Kapitel ![](Images/otherland-k13.gif)
Numerische Träume
NETFEED/DOKUMENTATION:
»Otherland« – das ultimative Netzwerk?
(Bild: Schloß Neuschwanstein in Nebelschwaden)
Off-Stimme: Was für eine Welt würden sich die reichsten Leute auf Erden bauen? Einer Ankündigung zufolge bereitet BBN einen Dokumentarbericht über das Projekt »Otherland« vor, eine Simulationswelt, über die unter Virtualitätstechnikern viel gemunkelt wird. Gibt es sie wirklich? Viele sagen, sie sei nicht realer als Avalon oder Shangri-La, aber andere behaupten, selbst wenn sie abgeschaltet worden sei, habe sie irgendwann einmal existiert und sei das größte Werk ihrer Art gewesen …
> Es dachte nicht. Es lebte nicht.
In Wirklichkeit besaß es keine Eigenschaft, die ihm nicht von seinen Schöpfern verliehen worden war, und zu keiner Zeit war es der entscheidenden Schwelle nahe gekommen, von der an es – um ein klassisches Science-fiction-Bild zu gebrauchen – mehr hätte sein können als die Summe seiner Teile, mehr als einfach ein Produkt von Zeit und Arbeit und dem Optimum an linearem Denken, zu dem seine Erfinder fähig waren.
Und dennoch: Mit seiner ständigen Zunahme an Komplexität und an unerwarteter, aber notwendiger Idiosynkrasie hatte sich das Nemesis-Programm über die Definitionen seitens der fleischlichen Intelligenzen, die es geschaffen hatten, hinweggesetzt und tatsächlich eine gewisse Autonomie erlangt.
Das Programm war von einigen der besten Gehirne auf dem Planeten entwickelt worden, dem J-Team bei Telemorphix. Der volle Name der Gruppe lautete Team Jericho, und obwohl ihr Schirmherr und Mentor Robert Wells nie ganz klar gemacht hatte, welche Mauern sie mit diesem oder einem ihrer anderen Projekte zum Einsturz bringen sollten, machten sie sich dennoch mit einem Korpsgeist an die ihnen zugewiesenen Aufgaben, wie er denen eigen war, die sich selbst für die Allerbesten und Allergescheitesten hielten. Wells’ Auserwählte waren alle hochbegabt, bienenfleißig und beängstigend zielstrebig: In den Zeiten allergrößten, geradezu brennenden Termindrucks hatten sie den Eindruck, nur noch körperlose Gehirne zu sein, ja zeitweise nicht einmal mehr vollständige Denkapparate, sondern nur das Problem selbst in all seinen Permutationen und möglichen Lösungen.
Genau wie seine Schöpfer ihre Körper weitgehend vernachlässigten und sich auch in Zeiten minimaler Arbeitsbelastung damit begnügten, diese achtlos zu kleiden und schlecht zu ernähren, angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Fertigstellungstermins aber durchaus völlig auf Schlaf und Hygiene verzichten konnten, so war das Nemesis-Programm weitgehend unabhängig von der Matrix, in der es operierte, dem Gralsprojekt (beziehungsweise Otherland, wie die wenigen, die die ganze Wahrheit kannten, es nannten). Anders als die Mehrheit der Bewohner dieses speziellen binären Universums, die aus Schablonen künstlichen Lebens herausentwickelt worden waren, damit sie die Handlungen lebender Wesen nachahmten, war Nemesis so konstruiert, daß es RL-Organismen nur so weit nachahmte, wie es für sein problemloses Fortkommen und seine unauffällige Überprüfungstätigkeit notwendig war, aber sich dabei so wenig für einen Teil der Umwelt hielt, wie ein Raubvogel sich als Teil der Äste begriff, auf denen er sich gelegentlich niederließ.
