Kapitel

 

Spiele im Schatten

 

NETFEED/NACHRICHTEN:

Pheromone kommen auf die Liste überwachter Substanzen

(Bild: Fühlerreibende Ameisen Kopf an Kopf)

Off-Stimme: Die chemischen Stoffe, die Insekten zur Nachrichtenübermittlung benutzen und mit denen menschliche Einzelhändler anscheinend Kunden dazu stimuliert haben, nicht nur ihre Waren zu kaufen, sondern auch die ihrer Konkurrenten zu meiden, werden nach den neuen UN-Richtlinien, trotz Protesten seitens der Regierungen Frankreichs, Chinas und der USA, von nun an einer sehr viel strengeren Kontrolle unterliegen.

(Bild: Rausha am Rednerpult vor dem UN-Logo)

Victor Rausha von der Abteilung Verbraucherschutz der UN gab die Änderungen der entsprechenden Bestimmungen bekannt.

Rausha: »Es war ein langer, zäher Kampf gegen einige äußerst mächtige Lobbys, aber die Verbraucher — die Bürger — müssen das Recht haben, ihre Kaufentscheidungen ohne irgendwelche unterschwelligen Manipulationen zu treffen, und die Beeinflussung mit Duftstoffen ist bekanntlich besonders wirksam. Wenn Lebensmittelhändler ihre Kunden hungrig machen dürfen, wieso sollten dann nicht die Polizeikräfte der Welt die Bürger zum Gehorsam oder die Regierungen sie zur Dankbareit zwingen können? Wo hört es auf?«

 

 

> »Code Delphi. Hier anfangen.

Den Regen habe ich immer geliebt. Wenn ich etwas vermisse, weil ich schon so lange in meinem unterirdischen Domizil lebe, dann ist es das Gefühl von Regen auf meiner Haut.

Blitze auch – die grellen Risse am Himmel, als ob das materielle Universum einen Moment lang aufgeschlitzt worden wäre und das transzendente Licht der Ewigkeit hervorbräche. Wenn ich etwas wegen meiner Behinderung vermisse, dann ist es der Anblick von Gottes strahlendem Gesicht, wie es durch einen Sprung im Universum späht.«

 

»Ich heiße Martine Desroubins. Ich kann mein Journal nicht mehr auf die normale Weise fortführen, wie ich gleich erklären werde, deshalb subvokalisiere ich diese Diktate in … ins Nichts aller Wahrscheinlichkeit nach … in der Hoffnung, daß es mir eines Tages irgendwie möglich sein möge, sie wieder aufzufinden. Ich habe keine Ahnung, was für ein System dem Otherlandnetzwerk zugrunde liegt oder welchen Umfang sein Speicher hat – es kann sein, daß diese Worte tatsächlich für alle Zeit verloren sind, so als hätte ich sie in den Wind gerufen. Aber diese Resümees, diese privaten Reflexionen sind mir über so viele Jahre zur Gewohnheit geworden, daß ich jetzt nicht damit aufhören mag.

Vielleicht wird jemand anders diese Worte eines Tages aus der Matrix herausziehen, Jahre später, wenn alles, was mich jetzt beschäftigt, was mir solche Angst macht, Geschichte sein wird. Was wirst du davon halten, Mensch der Zukunft? Wird das, was ich sage, dir überhaupt nachvollziehbar sein? Du kennst mich nicht. Ja, obwohl ich dieses Journal schon mein ganzes Erwachsenenleben lang führe, habe ich manchmal immer noch den Eindruck, den Gedanken einer Fremden zu lauschen.

Spreche ich also in die Zukunft, oder murmele ich nur so vor mich hin, wie die Verrückten es von jeher getan haben, allein in einer ungeheuren inneren Finsternis?

Es gibt natürlich keine Antwort.«

 

»Es gab schon früher Zeiten, in denen ich dieses Journal tagelang, während Krankheiten sogar wochenlang nicht führte, aber noch nie verbargen sich hinter diesem Vorhang des Schweigens derart erstaunliche Veränderungen, wie sie mir widerfahren sind, seit ich zum letztenmal meine Gedanken zu Protokoll gegeben habe. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß es einfach nicht. Alles ist jetzt anders.

In gewisser Weise ist es wunderbar, daß ich überhaupt noch einmal mit meinem Journal anfangen kann. Eine Zeitlang hatte ich die Befürchtung, ich würde nie mehr kohärent denken können, aber je mehr Tage hier vergehen – oder vorgespiegelt werden –, um so leichter fällt es mir, nach und nach die überwältigende Datenflut zu verkraften, die dieses Anderland ausmacht oder dieses Gralsprojekt, wie seine Erfinder sagen. Auch meine Fähigkeit, damit umzugehen, ist etwas besser geworden, aber ich bin immer noch ungeschickt wie ein Kind und von der Welt um mich herum verwirrt, beinahe so hilflos wie damals vor achtundzwanzig Jahren, als ich mein Augenlicht verlor. Das war eine schreckliche Zeit, und ich schwor damals, nie wieder so hilflos zu sein. Aber Gott hat Spaß daran, Ernst zu machen, wie es scheint. Ich kann nicht behaupten, daß mir sein Humor besonders zusagt.

Aber ich bin kein Kind mehr. Damals weinte ich, weinte jede Nacht und bat ihn, mir meine Sehkraft zurückzugeben – mir die Welt zurückzugeben, denn nichts geringeres hatte ich verloren, schien es mir. Er half mir nicht und meine von Selbstvorwürfen gequälten, unfähigen Eltern auch nicht. Es lag nicht in ihrer Macht, mir zu helfen. Ich weiß nicht, ob es in Gottes Macht lag.«

 

»Es berührt mich sonderbar, nach so langer Zeit an meine Eltern zu denken. Noch sonderbarer ist der Gedanke, daß sie wohl noch am Leben sind und in diesem Moment vielleicht keine hundert Kilometer von meinem physischen Körper entfernt wohnen. Der Abstand zwischen uns war schon so groß, bevor ich in dieses unerklärliche Anderland eintrat, dieses imaginäre Universum, dieses Spielzeug monströser Kinder.

Meine Eltern meinten es sicher gut. Es gibt schlimmere Lebensbilanzen als ihre, aber das ist ein schwacher Trost. Sie liebten mich – sie lieben mich bestimmt noch, und meine Trennung von ihnen bereitet ihnen wahrscheinlich großen Kummer –, aber sie beschützten mich nicht. Das ist schwer zu verzeihen, zumal die Folgen so furchtbar waren.

Meine Mutter Genevieve und mein Vater Marc waren Ingenieure. Beide kamen mit anderen Menschen nicht gut zurecht; beide fühlten sich im Umgang mit sicheren Zahlen und Tabellen wohler. Sie fanden einander wie zwei menschenscheue Waldtiere, und da beide die gleiche Einstellung zum Leben hatten, beschlossen sie, sich gemeinsam vor der Dunkelheit zu verstecken. Aber man kann sich nicht vor der Dunkelheit verstecken – je mehr Lichter, um so mehr Schatten. Ich erinnere mich daran recht gut aus der Zeit, als es noch Licht für mich gab.

Wir gingen kaum jemals aus dem Haus. In meiner Erinnerung sehe ich uns Abend für Abend vor dem Wandbildschirm sitzen und eine der Science-fiction-Serien anschauen, die sie so gern mochten. Immer lineare Programme – interaktive interessierten sie nicht. Sie interagierten mit ihrer Arbeit und miteinander und zum geringen Teil auch mit mir. Das reichte ihnen an Beschäftigung mit der Welt außerhalb ihrer Köpfe vollkommen. Während der Wandbildschirm flackerte, malte ich Malbücher aus oder las oder spielte mit meinem Baukasten, und meine Eltern saßen hinter mir auf der weich gepolsterten Couch, rauchten ›diskret‹, wie sie sagten, Haschisch und schwadronierten über irgendeinen dummen wissenschaftlichen Fehler oder eine unlogische Sequenz in einer ihrer geliebten Serien. Wenn sie die betreffende Folge schon einmal gesehen hatten, diskutierten sie den Fehler trotzdem noch genauso angeregt und ausführlich wie beim erstenmal. Manchmal hatte ich Lust, sie anzuschreien, sie sollten still sein, mit dem blöden Geschwätz aufhören.

Sie arbeiteten natürlich beide zuhause, der Kontakt zu Kollegen lief zum Großteil übers Netz. Das war zweifellos einer der Hauptgründe für ihre Berufswahl gewesen. Wenn es die Schule nicht gegeben hätte, wäre ich vielleicht niemals vor die Haustür gekommen.

