um. Der Schatten trottete am Rand des Schneefeldes entlang, immer im gleichen Abstand, aber nur einen weiten Steinwurf entfernt. Seine struppige Kopf- und Rückenpartie war hundeähnlich, aber irgendwie wirkte sie falsch, verzerrt. Dampf stieg in kleinen Wolken aus seinem Rachen auf.
Der Boden unter seinen Füßen war inzwischen fast völlig eben, aber selbst die verkümmerten Bäume wurden rar. Vor sich sah er nichts als konturlose Weiße – keine Steine, keine Zuflucht. Er schaute über die Schulter und überlegte, ob er einen Bogen schlagen und wieder den Hang hinauf zu einigen der Felsen zurückgehen konnte, an denen er vorher vorbeigekommen war, aber der Anblick der beiden hinter ihm im Zickzack den Berg herunterschleichenden Gestalten erstickte den Gedanken sofort im Keim. Sie waren zu dritt, alle irgendwie falsch geformt oder falsch groß, ein Jagdrudel.
Im Vorwärtsgehen nach hinten zu schauen, war ein Fehler. Paul stolperte und glitt aus. Einen furchtbaren Moment lang dachte er, er würde der Länge nach hinstürzen, aber ein hastiges Abstützen mit dem stumpfen Ende von Vogelfängers Speer verhinderte das; dennoch knallte er mit einem Knie auf den überraschend harten Boden. Es hätte bestimmt sehr weh getan, wenn er nicht nahezu völlig durchgefroren gewesen wäre; so spürte er nichts weiter als eine neue Schwäche im Kniegelenk. Die drei Gestalten, jetzt wieder dicht beieinander, blieben stehen und beobachteten, wie er sich abmühte; wie blaß schimmernde Juwelen hingen ihre Augen in der Dunkelheit, wenn der Schleier ihres dampfenden Atems sich verzog.
Selbst mit der Hand rutschte er auf dem glatten Boden unter der dünnen Schneeschicht aus. Während er sich schwerfällig hochstemmte, erkannte er, daß es tatsächlich Eis war, eine ganze Eisdecke, worauf er gefallen war. Der anfängliche Ärger über diese zusätzliche Behinderung wich mit einem Mal einer unerwartet aufsprießenden Hoffnung.
Der Fluß…?
Als ob sie das winzige Wiedererstarken seiner Lebensgeister spürte und es rasch im Keim ersticken wollte, lief die am nächsten stehende der drei Gestalten urplötzlich mit langen, mühelosen Sätzen auf ihn zu. Sie bewegte sich so viel schneller, als er es für möglich gehalten hätte, daß sie bis auf ein Dutzend Meter herangekommen war, ehe Paul klar wurde, was geschah, und den Speer hob.
»He! Hau ab!« Er fuchtelte wild mit seinem freien Arm und stieß mit dem Speer nach der dunklen Gestalt, wobei er darum betete, sie möge das nackte Grauen in seinen schrillen Tönen nicht bemerken.
Die Bestie blieb stehen, aber wich nicht zurück. Sie betrachtete ihn mit gesenktem Kopf, und ein tiefes, vibrierendes Knurren ließ die Luft zwischen ihnen erzittern. Wie ein körperlicher Schlag traf Paul auf einmal die Erkenntnis, was ihm an diesen Wesen so falsch vorgekommen war. Das Tier war eine Art Hyäne, nur viel, viel zu groß – es hatte eine Schulterhöhe wie ein kleines Pferd und einen breiten, starkknochigen Körper. Der weite, hechelnde Rachen hätte seinen ganzen Rumpf umschließen können.
Wieder knurrte die Bestie mit einem Donnergrollen, das ihn bis ins Mark erschütterte. Vor Schreck wurden ihm die Beine weich, und er mußte sich zusammennehmen, um nicht in die Knie zu gehen. Der Wind trug ihm wieder den Gestank von Aas und tierischer Ausdünstung zu. Sein ohnehin schon zu schnell schlagendes Herz schien bergab zu rasen und drohte dabei jeden Moment zu versagen und tödlich zu stürzen.