Außerdem wurde es von einer eingebauten Fixierung auf das Sein statt auf den Schein der Dinge gelenkt, einem ganz anderen Impuls als dem, mit dem die übrigen Leben imitierenden Codeaggregate im Netzwerk ausgestattet worden waren. Nemesis war ein Jäger, und obwohl sein Trieb, in der wirksamsten Art zu jagen, es in letzter Zeit zu bestimmten Veränderungen seiner Vorgehensweise veranlaßt hatte, konnte es sich dennoch dem Verhalten der normalen KL-Objekte innerhalb des Gralsprojekts ebensowenig angleichen, wie es frei in die Luft jenseits des elektronischen Universums hinausspringen konnte.
Nemesis bewohnte seine eigene Realität. Es hatte keinen Körper und daher keine körperlichen Bindungen, auch nicht, wenn die ihm beigegebene Wertewolke sich veränderte und in einer Simulation eine neue wirklichkeitsgetreue Organismusimitation hervorbrachte. Aber die Mimikry geschah nur der äußeren Beobachter wegen – Nemesis selbst war weder in noch aus der jeweiligen Simwelt. Es bewegte sich durch sie hindurch, über sie hinweg. Es verbreitete sich durch den numerischen Raum wie ein zusammenhängender Nebel und war sich nicht mehr bewußt, daß es eine endlose Reihe von Körpern simulierte, die VR-gestützten menschlichen Sinnesorganen realistisch vorkamen, als Regen sich seiner Nässe bewußt sein konnte.
Seit der Codeknopf gedrückt worden war, seit der erste Befehl wie der Blitz über Schloß Frankenstein es zur Lebensähnlichkeit erweckt hatte, hatte Nemesis seine unverrückbaren Ziele in der linearen Art verfolgt, die seine Schöpfer ihm vorgegeben hatten – nach Anomalien suchen, die größte/nächste Anomalie ermitteln, darauf zugehen und auf Vergleichspunkte hin überprüfen, schließlich, zwangsläufig nie zufrieden, weitersuchen. Aber das wilde Informationschaos des Otherlandnetzwerks, das Meer sich unentwegt wandelnder Werte, das Menschen kaum fassen konnten, auch wenn sie es selbst geschaffen hatten, war nicht ganz das, worauf Nemesis programmiert worden war. Ja, das theoretische Modell von Anderland, das Nemesis erhalten hatte, und das Anderland, durch das es sich bewegte, waren so grundverschieden, daß das Programm in den allerersten Momenten durch ein simples und höchst elementares Paradox beinahe paralysiert worden wäre: Wenn nach Anomalien gesucht werden soll und gleichzeitig alles anomal ist, dann ist der Anfang auch schon das Ende.
Aber ohne es zu wissen, hatten die fehlbaren fleischlichen Intelligenzen des J-Teams von Telemorphix ihrem Geschöpf mehr Flexibilität verliehen, als ursprünglich vorgesehen. In dem Gangliengeflecht von Unterprogrammen fand der Trieb, zu jagen und sich fortzubewegen, die nötigen Definitionen, die es ihm erlaubten, Anderland als einen unentdeckten Kontinent zu behandeln – womit er sich von seiner ursprünglichen Ausrichtung abgekoppelt hatte. Nemesis würde das Grundmuster dieser neuen, anomalen Version der Matrix finden und dann nach Anomalien in bezug auf dieses Grundmuster forschen.
Mit dieser Flexibilität jedoch gewann es eine neue und größere Komplexität und die Erkenntnis, daß selbst unter Umgehung des Anfangsproblems die Aufgabe sich so, wie sie gestellt war, nicht bewältigen ließ. Die kleineren Anomalien des Systems, zu deren Untersuchung Nemesis eigentlich entwickelt worden war, waren zu zahlreich: In seiner ursprünglichen Beschaffenheit konnte Nemesis sie nicht alle so schnell erfassen und beurteilen, wie neue auftraten.