Die mangelnde Auseinandersetzung meiner Eltern mit der Außenwelt, anfangs nur ein verträumtes Desinteresse, wurde im Laufe der Jahre bedrückend. Besonders meiner Mutter machten die vielen Stunden, in denen ich ihren Blicken entzogen war, immer mehr Angst, als ob ich ein tollkühner kindlicher Astronaut wäre, der das sichere heimische Raumschiff verlassen hatte, und die ruhigen Straßen einer Toulouser Vorstadt waren für sie ein von Ungeheuern wimmelnder fremder Planet. Sie wollte, daß ich sofort nach der Schule wieder an Bord kam. Wenn es zu dem Zeitpunkt, als ich sieben Jahre alt war, eine Teleportmaschine wie in ihren Science-fiction-Phantasien gegeben hätte, eine Möglichkeit, mich augenblicklich vom Klassenzimmer zurück ins Wohnzimmer zu befördern, hätte sie eine gekauft, egal zu welchem Preis.

In meiner frühen Kindheit, als beide noch arbeiteten, hätten sie sich so ein Gerät vielleicht sogar leisten können, falls es existiert hätte … aber dann ging es mit uns bergab. Die lockere Heiterkeit meines Vaters war eine Maske, die eine ohnmächtige Hilflosigkeit angesichts jeder Komplikation verbarg. Ein unangenehmer Chef, den man ihm vor die Nase gesetzt hatte, vertrieb ihn schließlich aus einem Unternehmen, das er mit gegründet hatte, und er mußte sich notgedrungen mit einer schlechter bezahlten Stelle abfinden. Meine Mutter verlor ihre Stelle ohne eigenes Verschulden – die Firma bekam ihren Vertrag mit der AEE, der Europäischen Weltraumorganisation, nicht verlängert, und ihre ganze Abteilung wurde aufgelöst –, aber es war ihr nahezu unmöglich, aus dem Haus zu gehen und sich eine neue zu suchen. Sie erfand Ausreden dafür, zuhause zu bleiben, und lebte zusehends nur noch im Netz. Meine Eltern hingen an ihrem Haus in der ruhigen Vorstadt, aber es wurde für sie finanziell von Monat zu Monat schwerer zu halten. Die bekifften Diskussionen wurden manchmal angespannt und anklagend. Sie verkauften ihre teure Datenverarbeitungsstation an einen Bekannten und ersetzten sie durch ein billiges, gebrauchtes Modell, irgendein westafrikanisches Fabrikat. Sie hörten auf, sich neue Sachen anzuschaffen. Wir aßen auch billig – meine Mutter kochte Riesentöpfe Suppe und grummelte dabei wie eine Prinzessin, die man zur Küchenmagd degradiert hatte. Noch heute ist der Geruch von kochendem Gemüse für mich gleichbedeutend mit Unglück und stiller Wut.

Ich war acht, als das Angebot kam – alt genug, um zu wissen, daß die Dinge zuhause im argen lagen, aber ohne die leiseste Chance, etwas daran zu ändern. Ein Freund meines Vaters nannte ihm ein Forschungsunternehmen, bei dem meine Mutter vielleicht Arbeit finden könne. Sie hatte kein Interesse – höchstens ein Brand hätte sie zu dem Zeitpunkt noch aus dem Haus treiben können, glaube ich, und nicht einmal dessen bin ich mir sicher –, aber mein Vater ging der Sache nach, vielleicht weil er meinte, dort eine zusätzliche Teilzeitarbeit zu finden.

Das war nicht der Fall, obwohl er mehrere Vorstellungsgespräche absolvierte und eine der Projektleiterinnen ziemlich gut kennenlernte. Diese Frau, von der ich ehrlich glaube, daß sie meinem Vater einen Gefallen tun wollte, erwähnte, daß sie zwar im Augenblick keine weiteren Ingenieure bräuchten, dafür allerdings Testpersonen für ein bestimmtes Projekt, und das Unternehmen, das die Forschungen finanzierte, zahle sehr gut.

Mein Vater wollte sich melden. Sie teilte ihm mit, daß er die Anforderungen nicht erfülle, aber seinen Bewerbungsunterlagen nach zu urteilen, komme seine achtjährige Tochter dafür in Frage. Es handele sich um ein Experiment, mit dem die Entwicklung der Sinneswahrnehmungen erforscht werden solle, und der Geldgeber sei die Schweizer Clinsor-Gruppe, spezialisiert auf medizinische Technik. Ob er Interesse habe.

Zu seinen Gunsten muß ich sagen, daß mein Vater Marc nicht sofort zustimmte, obwohl die angebotene Summe beinahe seinem Jahresgehalt entsprach. Er kam ziemlich verstört nach Hause. Er und meine Mutter führten den ganzen Abend lang geflüsterte Diskussionen vor dem Bildschirm und lautere, nachdem sie mich zu Bett gebracht hatten. Später fand ich heraus, daß zwar keiner von ihnen sich eindeutig für oder gegen die Idee aussprach, aber daß die durch das Angebot ausgelöste wechselnde Uneinigkeit sie trotzdem einer Trennung näher brachte als irgend etwas sonst in ihrer Ehe. Wie typisch für sie – selbst als sie den heftigsten Streit ihres Lebens hatten, wußten sie nicht, was sie wollten.

Drei Nächte später, nach ein paar rückversichernden Anrufen bei der pseudowissenschaftlichen Organisation, die für die Durchführung der Studie bezahlt wurde – das ist nicht übertrieben oder beleidigend gemeint, da es schon damals nur noch wenige Universitäten gab, die nicht ihre Seele an irgendwelche Sponsoren aus der Wirtschaft verkauft hatten –, waren meine Eltern davon überzeugt, daß alles nur zu unserem Besten wäre. Ich denke, in ihrer welt- und menschenfremden Art hatten sie sogar angefangen zu glauben, daß bei der Sache irgend etwas Wichtiges für mich persönlich herauskommen könnte, mehr als nur einfach Geld für die Familie, daß bei dem Test irgendein verborgenes Talent von mir ans Licht kommen und ich mich als ein noch außergewöhnlicheres Kind erweisen würde, als ich es in ihren Augen ohnehin war.

In einer Hinsicht hatten sie recht – die Sache veränderte mein Leben für alle Zeit.

Ich erinnere mich, wie meine Mutter in mein Zimmer kam. Ich war früh mit einem Buch ins Bett gegangen, weil mich das seltsame, geradezu … somnambule, das ist das Wort – das somnambule Geplapper der beiden an den Tagen davor nervös gemacht hatte, und ich schaute schuldbewußt auf, als sie hereinkam, als ob sie mich bei etwas Verbotenem ertappt hätte. Der Farbverdünnergeruch des Haschisch hing in ihrem abgetragenen Pullover. Sie war ein wenig bekifft, wie oft um diese Abendzeit, und während sie daran herumkaute, wie sie mir die Neuigkeit beibringen sollte, machte mir ihre dumpfe Unartikuliertheit einen Moment lang richtig Angst. Sie wirkte gar nicht wie ein Mensch – eher wie ein Tier oder ein außerirdischer Doppelgänger aus einer der Netzsendungen, die meine ganze Kindheit über im Hintergrund gelaufen waren.

Während sie mir ihre elterliche Entscheidung darlegte, wuchs meine Angst immer mehr. Ich solle nur ein kleines Weilchen allein bleiben, erklärte sie mir, und einigen Leuten bei einem Experiment helfen. Nette Männer und Frauen – Fremde, hieß das in Wirklichkeit – würden sich um mich kümmern. Es würde der Familie helfen und bestimmt interessant werden. Alle anderen Kinder in meiner Schule würden mich beneiden, wenn ich zurückkam.

Wie konnte eine so autistische Frau wie meine Mutter nur auf den Gedanken kommen, daß das bei mir etwas anderes als Schrecken auslösen würde? Ich weinte die ganze Nacht und noch Tage danach. Meine Eltern taten so, als wäre es im Prinzip dasselbe wie die Angst davor, ins Sommerlager zu fahren oder den ersten Tag in die Schule zu gehen, und hielten mir vor, ich mache ein großes Getue um nichts, aber selbst ihnen muß aufgegangen sein, daß ihre elterliche Sorge zu wünschen übrigließ. Sie servierten mir jeden Abend meine liebsten Nachspeisen und rauchten zwei Wochen lang kein Hasch, um mir mit dem gesparten Geld eine neue Ausstattung kaufen zu können.