Höhlenhyänen. Abrupt fiel ihm der Name wieder ein – er mußte ihn aus einem Dokumentarfilm oder einer naturkundlichen Ausstellung haben –, als ob es eine Rolle spielte, wie diese gräßlichen Untiere hießen. Höhlenhyänen, die Räuber der eiszeitlichen Ebenen, wandelnde Todesmaschinen, die seit fünfzigtausend Jahren keines Menschen Auge mehr erblickt hatte.
Schwankend trat Paul einen Schritt zurück. Die Hyäne tat ihrerseits einen Schritt auf ihn zu, den Kopf weiter gesenkt, die Augen gespenstisch grün glühend. Ihre beiden Genossen stapften den Hügel herab durch den knirschenden Schnee und schwärmten mit der geübten Lässigkeit professioneller Mörder zu beiden Seiten aus. Paul hob den Speer hoch und schwenkte ihn abermals. Er wollte schreien, doch außer einem erstickten Japsen brachte er keinen Ton heraus.
Der Fluß! schoß es ihm durch den Kopf. Ich bin auf dem Fluß! Aber was nützte ihm das jetzt noch? Er hatte keine Ahnung, was er anstellen mußte, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, und er wußte, daß er diesen Monstern so wenig entkommen konnte, wie er eines davon satteln und in Ascot reiten konnte.
Die am nächsten herangekommene Hyäne knurrte erneut und ging zum Angriff über. Als das Tier in langsamem Trab auf ihn zulief, ließ Paul sich auf die Knie fallen und versuchte, auf der glatten Fläche einen Gegenhalt für den Speer zu finden. Die immer schneller herantrottende Bestie war zwar langsamer als unter normalen Umständen, aber dennoch auf Schnee viel schneller, als er je hätte sein können.
Vielleicht sah sie den Speer vor Pauls zottiger Fellkleidung nicht, oder vielleicht wußte sie nicht, was ein Speer war. Das Maul so weit aufgerissen, daß er ihren Atem eine volle Sekunde, bevor sie ihn erreichte, spüren konnte wie die Hitze aus einem Heizungsschlitz, warf sich die Hyäne mit einer solchen Wucht in die Speerspitze, daß sie Paul beinahe beide Arme auskugelte. Er stöhnte vor Schmerz auf und fühlte, wie der Speer, den er fest umklammert hielt, durch Muskeln und Knorpel fetzte. Das Scheusal stieß ein Schmerzensgeheul aus und knallte gegen ihn. Er flog zur Seite, als ob ihn ein Auto angefahren hätte, und fast wäre ihm der Speer von der weiterstolpernden Hyäne aus den froststarren Fäusten gerissen worden. Paul wurde herumgerissen und auf dem Bauch eine qualvoll lange Strecke über das Eis geschleift, bevor der Speer sich aus dem Fleisch des Tieres löste.
Betäubt blieb er auf dem Gesicht liegen und versuchte sich darauf zu besinnen, was seine Arme und was seine Beine waren. Da hörte er ein Krachen wie einen Pistolenschuß, und einen irrwitzigen Moment lang dachte er, daß wie in Peter und der Wolf ein Jäger mit einem großen Schießgewehr zu seiner Rettung gekommen wäre. Dann hob er den Kopf und sah die verwundete Hyäne rückwärts in ein schwarzes Loch im weißen Boden gleiten.
Ein Fauchen hinter ihm ließ Paul herumfahren. Die anderen beiden Bestien kamen auf muskelbepackten Beinen angesprungen. Er rappelte sich so hastig auf, daß er beinahe ausgerutscht und wieder hingefallen wäre, und hob verzweifelt den Speer über den Kopf, um nach ihnen zu schlagen. Da ertönte abermals ein lauter Knall, dann noch einer, und direkt unter ihm strahlten blitzartig schwarze Zackenlinien aus, so daß es einen Augenblick lang den Anschein hatte, als stände er im Mittelpunkt eines Spinnennetzes. Das Eis bebte und sackte ab. Ihm blieb kaum Zeit, sich darüber zu wundern, daß eines seiner Beine kürzer zu sein schien als das andere und sich außerdem plötzlich noch kälter anfühlte als vorher – oder heißer vielleicht, so genau war das nicht zu sagen –, dann brach das Eis unter ihm, und das hungrige schwarze Wasser verschluckte ihn.