Aber das war kein unüberwindliches Hindernis. Das J-Team, jene Götter, die Nemesis sich nicht vorstellen und daher auch nicht verehren oder gar fürchten konnte, hatten sich in ihren Berechnungen nur um einen ganz kleinen Faktor geirrt. Wenn somit eine gewisse Verschlechterung der Erkennungsfähigkeit den letztendlichen Erfolg der Jagd nicht vereitelte, konnte Nemesis sich im Interesse eines flächendeckenderen Vorgehens teilen. Obwohl das Programm keinen Begriff eines »Ich« hatte, einer steuernden Intelligenz in seinem Zentrum – eine naheliegende Illusion, der seine Schöpfer allesamt aufsaßen –, handelte es dennoch als ein zentraler Kontrollpunkt, eine datenverarbeitende Schalt- und Verknüpfungsstelle. Die Unterteilung dieses Kontrollpunkts würde eine Verringerung seiner Fähigkeiten in jeder untergeordneten Einheit, jedoch eine Beschleunigung des schematischen Überprüfungsverfahrens bedeuten.
Es gab noch einen anderen Faktor, der für die Aufteilung sprach, eine Merkwürdigkeit, auf die das Nemesis-Programm aufmerksam geworden war und das sein kaltes Interesse anstachelte. Während der zeitlosen Stunden des Dahinziehens und Prüfens, in denen es auf den Zahlenwinden schwebte und aus ihrer Gestalt und Stärke Rückschlüsse zog, war ihm etwas aufgefallen, das von dem ihm mitgegebenen theoretischen Modell des Environments so weit entfernt war, daß es kurzfristig eine neue Gefahr für die logische Integrität des Nemesis-Programms darstellte.
Irgendwo – auch das eine Metapher, die dem Programm nichts sagte, da der Informationsraum physische Entfernungen oder Richtungen nur insofern enthielt, als sie für Menschen simuliert werden mußten – irgendwo am fernen Rand von Anderland waren die Verhältnisse … anders.
Nemesis wußte nicht, inwiefern sie anders waren, auch nicht, wie etwas in einem Universum ohne räumliche Distanzen weit entfernt sein konnte, aber es wußte, daß beides wahr war. Und zum erstenmal verspürte Nemesis ein Ziehen, das sich nicht völlig aus seiner Programmierung erklären ließ. Es war natürlich eine weitere Anomalie, ein Problem, das seinen menschlichen Schöpfern gar nicht bewußt gewesen war, aber diese Anomalie war so ganz und gar verschieden von denen, die den Jagdinstinkt des Programmes auf sich zogen, daß sie normalerweise höchstwahrscheinlich unbemerkt geblieben wäre, so wie ein Tier, das sich überhaupt nicht bewegt, für bestimmte Raubtiere unsichtbar ist. Aber etwas an diesem fernen »Ort«, wo die Verhältnisse anders waren, wo die Ströme des zahlenförmigen Seins sich in einer neuen und – für Nemesis – unbegreiflichen Art und Weise bewegten, hatte seine Aufmerksamkeit erregt und war, sofern das bei einem seelenlosen, leblosen Stück Code möglich war, zu einer Manie geworden.
Deshalb hatte Nemesis beschlossen, daß es von den vielen untergeordneten Versionen, die es von sich zu erzeugen und damit eine Art Selbstmord seiner Zentralinstanz durch Aufspaltung zu begehen gedachte, eine sorgfältig konstruierte Unterinstanz damit beauftragen wollte, sich auf die Suche nach dieser Großen Anomalie zu begeben, auf den Datenströmen zu diesem unvorstellbar fernen Unort zu schwimmen und wenn möglich etwas von dort mitzubringen, das der Wahrheit glich.
Nemesis dachte nicht. Es lebte nicht. Und nur jemand, der die Grenzen schlichten Codes, die eisige Reinheit der Zahlen nicht verstand, wäre auf den Gedanken gekommen, daß es träumen könne.