Für meine Reise zu dem Institut zog ich meinen neuen Mantel und mein neues Kleid an. Nur mein Vater flog mit mir nach Zürich – zu dem Zeitpunkt konnte meine Mutter ohne stundenlange Vorbereitung nicht einmal mehr ein Päckchen in den Postkasten an der Ecke werfen. Als wir landeten, war der Himmel so grau, daß ich die stumpf metallische Farbe die ganzen dazwischenliegenden Jahre der Finsternis über nicht vergessen habe, und ich war mir sicher, daß mein Vater vorhatte, mich meinem Schicksal zu überlassen, so wie der Vater von Hänsel und Gretel seine Kinder im Wald ausgesetzt hatte. Die Leute vom Pestalozzi Institut holten uns in einem großen schwarzen Auto ab, genau die Art, in die man kleinen Mädchen beibringt, niemals einzusteigen. Alles wirkte sehr geheimnisvoll und ominös. Das wenige, was ich auf der Fahrt zum Institut von der Schweiz sah, erschreckte mich – die Häuser waren fremdartig, und es lag schon Schnee, obwohl es in Toulouse noch angenehm warm gewesen war. Als wir bei dem Komplex niedriger Gebäude ankamen, dessen umliegende Gärten zu einer freundlicheren Jahreszeit bestimmt auch freundlich wirkten, wurde mein Vater gefragt, ob er die erste Nacht vor Beginn des Experiments mit mir zusammenbleiben wolle. Er hatte sein Rückflugticket für den Abend bereits in der Tasche, weil es ihn mehr beunruhigte, meine Mutter allein zu lassen als mich. Ich weinte und küßte ihn nicht zum Abschied.

Seltsam, seltsam… die ganze Sache war seltsam. Ich bat meine Eltern später – nein, ich verlangte von ihnen, mir zu sagen, wie sie ein kleines Kind auf so eine Weise hatten fortschicken können. Sie konnten keinen anderen Grund dafür angeben, als daß sie es zu dem Zeitpunkt für eine gute Idee gehalten hätten. ›Wer konnte sich vorstellen, daß sowas passieren würde, Liebes?‹ war der Spruch meiner Mutter. Ja, wer? Vielleicht Menschen, die sich noch um andere Dinge außer dem Wandbildschirm und dem Wohnzimmer kümmerten.

Oh, ich werde heute noch wütend, wenn ich daran denke.

Auf ihre Weise waren die Leute im Pestalozzi Institut sehr nett. Sie arbeiteten mit vielen Kindern, und die Schweizer lieben ihre Söhne und Töchter nicht weniger als andere Völker. Es gab mehrere Berater im Mitarbeiterstab, deren einzige Aufgabe es war, dafür zu sorgen, daß die Versuchspersonen – Forschungsgegenstand des Instituts war fast ausschließlich die kindliche Entwicklung – sich wohl fühlten. Ich erinnere mich an eine Frau Fürstner, die besonders freundlich war. Ich frage mich oft, was aus ihr geworden ist. Sie war nicht älter als meine Mutter, daher lebt sie wahrscheinlich noch, möglicherweise immer noch in Zürich. Allerdings wage ich zu behaupten, daß sie nicht mehr für das Institut arbeitet.

Ich bekam ein paar Tage, um mich an meine neue Umgebung zu gewöhnen. Ich war in einer Art Schlafsaal untergebracht, zusammen mit vielen anderen Kindern, von denen die meisten französisch sprachen, so daß ich nicht einsam im gewöhnlichen Sinne des Wortes war. Unsere Verpflegung war gut, und unsere Wärter gaben uns alle Spielzeuge und Spiele, die wir haben wollten. Ich schaute mir Science-fiction-Sendungen aus dem Netz an, obwohl sie ohne den laufenden Kommentar meiner Eltern eigenartig leblos wirkten.

Schließlich stellte mich Frau Fürstner einer Frau Doktor Beck vor, einer Frau mit goldenen Haaren, die in meinen Augen so hübsch war wie eine Märchenprinzessin. Während mir die Frau Doktor mit ihrer gütigen, geduldigen Stimme erklärte, was man von mir erwartete, fiel es mir immer schwerer zu glauben, daß etwas Schlimmes passieren würde. So eine schöne Frau würde niemals versuchen, mir etwas zu tun. Und selbst wenn irgendein Fehler geschah, wußte ich, daß Frau Fürstner nicht zulassen würde, daß ich Schaden nahm. Ich war immer behütet gewesen – wenn auch nicht in den wesentlichsten Hinsichten, wie mir später klar wurde –, und jetzt versicherten mir diese guten Leute, daß sich wenigstens in dem Punkt nichts ändern würde.

Ich sollte an einem Experiment mit sensorischer Deprivation teilnehmen. Ich bin mir immer noch nicht ganz im klaren darüber, welche Erkenntnisse sich das Institut von diesen Versuchen versprach. Bei der Verhandlung erklärten die Mitarbeiter, sie seien beauftragt gewesen, unbeeinflußte biologische Rhythmen zu untersuchen, aber auch zu erforschen, wie Umweltfaktoren sich auf Lernfähigkeit und Entwicklung auswirken. Welchen Nutzen das für einen multinationalen medizinischen und pharmazeutischen Konzern wie die Clinsor-Gruppe haben könnte, wurde nie richtig klar, aber die Clinsorleute hatten einen riesigen Forschungsetat und viele Interessen – das Pestalozzi Institut war nur einer von vielen Nutznießern ihrer Freigebigkeit.

Es werde einfach ein etwas anderer Urlaub sein, erläuterte mir Doktor Beck. Ich solle in einem sehr dunklen, sehr stillen Raum allein bleiben – ähnlich meinem Zimmer zuhause, aber mit eigener Toilette. Es werde reichlich Spielsachen und Spiele und Übungen zu meiner Beschäftigung geben, nur müsse alles im Dunkeln stattfinden. Aber eigentlich wäre ich gar nicht richtig allein, erklärte mir die Frau Doktor, weil sie oder Frau Fürstner immer über die Lautsprecher zuhören würden. Ich könne mich jederzeit bei ihnen melden, und sie würden mit mir sprechen. Es werde nur wenige Tage dauern, und wenn alles vorbei sei, würde ich soviel Kuchen und Eis bekommen, wie ich essen könne, und jedes Spielzeug, das ich haben wolle.

Und meine Eltern, fügte sie erst gar nicht hinzu, würden dafür Geld bekommen.

Es wirkt albern, das hier zu erwähnen, übertrieben bedeutungsschwer, aber als Kind hatte ich mich vorher im Dunkeln nie besonders gefürchtet. Wenn dies hier ein Roman wäre, könnte ich mein Journaldiktat mit dem Satz beginnen: ›Als Kind hatte ich keine Angst vor der Dunkelheit.‹ Freilich, wenn ich gewußt hätte, daß ich den Rest meines Leben in der Dunkelheit verbringen würde, hätte ich mich vielleicht dagegen gewehrt, darin eingetaucht zu werden.

Viele der Informationen, die das Pestalozzi Institut aus den Versuchen mit sensorischer Deprivation an mir und den anderen getesteten Kindern sammelte, waren im wesentlichen redundant. Das heißt, sie bestätigten nur, was bereits an erwachsenen Versuchspersonen herausgefunden worden war, an Leuten, die sich lange unter der Erde, in Höhlen oder in lichtlosen Zellen aufgehalten hatten. Bei den Kindern gab es ein paar Abweichungen von den Erwachsenen – sie paßten sich auf lange Sicht besser an, allerdings war auch die Wahrscheinlichkeit höher, daß sie in ihrer langfristigen Entwicklung negativ beeinflußt wurden –, aber solche naheliegenden Ergebnisse kommen einem bei so einem teuren Programm sehr mager vor. Als ich Jahre später die Zeugenaussagen studierte, die die Forscher des Unternehmens vor Gericht gemacht hatten, mußte ich erbittert feststellen, wie wenig Erkenntnisse durch den Verlust meines Glücks gewonnen worden waren.

Wie Doktor Beck gesagt hatte, war anfangs alles ganz einfach. Ich aß, spielte und verbrachte meine Tage im Dunkeln. Ich legte mich in völliger Finsternis schlafen und wachte in demselben schwarzen Nichts wieder auf, häufig vom Klang der Stimme eines Forschers oder einer Forscherin. Ich war von diesen Stimmen bald regelrecht abhängig, und nach einer Weile konnte ich sie sogar sehen. Sie hatten Farben, Formen – es fällt mir nicht leicht, das zu beschreiben, wie ich auch meinen gegenwärtigen Reisegefährten nicht beschreiben kann, wie meine Wahrnehmungen dieser künstlichen Welt sich von ihren unterscheiden. Ich bekam einen ersten Eindruck von der Synästhesie aufgrund der reduzierten Sinnesreize, nehme ich an.

Die Spiele und Übungen waren zunächst ganz simpel, Geräuscherkennungsrätsel, Tests meines Zeitgefühls und meines Gedächtnisses, Versuche, um festzustellen, wie die Dunkelheit meinen Gleichgewichtssinn und meine allgemeine Koordination beeinflußte. Bestimmt wurde das, was ich aß und trank und ausschied, ebenfalls kontrolliert.

Es dauerte nicht lange, bis ich jeden Zeitbegriff verlor. Ich schlief, wenn ich müde war, und konnte, wenn die Forscher mich nicht weckten, zwölf und mehr Stunden schlafen – oder genausogut eine Dreiviertelstunde. Und wie zu erwarten, erwachte ich aus diesen Schlummerzuständen ohne jedes Gefühl dafür, wie lange ich weg gewesen war. Das an sich störte mich nicht – erst wenn wir älter werden, erschreckt uns der Gedanke, wir könnten die Kontrolle über die Zeit verlieren –, aber andere Dinge schon. Ich vermißte meine Eltern, auch wenn sie mich verraten hatten, und ohne es erklären zu können, hatte ich, glaube ich, angefangen zu befürchten, daß ich nie wieder ans Licht zurückkehren würde.

Diese Furcht sollte sich freilich als begründet erweisen.

Von Zeit zu Zeit ließ mich Doktor Beck über den Tonkanal des abgeschalteten Wandbildschirms mit einem der anderen Kinder reden. Einige von ihnen waren wie ich in der Dunkelheit isoliert, andere waren im Licht. Ich weiß nicht, was die Forscher davon hatten – wir waren schließlich Kinder, und Kinder können zwar zusammen spielen, aber sie sind keine Konversationsgenies. Nur ein Kind war anders. Als ich zum erstenmal seine Stimme hörte, fürchtete ich mich. Sie brummte und quäkte – vor meinem inneren Auge hatte der Klang eine harte, eckige Gestalt, wie ein altes mechanisches Spielzeug –, und einen Akzent wie ihren hatte ich noch nie gehört. Rückblickend kann ich sagen, daß die Töne aus einem Sprach Synthesizer kamen, aber zu dem Zeitpunkt malte ich mir ziemlich erschreckende Bilder davon aus, was oder wer so eine Zunge in seinem Mund haben konnte.

Die absonderliche Stimme fragte mich nach meinem Namen, aber ihren sagte sie nicht. Sie klang zögernd und machte viele lange Pausen. Die ganze Angelegenheit kommt mir heute merkwürdig vor, und ich frage mich, ob ich mit einer Form von künstlicher Intelligenz gesprochen haben könnte oder mit einem autistischen Kind, dem mit technischen Mitteln geholfen werden sollte, aber damals war ich, wie ich mich erinnere, sowohl fasziniert als auch genervt von diesem neuen Spielgefährten, der so lange brauchte, um etwas zu sagen, und der so seltsam sprach, wenn die Worte endlich kamen.

Es sei allein, sagte das Kind. Es saß wie ich im Dunkeln, oder jedenfalls schien es nicht sehen zu können – es sprach niemals anders von sichtbaren Dingen als in deutlich angelernten Metaphern. Vielleicht war es blind, wie ich jetzt blind bin. Es wußte nicht, wo es war, aber es wollte hinaus – das sagte es mehrmals.

Dieses Kind war das erste Mal nur wenige Minuten bei mir, doch die anderen Male redeten wir länger. Ich brachte ihm einige der Geräuscherkennungsspiele bei, die die Forscher an mir ausprobiert hatten, und ich sang ihm Lieder vor und sagte ihm einige der Kinderverse auf, die ich kannte. Seine Auffassungsgabe war bei manchen Sachen eigenartig langsam und bei anderen geradezu bestürzend rasch – zeitweise schien es in meinem pechschwarzen Raum neben mir zu sitzen und irgendwie alles zu beobachten, was ich machte.

Bei unserem fünften oder sechsten ›Besuch‹, wie Doktor Beck dazu sagte, erklärte es mir, ich sei seine Freundin. Ich kann mir kein herzzerreißenderes Geständnis vorstellen, und es wird mir ewig unvergeßlich bleiben.

Viele Tage meines Erwachsenenlebens habe ich damit verbracht, dieses verlorene Kind zu suchen, habe in den Unterlagen des Instituts jede mögliche Fährte verfolgt, jede Person überprüft, die je mit den Pestalozzi-Experimenten zu tun hatte, aber ohne Erfolg. Heute frage ich mich, ob es überhaupt ein Kind war. Waren wir vielleicht die Versuchskaninchen irgendeines Turingtests? Die Sparringspartner für ein Programm, das eines Tages auch für Erwachsene nicht mehr durchschaubar sein sollte, aber in diesem frühen Stadium sich nur durch Gespräche mit Achtjährigen durchwursteln konnte, und auch das nur mit Mühe und Not?

Wie auch immer, ich habe nie wieder mit ihm gesprochen. Denn etwas anderes geschah.

Ich war schon seit vielen Tagen im Dunkeln, seit über drei Wochen. Die Forscher des Instituts hatten vor, meinen Teil des Experiments binnen achtundvierzig Stunden zum Abschluß zu bringen. Deshalb wurde ich von Frau Fürstner mit pseudomütterlicher Wärme einer besonders komplexen und gründlichen abschließenden Testreihe unterzogen, als irgend etwas schiefging.

Die Aussagen vor Gericht sind unklar, weil die Pestalozzi-Mitarbeiter sich selber nicht sicher waren, aber irgendwie kam es in dem komplizierten Haussystem des Instituts zu einer schwerwiegenden Störung. Ich nahm sie zuerst als das Aussetzen von Frau Fürstners sanfter, verzaubernder Stimme mitten im Satz wahr. Das Summen der Klimaanlage, das ein konstanter Faktor der Raumatmosphäre gewesen war, hörte plötzlich ebenfalls auf, und eine Stille trat ein, die mir regelrecht in den Ohren weh tat. Alles war fort – alles. All die freundlichen Töne, die die Dunkelheit etwas weniger absolut gemacht hatten, waren verstummt.

Nach wenigen Minuten bekam ich es mit der Angst zu tun. Vielleicht hatte ein Raubüberfall stattgefunden, dachte ich, und böse Männer hatten Doktor Beck und die anderen verschleppt. Oder vielleicht war irgendwo ein großes Monster ausgebrochen und hatte sie getötet, und jetzt schnüffelte es auf den Korridoren herum und suchte nach mir. Ich stürzte zu der dicken, schalldichten Tür meines Zimmers, aber da der Strom fort war, waren die Türschlösser natürlich blockiert. Ich konnte nicht einmal die Klappe der abgedunkelten Durchreiche öffnen, durch die ich meine Mahlzeiten bekam. Entsetzt schrie ich nach der Frau Doktor, nach Frau Fürstner, aber niemand kam oder gab Antwort. Die Dunkelheit wurde für mich in einer Art und Weise furchtbar, wie sie es die ganzen Tage vorher nicht gewesen war, ein Ding, dicht und greifbar. Mir war zumute, als würde sie mir den Atem nehmen, mich würgen, bis ich erstickte, bis ich die Schwärze selbst einsaugte und mich damit anfüllte wie eine, die in einem Meer aus Tinte ertrinkt. Und noch immer kam nichts – kein Geräusch, keine Stimmen, eine Stille wie im Grab.

Ich weiß heute aus den Zeugenaussagen, daß es fast vier Stunden dauerte, bis die Techniker des Instituts das System wieder zum Laufen gebracht hatten. Für die kleine Martine, das Kind, das ich war, vergessen im Dunkeln, hätten es genausogut vier Jahre sein können.

Nach einer langen Zeit, in der mein Verstand am Rand eines Abgrunds entlangirrte und in Gefahr war, jeden Augenblick in eine Dissoziation zu stürzen, die totaler und vernichtender war als jede bloße Blindheit, gesellte sich etwas zu mir.

Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, war ich nicht mehr allein. Ich spürte jemanden neben mir, der die Dunkelheit mit mir teilte, aber das verringerte mein Entsetzen keineswegs. Dieser Jemand, wer oder was es auch war, erfüllte die Leere in meinem Quartier mit einer gräßlichen, ganz unbeschreiblichen Einsamkeit. Hörte ich ein Kind weinen? Hörte ich überhaupt etwas? Ich weiß es nicht. Ich weiß heute gar nichts, und damals war ich wahrscheinlich völlig außer mir. Aber ich fühlte etwas kommen und sich neben mich setzen, und ich fühlte es in der bleischweren schwarzen Nacht bitterlich weinen, ein Wesen, das leer und kalt und vollkommen allein war, das Schrecklichste, was mir je widerfahren ist. Ich war taub und starr vor Grauen.

Und da ging das Licht an.

Seltsam, was für Kleinigkeiten das Leben bestimmen. Man kommt an eine Kreuzung, wenn die Ampel gerade auf Rot umspringt, muß zuhause noch die vergessene Brieftasche holen und verpaßt das Flugzeug, tritt in den hellen Schein einer Straßenlaterne und erregt dadurch die Aufmerksamkeit eines Fremden – kleine Zufallsbegebenheiten, doch sie können alles verändern. Der Absturz des Institutssystems allein, so einschneidend und unerklärlich er war, hätte nicht gereicht. Aber eines der Infrastruktur-Unterprogramme war fehlerhaft codiert worden – eine Sache von ein paar falsch gesetzten Ziffern –, so daß die drei Wohneinheiten in meinem Flügel bei dem ordnungsgemäßen Startvorgang ausgelassen wurden. Als daher das System wieder anlief und der Strom kam, bekamen unsere drei Wohneinheiten statt des trüben, sich langsam verstärkenden Glühens der Übergangslampen, kaum heller als eine haarfeine Mondsichel in schwarzer Nacht, die volle Tausend-Watt-Nova der Notbeleuchtung ab. Die beiden anderen Zimmer waren leer – eines war seit Wochen nicht benutzt worden, der Insasse des anderen war wenige Tage vorher wegen Windpocken auf die Krankenstation des Instituts gebracht worden. Ich war die einzige, die die Notbeleuchtung angehen sah wie das flammende Auge Gottes. Aber ich sah sie nur einen Augenblick – es war das letzte, was ich im Leben sah.

Es ist nichts Somatisches, erklären mir die Spezialisten, alle, mehr, als ich zählen kann. So schlimm das Trauma auch war, es dürfte eigentlich nicht permanent sein. Es liegt keine erkennbare Schädigung des Sehnervs vor, und die Tests ergeben, daß ich im Grunde noch ›sehe‹ – daß der Teil meines Gehirns, der visuelle Eindrücke verarbeitet, nach wie vor tätig ist und auf Reize reagiert. Aber natürlich sehe ich nicht, ganz gleich, was irgendwelche Tests behaupten.

›Hysterische Blindheit‹ lautet die alte Bezeichnung dafür – anders ausgedrückt, wenn ich wollte, könnte ich sehen. Wenn das stimmt, dann nur in der Theorie. Wenn ich durch bloßes Wollen wieder sehen könnte, dann hätte ich nicht die ganzen Jahre in schwarzer Nacht verbracht – kann jemand im Ernst etwas anderes annehmen? Aber dieser eine lodernde Blitz vertrieb jede Erinnerung daran, wie das geht, Sehen, aus meinem Bewußtsein, stieß mich in ewige Schwärze und machte aus mir mit einem Schlag die Frau, die ich heute bin, genau wie Saulus auf der Straße nach Damaskus zu einem neuen Menschen gemacht wurde.

Seitdem lebe ich in der Dunkelheit.

Der Prozeß zog sich lange hin – fast drei Jahre –, aber ich kann mich kaum noch daran erinnern. Ich war in eine andere Welt versetzt worden, ganz als hätte mich eine böse Fee verzaubert, und ich hatte alles verloren. Es dauerte lange, bis ich anfing, mir eine neue Welt zu schaffen, in der ich leben konnte. Meine Eltern bekamen etliche Millionen Kredite von Clinsor und dem Pestalozzi Institut und legten fast die Hälfte davon für mich auf die Seite. Mit diesem Geld konnte ich mir einen Sonderbildungsgang finanzieren, und als ich erwachsen war, kaufte ich mir damit meine technische Ausstattung, meinen Wohnsitz und meine Ruhe. In gewisser Weise kaufte ich mir damit auch die Trennung von meinen Eltern – es gibt nichts, was ich noch von ihnen bräuchte.

Es gibt noch mehr zu sagen, aber die Zeit ist so schnell vergangen. Ich weiß nicht, wie lange ich hier verstohlen flüsternd gesessen habe, aber ich spüre, wie gerade die Sonne an diesem seltsamen Ort aufzugehen beginnt. In gewisser Weise habe ich hier neu angefangen, so wie ich auch dieses neue Tagebuch angefangen habe, das ich nur mit der leisesten Hoffnung, es eines Tages wiederzufinden, ins Nichts spreche. War es der englische Dichter Keats, der sich als einen bezeichnete, ›dessen Name auf Wasser geschrieben ist‹? Gut. Ich werde Martine Desroubins sein, die blinde Hexe einer neuen Welt, und ich werde meinen Namen auf Luft schreiben.

Jemand ruft mich. Ich muß gehen.

Code Delphi. Hier aufhören.«

 

 

> Es war eine melodische Reihe glockenheller Töne, die sich in fraktale Teilreihen fortpflanzte, während gleichzeitig das Hauptthema wiederholt wurde. Die Teilreihen erzeugten ihrerseits eigene Substrukturen, Schicht für Schicht, bis nach einer Weile die ganze Welt ein derart komplexes Klanggewebe wurde, daß es unmöglich war, einen einzelnen Ton oder gar eine einzelne Reihe herauszugreifen. Irgendwann wurde das Ganze ein einziger Ton mit Millionen von mitklingenden Obertönen, ein fließendes, schimmerndes, schwingendes Fis, das wahrscheinlich der uranfängliche Ton des Universums war.

Es war Dreads Denkmusik. Außer der Jagd und einem gelegentlichen Weckaminschub war sie seine einzige Droge. Er setzte sie nicht wahllos ein, nicht gierig wie ein Chargehead, der sich einen gestreamten Pop 2black durch die Can reinzieht, sondern vielmehr mit der Gelassenheit eines süchtigen Arztes, der sich einen Schuß unverschnittenen, apothekenreinen Heroins setzt, bevor er wieder an die Arbeit geht. Er hatte sich den Nachmittag freigehalten, ein digitales Schild »Bitte nicht stören« in seine Leitungen gehängt, und jetzt lag er in seinem Büro in Cartagena auf dem Teppich, ein Kissen im Nacken und eine Plastikflasche mit gefiltertem Wasser neben sich, und lauschte dem Sphärengesang.

Während der eine Ton immer ruhiger und weniger komplex zu werden schien – paradoxerweise deshalb, weil die Wiederholungen sich exponentiell vervielfachten –, spürte er, wie er aus seinem Körper in den leeren silbernen Raum aufstieg, nach dem er strebte. Er war Dread, aber er war auch Johnny Wulgaru, und er war noch jemand anders, einer, der eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit dem Todesboten des Alten Mannes hatte – doch er war mehr. Er war das alles, aufgetrieben zur Größe eines Sternensystems … leer, voller Schwärze und doch aufgeladen mit Licht.

Er fühlte, wie der Dreh aus dem Schlummerzustand aufglomm, ein heißer Punkt in seinem innersten Zentrum. Er schwebte durch das silberne Nichts der Musik, und seine Kraft wuchs. Er konnte jetzt zugreifen, wenn er wollte, und etwas viel Komplexeres und Stärkeres als ein Sicherheitssystem verdrehen. Einen Moment lang sah er die Erde unter sich liegen, in Dunkel gehüllt bis auf ein kugelrundes Gespinst elektronischer Pfade, ein Kapillarsystem winziger Lichter, und in seiner silbernen, mit Musik aufgeputschten Großmächtigkeit hatte er das Gefühl, die ganze Welt verdrehen zu können, wenn es ihm beliebte.

Irgendwo fühlte Dread sich lachen. Es war ein Lachen wert. Zuviel, zuviel.

War so das Gefühl, das der Alte Mann hatte? War dies das Gefühl der Macht, in dem der Alte Mann die ganze Zeit schwelgte? Daß die Welt ihm gehörte und er damit nach Belieben umspringen konnte? Daß Leute wie Dread nur winzige Lichtpünktchen waren, unbedeutender als Glühwürmchen?

Selbst wenn, machte Dread das nichts aus. Er war in seine eigene silberne Selbstzufriedenheit eingesponnen und brauchte den Alten Mann weder zu beneiden noch zu fürchten. Alles würde sich verändern, und zwar sehr bald schon.

Nein, er mußte jetzt andere Dinge bedenken, andere Träume träumen. Er ließ sich von dem pulsierenden Ton abermals aus sich hinausversetzen. Der Dreh brannte warm in ihm bei seiner Rückkehr an den kühlen, silbernen Ort, den Ort, von dem aus er weit vorausschauen und die ganzen Kleinigkeiten ins Auge fassen konnte, die er auf seinem Weg zu erledigen hatte.

Dread lag auf dem Bürofußboden und lauschte seiner Denkmusik.

 

Es dauerte aufreizend lange, bis sie den Anruf annahm. Er hatte sich bereits kurz in die Simleitung eingeschaltet und wußte, daß die Anderlandfahrer noch schliefen. Was machte sie bloß, duschte sie etwa schon wieder? Kein Wunder, daß sie so ein Geschiß um ihre Katze machte – sie war praktisch selber eine mit ihrer ständigen Putzerei. Er sollte dem Weibsbild mal ein bißchen Disziplin beibringen … vielleicht auf die kreative Art.

Nein, ermahnte er sich. Denk an den silbernen Ort. Er stellte ein wenig Musik an – nicht die Denkmusik (er hatte seine Wochenration schon gehabt, und in diesen Dingen war er sehr streng mit sich), sondern ein schwaches Echo, ein leises Töneplätschern, wie wenn Wasser in ein Becken rieselt. Er wollte nicht, daß der Ärger ihm alles verdarb. Das hier war die Sache, auf die er sein Leben lang gewartet hatte.

Obwohl der Anruf seine Signatur trug, meldete sich ihre Stimme ohne Bild. »Hallo?«

Der silberne Ort, sagte er sich. Der Riesenfilm. »Ich bin’s, Dulcy. Was ist, kommst du schon wieder frisch aus dem Bad?«

Dulcy Anwins sommersprossiges Gesicht erschien. Sie hatte tatsächlich einen Frotteebademantel an, aber ihre roten Haare waren trocken. »Ich hab einfach beim letzten Anruf das Bild abgeschaltet und vergessen, es wieder anzustellen.«

»Na, egal. Wir haben ein Problem mit unserm Projekt.«

»Du meinst, weil sie schon wieder getrennt wurden?« Sie verdrehte die Augen. »Wenn das so weitergeht, sind wir bald der letzte Sim, der noch übrig ist. Ohne die beiden Kriegerknaben sind es nur noch vier – fünf mit unserm.«

»Das ist nicht das Problem, obwohl ich auch darüber nicht sonderlich glücklich bin.« Dread sah einen Schatten, der sich hinter ihr in der Küchentür bewegte. »Ist da noch jemand bei dir?«

Sie schaute sich verdutzt um. »Ach, um Gottes willen. Es ist Jones. Meine Katze. Glaubst du im Ernst, ich würde dieses Gespräch mit dir führen, wenn jemand anders hier wäre?«

»Nein, natürlich nicht.« Er stellte die Plätschermusik ein bißchen lauter, um sich eine ruhige, besänftigende Atmosphäre zu schaffen, aus der heraus er ein Lächeln zustande bringen konnte. »Tut mir leid, Dulcy. Ein Haufen Arbeit an diesem Ende.«

»Zuviel Arbeit, möchte ich wetten. Du mußt monatelang an der Planung des … des gerade abgeschlossenen Projekts gearbeitet haben. Wann hast du dir zum letztenmal freigenommen?«

Als ob er irgendein armer, geschundener mittlerer Manager wäre. Dread mußte innerlich grinsen. »Das muß eine ganze Weile her sein, aber das ist es nicht, worüber ich reden möchte. Wir haben ein Problem. Es ist nicht nur unmöglich, jemand Drittes zur Führung des Sims hinzuzuziehen, wir können sogar nicht mal mehr zwei Leute einsetzen.«

Sie runzelte die Stirn. »Wieso das denn?«

»Ich habe den Eindruck, du hast nicht richtig aufgepaßt.« Er bemühte sich, es beiläufig klingen zu lassen, aber er war nicht erbaut darüber, sie auf etwas so Offensichtliches hinweisen zu müssen, vor allem nicht im Lichte des Anliegens, das er an sie hatte. »Diese Martine – die blinde Frau. Wenn sie die Wahrheit sagt, und ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln, dann stellt sie eine echte Gefahr für uns dar.«

Als ob sie begriffen hätte, daß sie beim Dösen ertappt worden war, setzte Dulcy jetzt abrupt ihr professionelles Gesicht auf. »Red weiter.«

»Sie verarbeitet Informationen in einer Art und Weise, die wir nicht verstehen. Sie sagt, sie kann Dinge im virtuellen Environment spüren, die du und ich – und die andern Flüchtlinge aus der Luftgottwelt – nicht wahrnehmen können. Falls sie noch nicht gemerkt hat, daß unser Sim von zwei verschiedenen Personen benutzt wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie die Schwierigkeiten mit dem weißen Rauschen, die sie hat, in den Griff bekommt und uns durchschaut.«

»Ach so.« Dulcy nickte, drehte sich um und ging zur Couch. Sie setzte sich, führte eine Tasse an die Lippen und trank einen Schluck, bevor sie weiterredete. »Daran hab ich aber doch gedacht.«

»Tatsächlich?«

»Ja, ich dachte mir, das Schlechteste, was wir überhaupt machen können, wäre, plötzlich die unterschwelligen Signale zu ändern, die wir aussenden.« Sie nahm einen weiteren Schluck und rührte dann den restlichen Tasseninhalt mit einem Löffel um. »Sie hat möglicherweise schon eine Signatur für uns entwickelt und akzeptiert sie schlicht und einfach als besonderes Kennzeichen unseres Sims. Aber wenn wir wechseln, würde ihr die Veränderung auffallen. Jedenfalls war das meine Überlegung.«

Dreads frühere Bewunderung für Dulcinea Anwin kehrte zu einem gut Teil zurück. Totaler Quatsch, aber für etwas, das sie sich eben schnell mal aus dem Ärmel geschüttelt hatte, ziemlich gut. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie so ruhig und selbstzufrieden dort sitzen würde, wenn sie ihn je in seiner wahren Gestalt zu Gesicht bekäme, sein wahres Ich erlebte, nachdem alle Masken gefallen waren … Er riß sich von den ablenkenden Phantasien los. »Hmmm. Ich verstehe. Irgendwo leuchtet es auch ein, aber ich bin mir nicht sicher, ob es mich ganz überzeugt.«

Er sah, wie sie beschloß, den guten Eindruck möglichst zu festigen, den ihre schnelle Reaktion gemacht hatte. »Du bist der Boß. Was meinst du, was wir tun sollten? Was für Möglichkeiten gibt es denn?«

»Egal, was wir machen, wir sollten uns rasch entscheiden. Und falls wir nicht die Dinge einfach so weiterlaufen lassen wie bisher, bleibt uns nur die Wahl, daß einer von uns den Sim ganz übernimmt.«

»Ganz?« Sie verlor beinahe ihre hart errungene Fassung. »Das ist…«

»… kein sehr verlockender Gedanke, ich weiß. Aber es kann sein, daß wir es tun müssen – das heißt, daß du es tun mußt, da ich so verdammt viel am Hals habe. Aber ich will erst nochmal drüber nachdenken, was du gesagt hast, und ruf dich später wieder an. Heute abend, zweiundzwanzig Uhr deiner Zeit, okay? Der Sim müßte dann schlafen, andernfalls sorgen wir dafür, daß er sich von der Gruppe absetzt, um zu pinkeln oder so.«

Ihre schlecht verhohlene Verstimmung amüsierte ihn. »Geht klar. Zweiundzwanzig Uhr.«

»Danke, Dulcy. Ach, eine Frage noch. Kennst du viele alte Lieder?«

»Was? Alte Lieder?«

»Reine Neugier. Ich hab was gehört, das so geht…« Er hatte plötzlich keine Lust, es ihr vorzusingen – es würde so aussehen, als wollte er sich ein Stück weit mit einer gemein machen, die schließlich seine Untergebene war. Er sagte es statt dessen auf: ›»Ein Engel hat mich angerührt, ein Engel hat mich angerührt …‹ Und das ständig wiederholt.«

Dulcy starrte ihn an, als hätte sie den Verdacht, er wolle sie mit einem besonders hintersinnigen Trick an der Nase herumführen. »Nie gehört. Was interessiert dich daran?«

Er schenkte ihr sein umwerfendstes Lächeln – das Lächeln, das zu sagen schien: Ich wäre überglücklich, dich nach Hause bringen zu dürfen, meine Schöne. »Ach, nichts besonderes. Es hörte sich irgendwie bekannt an, aber ich krieg’s nicht zu fassen. Also dann, bis zweiundzwanzig Uhr.« Er schaltete sich aus.

 

 

> »Code Delphi. Hier anfangen.

Es war nur der Fluß. Merkwürdig, daß selbst so scharfe Ohren wie meine, zudem noch verstärkt von der besten Tonübertragungsanlage, die sich für meine Entschädigung damals kaufen ließ, und jetzt mit Daten von der bestimmt besten Tonerzeugungsanlage gefüttert, die sich mit dem Geld der Gralsbruderschaft kaufen läßt – daß selbst solche Ohren vom Geräusch fließenden Wassers getäuscht werden können.

Ich habe über dieses neue Journal nachgedacht, und mir ist klargeworden, daß ich es sehr pessimistisch begonnen habe. Ich hoffe zwar, daß diese Diktate sich eines Tages wieder auffinden lassen, aber wenn ich so lange von meiner persönlichen Geschichte erzähle, scheine ich im stillen anzunehmen, daß jemand anders als ich diese Gedanken hören wird. Das mag pragmatisch sein, aber es ist nicht der richtige Geist. Ich muß davon ausgehen, daß ich diese Gedanken eines Tages selbst wieder in Besitz nehmen werde. In dem Fall werde ich wissen wollen, wie ich mich zu dem betreffenden Zeitpunkt fühlte.

Über das Eindringen in dieses Netzwerk kann ich nicht viel sagen, weil ich mich an so wenig erinnere. Das Sicherheitssystem, oder was es sonst war, scheint mir von der Art her ähnlich zu sein wie das Programm, das Kinder fängt, das Tiefenhypnosegear, das Renie nach ihrer Erfahrung in dem virtuellen Nachtclub so grauenerregend beschrieb. Es operiert offenbar auf der Ebene des Unterbewußtseins und hat unwillkürliche physische Auswirkungen. Aber ich erinnere mich nur an den Eindruck von etwas Wütendem und Bösartigem. Es ist zweifellos ein Programm oder neuronales Netz, dessen Differenziertheit und Leistungsstärke alles in den Schatten stellt, was mir geläufig ist.

Aber seitdem ich in das Netzwerk eingetreten bin, habe ich allmählich durch den gräßlichen, zerrüttenden Tumult hindurch, den realen wie den metaphorischen, zu einer inneren Festigkeit zurückgefunden, die ich schon ein für allemal verloren glaubte. Und ich kann Sachen machen, zu denen ich vorher nicht in der Lage war. Ich bin jenseits des Chaos in einen völlig neuen Bereich sinnlicher Wahrnehmung eingedrungen, ähnlich wie Siegfried, als er im Blut des Drachen badete. Ich kann ein Blatt fallen, das Gras wachsen hören. Ich kann einen Wassertropfen riechen, der auf einem Blatt zittert. Ich kann sogar den komplizierten, halb spontanen Tanz des Wetters fühlen und erraten, welche Richtung es als nächstes einschlagen wird. Irgendwie ist das alles ziemlich verführerisch – wie ein junger Adler, der auf einem Ast hockt und sich zum erstenmal den Wind unter die gespreizten Flügel wehen läßt, habe ich das Gefühl grenzenloser Möglichkeiten. Es wird mir schwer werden, das wieder aufzugeben, aber natürlich bete ich, daß wir Erfolg haben und daß ich dann überhaupt noch lebe. Ich denke, in dem Fall würde ich das alles mit Freuden aufgeben, aber richtig vorstellen kann ich es mir nicht.

Im Grunde ist es fast unmöglich, an einen erfolgreichen Ausgang zu glauben. Vier aus unserer Schar sind uns bereits entrissen worden. Wir können nicht in Erfahrung bringen, wo Renie und !Xabbu sich aufhalten, und mein Gefühl, daß sie hier sind, in dieser Insektenwelt, ist deutlich schwächer geworden. Orlando und seinen jungen Freund hat es den Fluß hinuntergespült. Ich zweifele nicht daran, daß wenigstens die Jungen in eine der zahllosen anderen Simulationen durchgekommen sind.

Somit sind wir jetzt zu fünft. Die Verschollenen sind vielleicht die vier, deren Gesellschaft mir lieber gewesen wäre – besonders Renie Sulaweyo ist mir trotz ihrer Kratzbürstigkeit fast zur Freundin geworden, und ich stelle fest, daß sie mir sehr fehlt –, aber um gerecht zu sein, liegt das vielleicht nur daran, daß ich die anderen vier noch nicht so gut kenne. Aber sie sind eine merkwürdige Gruppe, gerade im Unterschied zur Offenheit von !Xabbu und Renie, und mir ist nicht ganz wohl mit ihnen.

Sweet William ist die stärkste Persönlichkeit, aber ich möchte gern das älteste aller Klischees glauben, nämlich daß sich hinter seiner grimmigen Ironie ein gutes Herz verbirgt. Als wir zum Strand zurückkehrten und ihn und T4b dort antrafen, war William auf jeden Fall völlig verzweifelt darüber, daß Orlando und Fredericks vom Fluß weggeschwemmt worden waren. Für meine neue und mir bis jetzt noch nicht ganz klare Wahrnehmung fühlt er sich eigentümlich unvollständig an. Zeitweise hat er trotz seiner kecken Art etwas Zögerndes an sich, wie jemand, der Angst davor hat, entdeckt zu werden. Ich frage mich, was sich hinter seiner Weigerung verbirgt, über sein wirkliches Leben zu sprechen.

Die alte Frau, Quan Li, macht einen weniger komplizierten Eindruck, aber vielleicht will sie nur so erscheinen. Sie ist betulich und still, aber sie hat ein paar erstaunlich gute Vorschläge gemacht, und unter ihrer höflichen Fassade ist sie bestimmt stärker, als sie tut. Als im Laufe des Nachmittags sogar die hartgesottene Florimel die Suche nach Renie und !Xabbu aufstecken wollte, mobilisierte Quan Li mehrmals alle Kräfte, um weiterzumachen, und wir konnten es ihr nur beschämt nachtun. Interpretiere ich da zuviel hinein? Es ist nicht verwunderlich, daß eine aus ihrer Kultur und ihrer Generation es immer noch für nötig erachtet, ihre Fähigkeiten hinter einer Maske der Zaghaftigkeit zu verstecken. Trotzdem … ich weiß nicht recht.

Florimel, die ihre Privatsphäre genauso aggressiv verteidigt wie William, macht mir von allen am meisten Kopfzerbrechen. Nach außen hin ist sie ganz bei der Sache und verhält sich schroff, ja fast verächtlich, wenn andere mit persönlichen Bedürfnissen kommen. Aber zu anderen Zeiten scheint sie sich selbst kaum zusammenhalten zu können, obwohl ich bezweifele, daß das außer mir jemand bemerken würde. Es gibt so merkwürdige Schwankungen in ihren … wie sagt man? In ihren Affekten, glaube ich. Es gibt so seltsame subtile Schwankungen in ihren Affekten, daß sie mir manchmal wie eine multiple Persönlichkeit vorkommt. Aber ich habe noch nie von einer multiplen Persönlichkeit gehört, die sich unbedingt als ungespaltene Person darstellen wollte. Soweit ich weiß, nutzen bei Menschen mit echter Bewußtseinsspaltung alle inneren Persönlichkeitsanteile jede Gelegenheit aus, sich in den Vordergrund zu spielen.

Aber meine Fähigkeit zu verstehen, was ich wahrnehme, ist durchaus noch begrenzt, daher kann es sein, daß ich mich irre oder daß ich kleine Merkwürdigkeiten in ihrem Verhalten überinterpretiere. Sie ist stark und tapfer. Sie hat nichts Unrechtes und viel Gutes getan. Ich sollte sie allein danach beurteilen.

Der letzte aus dieser kleinen Schar, von den vielleicht einzigen Überlebenden von Sellars’ verzweifeltem Versuch, das Rätsel Anderland zu lösen – schließlich können wir nur hoffen, daß Renie und die anderen noch am Leben sind –, ist der junge Mann, der sich T4b nennt. Daß er wirklich ein Mann ist, kann ich natürlich auch nur vermuten. Doch es gibt auf jeden Fall Zeiten, in denen mir seine Energien und sein Auftreten eindeutig männlich vorkommen – er hat manchmal eine kaum verhohlene Großspurigkeit, die ich noch nie bei einer Frau erlebt habe. Aber er kann auch in einer eigentümlich weiblichen Weise behutsam sein, weshalb ich vermute, daß er jünger ist, als er vorgibt. Es ist unmöglich, das Alter oder sonst etwas aus seinem Straßendialekt zu schließen, bei dem wenige kurze Worte für eine Vielfalt von Bedeutungen herhalten müssen – es könnte durchaus sein, daß er nicht älter als zehn oder elf ist.

So bin ich also zusammen mit vier wildfremden Leuten an einem gefährlichen Ort, der wohl, daran habe ich eigentlich keinen Zweifel, von noch gefährlicheren Orten umgeben sein dürfte. Unsere Feinde müssen in die Tausende gehen, und sie müssen ungeheuer mächtig und reich sein und die Kontrolle über diese Westentaschenuniversen haben. Wir dagegen sind schon nach wenigen Tagen auf die Hälfte geschrumpft.

Natürlich sind wir zum Scheitern verurteilt. Schon wenn wir die nächste Simulation lebendig erreichten, wäre das ein Wunder. Überall lauern Gefahren. Eine Spinne von der Größe eines Lastwagens hat erst gestern nachmittag nur wenige Meter von mir entfernt eine Fliege gefangen. Ich konnte hören, wie die Vibrationen der Fliege sich veränderten, während ihr das Leben ausgesaugt wurde – eine der grausigsten Erfahrungen, die ich jemals gemacht habe, ob in der Realität oder der Virtualität. Ich habe schreckliche Angst.

Aber von hier an werde ich dieses Journal weiterführen, als ob das nicht der Fall wäre, als glaubte ich, daß ich eines Tages wieder durch mein vertrautes Domizil wandeln und an diese Begebenheiten als etwas Vergangenes zurückdenken könnte, als Teil einer heroischen, aber verblassenden Zeit.

Ich bete zu Gott, daß es so kommen möge.

Jetzt regt sich wirklich jemand. Ich muß gehen und diese seltsame Reise fortsetzen. Ich will dir nicht Lebewohl sagen, mein in die Luft gesprochenes Journal. Ich sage lieber auf Wiedersehen.

Aber ich fürchte, das ist eine Lüge.

Code Delphi. Hier aufhören.«

 

 

> Mit ihrer üblichen königlichen Gleichgültigkeit gegenüber allem ohne direkten Jonesbezug putzte sich die Katze auf Dulcy Anwins Schoß. Ihre Herrin war dabei, sich innerlich auf eine Konfrontation vorzubereiten. Wenigstens hatte das erste Glas dieses nicht gerade spitzenmäßigen Tangshan-Rotweins diesem Zweck gedient. Das zweite Glas – na ja, vielleicht hatte das erste sie noch nicht bereit genug gemacht.

Sie wollte nicht. Darauf lief es letzten Endes hinaus, und er würde das begreifen müssen. Sie war eine Spezialistin, hatte über ein Dutzend Jahre lang ihre Fertigkeiten verfeinert, hatte im praktischen Einsatz Dinge gelernt, die sich der normale Gearknacker nicht einmal vorstellen konnte – der jüngste Job in Cartagena war vielleicht der blutigste gewesen, für sie persönlich gewiß, aber keineswegs der extremste oder ausgefallenste –, und es war absurd von ihm zu erwarten, daß sie das alles einfach fallenließ und rund um die Uhr den Babysitter für einen gekidnappten Sim spielte.

Und wie lange? Nach dem Bummeltempo zu urteilen, in dem die ganze Chose lief, konnten diese Leute womöglich ein Jahr durch das Netzwerk irren, sofern ihre Versorgungssysteme das mitmachten. Sie würde sogar den Anschein eines sozialen Lebens aufgeben müssen. Sie hatte jetzt schon seit fast sechs Wochen kein Rendezvous mehr gehabt, hatte seit Monaten keinen Mann mehr vernascht, aber das wäre dann völlig beknackt. Ach was, die ganze Sache war völlig beknackt. Dread würde das verstehen müssen. Er war schließlich nicht einmal ihr Boß. Sie war selbständig – er war nur einer der Leute, für die sie arbeitete, wenn sie es wollte. Sie hatte einen Mann getötet, um Himmels willen. (Bei diesem letzten Gedanken hatte sie einen kurzen Anflug von Beklemmung. Die unwillkürliche Anrufung des Himmels hatte etwas Unheilvolles.) Sie hatte es gewiß nicht nötig, um seine Gunst zu buhlen wie eine kleine junge Aushilfsmaus.

Jones’ zusehends eifriger werdendes Putzen fing an, sie zu stören, und sie beförderte die Katze von ihrem Schoß hinunter. Jones warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und trollte sich dann behäbig in Richtung Küche.

»Dringlicher Anruf«, verkündete die Stimme vom Wandbildschirm. »Du hast einen dringlichen Anruf.«

»Scheiße.« Dulcy kippte den letzten Schluck Wein hinunter. Sie stopfte sich ihr Hemd in die Hose – sie hatte nicht vor, noch einmal im Bademantel ans Fon zu gehen, damit forderte sie die Mißachtung geradezu heraus – und setzte sich gerade hin. »Annehmen.«

Dreads Gesicht erschien einen Meter hoch auf dem Bildschirm. Sein braune Haut war gründlich gewaschen, sein dickes, widerspenstiges Haar hinten zusammengebunden. Er wirkte auch konzentrierter als beim vorigen Mal, als er die halbe Zeit über irgendeiner inneren Stimme zu lauschen schien.

»’n Abend«, sagte er lächelnd. »Du siehst gut aus.«

»Hör zu.« Sie holte kaum Atem – es hatte keinen Zweck, um den Brei herumzureden. »Ich will’s nicht machen. Nicht die ganze Zeit. Ich weiß, was du sagen wirst, und es ist mir völlig klar, daß du jede Menge wichtiger Dinge zu tun hast, aber deswegen kannst du mich trotzdem nicht zwingen, die ganze Sache zu übernehmen. Es ist keine Frage des Geldes. Du warst außerordentlich großzügig. Aber ich will das nicht rund um die Uhr machen – es ist so schon hart genug. Und ich werde zwar nie irgend jemand ein Sterbenswörtchen davon erzählen, egal was passiert, aber wenn du darauf bestehst, muß ich aufhören.« Sie holte tief Luft. Die Miene ihres Auftraggebers blieb so gut wie unbewegt. Dann verzog sich sein Gesicht wieder zu einem Lächeln, einem ziemlich merkwürdigen; seine Mundwinkel zuckten nach oben, so daß die Lippen einen großen Bogen beschrieben, ohne sich zu teilen. Seine breiten weißen Zähne blieben unsichtbar.

»Dulcy, Dulcy«, sagte er schließlich und schüttelte mit gespielter Enttäuschung den Kopf. »Ich habe dich angerufen, um dir mitzuteilen, daß ich nicht will, daß du den Sim voll übernimmst.«

»Nicht?«

»Nein. Ich habe drüber nachgedacht, was du sagtest, und es leuchtet mir ein. Wir riskieren mit dem Wechsel eher, Aufmerksamkeit zu erregen. Die blinde Frau hat vermutlich längst entschieden, daß das Datenmuster, das wir durch unsere Arbeitsteilung darstellen, einfach für unsern Sim normal ist.«

»Das heißt … das heißt, daß wir uns die Arbeit auch weiterhin teilen?« Sie haschte nach einem Halt, um ihr emotionales Gleichgewicht wiederzufinden – sie hatte sich in Erwartung eines Streits innerlich so weit aus dem Fenster gelehnt, daß sie in Gefahr war, hinauszufallen. »Aber wie lange? Einfach zeitlich unbegrenzt?«

»Bis auf weiteres.« Dreads Augen leuchteten sehr hell. »Wir werden sehen, was langfristig passiert. Allerdings wird es wohl nötig sein, daß du einen etwas größeren Anteil der Simzeit übernimmst als bisher, vor allem in den nächsten paar Tagen. Der Alte Mann hat mich auf was angesetzt, und ich muß ihm Antworten auftischen, ihn bei Laune halten.« Wieder das Lächeln, aber leiser und verstohlener. »Aber ich werde den Sim dennoch in einem einigermaßen festen Turnus führen. Ich hab mich richtig dran gewöhnt, weißt du. Es gefällt mir irgendwie. Und es gibt… ein paar Sachen, die ich gern ausprobieren würde.«

Dulcy war erleichtert, aber sie hatte auch das Gefühl, daß sie nicht alles mitkriegte. »Dann wäre das soweit klar, ja? Alles geht mehr oder weniger weiter wie bisher. Ich mache meinen Job. Du … du zahlst mir weiter die dicken Kredite.« Sie wußte, daß ihr Lachen nicht besonders echt klang. »So etwa.«

»So etwa.« Er nickte, und sein Bild erlosch.

Dulcy blieben mehrere lange Sekunden Zeit, um zu spüren, wie sie sich langsam entspannte, da kam sein Gesicht ohne Vorwarnung wieder, so daß sie ein Quieken unterdrücken mußte. »Ach, und, Dulcy?«

»Ja?«

»Du wirst nicht aufhören. Ich dachte, das sollte ich vielleicht noch klarstellen. Ich werde dich gut behandeln, aber du wirst nichts tun, wenn ich es dir nicht sage. Wenn du nur daran denkst, dich dünnezumachen oder jemandem was zu erzählen oder mit dem Sim ohne meine Erlaubnis etwas Ungewöhnliches zu veranstalten, werde ich dich ermorden.«

Jetzt zeigte er die Zähne, und sie sprangen ihm förmlich aus dem dunklen Gesicht und füllten den Wandbildschirm wie eine Reihe Grabsteine. »Aber zuerst werden wir tanzen, Dulcy.« Er sprach mit der fürchterlichen Ruhe eines Verdammten, der sich über das Wetter in der Hölle unterhält. »Ja, wir werden tanzen. Auf meine Art.«

Noch lange, nachdem er aus der Leitung gegangen war, saß sie mit weit aufgerissenen Augen da und zitterte.